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  • Eine ökofeministische Perspektive

    Eine ökofeministische Perspektive

    Bei Ihrer Lektüre der Enzyklika „Laudato si‘“ ist die französische Philosophin Émilie Hache vor allem erstaunt darüber, wie wenig sich die Kirche darin auch selbst in Frage stellt. Der Text konstatiert den alarmierenden Zustand der Welt, der gekennzeichnet ist vom raubtierhaften und extrem egoistisch Verhalten des Menschen ihr gegenüber und beschreibt die „menschliche Wurzel der ökologischen Krise“.

    Zugleich erweckt der Text aber den Anschein, dass, wenn wir nur den Heiligen Schriften folgten und insbesondere dem Heiligen Franziskus, würde doch alles gut funktionieren. Die Enzyklika gibt vor, sich für die kulturellen, ethischen und spirituellen Gründe der aktuellen ökologischen Krise zu interessieren, dennoch hinterfragt auf keiner Zeile dieses Textes die Kirche ihre eigenen Fundamente, Dogmen oder ihre weltliche Geschichte in Bezug auf die Verantwortung, die auch sie für diese Klimakrise trägt. Der Text spricht von einer spirituellen Herausforderung (défit spirituel) aber wo ist in diesem Text die Herausforderung für die Kirche (défit pour l’église)?[1]

    Und Émilie Hache fragt direkt: „Ist die Kirche in der Lage, sich im Namen dieser lebendigen Welt, die sie geliebt nennt und erlösen will, radikal in Frage zu stellen?“

    Die Richtung, in der eine solche Infragestellung sich bewegen müsste, schlägt Émilie Hache vor. Sie besteht darin, „die Geschichte in ihrem Verhältnis zur Gegenwart erneut zu lesen (relire) und zwar mit besonderem Augenmerk auf die das westliche Denken strukturierende Verbindung der lebendigen Welt mit der Welt der Frauen bzw. denen, die man beiseitegelassen hat: das Feminine, das Andere“[2].

    Zum Ausgangspunkt ihrer Lektüre nimmt Émilie Hache die These des amerikanischen Historikers Lynn White über die historischen Wurzeln unserer ökologischen Krise: „Der Sieg des Christentums über das Heidentum war die große psychische Revolution unserer kulturellen Geschichte, d.h. auch eine der tiefen Gründe für unsere aktuelle ökologische Mutation“.[3]   

    Diese breit diskutierte These liest Émilie Hache zusammen mit dem, was Jan Assmann die „mosaische Unterscheidung“[4] nennt. Diese Unterscheidung beschreibt den „totalen Bruch zwischen den Monotheismen einerseits und den Religionen, die ihnen vorangegangen sind, andererseits“, dabei die Unmöglichkeit einschließend, Verbindungen oder Vergleichen zwischen ihren herzustellen.

    Stellt man diese Verbindungen jedoch her, wird der Bruch in seinen Auswirkungen noch deutlicher. In einem derartigen historischen Kontext erscheint Jesus als „die letzte Theophanie oder als der letzte Avatar der Figur des kleinen Gottes, der stirbt und aufersteht“. Als solcher steht er in einer langen Reihe von Namen und Orten über tausende Jahre: Dumuzi in Mesopotamien, Osiris im alten Ägypten oder, viel später, Dionysos in Griechenland. Die Figur des „kleinen Gottes, der stirbt und aufersteht“ ist weitverbreitet zurzeit Jesu, vor allem in den Mysterienkultuen, wie sie in der griechisch-römischen Welt verbreitet waren und die bis zu ihrem Verbot im Jahre 391 parallel zum Christentum bestanden.     

    Diese Götter, die sterben und auferstehen, sind alle von einer Göttin geboren oder werden einer Göttin als Sohn, Geliebter oder beides zugeordnet, wie Isis Osiris, Dumuzi Innana und Dionysos Ariadne. Der neue Gott jedoch, diese letzte Figur oder der letzte Avatar ist charakterisiert durch seine Zugehörigkeit zu „einem anderen Gott, nicht aber eine Göttin, sondern einem anderen Gott, der sein Vater ist“. Die Art der Zugehörigkeit zu seinem Vater ist nicht das Geborensein – das wäre die Zugehörigkeit zur Mutter – sondern das Gezeugtsein (engendré).[5]

    So bezeichnet die „mosaische Unterscheidung“ nicht nur den absoluten Bruch zwischen Polytheismus und Monotheismus und damit auch den Bruch zwischen einer Vielfalt von Kulten und dem „Kult eines Gottes, der behauptet, der einzige und der wahre Gott zu sein und der allen anderen den Krieg erklärt“. Die „mosaische Unterscheidung“ markiert auch das „Verschwinden dessen, was man die heilige Weiblichkeit nennen kann (féminin sacrée)“. Die neuen Götter des Monotheismus sind „Götter ohne Göttin“. Fortan ist in den Texten dieser neuen Religion immerfort die Rede vom falschen und vom wahren Gott. Vom Verschwinden oder Verwerfen (rejet) des weiblichen Teils des Göttlichen ist keine Rede mehr, außer viel später in boshaftem Sinne wie z.B. bei Tertullian. 

    Bis heute klinge die Assoziation von göttlich und weiblich etwas befremdlich, um nicht zu sagen lächerlich. Es sei, als ob die Göttinnen „auf der anderen Seite der mosaischen Unterscheidung geblieben sind“. Göttin kann nicht das gleiche bedeuten wie Gott, sie ist kleiner, zweitrangig. „Die einzige Art und Weise ihr Gewicht zu verleihen bestünde darin sie zu „monotheisieren“ (monothéister), was allerdings historisch falsch wäre.

    Eine Spur so eines weiblichen Monotheismus findet Émilie Hache auch bei Jan Assman. In seinem Buch „Moses der Ägypter“ findet sich folgende Stelle aus dem „Goldenen Esel“ von Apuleios von Madaura: „Himmelskönigin – ob du nun die allnährende Ceres bist, die Urmutter der Früchte …, oder die himmlische Venus, die … im meerumfluteten Heiligtum von Paphos verehrt wird, oder die Schwester des Phoebus, die … jetzt im herrlichen Tempel von Ephesos angebetet wird, oder die dreigestaltige Proserpina, die … in mannigfachem Kult besänftigt wird … unter welchem Namen, nach welchem Ritus , in welcher Gestalt man auch immer dich anrufen muss, hilf mir nur in meinem äußersten Elend…!“[6]   

    Und damit kommen wir zur zentralen Hypothese von Émilie Haches Vortrag: „Mir scheint, dass das Verschwinden (disparition), oder genauer die Eliminierung des Weiblichen (fèminin) und damit der Verlust (l’abandon) der Erde verbunden sind mit dem Verschwinden der Generation (génération).“

    Zur Erklärung kommt Hache nochmals auf die Figur des kleinen Gottes, der stirbt und aufersteht, dessen letzter Avatar Jesus ist, zurück und bemerkt, dass er auch das Ende dieser Tradition bedeutet. Jesus ist nicht nur der soundso viel-te kleine Gott der stirbt und aufersteht, sondern der, der die Welt nicht mehr mitnimmt (prendre en charge) in seinen Tod und Auferstehung.

    „Das Opfer dieses neuen Gottes artikuliert sich nicht in oder nimmt nicht Teil an der Regeneration der Welt, sondern nur am Heil des Menschen. Darin besteht der Unterschied zum jährlichen Opfer der alten Götter, die starben und auferstanden, auf die Jesus folgt, und der Erinnerung (commémoration), der Erinnerung an ein Opfer, das ihm geschehen ist, ein für alle Mal; unsere Seelen sind ein für alle Mal gerettet durch das Opfer dieses Gottes durch seinen Tod am Kreuz. Und dieser Gott stirbt nicht jedes Jahr von neuem, um uns erneut zu retten, aber wir erinnern dieses Opfer, durch das wir gerettet worden sind.“

    Die physische Erneuerung der Welt hingegen, die Wiederkehr der Vegetation – ihre Früchte, Blumen und Körner – in ihrer Verbindung zu Landwirtschaft und Tod, vollzieht sich in Tod und Auferstehung eines Gottes – im Mythos von Demeter und Persephone sogar einer Göttin – der halbjährlich in die Erde hinabsteigt; auf diese Weise stellt er eine Verbindung zwischen der unterirdischen Welt der Toten und der irdischen Welt mit dem Ziel ihrer Erneuerung her. Demgegenüber ist aber das Opfer des neuen Gottes eine Substitution: Gott – Jesus – stirbt nicht für die konkrete Erneuerung der Welt, sondern für unsere Sünden. Was in den agrarischen Kulten empirisch, geografisch verankert ist, wird hier abstrakt.[7]    

    „Man versteht vielleicht vor diesem Hintergrund die Maßlosigkeit dieses Bruches besser, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich ein Gott als Gott der Lebenden und nicht als Gott der Toten ausruft; ein Gott, der proklamiert, die Toten ihre Toten begraben zu lassen; anders gesagt, ein Gott, der anstelle sich als Garanten einer Zirkulation zwischen den unterirdischen und den irdischen Welten, der sichtbaren und der unsichtbaren Welten, zu zeigen, diese Verbindungen zerschlägt. Diese ökologische Veränderung konstituiert einen Bruch, der genauso entscheidend ist, wie der der mosaischen Unterscheidung. Sicher, die christliche Religion ist nicht die erste, die – man könnte sagen – die religiöse Frage in Richtung einer moralischen Frage erleichtert, aber die Religion dieses neuen Gottes amputiert definitiv dieser Welt eine ihrer Dimensionen und schließt die Tür von einem Teil der Welt, der bis dahin entscheidend bei ihrer Erneuerung (renouvellement) war.“   

    Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen: „Der Tod und die Auferstehung des neuen Gottes haben keinerlei Verbindung mehr mit der Welt und ihrer Erneuerung (renouvellement); sie haben ebenso wenig eine Verbindung mit der Wiederkehr der Fruchtbarkeit (retour de la fécondité) der Erde, noch eine Verbindung mit der Welt der Toten, d.h. sie [Tod und Auferstehung] stellen keine Verbindung mehr her zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten, zwischen den Lebenden und der Erde. Es ist nun nicht mehr in der paradoxalen und mysteriösen Verbindung zwischen Tod und Leben, in der man die Unsterblichkeit suchen muss, oder wenigstens die Erneuerung der Welt, sondern im ewigen Leben, in Jesus, d.h. im Glauben des auferstandenen Christus.“

    Entsprechend ihrer Hypothese liest Émilie Hache hier nun aber „eine Verbindung zwischen dem Verschwinden des Weiblichen (féminin), der Generation und dem Verlust der Welt in der Christlichen Religion. Zum weiteren Verständnis erinnert sie daran, dass in einer landwirtschaftlichen Welt, die Erneuerung der Welt und die Generationenfolge, Fortpflanzung und Fruchtbarkeit eng miteinander verbunden waren. Das Bindeglied zwischen beiden ist die Sexualität.

    „Die Sexualität hat hier nichts spezifisch Menschliches, sie ist überall in der Welt. Sie ist tiefgreifend Teil der Pflanzen- wie der Tierwelt. Sie ist auch Teil der unsichtbaren Welt der Göttinnen und Götter, denn auch sie sind fruchtbar. Anders gesagt, der heilige Wert (valeur sacré), der der Sexualität zuerkannt wurde, kommt aus ihrer kosmischen Kraft der Erneuerung der Erde.  Dieses Wissen scheint im Zentrum der Kulte gestanden zu haben […].“

    Im Zuge der Bekämpfung dieser Mysterienkulte – insbesondere der Eleusinischen Mysterien – durch das Christentum wurden ihre Spuren getilgt. Wir wissen nur indirekt von ihnen, denn sie waren geheim und wenn jemand sie verriet, dann im Sinne ihrer Denunziation, wie wir es etwa bei Clemens von Alexandrien finden. „Allerdings tragen diese agraren Kulte zu der paradoxalen und mysteriösen Kontinuität des Lebens und des Todes bei und nehmen auch Teil an der Erneuerung der Welt, die sich in der Sexualität, der sexuellen Vereinigung realisiert und so die Fortpflanzungsaktivität der Erde in Gang hält; sie ist im Herzen dieser Mysterien also wie eine Kraft der Erneuerung des Lebens auf der Erde und ehrt die Mysterien der Generation.“

    Schließlich besteht die anfangs gefragte Herausforderung für die Kirche (défit pour l’église) nach Émilie Hache also darin, eine theologische Antwort auf die Frage zu finden, wie es möglich ist, für das Weibliche und die Generation Platz zu schaffen (faire place). Eine derartige Veränderung scheint ihr durchaus möglich, denn die Geschichte der christlichen Theologie sei durchsetzt von der Erfindung neuer Dogmen und Rituale. 

    Konkret macht Émilie Hache drei konkrete Vorschläge. Als erstes müsste man auf das Dogma von der Erbsünde verzichten. Dies Dogma beschränke das Heil auf den Menschen und substituiert die Erneuerung der Welt durch die Vergebung der Sünden. Es gäbe nur eine biblische Spur in der Genesis, die man auf akzeptable Weise neu interpretieren könne.

    Der zweite Vorschlag ist „konfliktträchtig, weil er eine Teilung der Macht, und zwar der göttlichen Macht bedeutet“: Der Verzicht auf das trinitarische Dogma und damit der Verzicht auf die göttliche Einheit. Wenn man die Trinität als eine Form virtueller Dreigöttlichkeit (trithéisme virtuel) verstünde, könne man „ernsthaft Platz schaffen für die weibliche Dimension des Göttlichen“. Sei es in Form der Maria oder in Form des Heiligen Geistes oder in beiden, denn in einigen apokryphen Überlieferungen würde der Heilige Geist von Jesus als seine Mutter angesprochen. Hier liege bereits die verborgene weibliche Version des Christentums.

    Der dritte Vorschlag betrifft das Sakrament der Eucharistie und fragt nach einer Öffnung des Elementes Blut zugunsten allen Blutes (tous les sangs). „Das Blut des neuen Bundes mit diesem neuen einzigen (unique) Gott ist einzig (uniquement) maskulin; es ist das Blut des Sohnes dieses Gottes, der das Blut aller Frauen am Beginn des Lebens ersetzt (remplace).“[8]

    Hier stellt sich also die Frage, „ob die Kirche in der Lage wäre, von einer mit den Frauen rivalisierenden Religion (religion rivale des femmes) zu einer mit den Frauen freundschaftlichen Religion (une religion amie) werden könnte“.  Auf diese Weise wird sich zeigen, ob das „unerhörte Privileg der Frauen, Leben zu geben“ einen Platz findet und damit das Mysterium der Generation. Das Christentum könnte wiederfinden, was es verloren hat: Die Erde als das „gemeinsame Haus“ von dem die Enzyklika spricht.

  • Terrestrische Spiritualität

    Terrestrische Spiritualität

    Der Frage danach, wie konkret die „enorme Chance“ für das Christentum genutzt und in welchen Bahnen sie gedacht werden könnte, ist Bruno Latour nicht ausgewichen. In Kooperation mit dem Collège des Bernardins – einer Art katholischer Akademie – in Paris unter Mitarbeit von weiteren Institutionen, wurde für die Jahre 2021-2023 ein Lehrstuhl „Laudato si‘“ eingerichtet und verschiedene Veranstaltungen durchgeführt. In den folgenden Einträgen dieses Blogs sollen die wichtigsten Beiträge dieser Arbeit vorgestellt werden.

    In der Einführungsrede Latours am internationalen Kolloquium zur Gründung des Lehrstuhls im Februar 2020 findet sich folgender Satz, von dem ausgehend dieses Projekt beschrieben werden soll: „Die christliche Theologie, man weiß das, hat niemals Glück mit der Natur gehabt. Sie, [die christliche Theologie], hat nie genau gewusst, was sie mit ihr, [der Natur], anfangen soll und wie sie sich ihr gegenüber situieren sollte.“[1]   

    Dennoch ist die christliche Theologie der Natur gegenüber nicht gleichgültig und kann folglich auch der aktuellen ökologischen Katastrophe gegenüber nicht gleichgültig sein. Das bedeutet zum einen, dass man nicht umhinkommen wird, nach der „Verantwortung des Christentums für die aktuelle Tragödie“ zu fragen. Zum anderen wird man nicht vergessen können, dass sich keine größere ökologische Bewegung hätte formieren können, „ohne von den Energien, den Zuweisungen, den Emotionen und Werten zu profitieren, die seit langen vom Christentum erarbeitet, zusammengebraut und entwickelt wurden“. So existiert in der christlichen Tradition eine „lange Beziehung zu Katastrophen, zum Ende der Welt, zur Eschatologie ganz einfach“.

    Diese lange Tradition ist nun auf vielfache Weise und „sehr komplex mit der Geschichte der Moderne“ verwickelt. „Sie besteht in einer tausendjährigen Spannung zwischen einer Zuneigung bzw. einer Pflege für die Erde, die Schöpfung, und einer mächtigen Bewegung des Herausziehens (extraction)[2]und Losreißens von derselben Welt.“ Diese Spannung und ihre Herausforderungen würden natürlich auch in „Laudato si‘“ als Bezugstext des gesamten Unternehmens deutlich:   

    „Diese Enzyklika hat die Christen dazu gezwungen, eine Entscheidung für die Welt zu fällen. Das bedeutet auch, diese Tradition bis auf den Grund der Spannung zwischen Zuneigung und Losreißen neu zu sehen. Auch bei den Wissenschaften selbst kommt eine nicht weniger starke Spannung in Bezug auf das, was man Natur zu nennen die Gewohnheit hat, zum Vorschein. Sie betrifft alle Formen von Beziehung: Abstoßung, Anerkennung, Folgerungen, Beherrschung der sogenannten Natur durch die Christen ebenso wie durch die Wissenschaftler.“

    Diese Spannungen wurden und werden auch unter dem kontroversen Begriff des Anthropozän diskutiert, auf den Latour hier mit folgender Frage zurückkommt: „Was ist eine Natur, die derart schnell auf die Aktion der Menschen reagiert?“

    Um sich einer hypothetischen Antwort auf diese Frage zu nähern, führt Latour eine weitere Figur ein: Gaia. „Gaia ist nicht die Natur […], Gaia ist nicht die traditionelle Figur der Mutter Erde. Sie ist kein Organismus. Sie ist keine Göttin. Sie ist nicht einmal ein System im genauen Sinne.“

    Was ist Gaia dann? „Gaia ist ein wissenschaftliches Rätsel (énigme scientifique) und als solches vollkommen säkular. Gaia ist ein neues Verständnis des Lebens (vie) [auf und mit der Erde], der Bewohnbarkeit (habitabilité) [der Erde] und seiner [beider] Bedingungen.“

    Natürlich wusste Bruno Latour, dass er sich mit dem Gebrauch der Gaia-Hypothese nach James Lovelock und Lynn Margelis vielerlei Missverständlichkeiten aussetzte. Diesbezüglich hätte er es einfacher haben können, wie er in einem Gespräch[3] lakonisch bemerkte. Aber Gaia sei ein Mythos und ein Konzept zugleich und gerade dieser Doppelcharakter würde dazu beitragen, dass wir unsere Ohnmacht angesichts der ökologischen Katastrophe überwinden könnten.[4]

    Im konkreten Zusammenhang des Kolloquiums in Paris wolle er dazu folgende Frage stellen – und hier kommen wir auf unseren Eingangssatz zurück: „Die christliche Theologie, man weiss das, hat niemals Glück mit der Natur gehabt. Sie, [die christliche Theologie], hat nie genau gewusst, was sie mit ihr, [der Natur], anfangen soll und wie sie sich ihr gegenüber situieren sollte.“ Angesichts dessen lohne die Frage und der Versuch: „Erlaubt es die Begegnung der christlichen Theologie mit der erneuerten Figur der Gaia, eine Reflexion über die Eschatologie, die Schöpfung, die Heilsgeschichte zu eröffnen, die die alten Figuren der Natur verunmöglichten, oder nicht?“[5] 

    Die Beantwortung dieser Frage würde es insbesondere den Gemeindegliedern (fidèles) erlauben, der Schrift „Laudato si‘“ einen konkreten Sinn zu verleihen und darauf käme es doch an bis in konkrete gemeindliche Aktionen hinein. Und über diese Strukturen verfügten, die Kirchen eben im Unterschied zu Forschungseinrichtungen u.a. hätten.

    „Wie [können wir] also zusammenarbeiten (collaborer)? Wie ein Feuer entfachen? Wie können wir unsere jeweiligen Traditionen sortieren nach dem, was die Tragödie vermindert und dem, was sie anwachsen lässt?“ zu dem Kolloquium im Februar 2020 im Collège des Bernardins konnten die drei theologische Institutionen von Paris mobilisiert werden, die es „akzeptierten, mit Denkern, die ihren gewöhnlichen Debatten gänzlich fremd sind, zusammen zu stoßen (s’entrechoquer) und das ohne Kompromiss, ohne Vereinfachung mit dem Ziel, Gaia gegenüberzutreten (faire face à Gaia)“. Hierzu wurden es nicht nur zu Vorträgen gehalten, sondern es fanden auch Workshops statt, in denen die vorgetragenen Argumente getestet werden sollen.

    Die belgische Wissenschaftshistorikerin Isabelle Stengers nimmt direkt Bezug auf Bruno Latour und weist darauf hin, dass, wenn man den Begriff Gaia benutzt, es darauf ankommt, nicht auf diesen Begriff selbst zu schauen, sondern auf die Erde. Denn Gaia tut nichts anderes, als „mit dem Finger auf die Erde [zu] zeigen“.[6]

    Es gilt, sich der Erde zu zuwenden, dabei eine „geteilte Scham“ zu empfinden und sich zu fragen, was diese Scham fordert. Im Gegensatz zur Schuld ist Scham ein Motiv zu Handeln.

    Neben vielem anderen leitet Stengers daraus die theologisch bedeutsame Frage danach ab, wie uns das, was keine Gute Nachricht ist, zum Handeln bewegt. Und Handeln bedeutet, die Erde bewohnbar (habitable) zu machen. Die Erde ist bewohnbar, also bewohnt durch alles Lebendige, „die Lebendigen“ (les vivants). Denn sie haben die Erde bewohnbar gemacht und machen, dass die Erde bewohnbar bleibt. Mit ihnen allen gilt es zu kooperieren und „viel-artliche“ Partnerschaften zu entwickeln (partenariats multi spécifiques).

    Diesen Bewusstseinswandel bzw. diese Veränderung der Wahrnehmung im Sinne einer gegenseitigen Abhängigkeit (interdépendance) allen Lebens nennt Isabelle Stengers eine „terrestrische Spiritualität“. „Solche Spiritualität sucht, den Weg zu öffnen, auf dem wir [Menschen] fähig werden, nah bei einander, über Vereinfachungen und Verurteilungen hinaus zu kommen und das Risiko eines Abenteuers auf uns zu nehmen. Denn nur zusammen mit den anderen und auf die Gefahr der anderen hin, also unter dem Zeichen der Unsicherheit (précarité), stellen sich die Verfahren des Zusammensetzens (composition) her, die seit Milliarden Jahren die Erde gemacht haben. Dabei ist nichts versprochen und nichts garantiert. Nichts ist natürlich. Nichts kann mehr einer Logik unterwerfen, die mit der Macht der Abstraktion alles vereinfacht und erobert, also jener Macht, die versucht vergessen zu machen, dass dort wo es Verbindung (connexion) und Zusammensetzen (composition), also Gemeinsamkeit (actions en commun) gibt, es auch Generation (génération) und Regeneration (régénération) gibt. Und dies auf eine Art und Weise, die berührt, die uns fühlen, denken, imaginieren und kämpfen lässt.“

    Hier könnte nach Stengers die Tradition des Christentums etwas beitragen, nämlich im Risiko des Zusammensetzens einen Akt des Glaubens zu entdecken. Also vielleicht Ereignisse der Generation willkommen zu heißen als ein Fest des Dankes (action de grace). – Das hat Stengers bei der Lektüre von „Laudato si‘“ gelernt –  denn in ihrer Lektüre lenkt diese Enzyklika die Aufmerksamkeit auf die Gesänge der Dankbarkeit (chants de gratitude).

    „Aber die Dankbarkeit hat es nicht nötig, theologisch zu festzulegen an wen oder was sie sich wendet (s’adresse). Die Doktrin der Entwicklung der Arten hat es nicht nötig die Doktrin der Kreation zu bekriegen. Dankbarkeit ist ein Gefühl (sentiment), das uns in einen Impuls dazu gibt, Danke zu sagen, (danke auch für diesen Impuls). Dankbarkeit könnte ein besonderer Ausdruck einer terrestrischen Kultur sein, die das Leben ehrt – also die Generativität, die Interdependenz und die Prekarität – und bis in die persönlichste Erfahrung hinein verstehen lässt, dass wir nur durch und mit den anderen sind. Das ist es, was aus uns Erdenbewohner macht (des terrestres).“[7]“ href=“#note[7]“>[7]  

  • Eine enorme Chance

    Eine enorme Chance

    Kurz vor seinem Tod im Oktober 2022 führte der französische Soziologe Bruno Latour eine Serie von kurzen Gesprächen auf arte (2021). Er hatte sich über die Gelegenheit gefreut, sich noch einmal konzentriert und sehr persönlich zu den wichtigsten Themen seiner Arbeit zu äußern. In der siebenten Folge mit dem Thema „Über religiöse Rede“ kommt Latour im Gespräch mit Nicolas Truong auf die Enzyklika „Laudato si‘“ zurück und beschreibt, worin er ihre Bedeutung sieht. Sie eröffne nämlich der Kirche eine „enorme Chance“. Worin besteht sie?

     „Die aktuelle Umweltfrage nimmt die Theologie, die sich über 300 Jahre auf die Welt des Spirituellen beschränkte, in die Pflicht, Stellung zu beziehen. Die Wissenschaft beanspruchte ihre eigene Hegemonie und versucht, die Hegemonie der Religion zu verdrängen. Den armen Religiösen blieb nur noch das Übernatürliche. Es ist extrem schwierig, Bischöfen und Priestern zu erklären, dass die Umweltfrage eine enorme Chance für die Kirche ist, um zu den ursprünglichen Themen der Kirche zurückzukehren. Man nennt das: Inkarnation. Das heißt, es geht um die Erde und nicht um den Himmel. Das ist ein altes Thema der Kirche, das aber verloren ging. Die Umweltfrage soll jetzt nicht zur neuen religiösen Ideologie werden, aber sie eröffnet neue Chancen. Die Umweltfrage bringt etwas ganz Neues mit sich. Nämlich diese außergewöhnliche Verbindung, die in einer laizistischen Welt undenkbar ist, die Verbindung des Schreies der Armen und des Schreis der Erde[1]. Das ist großartig und Sie [Nikolas Truong] taten gut daran, diesen Satz zu zitieren. Der Kosmologie der Modernen war dieser Ansatz fremd. Die Erde schreit nicht und die Armen werden nicht gehört. Wobei es hier um die sozial Benachteiligten geht, nicht um die „Armen“ im theologischen Sinne. Die Umweltfrage eröffnet also neue Möglichkeiten. Sie bringt eine Neuorientierung in den Wertvorstellungen und bietet somit neue Chancen. Ich sage den Theologen: ‚Sie haben großes Glück. Schauen Sie: Seit 150 Jahren fragen Sie sich, ob die Kirche modernisiert werden muss. Jetzt geht die Moderne vor Ihren Augen zu Ende.‘ Die Frage nach der Modernisierung wird also hinfällig, es gibt keine Moderne mehr. Wir alle sind uns einig, auch wenn nicht alle Christen sind, dass die Moderne endet. Wir versuchen die politischen Werte zu retten. Und die Kirche hat das Glück, wenn ich so sagen darf, die Moderne sterben zu sehen, die sie bekämpfte, mit der sie nicht umgehen konnte. Jetzt kann die Kirche ein völlig neues Gedankenumfeld schaffen. Sie kann zu ihrer Tradition zurückkehren, zu einem Gott, der Mensch wurde, der zur Erde, zur Schöpfung gehört. Er nimmt an der Schöpfung teil, er ist Zeuge und Betroffener aller Entwicklungen. Jetzt kann die Theologie sich neu positionieren. Vielleicht auch beim Thema der Jungfrau Maria. Denn in der Theologie wurden Projektionsflächen angehäuft, die sicher aus guten Gründen entstanden sind. Doch diese Gründe sind mittlerweile einige Jahrhunderte alt. Der Papst erfand nun einen neuen Mythos. Doch viele Priester und Kardinäle sehen diese neue Sicht mit Argwohn. Die ‚Schwester Erde‘. Was soll ein Priester damit anfangen? Ein Papst, der von ‚Schwester Erde‘ spricht, das ist befremdlich. Doch es eröffnet eine neue Chance. Das ist eine sehr weit gefasste Version der Umweltfrage. Es ist eine Chance auf die Erneuerung der Zivilisation. Die Zivilisation der Moderne war schlecht, denn sie führte in diese Sackgasse. Die ökologische Frage bietet nun die Chance einer neuen Zivilisation.“[2]

    In seiner anthropologischen Untersuchung der Moderne, also unserer westlichen Welt, die er wie ein Ethnologe erforschte, um ihr auf die Schliche zu kommen[3], stellte Bruno Latour fest, dass entgegen der Behauptung, Religion überwunden bzw. säkularisiert zu haben, sie doch in den „recht wirren Fragen nach dem Ende, den Zielen, der Endlichkeit, der Unendlichkeit, des Sinns, des Sinnlosen“[4] immer noch präsent ist.

    Allerdings hatte sich die „gesamte Religion, oder jedenfalls das Christentum samt seinen vielfältigen Varianten“[5], in ihrem [seinem] absoluten Wahrheitsanspruch unter dem Druck konkurrierender Wahrheitsansprüche von Wissenschaft, Politik und Recht immer mehr dahingehend verfälscht, „die körperlosen Seelen der Menschen von ihren sündhaften Bindungen an die Erde zu erlösen“[6].

    Mit anderen Worten: „Die Inkarnation wurde zu einer Flucht vor allem Fleischlichen in ein fernes, körperloses, rein geistiges Reich verfälscht. Als wäre das Natürliche nicht schon Plage genug, missbrauchten Generationen von Priestern, Pastoren, Predigern und Theologen die Heiligen Schriften, um über der Natur einen Bereich des Übernatürlichen zu errichten.“[7]

    Darüber ist nun das Entscheidende, worin heute die „enorme Chance“ des Christentums bestehen könnte, in Vergessenheit geraten: „Während sie in diese übernatürliche Welt zu emigrieren suchten, bemerkten sie nicht, dass das, was sie ‚ablegten‘, nicht die Sünde war, sondern all das, um dessentwillen ihr eigener Gott nach ihrem eigenen Bericht seinen eigenen Sohn hatte sterben lassen, das heißt die von ihm geschaffene Erde. Sie mussten vergessen haben, dass eine andere Bedeutung des Wortes ‚Ökologie‘ – um die schöne fiktive Etymologie von Jürgen Moltmann aufzugreifen[8]oikos logou lauten könnte, also Haus des Logos – eines Logos, von dem es im Johannesevangelium heißt, in ihm ‚sind viele Wohnungen‘ (Joh 14,2).“[9]

    Und Latour konkretisiert das Bild der vielen Wohnungen dahingehend, „dass wir alle diese Wohnungen gleichzeitig bewohnen müssen, wenn wir die Erde besetzen, oder vielmehr: uns von der Erde besitzen lassen und uns um sie kümmern wollen. Der Kosmos hat es nicht nötig, dass man in ihm den Ruhm Gottes verbreitet, im Gegenteil: Was er braucht, ist eine Religion, die sich selbst Grenzen setzt und sich mit den Wissenschaften und der Politik zu verbinden lernt, um dem Begriff der Grenze wieder einen Sinn zu geben.“[10]

    Und genau an diesem Punkt hatte Bruno Latour die Hoffnung fast aufgegeben, nämlich an der Lernfähigkeit der Kirchen, ihren absoluten Wahrheitsanspruch als einen Typus unter anderen zu erkennen, der es erst ermöglicht, mit anderen „Typen des Wahrsprechens“[11] Verbindungen einzugehen. Bei der Lektüre der Enzyklika „Laudato si‘“ schöpfte er Hoffnung als er feststellte, „dass hier das Hohelied der Kreaturen angestimmt und die Erde als ‚Mutter‘ und ‚Schwester‘ angesprochen wurde“[12].

    Für die aktuellen von Verwaltung dominierten Theologien stellen die Überlegungen Bruno Latours eine enorme Herausforderung dar. Sie lässt das Christentum als ebenso fragil und verletzlich erscheinen, wie die Erde und die Menschen selbst. Es geht darum, das Christentum als „Geheimnis eines Gottes, der sich als wehrloser Säugling den Menschen anvertraut“[13] zu beschreiben und zu leben.


  • Neue Beziehungen der Solidarität

    Neue Beziehungen der Solidarität

    Unter dem Eindruck der Covid-19-Pandemie kommt Frère Alois von Taizé auf die Enzyklika „Laudato si‘“ zurück. Fünf Jahre nach ihrer Veröffentlichung betont er ihre Aktualität und Dringlichkeit. Die durch die Pandemie ausgelöste Krise mache „auf einen Schlag deutlich, wie empfindlich der Planet Erde, unser gemeinsames Haus, ist“[1].

    Trotz der Unannehmlichkeiten der allgemeinen Maßnahmen gegen die Pandemie, die das praktische Leben der Gemeinschaft sehr direkt betrafen, entdeckt Frère Alois in ihnen jedoch eine andere Seite, die es zu überdenken lohnt: „Die Einschränkungen und drastischen gesundheitspolitischen Maßnahmen, die einem Großteil der Weltbevölkerung in diesem Zusammenhang auferlegt wurden, haben gezeigt, dass es trotz der dramatischen ökologischen Situation noch möglich ist, im Bereich von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft umzusteuern. Immer mehr Menschen fordern, dass wir die Gelegenheit zu einem grundsätzlichen Nachdenken nützen, anstatt einfach auf den bisherigen Weg zurückzukehren.“[2]

    Nicht zuletzt im Austausch mit den meist jungen Menschen, die die Communauté besuchen und zu denen sie den Kontakt auch während der Pandemie nicht abreißen ließ, wuchs bei Frère Alois die Sensibilität für die Dringlichkeit eines solchen Umdenkens, denn die jüngeren Generationen würden direkt von den Folgen des Klimawandels betroffen sein. Ihrer Sorge folgend, ermutigte die Gemeinschaft nicht nur die jungen Menschen in ihrem Engagement, sondern ließ sich selbst von ihnen hinterfragen: „Den Erwartungen der Jugendlichen folgend, versuchen wir in Taizé, in den verschiedenen Bereichen konkrete Schritte zu unternehmen: Wasser, Recycling, Kompost, Energie, Gebäudeisolierung usw. Wir werden unseren Lebensstil weiter überdenken, um zu vereinfachen, was vereinfacht werden kann.“[3]

    Seit den frühen Jahren der Communauté de Taizé leben unterschiedlich große Gruppen von Brüdern der Gemeinschaft in sogenannten Fraternitäten[4] für unterschiedlich lange Zeit unter den Ärmsten dieser Welt. Das macht sie im alltäglichen Leben konkret aufmerksam für einen entscheidenden Aspekt der Enzyklika, auf den Frère Alois unter dem Eindruck der Pandemie zurückkommt: „Nachdem das gesellschaftliche Leben mit seiner enormen Geschwindigkeit auf einen Schlag fast zum Stillstand gekommen ist, besteht nun die Gefahr enormer sozialer Verwerfungen. Darunter würden in erster Linie die Allerärmsten leiden – sowohl Einzelne als auch gesamte Länder. Werden wir neue Beziehungen der Solidarität aufbauen müssen und den Wert wiederentdecken, der im Füreinander-Dasein liegt, so wie viele es in den vergangenen Wochen erfahren haben?“[5]

    „Neue Beziehungen der Solidarität“ legen oft unerwartete, mitunter gern verschwiegene Verhältnisse bloß, die ihrer Aufarbeitung harren. So begegnete Frère Rudolf, der 30 Jahre in der Fraternität von Taizé in Alagoinhas im Nordosten Brasiliens lebte, einem ekklesiologischen Phänomen, dass seine Neugier weckte.

    Nachdem die traditionell starke katholische Kirche in Brasilien sich Ende der 60er Jahre in ihrer Option für die Armen der Realität anzupassen versuchte[6], musste vierzig Jahre später lakonisch festgestellt werden, dass die Armen ihre Option für die Pfingstkirchen ausgesprochen hatten[7]. Auch die Bewegung der sogenannten Basisgemeinden hatte nicht die erhoffte nachhaltige Wirkung. Der Glaube der Ärmsten zeigte sich vielmehr in kleinen „evangelischen (evangelical) Spontankirchen“.[8] 

    Dies Phänomen war nicht leicht zu verstehen. Es handelt sich hierbei nicht um pietistische Gruppen, wie man sie innerhalb der lutherischen oder anderen protestantischen „mainline“ Kirchen Europas kennt, die sich als Erneuerungsbewegungen innerhalb der historischen Kirchen verstanden und verstehen. Ebenso wenig handelt es sich um charismatische Gemeinschaften, wie man sie in Europa oder Amerika kennt, die sich auf traditionelle dogmatische Werte wie theologische Buchstäblichkeit stützen und sich ebenfalls als Erneuerung bestehender kirchlicher Strukturen verstehen.[9] Schließlich handelt es sich auch nicht um sogenannte „Prosperity-Churches“, mit denen sie weder in theologischer noch in organisatorischer Hinsicht vergleichbar sind, denn diese Kirchen sind groß, arbeiten profitorientiert und suchen nach wirtschaftlichem und politischem Erfolg und Einfluss.[10]

    „Was sind spontane Kirchen dann? Sie haben keine besondere Leitungsfigur, keinen gemeinsamen Gründer, wie es bei vielen aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen der Fall ist, die z.B. auf Martin Luther oder Johannes Calvin zurückblicken. Die spontanen Kirchen entstehen außerhalb der bestehenden Strukturen der historischen Kirchen. Sie sind einfach Orte, an denen Menschen sich Gott zuwenden können. Sie sind Orte des Weinens, des Klagens vor Gott, an denen Gott um Hilfe angerufen wird, Orte an denen für Gott gesungen wird als dem einzigen sicheren Halt im Leben. Menschen, die an solche Orte kommen, finden in erfahrener Nachbarschaft, gemeinsamem Singen, Beten und Bibellesen Hilfe, meist die einzige Hilfe in hoffnungslosen Situationen.“[11]

    Die Brüder der Fraternität von Taizé in Alagoinhas in Brasilien entdeckten diese Spontankirchen in ihrer Nachbarschaft. Zum Teil berührten sich ihre sozialen Aktivitäten[12] und so kam man in Kontakt. „Es gibt keinen anerkannten Namen für diese Arten von Kirchen. Sie entstehen spontan, als Antwort auf die dringenden Bedürfnisse der Menschen. Die meisten Menschen in der Nachbarschaft leben in tiefer Armut. Sehr viele sind Opfer von Drogenhandel, von kriminellen Banden und von Prostitution. Gewalt ist allgegenwärtig: jedes Jahr starben zwischen 20 und 40 Teenager und Jugendliche, die wir persönlich aus unserer Nachbarschaft kannten, als Opfer von Verbrechen mit Drogenbezug. Menschen in derart hoffnungslosen Situationen suchen nach einem Weg heraus aus ihrer Verzweiflung. Und oft finden sie ‚Glaubende‘ aus diesen Kirchen, die ihnen beistehen, sie anleiten zu einer persönlichen Konversion, die als eine Begegnung mit Jesus erfahren wird, die Erlösung in einem sehr buchstäblichen Sinne bietet. ‚So spricht der Herr: Ich wohne… bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf dass ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen‘. (Jes, 57, 14-15). Derartige persönliche Konversionen, die mit ‚Jesus annehmen‘ (accepting Jesus) beschrieben werden, sind oft gegründet in einer lebendigen spirituellen Erfahrung einer Begegnung mit der Liebe Christi. Von solch einer Begegnung wird erwartet – und oft führt sie tatsächlich dazu –, dass sich der Lebensstil der betroffenen Person ändert, einschließlich der Aufgabe von Alkohol, Drogen und kriminellen Aktivitäten. Wenn derart Konvertierte dann zur Kirche kommen, drücken sie ihre Veränderung im Leben oft mit einer Veränderung ihrer Kleidung aus: ‚respektable‘ Kleidung wie Anzug und Krawatte sind häufig bevorzugt. Oft hat eine Konversion Auswirkungen auf den familiären Zusammenhalt der Betroffenen. Häufig findet eine Frau zuerst den Weg zu einer spontanen Kirche. Wenn sie dann ihren Partner mitbringt, ist das meist der Beginn einer familiären Restrukturierung.  Einige dieser Menschen fühlen das innere Bedürfnis, die gute Nachricht ihrer Bekehrung zu teilen und beginnen, zusammen mit ihren Nachbarn in der Bibel zu lesen. Stück für Stück entsteht so eine neune ‚spontane‘ Kirche, zuerst in ihrer Wohnung, dann vielleicht in einer Garage oder vor dem Haus mit Stühlen, die jedes Mitglied der neuen Gruppe mitbringt. Selbst die kleinsten derartigen Versammlungen werden Igrejas, Kirchen, genannt. Einige von ihnen verschwinden nach einer Weile, andere organisieren sich und bauen zusammen einen kleinen Gebetsraum.“[13]

    Fragt man nach den historischen Wurzeln dieser ekklesiologischen Entwicklung, so macht man eine erstaunliche Entdeckung, die in ihrer Fragestellung weit über ihr aktuelles Phänomen hinausgeht und tief in die Geschichte der historischen Kirchen hineinragt. Denn die Gründe der Entfremdung zwischen der Katholischen Kirche in Brasilien und den heutigen Armen geht zurück auf die Zeit der Sklaverei:

    „Die meisten der heutigen Armen stammen von Menschen ab, die versklavt und dann von Afrika aus ‚importiert‘ wurden; und diese Sklaven und ihre heutigen Nachfahren wurden getauft, aber ihnen wurde nur wenig Zugang zu den anderen Sakramenten gewährt. Aus Afrika kommend wurden die versklavten Menschen nicht gefragt, ob sie getauft werden wollten oder nicht. Insofern es nur Christen erlaubt war, portugiesische Territorien zu betreten, war die Taufe obligatorisch für alle bevor sie den Fuß auf den Boden einer portugiesischen Kolonie setzen konnten. Die Taufe bestand in einer lateinischen Formel und Wasser; die Sklaven konnten den Sinn dieser Handlung nicht verstehen; es wurde nichts unternommen, um sie ihnen zu erklären oder sie auf die Taufe vorzubereiten. Faktisch war die Taufe in den Prozess der Versklavung integriert, bei dem die Afrikaner nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihren eigenen Namen, ihre Familien, ihre Kultur und ihre Identität für immer verloren. Auf diesem Wege wurden im Laufe der Jahrhunderte fünf Millionen Afrikaner unfreiwillig zu Christen, ohne in das Evangelium eingeführt worden zu sein (evangelization). Erst im Jahre 1888 wurde die Sklaverei in Brasilien offiziell abgeschafft; es war das letzte Land, in dem das geschah. Das ist noch nicht so lange her. „Als ich“ – so berichtet Frère Rudolf von Taizé weiter – „dort ankam, war das Gesetz, das man stolz das ‚Das goldene Gesetz‘ nannte, noch nicht einmal einhundert Jahre alt. Ich traf also in Alagoinhas bald nach meiner Ankunft jemanden, der mir die Ketten zeigte, die sein Großvater getragen hatte. Außerdem bedeutete das plötzliche Ende der Sklavenzeit, dass die frisch entlassenen Menschen über Nacht ohne Vorbereitung oder Übergangszahlungen oder Starthilfen auf den Straßen landeten. Hierin liegen die Gründe für die fortwährende Abhängigkeit und Ausbeutung ihrer Nachfahren bin heute. Einige katholische Theologen sprachen sich individuell gegen die Brutalität der weißen Sklavenhalter aus, aber insgesamt haben die Autoritäten der Kirche in Brasilien die Institution der Sklaverei nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern blieben ihre Komplizen. Solange Priester Mitglieder der höchsten sozialen Klasse eines bis in die Hausarbeit hinein auf Sklaverei beruhenden Landes sind, ist es nicht überraschend, dass Priester selbst Sklavenhalter und Herren in einer Sklavenhaltergesellschaft waren. Alle Sklaven wurden getauft. Dennoch gibt es nicht einen Beweis für die Konfirmation eines Sklaven und nur sehr wenige für Eheschließungen – wenn Besitzer Sklaven die Eheschließung erlaubten, konnten ihre Besitzrechte über ihre Sklaven leicht davon betroffen werden. Niemals konnten Sklaven Priester werden. Bis auf den heutigen Tag haben schwarze Menschen in unserem Kirchenbezirk Schwierigkeiten, wenn sie z.B. Paten werden wollen, weil sie häufig nicht konfirmiert sind. Trauerfeiern finden gewöhnlich nicht in der Kirche, sondern zu Hause statt. Die Menschen werden sehr schnell nach dem Tod beerdigt, so dass die Vorbereitungen zwischen Familie und Freunden stattfinden. Mit wenigen Ausnahmen sind offizielle Repräsentanten der katholischen Kirche nicht anwesend. Menschen, die in Nachbarschaften wie der unseren leben, beerdigen sich gegenseitig, aber diejenigen, die ‚Jesus angenommen haben‘ (accepted Jesus) oder ‚Glaubende geworden sind‘ (become  believers), werden von den Pastoren ihrer ‚spontanen‘ Kirche zum Friedhof begleitet. Rassentrennung wurde aus der Kirche erst in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verbannt. Die 1707 Verfassungen der Erzdiözese Bahia – die Magna Charta der Kirche dieses Landes im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert – verboten es farbigen Menschen, Priester zu werden, es sei denn sie hatten eine päpstliche Erlaubnis (indult). Und es waren nicht die kirchlichen Autoritäten, sondern die staatliche Verwaltung, die die Gleichheit aller Menschen erzwang. Erst 1960, neun Jahre nach der Unterzeichnung des Afonso Arinos Gesetzes (1951), das jeglichen Akt der Rassendiskriminierung unter Strafe stellte, ließen die Seminare und religiösen Kongregationen in ihren Statuten und internen Regularien von den Artikeln und Klauseln ab, die den Eintritt von farbigen Menschen in das religiöse Leben verboten. In den frühen neunziger Jahren lernte ich noch den ersten von drei schwarzen Bischöfen kennen, den ersten nach mehr als 500 Jahren offiziellen Christentums: Dom José Maria Pires. Er was ein Champion für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte. Schwarze Menschen in Brasilien hatten keine religiösen Führer, die ihre Rechte und die Würde ihres schwarzen Erbes verteidigten, wie es im nordamerikanischen Protestantismus der Fall war, wo schwarze Pastoren sich für die Rechte der Gläubigen einsetzten, ihre Kultur und Erbe fortzuführen. Die Katholische Kirche in Brasilien hat keine Figuren hervorgebracht wie z.B. Rev. Martin Luther King, den protestantischen Verteidiger der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten. Auf der Lateinamerikanischen Kirchenversammlung von Mexiko 2021 hielt Schwester Maria Suyapa Cacho Álvarez, eine schwarze Ordensschwester, eine gut aufgenommene Rede über ‚The Black Voice in Latin America‘. Sie warnte vor der Verachtung und dem Desinteresse, denen die schwarze Bevölkerung dieser Weltgegend in den Kirchen ausgesetzt sind. ‚Als ich mich auf diese Versammlung vorbereitete‘, erzählt Maria Suyapa, ‚bin ich durch viele Garifuna-Dörfer gefahren und viele Menschen sagten mir: Wir sind Kinder der Kirche, und doch benimmt sie sich uns gegenüber so, als ob wir nicht ihre Kinder wären! Schwarze Menschen in Lateinamerika fühlen sich nicht so willkommen wie sie sind. Die Kirche ist wie eine Mutter, die ihre Kinder dafür ablehnt, unterschiedlich zu sein (being different)‘, erklärt sie.“[14]

    Schrei der Erde – Schrei der Armen – Neue Beziehungen der Solidarität: Es bleibt nur „Hoffen über alle Hoffnung hinaus“[15] (Frère Matthew, Taizé).    

    P.S.

    Was kann das praktisch bedeuten?[16] Nach der persönlichen Erfahrung von Frère Rudolf in der Fraternität von Taizé in Brasilien gehören die „historischen Kirchen und die Christen der spontanen evangelischen Kirchen zur selben Kirche Jesu Christi. Wie können wir aber zusammenkommen? Die neuen, ‚spontanen evangelischen‘ Christen fühlen, dass sie Jesus nicht in den historischen Kirchen finden und sind deshalb bereit, sie zu verdammen. Andererseits beurteilen die historischen Kirchen die neuen spontanen Kirchen oft als sektenhaft oder illegitim. Wenn wir an das Gebet Jesu für die Einheit seiner Jünger in Johannes 17 denken, sind beide Reaktionen skandalös.“[17] Frère Rudolf (1936-2024) selbst verhielt sich folgendermaßen: „Viele Mitglieder der spontanen Kirchen hatten an den Aktivitäten [der Brincadera[18]] als Kinder oder Teenager teilgenommen; so vertrauten sie mir, denn sie kannten die kleine Gemeinschaft, aus der ich kam. Dieses Vertrauen war ein Schlüsselelement unserer täglichen Zusammenarbeit. So nahm ich recht häufig an ihren Gottesdiensten teil. Ich wollte unseren Nachbarn dabei helfen, zu verstehen, dass ich, wie sie, Jesus ‚akzeptiert‘ hatte für mein ganzes Leben. Es ist wahr, dass ich mich nicht sehr wohl gefühlt habe mit dem sehr lauten Musikstil, mit der Art Gott zu preisen und auch nicht mit der Länge der Predigten [in ihren Gottesdiensten]; das alles war so verschieden von dem, was ich aus der lutherischen Kirche in Deutschland und in den gemeinsamen Gebeten in der Gemeinschaft von Taizé zu leben gewohnt war. Aber was sind schon kulturelle Konflikte, wenn es um Gemeinschaft im Glauben geht?“[19]


  • Laudato si‘: Eine kulturwissenschaftliche Lektüre

    Laudato si‘: Eine kulturwissenschaftliche Lektüre

    Mit dem Titel „Laudato si‘“ erschien im Mai 2015 die zweite Enzyklika von Papst Franziskus. Mit ihr knüpft er ausdrücklich an die Enzyklika „Pacem in terris“ von Johannes XXIII. aus dem Jahr 1963 an, in der dieser sich erstmals an „alle Menschen guten Willens“ wandte. In „Laudato si‘“ lädt Franziskus „dringlich zu einem neuen Dialog ein über die Art und Weise, wie wir die Zukunft unseres Planeten gestalten. Wir brauchen ein Gespräch, das uns alle zusammenführt, denn die Herausforderung der Umweltsituation, die wir erleben, und ihre menschlichen Wurzeln interessieren und betreffen uns alle. […] Wir brauchen eine neue universale Solidarität.“[1]

    Im zeitlichen Bezug zur UN-Klimakonferenz 2015 in Paris stellt Franziskus in sechs Kapiteln seine „Sorge für das gemeinsame Haus“ zur Diskussion. Im ersten Kapitel analysiert er die Situation von Umweltverschmutzung und Klimawandel und stellt ihre sozialen Folgen heraus. Darauf aufbauend entwickelt er ein „Evangelium von der Schöpfung“ und skizziert eine universale Ökologie, die der kulturellen Vielfalt der unterschiedlichen Völker unter Einbeziehung aller Wissenschaften und Traditionen Rechnung tragen müsse. Im dritte Kapitel nimmt er die menschliche Wurzel der ökologischen Krise genauer in den Blick und entwirft dann eine ganzheitliche Ökologie, zu deren Umsetzung das fünfte Kapitel konkrete Handlungsorientierungen bietet. Im sechsten Kapitel ruft Franziskus zu einer ökologischen Umkehr und zu einem neuen Lebensstil auf. Der Veröffentlichung der Enzyklika folgte eine Vielzahl von Reaktionen aus unterschiedlichsten Perspektiven und Initiativen, die bis heute andauern.[2]

    Der Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme hat In seinen Untersuchungen zur Geschichte der Rationalität seit langem auf deren ausgegrenzte, dunkle, fremde und andere Zonen hingewiesen und sie an verschiedenen Phänomenen aus Kunst und Kultur beschrieben.[3] Auf dieser Grundlage lässt sich auch seine „andere Theorie der Moderne“ aus dem Blickwinkel des Fetischismus lesen.[4] Das Verhältnis zwischen Rationalität (Vernunft) und ihrem Anderen (Natur) beschreibt Böhme jedoch nicht als eine Trennung, sondern „ein poetisches Begegnen“ [5]. Die „Formkraft der Natur“[6], ihre „Technik ohne Intention“[7] bleibt der Naturwissenschaft fremd, doch begegnet sie dem Menschen als Schönheit und findet ihren Niederschlag in der Kunst.

    In seiner Lektüre[8] von „Laudato si‘“ problematisiert Hartmut Böhme zunächst den Universalitätsanspruch der Enzyklika und ihres Autors. Zwar bemerkt er die unterschiedlichen Referenzen, zu allererst die auf Franz von Assisi und die von ihm begründete „naturtheologische und armenfürsorgliche Tradition“, dann die auf die Päpste Benedikt XVI und Johannes-Paul II und die auf eine „breite Repräsentanz südamerikanischer Quellen“. Man spüre die Vertrautheit mit dieser der Theologie der Befreiung nahen Tradition. „Hier auch finden wir das Gebot der Bewahrung der Schöpfung verbunden mit der unmittelbar aus dem Wirken Christi abgeleiteten Zuwendung zu den Armen. Dies schließt den Kampf gegen die Ungerechtigkeit der Reichen und Mächtigen ein. Auf diese Linie bringt Franziskus auch Romano Guardini, der in konservativen Kreisen hohes Ansehen genießt. Guardini knüpft an die scholastische, aber auch säkulare Philosophie an, aber auch an die Kultur- und Kapitalismuskritik des zwanzigsten Jahrhunderts.“ Diese Referenzen dienen der innerkirchlichen Integration. Nach Außen richtet sich diese Integration trotz der von Franziskus erhobenen Anspruchs, sich an „an alle Menschen auf diesem Planeten“ zu richten, jedoch nicht. „Hier wären gehaltvolle Bezugnahmen etwa auf den Buddhismus (sein bemerkenswertes Desinteresse an Schöpfungsfragen, seine Lehre vom Nichts und von der Zerstörung als Umkehrpunkt neuer Welten) oder auf den Islam (seine starken Anleihen bei der jüdischen Schöpfungstheologie und die dem Menschen übertragene Sorge für die Pflege der Natur) angeraten gewesen. Für den Interreligiösen Diskurs wären auch solche nichtabendländischen Vorstellungen wichtig, die eine Trennung von Natur und Kultur nicht kennen oder die Umweltkrise auf Krisen des Ichs, letztlich also auf soziale Figurationen zurückführen (Zen-Buddhismus, Taoismus). Unverzichtbar für die Integration von nichtreligiösen Natur-, Wissens- und Ethikkonzepten ist der Dialog mit der Philosophie und Wissenschaft seit der Antike sowie mit NGO-Organisationen, welche neben engagierten Naturwissenschaftlern und Umweltpolitikern die Hauptlast an dem leisten, was Franziskus die kulturelle Evolution des Planeten Erde nennt.“

    In Böhmes Analyse hat diese Schieflage ihre Pointe darin, dass, wenn die „universelle Geschwisterlichkeit“, wie Franziskus sie in Bezug auf die Natur fordert, nicht auf die „kulturelle[] und religiöse[] Mannigfaltigkeit“ erweitert wird, „das ohnehin zersplitterte Christentum zu einer Sinnprovinz“ verkümmert.[9]

    Für „eines der stärksten Motive der Enzyklika“ hält Hartmut Böhme „die Verbindung der weltweiten Armutsprobleme mit der ökologischen Krise“.  Die ursprüngliche Erfahrung des Menschen gegenüber den übermächtigen Naturgewalten haben sich auf eigenartige Weise dahingehend verkehrt, dass „[n]icht die einzelnen Menschen selbst, wohl aber die Machteliten, die wirtschaftlichen Dynamiken und die Güterverteilung“ zu „einer Bedrohung des Planeten“ geworden sind. Der „rücksichtslose Raubbau“ zerstört nicht nur die Erde, sondern „untergräbt“ die „Lebenschancen der kommenden Generationen“, die Armen sind ohne Wasser und Nahrung in „ihr Elend eingeschlossen“ oder zur Migration gezwungen; hauptverantwortlich dafür sind die „hochentwickelte, reichen, industriellen und postindustriellen Gesellschaften“, sie haben die „ungerechte Verteilung der Güter“, die „überdrehte Konsumkultur“, die „brutalen Systeme der Agrarindustrie“, die „Zerstörung der Biodiversität“, die „undemokratische Konzentration von technologischem Wissen“ u.v.a.m. „ideologisch erfolgreich in Fortschrittsgewinne umgekehrt“ – so referiert Böhme die Enzyklika und fasst zusammen: „Das ist Missachtung der Natur durch eine Kultur, die in der Umweltzerstörung und der Pauperisierung der Massen ihren unfreiwilligen Ausdruck findet.“ Die Antwort darauf kann nur „Naturvertrag sein, der parallel zur Universalität der Menschenrechte entworfen wird und die Naturvergessenheit aller früheren Rechtsregularien überwindet“, dies dürfe man mit den Worten von Franziskus „eine kulturelle Revolution“ nennen.[10]

    Und Böhme nimmt diesen Gedanken der Enzyklika nicht nur auf, er denkt ihn weiter, spitzt ihn zu im Sinne eines „kulturelle[n] Projekt[es] der Natur“. Kultur wäre dann als „technische Kultur“ verstanden, „in deren Rahmen auch Natur zu einem Projekt wird: die Natur, in der wir leben und die wir den Nachgeborenen hinterlassen ist eine zweite oder dritte, in jedem Fall: eine anthropogene Natur. Die Natur in diesem Sinn ist eine Kulturaufgabe.“ Im Laufe der Jahrhunderte hat der Mensch sein Verhältnis zur Natur, die ihn hervorgebracht hat und umgibt, verändert und dabei seinen Einfluss und Spielraum stetig vergrößert. Entwicklungen wie Gen-Technologie und künstliche Intelligenz beispielsweise zeigen Horizonte an, die sich von den „Naturbedingungen der Erde“ lösen und damit „das Projekt der Natur“ selbst in Frage stellen. Und diese Situation stellt klar, worum es bei der „kulturelle Revolution“ geht: „Wenn es in den Wissenschaften weder eine ethische noch eine kulturelle Selbstverständlichkeit ist, dass die Entwicklung sich noch länger auf die Natur bezieht, dann wird diese Natur zu einer Frage des Entwurfs, wer wir in welcher Welt sein wollen oder sollen. Diese Provokation erste erlaubt das Durchdenken der Frage, was es heißt, sich als Menschheit im Oikos der Erde einzurichten. Von diesem äußersten Punkt her ist die ‚Ökologie des Menschen‘ zu bestimmen, oder, wie Papst Franziskus sagt: die ‚Humanökologie‘“[11]

    Damit wird die globale Ökologie zu einer Angelegenheit der Kultur und zwar in dem Sinne, dass Kultur als „die vom Menschen verantwortete Ökologie der Erde“ verstanden werden muss und das in der aktuellen konkreten Situation: „Erst vom möglichen Grenzwert der Verwüstung her ist denkbar, was die Erde als Heimat sein könnte“. Als solche ist sie eben keineswegs gesichert, sondern steht immer noch aus. „Zukunftsoffenheit ist ein Effekt der Kultur, welche die Macht natürlicher Determination schrumpfen und den kulturellen Gestaltungsspielraum wachsen lässt.“ Dieses Unternehmen ist eines mit offenem Ausgang, der Mensch kann dabei sich selbst zerstören, die gesamte Erde gleich mit, oder es gelingt, die Zerstörungen der Erde aufzuhalten und technisch zu reparieren: „geo engineering wird zu Aufgabe des Menschseins.“  In dieser Aufgabe liegt aber die Versuchung zur „Hybris der totalen Machbarkeit“ bzw. ein „Fortschrittsfetischismus, der längst in Destruktion umgeschlagen ist“.[12]

    Genau an dieser Stelle sieht Hartmut Böhme eine neue Bedeutungsmöglichkeit für die Religionen, insbesondere eine neue Funktion für den christlichen Schöpfungsbegriff: „“Die Funktion des christlichen Schöpfungsbegriffes könnte deswegen sein, eine praktisch-ästhetische Einstellung zur Erde zu entwickeln, die auch eine ethische Dimension enthält: Demut und compassio, Schonung und Pflege (das ist im Wortsinn cultura). Von hier aus liegt der Schritt zur Fusion von Ökologie und Armen-Politik nahe. Sie schützt davor, die Lösung der ökologischen Krise nur in technischen Antworten zu suchen. Ohne praktisch-politische Gerechtigkeit gibt es auch keine Lösung der ökologischen und sozialen Desaster. Dies ist eine der stärksten Überzeugungen von Franziskus.“[13]


  • Der namensgebende Gesang

    Der namensgebende Gesang

    Worin besteht der Grund für die enorme Wirkung des Franz von Assisi bis heute? Warum wirkt ein Bezug auf ihn, der sich mit seinem sint minores et subditi omnibus [1] radikal auf die Nachfolge (imitatio) Christi konzentrierte, bis heute impulsiv?

    Der Romanist und Literaturwissenschaftler Erich Auerbach ist dieser Frage nachgegangen und findet nach Prüfung der bekannten Einzelaspekte des Wirkens des Franz von Assisi folgendes entscheidende Argument: „[Er] hat die Phantasie des Volkes für Jahrhunderte befruchtet.“[2]

    Um dieses Phänomen noch genauer zu verstehen, fragt Auerbach weiter: „Welche geheimen Kräfte verliehen ihm solche Gewalt über die Phantasie der Menschen, die damals lebten und handelten, dass sein Bild und sein Wesen ihr Leben und Handeln zu beunruhigen, zu durchkreuzen, zu verwandeln vermochten? Es gab, wie gesagt, damals Bußprediger genug, und, zudem muss man bedenken, dass es zu jener Zeit der Einbildungskraft an Nahrung nicht fehlte; die Kreuzzüge mit ihren gewaltigen Bewegungen, ihren abenteuerlichen Kriegstaten, ihrer phantastischen Anschwellung von Verkehr und Reichtum müssen die einfachen Menschen aufs leidenschaftlichste beschäftigt haben, und wenn die plötzliche Erweiterung des Gesichtskreises zu einer Kritik und Beunruhigung der heimischen Zustände führte, so musste das weit eher ketzerisch-revolutionären Strömungen zugutekommen als der unpolitischen und nur aufs Innerliche gerichteten franziskanischen Bewegung.“[3]

    Schließlich fasst Auerbach zusammen, dass Franz von Assisi ganz im Sinne des italienischen Philosophen Giambattista Vico (1668-1744) ein „poetischer Charakter“ gewesen sei, „weil er ganz und gar bildlicher Ausdruck seiner selbst geworden ist. Den inneren Impuls trieb er mit einer überirdisch glühenden, mit einer seraphischen Entschlossenheit in die äußere Erscheinung; er wurde zum sinnlich-geistigen Erlebnis, unvergesslich und unverwechselbar ein sichtbares Zeichen geheimer Seelendinge.“[4]

    Und die wenigen von Franz von Assisi genau überlieferten Worte „tragen noch seine drängende und bei vieler Einfalt leidenschaftlich bewegte Geste in sich“[5]. Das zeigt sich insbesondere beim sogenannten Sonnengesang, „dieser ersten, unbeschreiblichsten Blüte des Volgare[6], in der die einfachste, unschuldigste, vertraulichste Liebe zum Irdischen ausatmet in dem vertrauten Gruß an den Tod, als sei auch er Kreatur, ein irdisches Ding, von Gott geschaffen und würdig des Ruhmes“[7].

    Dieser Sonnengesang Cantico di frate sole bildet den Referenztext und ist namensgebend für den enzyklischen Text des Bischofs von Rom, Papst Franziskus, der in seinem Anregungs- und Auseinandersetzungspotenzial in den folgenden Einträgen in diesem Blog untersucht werden soll: Laudato si‘.

    Über Entstehung und Praxis des Sonnengesanges berichten franziskanische Legenden. Demnach soll Franz von Assisi, von einer „schweren Lichtallergie“ befallen, sich selbst mit diesem Gesang aus seiner Not herausgesungen haben. Unmittelbar lehrte er „seine Gefährten, wie sie ihn singen und sprechen sollten“, so dass er zum „volksmissionarischen Lied der Minderbrüder“ und auch bei konkreten Anlässen der „Singseelsorge“ um Strophen erweitert wird. Zum Beispiel hat die dem Frieden gewidmete 8. Strophe des Gesanges einen politischen Streit zwischen Bürgermeister und Bischof von Assisi zum Hintergrund und die 9., dem Tod gewidmete Strophe, das Sterben des Heiligen selbst. Wie ein Chanson wurde der Sonnengesang also aktuell erweitert und gehört somit weniger in den liturgischen als in den seelsorgerlichen, fast diakonischen Bereich der Praxis.[8] Ja man kann den Sonnengesang als eine Art „poetische Stammzelle“[9] der gesamten Lebensweise des Franz von Assisi verstehen. 

    Trotzdem bzw. zugleich ist der Sonnengesang eben die „erste, unbeschreiblichste Blüte“ einer dichterischen Entwicklung der Volks- bzw. Nationalsprachen. „Assonanzen und Alliterationen, der ganze Rhythmus des italienischen Textes“[10] lassen den Klang eines Liedes erkennen. Im Vergleich mit biblischen Vorbildern des Sonnengesanges wie „Psalm 148“ und dem septuagintischen „Gesang der Jünglinge in Feuerofen“ aus dem Buch Daniel[11] wird deutlich, dass der Sonnengesang dem „enzyklopädischen Hang zur Vollständigkeit“[12] nicht folgt. Das aus Antike und Mittelalter bekannte „Vier-Elemente-Schema“ wird in den Strophen 4-7 erkennbar. „Aber es spielt hier nicht die Rolle einer naturphilosophischen Theorie, die alle Dinge aus der Trennung und Mischung der vier Elemente zu erklären versucht. Naturphilosophischen Untersuchungen dieser Art liegen dem Heiligen ebenso fern, wie die pythagoreische Mathematik bei der heilsamen Wirkung der Musik. Die vier Elemente erweisen sich nur als einleuchtendes Schema die Phänomene der sublunaren Welt anschaulich zu erfassen.“

    Neu ist der „persönliche Ton“, der sich in „geschwisterlichem Wechsel durch den Gesang“ zieht: „frate sole, sora luna, frate vento, sor aqua, frate focu und schließlich sora nostra matre terra“.[13] Doch im Unterschied zu antiken Vorstellungen von mit den Elementen verbundenen Naturgottheiten, die in mythologischer Abstammung und konfliktreichen Auseinandersetzungen aneinander gebunden sind, sind sie bei Franz von Assisi allesamt „Kreaturen, Geschöpfe des ‚einen höchsten, allmächtigen, guten Herrn‘“, und als solche „Brüder und Schwestern des Menschen“. „Die Geschwisterlichkeit wird nicht von der gemeinsamen leiblichen Abstammung her gedacht – Franziskus‘ Bruch mit dem leiblichen Vater hat prototypischen Charakter –, sondern wie unter den minderen Brüdern und Schwestern, als freundliche Zuneigung und demütiger Dienst, als sozialisierter Animismus sozusagen.“[14]        

    Die Untersuchungen des Sonnengesanges durch den katholischen Theologen Alex Stock beschreiben genauer, was damit gemeint ist: „Der Schöpfer wird gelobt, dass die von ihm geschaffenen Dinge dem Menschen so schön und hilfsbereit zugeneigt sind. Er wird – das ist die Doppeldeutigkeit des italienischen per – der Geschöpfe wegen ebenso gelobt wie durch sie, durch ihre Selbstbeteiligung. Das Lob ist nicht die schlichte Umsetzung des Glaubensartikels, dass alles von Gott geschaffen ist, es geht vielmehr aus einer lebendigen Empfindung der Natur hervor, einer einzigartigen Sensibilität für die Freundlichkeit der Dinge.“[15] 

    In diesem quellliturgischen Zusammenklang fällt allerdings eine Fehlstelle deutlich auf. Im Sonnengsang hat die Liebe zu den Tieren keinen Platz gefunden. Und das obwohl zahlreiche Episoden aus dem Leben des Franz von Assisi belegen, „dass sie aus den laudes creaturarum mitnichten ausgeschlossen werden sollten. Hasen, Wölfe, Lämmer, Vögel, Fische werden selbstverständlich als Brüder und Schwestern angesehen, angeredet und behandelt“. Im Verhältnis zu den Tieren ist die „kreatürliche Empfindungsnähe“ am größten, zugleich aber mit „Jagd, Fang und Raubtierlichkeit die Gewalt am spürbarsten“ und bringt den elementaren franziskanischen „Wunsch nach Frieden und Freiheit der Geschöpfe“ zum Ausdruck.[16]  Er ist von einer „spezifisch christliche[n] Färbung der Compassio“ geprägt, wenn Franziskus bei den kleinen Lämmern oder den Würmern am Boden an den Herrn Jesus Christus denkt, der so versinnbildlicht wurde (Jes 53, 7; Joh 1, 29; Ps 21, 7).“ Damit kehrt Franziskus „das theologische Verfahren, die Natur symbolisch zu nutzen, um, indem er den christologischen Sinngewinn den Geschöpfen, die dazu beigetragen hatten, zurückerstattet, indem er sie behandelt, als wären sie der Leib Christi selbst. Es ist eine Soteriologie die naiv und utopisch zugleich erscheint“.[17]  

    Nicht zuletzt dadurch bleibt der Sonnengesang des Franz von Assisi in von Verwaltung dominierten Kirchen und Theologien „nicht recht domestizierbar“[18]. In seiner „Heterotopie“ verursacht er wie die Bergpredigt ein hoffnungsvolles Wetterleuchten „am Horizont des kirchlichen Christentums“.[19]


  • 2025: Schrei der Erde – Schrei der Armen

    In jüngerer Zeit hat kein zeitgenössischer theologischer Text über die kirchlichen Grenzen hinaus eine auch nur ansatzweise vergleichbare Wirkung entfaltet wie die enzyklische Schrift „Laudato si“ von Franziskus, dem Bischof von Rom. Wie immer man im Einzelnen zu dieser Schrift steht: Mit der Kombination des Schreis der Erde, die nicht schreit, und des Schreis der Armen, die man nicht hört, eröffnet sie ein neues Paradigma, eine Chance für die Kirchen, sich auf den Gott der Inkarnation zu besinnen und von hier aus eine aktive Rolle in den Krisen der heutigen Welt zu spielen.

    Neben einzelnen Lektüren von „Laudato si“ wird im Blog die Arbeit des Lehrstuhls gleichen Namens dokumentiert, die vor einigen Jahren in Paris stattgefunden hat und dezidiert nichttheologische Sichtweisen aus anderen Disziplinen auf diese Schrift bezugnehmend zu Wort kommen ließ. Sie rüttelt an theologische Gewissheiten und legen offen, wie sehr Theologie des freien Austausches mit anderen Disziplinen bedarf will sie nicht in ihrer Tendenz zum Selbstbezug ganz aus der Öffentlichkeit verschwinden.

  • Eine Liturgie zur Umwandlung von Schmerz

    Eine Liturgie zur Umwandlung von Schmerz

    Das Prinzip der Spiegelung der Artikel des Kleinen Katechismus Martin Luthers in seinen Katechismus- Liedern in umgekehrter Reihenfolge kommt hier an sein Ende. An diesem Ende gibt es kein im klassischen Sinne Katechismus-Lied, sondern als Beichtlied steht dem Text über die Zehn Gebote Luthers seine berühmte Nachdichtung und Vertonung des alttestamentlichen Psalms 130 „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“ (1523/24) gegenüber.

    Damit zieht in unsere Kommentarreihe zum Kleinen Katechismus am Schluss noch ein weiteres, anderes Register ein, das Psalmlied. Als solches öffnet es die alten Begriffe Schuld, Beichte und Buße. Sie sind in ihrer Tendenz zur moralischen Engführung heute oft schwer verständlich und in ihrer Schwere sicher Luthers augustinischem Pessimismus geschuldet. Doch der alttestamentarische Horizont stellt sie in die Weiten geballter Lebenserfahrung, der nichts fremd ist, und der einen heutigen Blick ermöglicht. Um es mit Franz Fühmann zu sagen: „So handelt der Mensch, und nun sieh du dich an!“[1].  

    Bevor dieses Lied seinen liturgischen Ort in der allgemeinen Beichte und am Buß- und Bettag fand, wurde es als Begräbnislied im Angesicht einer oder eines Toten am Grab gesungen.  Damit wird die Gemeinsamkeit der drei genannten theologischen Begriffen herausgestellt: Es ist ihr Bezug zum Tod und zu Todeserfahrungen jeglicher Art. Diese werden in ihrer Komplexität von Luthers Lied direkt aufgenommen und zum Ausdruck gebracht.

    Damit tritt seine eigentliche Funktion zu Tage, die vielleicht mit dem Sinn des Christentums überhaupt zusammenfällt:  Die Umwandlung von Schmerz. Luthers Psalmlied „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“ ist eine Liturgie zur Umwandlung von Schmerz.

    Aus der Tiefe, dich vergessen,

    ruf ich dich.

    Aus der Tiefe

    aus dem gähnenden Abgrund

    aus dem qualmenden Fetttopf, der riechenden Bettstatt

    aus rosengeschmückten

    lilienüberwucherten Fallgrube

    aus dem betäubenden Tal der Vertuschung

    wo an ihre silbernen Räder

    gekettete Kinder –

    mit zugenähten Lippen

    murmeln

    und gerade noch rufen und wüten

    dann wieder Gemurmel:

    Was hat uns verlassen oder wer

    ich würde es nicht wissen.

    Aus der Tiefe, dich vergessen,

    ruf ich dich.

    Aus der Tiefe lichtscheu

    dicht geschrieben –

    müde und hustend

    weiß nicht, wie lang noch,

    hört nicht den Flötenton

    den Schrei der Möwen

    ein Wort und noch eins

    einen Trompetenstoß;

    irgendwie unglücklich weint um seinen Vater

    eine Mutter einen Hund einen Geliebten

    einen Gott

    würde gern rufen

    aber ruft nicht.

    Aus der Tiefe, dich vergessen,

    ruf ich dich.

    Aus ihren kupfernen Zinnen

    Wassergold strömenden

    aus dem Staubgold stiebenden Abgrund

    aus ihrem gestohlenen Abgrund

    aus ihrem zugeschütteten Haupt

    aus ihren verloschenen Vulkanen

    aus ihrer leer geraubten Landschaft

    aus ihrem entleerten Bildersturm-Himmel

    aus ihrem verbrannten Haus

    hinter dem Sklavenlächeln

    tödlich schweigend

    hinter ihren Bettleraugen

    schwarz unerreichbar

    doch noch das Licht nicht vergessen

    den Stern des Morgens

    aus ihrer Scham, dem Wahnsinn, der Missgeburt

    mit ihren Scherbengesichtern

    Splittern von Mündern

    Beinahe-Worten von Menschen

    rufen sie –

    und du wirst nie mehr fragen:

    Wer hat mich gerufen.

    Aus der Tiefe, gottverlassen,

    ruf ich dich.

    Aus Wörtern Worte windend

    wie ein Wurm aus der Tiefe

    und kein Mensch mehr

    so die Stimme meines Rufens.

    So wie eine vor Durst beinah Sterbende

    kriecht durch das Feuer

    so wie in der Hitze die ersten Tropfen

    fallen vom Platzregen

    so die Stimme meines Rufens

    wo wie hinter den Bergen

    aufglüht die Sonne

    wo wie plötzlich über die Mauer der Nacht

    das Morgenlicht springt

    so die Stimme meines Rufens.

    Aus der Tiefe, dich vergessen,

    ruf ich dich.

    (Huub Oosterhuis, Psalmen, 130A)


  • Im Schatten

    Im Schatten

    Die Spiegelung des Glaubensbekenntnis-Artikels aus dem Kleinen Katechismus und des Katechismus-Liedes Martin Luthers zum Abendmahl führt uns in einen Engpass. Der Glaube respektive das Abendmahl im Lied „Jesus Christus, unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt“ (1524) bleiben gefangen in im Modus der Katechese, des Erklärens und richtigen Bedeutens. Diese Enge wird deutlich trotz lutherischer Sprachkraft und hymnischen bzw. melodischen Verbindungen, wie sie im Abendmahlslied zu finden sind.

    In Zentrum steht die gestrenge Mahnung sich dem Abendmahl nicht anders als als reuiger Sünder zu nähern und sich im Empfang nicht selber helfen zu wollen: „Dieser Tisch auch dir nicht gilt, / so du selber dir helfen willt“.

    Hierin kommt Luthers Furcht vor einem falschen Gebrauch des Abendmahles zum Ausdruck. Sie hat sich zu einer generellen Furcht vor jeglicher Praxis des Glaubens im Bereich des Protestantismus herausgebildet. Richtiges Erklären bzw. Überzeugung gehen vor Praxis oder Lebensform.

    Luthers Furcht hat seinen Hintergrund sicher in der nicht nur für ihn schauerlichen Ausübung des Ablasshandels. Was uns heute befremdlich anmutet, war zu Luthers Zeiten weit verbreitet und kann kaum anders als eine Geißel der Kirche bezeichnet werden, mit der sie die Menschen traktierte. Auf perfide Weise kombiniert der Ablasshandel Erlösungsglauben bzw. Furcht vor dem Gotteszorn mit Geld und kirchlicher Repräsentation. Dieser Klassiker kirchlichen Marketings hat einen langen Schatten auf Fragen der Praxis bis in unsere Tage geworfen.

    Dieser Schatten verdunkelt vor allem jene Zwischenräume von Praxis, die sich zwischen Theologie und Diakonie aufspannen und spirituelle, oder liturgische oder religiöse Praxis genannt werden und setzt sie dem Verdacht der Werkgerechtigkeit aus. In der zweiten Folge unserer Reihe der Kommentare zu Martin Luthers Kleinem Katechismus sind bereits Skizzen zu Begriffen wie Praxis, Werk, Entwerkung beschrieben, die diese dunklen Verdächtigungen aufklären.

    Wie schnell sie dennoch diese Praxismöglichkeiten durch die Gewohnheit direktiver Repräsentation verfälschen sei an drei scheinbar nebensächlichen Beispielen aus dem gottesdienstlichen Bereich gezeigt.

    In Fernsehgottesdiensten (und auch anderswo) kommen seit einiger Zeit gern einmal sogenannte Lebensexperten zu Wort. Sie sollen eben gelebtes Leben als eine Art Zeugenschaft für ihren Glauben zur Sprache bringen. Das ist oft sehr berührend. Dennoch fällt auf, wie wenig direkt sie gottesdienstlich eingebunden sind, wenn sie zum Beispiel im Zusammenhang des Kyrie erscheinen. Da ist also ein solches Statement aus dem wirklichen Leben und, damit dies Teil des Kyrie werden kann, wird es noch einmal von der liturgisch leitenden Person zusammengefasst, also gedoppelt.

    Oder in einem Gottesdienstformat, das mit zeitgenössischer Kunst umgeht, soll das Glaubensbekenntnis vor einem Bild der Ausstellung eingeleitet werden, auf dem Buchstaben zu sehen sind, die in einer Reihenfolge das Wort Credo ergeben und in verschiedenen Fassungen und schließlich als dieses Wort aus dem Bild gelesen werden. Anstelle dessen, dass daraufhin die liturgisch leitende Person sich erhebt und das Glaubensbekenntnis direkt beginnt, folgt gewohnheitsmäßig repräsentativ der Satz „Wir bekennen unseren christlichen Glauben“.

    Oder in einer Andacht im Zusammenhang von jüdisch-christlichen Dialog wird mit großer Freude angekündigt, dass der aaronitische Segen von einem jüdischen Kantor intoniert wird. Der tat seinen Dienst auf bewegende Art und Weise. Und als ob dieser Segen nicht gültig sein könne, spendet direkt im Anschluss daran die liturgisch leitende Person den Segen noch einmal: richtig.

    Diese Beispiele beschreiben, wie durch kleine Unachtsamkeiten, (die nicht einmal mit Absicht geschehen), lebendige Praxis durch Richtigkeiten eingehegt und somit in ihr Gegenteil verkehrt wird. Denn was Leben, Kunst oder zwischenreligiöse Geschwisterlichkeit praktizieren soll, wird vorgeführt oder ausgestellt wie im Zoo.

    Ein weiterer, anderer Aspekt der genannten Engführung, mit der wir konkreter auf das Thema Glauben und Abendmahl in unserem Zusammenhang zurückkommen, versteckt sich in Luthers Vers „Das wir nimmer des vergessen“. Der in Luthers Vers verborgene theologische Terminus ist Gedächtnis, anamnesis oder Memorial [1]. Es genügt, diesen Begriff zu nennen, um zu zeigen wie sehr richtige Lehre oder Überzeugung der gemeinsamen – in diesem Zusammenhang ökumenischen – Praxis im Wege steht.

    Man könnte dies als ein innerchristliches Problem ansehen, was es auch ist. Dennoch weist das Auftreten des Wortes Memorial als Name einer „[h]istorisch-aufklärerische[n], gemeinnützige[n] und menschenrechtliche[n] Gesellschaft“, die 1989 in Moskau gegründet, im Frühjahr 2022 in Russland verbotenen wurde und als „Netzwerk unabhängiger Nicht-Regierungsorganisationen agiert“[2], auf eine politische Dimension von erschreckender Aktualität. Gesellschaft und Netzwerk dokumentieren die Zeugnisse harter politischer Repression und Verfolgung vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Wenngleich Memorial keine christliche Organisation ist, so ermöglicht es doch ihr Name, in den dokumentierten Leidenswegen das Leiden Christi zu entdecken. Das eröffnete Luthers Abendmahlslied noch eine andere Dimension:

    „Jesus Christus, unser Heiland,
    der von uns den Gotteszorn wandt,
    durch das bitter Leiden sein
    half er uns aus der Höllen Pein.“


  • Das G (g)emeinsame d(D)enken

    Das G (g)emeinsame d(D)enken

    Wenn sich das Vaterunser in Luthers Tauf-Lied „Christ, unser Herr, zum Jordan kam“ spiegelt, stehen sich in der Form zwei Praktiken gegenüber: das Beten eines Gebetes und das Singen eines Liedes. Dabei hat das Beten im Falles des Vaterunsers auch die Ebene des Rezitierens eines Bibeltextes und das Singen von Luthers Tauf-Lied die Ebene des Nacherzählens biblisch-dogmatischer Überlieferung.

    Diese Konstellation kann als eine Homiletische – also auf die sogenannte Verkündigung bezogene – identifiziert werden, allerdings als eine Homiletik jenseits der Predigt. Interessanter erscheint es jedoch, diese Konstellation als eine Öffnung des Denkens zu verstehen.

    In einem Interview macht sich Jean-Luc Nancy „Für ein gemeinsames Denken“ (Pour une commune pensée)[1] stark und beginnt beim alten Gegensatz zwischen Gedanke bzw. Denken und Aktion. Bei einer Betonung und auch Notwendigkeit von Aktion könne man jedoch nicht übersehen, dass jede Aktion ein Denken voraussetzt. Und das insbesondere heute, wo wir keine mögliche, wahrscheinliche, vernünftige oder gar rationale Zukunft vorstellen können.

    Unsere Gesellschaften sind in einem schlechten Zustand. Nancy geht so weit zu sagen, dass wir bereits dabei sind, die Zivilisation zu wechseln. Und das verlangt eine größere Anstrengung des Denkens, als sie von allen, die uns vorausgegangen sind, gefordert war. Von Vielen wird diese Forderung an die Institutionen gestellt, die traditionell für das Denken zuständig sind. Davon haben wir heute im Wesentlichen drei.

    Das sind die Akademien, die Universitäten und die Think Tanks. Die Akademien sind vielleicht die ältesten Institutionen der westlichen Geschichte von Plato’s Akademie angefangen, über die Akademien der Renaissance bis hin zu den Akademien der Wissenschaften heute. Sie haben an entscheidenden Stellen der Geschichte bedeutende Rollen gespielt. Heute bleibt von ihnen nicht viel mehr als das, was man Akademismus nennt. Universitäten sind seit ihrer Gründung im Mittelalter und ihrer deutschen Erneuerung zu Beginn des 19. Jahrhundert ebenfalls ein bedeutender Ort des Denkens. Heute allerdings sind sie zu Orten beruflicher Ausbildung gerade noch höheren Grades geworden. Die Think Tanks, die das Denken (think) in ihrem Namen tragen und etwas (tank), was eher an schwere Gerätschaften der Industrie und des Kommerzes oder der Rüstung denken lässt, kommt aus dem Lobbying und praktiziert eine Art permanenter Wiederverwertung (recyclage permanente) von bereits aus unserer Kultur Bekanntem.     

    Es braucht also etwas Anderes. Ob öffentliche oder private Ausformungen von Institutionen, die sich unter den drei genannten subsummieren lassen sind aus dem Spiel. Sie bezeichnen den „Geist einer Welt ohne Geist“. In diesem Zusammenhang rufen Einige die Religion auf. Aber die Religionen, selbst wenn sie aus einem tiefen Anspruch (exigence) des Denkens und starken Veränderungswillen der Welt geboren sind, bieten doch als Religion nicht zu denken an, sondern zu glauben. Das ist nicht nur verschieden, sondern eher entgegengesetzt.

    Dieser Analyse folgende schlägt Jean-Luc Nancy weder eine Institution noch eine Religion vor, ja nicht einmal eine Philosophie, die immer missverstanden werden kann als eine Quasi-Religion, als eine Art Wissens- oder Anschauungssystem.

    Das, was Nancy vorschlägt, ist tatsächlich etwas Anderes, nämlich ein gemeinsames Denken (commune pensée): Diesen Ausdruck möchte er in zweierlei Weise verstanden wissen: Zuerst als das gemeinsame Denken (pensée commune) und dies nicht im Sinne eines banalen Denkens (pensée banale), sondern im Sinnes dessen, was ein/e jede/r anerkennen könnte als allen zugehörig, was also jede/r denkt bzw. denken kann und somit einen Sinn öffnen und diesen  einer/m anderen anbieten, teilen und in Umlauf (circuler) bringen kann.

    Für die zweite Weise des Verstehens von gemeinsames Denken werden die Rollen zwischen Substantiv und Adjektiv umgedreht: (der, die) das gedachte Gemeinsame (la commune pensée). Das Gemeinsame – la commune – nicht nur im Sinne der Pariser Kommune von 1789, also zuerst als bürgerliches Gemeinsames im zivilen Sinne der Befreiung aus der Feudalität, sondern auch im weiteren Schritt von 1871 also im Sinne einer Befreiung von dem, was im Second Empire daraus geworden ist; in beiden Fällen ist durch diese Daten ein Impuls markiert in Richtung von etwas, das sowohl über das Private als auch über das Kollektive, ebenso wie über das Isolierte und das Angeworbene hinausgeht.

    Dies lässt sich am ehesten beschreiben als Teilen des Gemeinsamen durch jede/n einzelnen und durch alle. Man könnte sich also die Aufgabe stellen, zu denken, was dieses Wort gemeinsam (commune) nicht nur heute, sondern morgen oder übermorgen bedeuten könnte. Und dabei an etwas denken, was weder eine Gesellschaft, noch ein Staat, noch ein Eigentum oder alles, was man mit Recht beschreiben könnten, ist; also auch keine Bruderschaft oder Gemeinschaft.

    Vielleicht am ehesten das Gemeinsame, das gerade nicht Gemeinschaft (communauté) ist – oder jedenfalls nicht das, was man heute kommunitaristisch nennt…

    Das Gemeinsame denken bzw. das gemeinsame Denken, das ist die Aktion des Denkens, der wir uns heute stellen müssen.   


  • Sagen, was man nicht weiß

    Sagen, was man nicht weiß

    In der Spiegelung der Taufe auf das Vaterunser-Lied, nehmen wir das Thema aus vielen vorausgegangenen Teilen dieses Zyklus von Kommentaren zum Kleinen Katechismus Martin Luthers wieder auf: Das Wechselspiel zwischen einem Ich, einem Du und einem Wir…

    In der Zufälligkeit der Spiegelung (in unserem Sinne von Spiegelung Kleiner Katechismus // Katechismuslieder) von Taufe und Vaterunser-Lied öffnet sich eine überraschende Perspektive. Sie besteht darin, dass sie die gewohnte und historische liturgische Kombination von Taufe und Credo – von „Du bist mein geliebtes Kind“ und seiner Antwort: „Ich glaube“ – was seinen Antwortteil betrifft, ändert in die Antwort: „Vaterunser“.[1]

    Die poetische Kraft der musikalischen und textlichen Gestaltung dieser Antwort in Form des Liedes von Martin Luther von 1539 zeigt sich besonders eindrücklich, wenn man alle seine Strophen singt – das Lied also ernst nimmt – und sich damit der (zumindest im protestantischen Bereich) selten ausgeübten Praxis der Wiederholung überlässt. 

    Zugleich realisiert sie in der Anrede und der Praxis des Singens direkt den Horizont einer Gemeinschaft. Dies jedoch könnte man auch in der Zuordnung des Glaubensliedes zur Taufe finden. Wir kommen darauf zurück.

    Ein entscheidender Unterschied besteht in der Form der Antwort, nämlich der des Gebetes. Und diese Feststellung lohnt einen Exkurs:

    Englische Literaturwissenschaftler, Philosophen, Bibelwissenschaftler und andere fragten den französischen Philosophen Jacques Derrida auf einem Podium in der Universität Glasgow, was er denn damit meine, wenn er von sich schreibe, er sei ein Mann des Gebetes und der Tränen und bete allezeit: »Zu wem beten Sie? Von wem erwarten Sie Antwort auf Ihre Gebete? «

    Sich vorsichtig an eine Antwort herantastend – mit einem Gebet – beginnt Derrida zu antworten: Er bittet dafür um Verzeihung, dass er zu antworten versucht zu einem Thema, zu dem er nicht kompetent ist, er sei weder Judaist, noch Theologe, noch Bibelwissenschaftler …

    Wenn es jedoch Gebet gibt und wenn er, Derrida, betet, dann ist Gebet etwas absolut Geheimes. Natürlich gibt es öffentliche, gemeinschaftliche Gebete. Aber selbst bei einem Gebet in Gemeinschaft wäre sein Gebet ein stilles, geheimes Gebet, das immer auch etwas in der Gemeinschaft unterbricht. Ein Gebet ist also eine Mischung von etwas singulärem Geheimen und etwas rituellem Gemeinsamen, das den Körper einbezieht in kodierten Gesten: knien, stehen, mit einem Buch oder ohne, gehen …

    Wenn es für Derrida Gebet gibt und wenn er betet, dann erwachen in einem und demselben Moment des Gebetes mehrere Alter. Das erste Alter ist ein kindliches, archaisches. Wenn man betet, ist man immer ein Kind. In diesem Alter versammeln sich kindliche Bildwelten: Gott als der Großvater, der strenge, aber unerbittlich gerechte Großvater mit einem Bart; zugleich ist da die Mutter, die von der Unschuld des Kindes überzeugt ist und ohne Bedingungen bereit ist, zu vergeben.

     Ein anderes Alter ist das kulturelle Alter. Hier kommen die kritische Kultur, der Zweifel, das Wissen der Religionskritik, Feuerbach, Marx, Nietzsche usw. zum Zuge: die Erfahrung des Nichtglaubens. In dieser Altersschicht findet Derrida einen Weg der Meditation darüber, wer betet und zu wem er betet. Diese Art denkenden Betens ist ein Weg, Fragen zu stellen. Das In-der-Schwebe-Halten der Gewissheiten, des Wissens, ist Teil des Gebetes. Jede Antwort auf diese Fragen, jede Erwartung, jede Sicherheit würde das Gebet sofort beenden und würde es zu einer Bestellung machen, wie das Bestellen einer Pizza.

    Gebet gibt also alle Erwartung und jegliche Sicherheit im Verhältnis zu dem oder der, denen ein Gebet adressiert wird, auf, wenn es ein Gebet ist. Jenseits aller Erwartung, jeglicher Sicherheit, jeder Berechnung und Ökonomie, findet sich ein Gebet einer fast hoffnungslosen Situation ausgesetzt vor.

    Aber in dieser Wüste der Hoffnungslosigkeit – selbst wenn kein Gott ist, der das Gebet empfängt oder ihm antwortet – bleibt die Erfahrung, dass sich durch den Akt des Betens – außerhalb der Liebe – etwas im Betenden selbst verändert: er/sie wird für sich besser, versöhnter mit sich selbst und damit auch liebevoller für andere Menschen und für alles, was sie/ihn umgibt. Darin besteht ein Rest von Berechnung fort, in dem das Kindsein im alten Manne wiederkehrt (eine weitere Altersschicht) und der nun das Unberechenbare einschließt, ein Rest, der nicht ganz aufgegeben werden kann.

    In ein und demselben Moment bilden diese befremdlich unterschiedlichen Erfahrungen eine Welt, »in der meine Gebete beten«, manchmal zu einer konkreten Tageszeit, manchmal zu jeder Zeit, zum Beispiel jetzt.[2]

    Das Glaubensbekenntnis aber – Ende des Exkurses – ist kein Gebet. Das ist schon daran ersichtlich, dass es keinen Adressaten hat. Dieser fundamentale Unterschied wird bis hin zu offiziellen Internetauftritten z.B. der EKD übersehen, indem man Gebet und Bekenntnis gemeinsam rubriziert. Auch in der liturgischen Praxis des gemeinsamen Sprechens[3] wird beides bis zur Ununterscheidbarkeit aneinandergerückt. Dafür gibt es keinen Grund.

    Der quellenmäßige Unterschied ist eindeutig. Das Vaterunser ist das neutestamentliche Gebet Jesu. Das Credo, ganz gleich ob Apostolikum oder das seltener gesprochene Nicäno-Konstantinopolitanum ist Kirchengeschichte. Um genau zu sein – und das wird im Zusammenhang von 1700 Jahren Konzil von Nizäa historisch genauer zu analysieren und offen zu legen sein – ist das Credo in Sprache und gedanklicher Architektur Ausdruck der Kombination von Christentum und Herrschaft wie es sich im Zuge der sogenannten konstantinischen Wende entwickelt hat.

    Diese Entwicklung – wie auch immer man sie im Einzelnen beurteilt – neigt sich heute ihrem Ende zu. In ihrem minderheitlich werden, werden die Kirchen vielleicht eine andere Sprache für ihren Glauben erfinden und die alten Bekenntnisse nur noch selten sprechen etwa, um die Verbindung zu ihren Geschichten zu pflegen und ihrer vielfältig zu gedenken.[4]

    Wie das genauer aussieht, wird sich zeigen. Das Entscheidende jedoch kommt schon im Antwortwechsel unserer Spiegelung zum Ausdruck und es wird pointiert deutlich in einem Gedanken von Jean-Luc Nancy. Der Philosoph schildert in einem Gespräch wie ihm anhand der Frage eines kleinen Mädchens, die ihm nach einer Vorlesung für Kinder über das Thema Liebe gestellt wurde, folgendes aufging. Die Frage lautete: „Warum hat man solche Angst davor, das erste Mal ‚Ich liebe Dich‘ zu sagen?“ Und seine Antwort: „Man hat derartige Angst davor, eben weil man weiß, dass man nicht weiß, was man sagt.“[5]

    Dieser Modus des Sagens von etwas, von dem man weiß, dass man nicht weiß, was man sagt lässt sich bei einem Gebet leicht nachvollziehen – Paulus zum Beispiel spricht von Stammeln. Das er aber auch der angemessene Modus eines Bekenntnisses ist, bleibt neu zu entdecken und zu gestalten. [6]

    In diesem Sinne könnte es sein, dass die oft beklagte Tatsache, dass man das Credo nicht (mehr) verstehe, eine zukunftsweisende Dimension hat, Man spricht es zwar gemeinsam in den Gottesdiensten, sagt dabei aber etwas, obwohl man nicht (mehr) weiß, was man sagt. Im Sich-bewusst-Werden dieser Praxis[7] läge bereits etwas Zukunftweisendes, Öffnendes.

    In dieser Spure wäre eine Gemeinschaft in der, in die hinein oder aus der heraus etwas gesagt wird im Modus des nicht Wissens, was man sagt, eine Gemeinschaft, die sich dessen „bewusst wäre, dass sie keine gemeinsame Substanz hätte, dass sie eben keine Sache gemeinsam hätte, keine Rasse, keine Nation, nicht einmal ein Aggregat, aber ein Teilen (partage), eine Zirkulation, ein Teilen von Sinn (sens).“[8]


  • Logik und Praxis der Gnade

    Logik und Praxis der Gnade

    Folgen wir dem Prinzip der Spiegelungen, so kommt zum Aspekt des Klangraumes des entsprechenden Katechismus-Liedes zu seinem Paragraphen im Kleinen Katechismus noch der Aspekt eines Wechselverhältnisses zu dem gespiegelten Paragraphen hinzu und öffnet sie gegenseitig.

    Im zweiten Gang finden sich dann das Glaubenslied und das Abendmahl einander gegenüber vor. Diese Spiegelung eröffnet überraschende Reflexionen. Zunächst gilt es festzustellen, dass Martin Luther das Glaubenslied „Wir glauben all an einen Gott“ direkt für den liturgischen Gebrauch geschrieben hat. Für seinen drei strophigen Text hat er auf die ältere Melodie eines lateinischen Credoliedes zurückgegriffen. Diese Melodie ist von hoher ästhetischer Qualität und nicht leicht zu singen, so dass sie in der realen Praxis häufig vereinfacht wurde.

    Luthers Text widmet jede Strophe einer der drei göttlichen Personen, wobei er auf die Formulierungen der altkirchlichen Überlieferungen (Nizänum, Apostolikum) zurückgriff, diese jedoch behutsam aber entscheidend ergänzte. So fügte er z.B. der dem Gottvater gewidmeten ersten Strophe „genuin lutherische Aussagen über die Vatergüte und Fürsorge Gottes“ hinzu, betonte in der zweiten Strophe den Aspekt des Glaubens in Bezug auf das Heilshandeln Christi und übersetzt in der dritten Strophe catholica mit „ganz Christenheit auf Erden“.[1]

    Diese Technik der behutsamen Veränderung wendete Luther immer wieder bei der Rezeption altkirchlicher Traditionen an, so z.B. bei der Bearbeitung eines Fronleichnamliedes zu einem seiner Abendmahlslieder „Gott sei gelobet und gebenedeiet“.[2] Worin besteht das Besondere dieses lutherischen Vorgehens? Es gibt Acht auf das „Verbindende“ (Michel Serres) gegenüber der Tradition und ist gleichzeitig Ausdruck eines praktischen minderheitlich-werdens in ihrer Aneignung.

    Inhaltlich folgen die Veränderungen der reformatorischen Betonung der Gnade. Im Lichte der Gnade kann man nun auch der historischen Fragilität dogmatischer Texte wie dem Credo auf die Spur kommen. Sie stellen sich nur bedingt als letztgültigen Texte heraus, sondern eher als „irdene Gefäße“, in die Gnade eben erst gegeben werden muss.

    Es ist eine Logik der Gnade, wie sie in Luthers Arbeit am Credo zur Praxis kommt. Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy beschreibt eine solche Logik folgendermaßen: „Die Gnade, das ist die Gunst, das heißt zugleich die Erwählung, die begünstigt und das Vergnügen oder die Freude, die so gegeben ist. Die Gnade ist gratis, ein Geschenk (gratia übersetzt charis, zeigt Beneviste, und hat gratis und gratuitas ergeben). Es ist die Gratuität des Vergnügens, das um seiner selbst willen gegeben wurde.“[3]

    Eine Pointe dieser Logik ist die, dass im Unterschied zur einer Logik des Mangels, des Neides oder des Verzichts die Logik der Gnade „vom Genießen herrührt“ als einem „Begehren und Vergnügen als Empfänglichkeit für die Gabe.“ Diese Empfänglichkeit ist ihrerseits eine Hingabe oder Aufgabe und muss der Gabe selbst „an Gratuität gleichkommen“.[4]

    In derartiger Praxis einer wechselseitigen Gratuität öffnet sich der Horizont dafür, wie das Abendmahl direkt als eine Praxis der Gnade verstanden werden kann. Luther hatte in seinem Liedtext zu Beginn das lateinische credo von der ersten Person Singular in die erste Person Plural erweitert. In den Zusammenhang des Abendmahles gespiegelt konkretisiert sich diese Erweiterung als „singulär plural sein“ wie Jean-Luc Nancy es beschreibt.

    Zur Erinnerung[5]:

    Être singulier pluriel: diese drei hintereinander gereihten Worte ohne bestimmte Syntax – être ist Verb oder Hauptwort, singulier und pluriel sind Hauptworte oder Adjektive, alles lässt sich [im Französischen] kombinieren – markieren zugleich eine absolute Äquivalenz und ihre offene Artikulation, die sich unmöglich zu einer Identität verschließen lässt. Das Sein ist Singular und Plural (bzw. Singular und plural) zugleich, ununterschiedener- und unterschiedenermaßen. Es ist auf singuläre Weise plural und auf plurale Weise singulär.“[6]

    Was diese Denkfigur konkret für einen Begriff von Gemeinschaft im Sinne einer Abendmahls-Praxis der Gratuität meint, ist in den konkreten Gemeinschaften bisher kaum sichtbar. Theologisch provokant und politisch hoch aktuell ist allerdings die von Nancy markierte Unmmöglichkeit des Verschließens in einer Identität. Wenn er an anderer Stelle von Gemeinschaft als Mit-sein schreibt[7] kommt der Bindestrich als ein „Indiz des Abstandes im Herzen der Nähe und der Intimität“[8] ins Spiel.

    Sollte Gemeinschaft in diesem Zusammenhang eher etwas mit Aufmerksamkeit für Abstand zu tun haben als mit unbekümmerter Nähe?


  • Spiegelungen: Katechismus // Katechismuslieder

    Spiegelungen: Katechismus // Katechismuslieder

    In der zweiten Runde unserer Kommentare zu Martin Luthers Kleinem Katechismus knüpfen wir an eine anfängliche Beobachtung an. Martin Luther hatte durch die Tatsache, dass er den Teilen seines Kleinen Katechismus Lieder an die Seite stellte, bzw. diese Arbeit parallel bzw. zeitlich verschränkt verlief, Lehre mit Praxis verbunden, lernendes Lesen mit Singen.

    In der Reihenfolge nehmen wir Luthers Verweis auf die zehn Gebote im Letzten Teil des Kleinen Katechismus über die Beichte ernst und stellen das Katechismus-Lied über die Zehn Gebote der Beichte gegenüber, sozusagen als Spiegelung. In der Praxis bilden die Zehn Gebote einen Beichtspiegel. So ist das Lied auch im Evangelische Gesangbuch rubriziert.

    Bereits 1524 verfasste Martin Luther einen die zehn Gebote umschreibenden Liedtext in zwölf Strophen und verband ihn mit der Melodie eines Pilgerliedes in Form einer Leise. Auf diese Art Weise öffnet er die Zehn Gebote als Teil der Lehre für eine spirituelle Praxis: das Singen.

    Luthers Was wird auf ein Wer, die singt, geöffnet. Dies geschieht zum einen durch die Öffnung lehrhaft abgeschlossener Sprache in poetische Sprache. Damit schafft Luther konkrete Verbindungen zwischen seiner Spracharbeit an den Übersetzungen der biblischen Texte, seiner sprachlichen Aufnahme traditioneller liturgischer Texte und eigener Liedtexte, sowie in geglückten Fällen auch seiner Predigtsprache.[1]

    Im Falle des Liedes „Dies sind die heilgen zehn Gebot“ (EG 231) konstruiert Martin Luther aber eine weitere Öffnung in eine konkrete liturgische Praxis, indem er dem Lied die Form einer Leise gibt. Diese Form ist konkret responsiv, also antwortend gedacht.

    Dies lässt sich einfach dadurch verdeutlichen, dass man sich die einzelnen Verse von einem kleinen Chor[2] gesungen vorstellt, auf die die versammelte Gemeinde jeweils gemeinsam mit einem Kyrieleis antwortet. Diese Form könnte unter den aktuellen Bedingungen der Entwicklung der Kirchen an Bedeutung gewinnen. Denn wenn immer weniger Gemeindeleute ganze Lieder singen können, so wird es doch noch länger möglich sein, mit einem Kyrieleis zu antworten.

    Hinzu kommt, dass in solchen Antworten auch die persönliche Reflexion bzw. Rezeption des vorgeschlagenen gesungenen Textes ihren Platz findet. Das bedeutet konkret, dass sie das Risiko eingeht, nicht beantwortet zu werden. Dies kann im Zusammenhang von den Zehn Geboten und ihrer Funktion als Beichtspiegel sehr persönlich Gründe haben. Im Zusammenhang der die Zehn Gebote als für sich konstitutiv betrachtende Institution hat diese Möglichkeit des Antwortens oder eben nicht Antwortens einen speziellen Effekt, der im Zusammenhang des enormen Vertrauensverlustes der Kirchen nicht zuletzt im Kontext der Missbrauchsstudien von kaum zu unterschätzender Bedeutung ist.

    Dieser Effekt lässt sich als eine Desidentifikation beschreiben. Sie stellt sich her, wenn man sich angesichts z.B. der Missbrauchsbetroffenen nicht einfach mit ihnen identifizieren kann; Andererseits kann man sich auch nicht mehr oder nur bedingt mit der diese Missbräuche verschuldete und verantwortende Institutionen, den Kirchen, identifizieren. Auf diese Weise landet man in einem „Zwischenraum oder Lücke zwischen zwei Identitäten“, in dem man sich aber als Subjekt wiederfindet und agieren kann[3], also protestieren, aber auch forschen, aufarbeiten und verändern.

    Ein solches agieren wird sich in einer Forderung wiederfinden, die der Schweizer Kirchenhistoriker Walter Nigg unmittelbar nach den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges und den darin erfolgten kirchlichen Verwickelungen zum Ausdruck gebracht hat.

    Walter Nigg plädierte „für einen Blick auf die Wirklichkeit ohne Illusion. Der Krieg habe einen neuen Menschentypus geformt, der mit klassischen Mustern der Verkündigung nicht mehr ansprechbar sei. Wer ihn wieder für das Christentum gewinnen möchte, der müsse ihm zuerst einmal mit restloser Wahrhaftigkeit begegnen und die Fehler der Vergangenheit schonungslos zugeben, damit die großen Vorbilder des Glaubens erneut sichtbar würden. Walter Nigg sah also den Zeitpunkt für eine Generalbeichte gekommen. Während Vertreter der Kirchen in Fulda, Stuttgart und Darmstadt um Worte für ein Schuldbekenntnis rangen, blickte er über die Gräuel der vergangenen Jahre zurück in die Anfänge der Kirchengeschichte zu Simon Magus, den Gnostikern, Origenes, Marcion, zu Arius und Pelagius, den Katharern und Waldensern, zu Jan Hus und den Hexen. Diesen Verfolgten und Gepeinigten wollte er mit seinem Werk „Das Buch der Ketzer“ Gerechtigkeit widerfahren lassen“[4]:

    „Die Kirche ist allezeit für das Aufkommen der Ketzerei in ihrer Mitte verantwortlich, weil dieselbe fast immer aus einer Vernachlässigung der Wahrheit ihrerseits entstanden ist. Was sie auch sagen mag, sie kann sich ihrer indirekten Teilhaberschaft an der Häresie nicht entschlagen. Aus diesem Grunde haben die Ketzer im Hinblick auf die stets wieder innerhalb der Kirche eintretenden Verfälschungen, Entartungen und Verschüttungen des Evangeliums eine notwendige Funktion auszuüben, die vom Standpunkt christlicher Selbstbesinnung aus nicht ernst genug genommen werden kann. Aus einer solchen durch das Phänomen der Ketzer veranlassten Selbstkritik können erneuernde Kräfte hervorgehen, deren die Christenheit mehr als je bedarf.“[5]

    Walter Niggs Forderung von 1949 (!) muss heute auf weitere Bereiche ausgeweitet werden und ist in den verschiedenen theologischen Disziplinen und den ihnen folgenden Praxisfeldern bei weitem nicht eingelöst. Kyrieleis.


  • Beichte als Öffnung

    Beichte als Öffnung

    Nach dem Umweg über das Abendmahl und damit über die Gemeinschaft, zurück auf die Beichte zu kommen, heißt zunächst, wieder den Einzelnen in den Blick zu nehmen: Das Ich. Dies ist von der Taufe her als ein angesprochenes und antwortendes zu verstehen. Die Beichte wird hier sehr persönlich und praktisch ein Prozess des Zuhörens und Unterscheidens.

    Der entscheidende Begriff ist das Öffnen. Er ermöglicht zwei Bedeutungsebenen. Der Horizont einer Beichte ist die Gottesbeziehung. Zunächst – und darauf wird die Beichte meist beschränkt – meint dies die Beziehung einer/s Einzelnen zu Gott. Aber: „Warum soll man ihn Gott nennen? Warum haben die Religionen dieses Wort ‚Gott‘ verwendet? Warum kann man sogar außerhalb der Religionen gar nicht so einfach darauf verzichten, Gott auf die eine oder andere Weise zu benennen? Weil sich dies, weil sich diese Dimension der Öffnung und des Übersteigens nicht einfach mit […] abstrakten Namen benennen lässt. Es genügt nicht, sie Liebe, Freude, Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit zu nennen. Denn man muss sich an diese Dimension wenden können, man muss sie anreden, sich auf sie beziehen können. Und warum soll man sie anreden, sich auf sie beziehen? Um ihr treu zu sein.

    Was heißt denn das, so sehr man es irgend vermag, man selbst zu sein, und folglich, so sehr man es irgend vermag, Mensch zu sein? Heißt es nicht genau, diesem unendlichen Übersteigen des Menschen durch den Menschen, oder dieser Öffnung treu zu sein? Dem Himmel treu zu sein [..]. Diese Treue kann sich begreiflicher weise als die Treue zu jemandem zeigen […]. Der religiöse Name dieser Treue ist das Wort ‚Glaube‘. […] Der Glaube ist der Bezug der Treue. […]  

    Man kann [also] zumindest sagen: Der Name Gottes und der Name des Gottes als das, was das Himmlische wäre, birgt zumindest den Hinweis auf die Möglichkeit oder vielleicht die Notwendigkeit, treu zu sein. Es ist die Treue, die ohne irgendein Element von Wissen oder Halbwissen […] dem treu ist, was ich hier die Öffnung genannt habe. Und ohne die wären wir vielleicht nicht einmal Menschen, sondern einfach Dinge unter Dingen, innerhalb der um sich selbst geschlossenen Welt.“[1]

    Mit Gottesbeziehung kann aber auch die Beziehung einer Gruppe oder Institution zu Gott gemeint sein insofern sie sich auf Gott bezieht. Mit diesem Gedanken nehmen wir Luthers Umweg, von der Taufe über das Abendmahl zur Beichte zu gelangen, ernst und konkret auf. Dann meint Öffnen so etwas wie Öffnung oder Aufschließung.

    »Das, worum es geht, kann nicht anders als auf dem Wege einer gegenseitigen Aufschließung [déclosion] des Erbes der Religion und der Philosophie ins Spiel gebracht werden. Aufschließung bezeichnet die Öffnung einer Einfriedung [enclos], die Behebung [levée] einer Geschlossenheit [clôture].«[2] In seinem Projekt der Aufschließung des Christentums verfolgt der französische Philosoph Jean-Luc Nancy dieses Experiment des Denkens. Es betrifft die Denkwerkzeuge des Christentums, die sich in und mit philosophischen Begriffen der Metaphysik entwickelt haben. Aufschließung bedeutet, die Einfriedung christlichen Denkens in der Geschlossenheit metaphysischer Begrifflichkeit zu öffnen.

    Damit werden zwei Bewegungen des Denkens ins Denken selbst hineingenommen. Die eine ist philosophische Metaphysikkritik. Die andere besteht darin, die Öffnungsbewegung im Christentum selbst als eine konstitutive Bewegung wahrzunehmen. Das bedeutet, die Geschichte des Christentums nicht als eine Verfallsgeschichte von einem wie immer gearteten reinen Ursprung zu lesen, sondern als Bewegungsgeschichte eines Konfliktes: „Der Konflikt zwischen einer religiösen Integrität und ihrer Auflösung durch die Anpassung an eine Welt, die zugleich von ihr heraustritt und sich von ihr löst, sie zurückweist oder verleugnet“.

    Nancy meint hier nicht einen Konflikt zwischen Dogmen oder gegensätzlichen Glaubensauffassungen; auch nicht einen Konflikt zwischen Judentum und Christentum; auch nicht einen Konflikt zwischen großen Religionen. Sondern Nancy meint einen spezifischen Konflikttyp im Inneren des Christentums, „der wahrscheinlich einer zwischen einer Integrität und ihrem Zerfall, ihrer Des-Integration ist. In diesem spezifischen Konflikt ist der erste Ansatz einer innersten Eigentümlichkeit des Christentums und der Möglichkeit seines Werdens zu suchen: Wäre das Christentum nicht in und durch sich selbst eine gespaltene Integrität? Wäre es nicht eben die Bewegung seiner Distension, als seiner Ausdehnung und Zerspannung, seiner Öffnung und seiner Auflösung?“

    Nancy bestimmt auf diese Weise das schöpferische Prinzip des Christentums „als Öffnung – Selbst-Öffnung und selbst als Öffnung“.[3]

    Diese Öffnung ist nicht im Sinne einer zufälligen Eigenschaft zu verstehen, sondern sie ist „wesentliche Eigentümlichkeit“, „christliche Ipseität“, „Selbstbezug als un-de-finierte[s] Heraustreten aus sich“.[4] Öffnung ist „der Weg des homo viator, des wandernden Menschen, des Menschen unterwegs. Dessen Reise ist nicht nur Übergang und Vorübergehen, sie konstituiert an sich das Vorgehen und Fortschreiten der Offenbarung selbst.“[5] Anders gesagt bezieht sich das Christentum „von vornherein auf seinen Ursprung als ein Spiel, ein Intervall, eine Schlagen oder Pulsieren, ein Öffnung im Ursprung“.[6]

    In den konkreten Zusammenhang der Beichte gerät diese Denkfigur angesichts des brachialen Vertrauensverlustes der Kirchen durch die Missbrauchsfälle und ihrem Umgang damit. Hier wird deutlich wie wenig sich der Aspekt des Einzelnen und der hier vorgeschlagene Aspekt der Gemeinschaft sich in Bezug auf die Beichte voneinander trennen lassen.

    Es wird aber zugleich deutlich, dass sich das verlorene Vertrauen in die Kirchen nicht wiederherstellen lassen wird, wenn nicht weitere Felder kirchlicher Theorie und Praxis in den Blick genommen und geöffnet, aufgeschlossen werden. Das wird das Verhältnis der Kirchen zu ihrer eigenen Geschichte betreffen und die aus ihr resultierenden Denk- und Praxisformen bis heute.

    Da ist zum einen die Kombination von Christentum und Herrschaft und die aus ihr folgende Geschichte der Ketzer, die ihre Spuren bis in konkrete Dogmen- und Bekenntnistexte eingetragen hat. Da ist die Verwicklung von Christentum und Sklaverei, die über Zwangstaufen und zugleich verweigerte kirchliche Praxis zu bis heute kaum wahrgenommenen Kirchen von Nachfahren von Sklaven geführt hat. Da ist die Kombination von Christentum und Kolonialismus während der das Christentum, selbst falls es das nicht gewollt haben sollte, als Zivilisationsideologie herhielt und gewirkt hat. Da ist die Kombination von Christentum und Wirtschaft / Umwelt wobei das Christentum rücksichtslose Extraktion und Ausbeutung zumindest lange Zeit legitimieren half.

    Bei der Aufschließung der komplexen Sachverhalte der skizzierten Felder werden Denken, Forschen und Neuformulieren Praktiken des Beichtens werden müssen. Angesichts des Vertrauensverlustes wird man aber auch liturgische Formen und Zeichen entwickeln müssen, in und mit denen die Gemeinschaft und ihre Institutionen beichten lernen können.


  • Abendmahl: Ein weiterer Umweg, diesmal durch den Wald

    Abendmahl: Ein weiterer Umweg, diesmal durch den Wald

    Auf die Taufe müsste konsequenterweise der Teil über die Beichte folgen, aber Luther geht wieder einen Umweg über das Abendmahl. In der antiphonischen Komposition des Kleinen Katechismus wird es nun explizit mehrstimmig, polyphon. Aus wechselnden Ich und Du wird über das Für-Dich nun ein Wir. Und dieses Wir ist körperlich gemeint: hoc est corpus meum. Es schafft eine Körperbildung, die anders geartet ist als jede Gemeinschaft, die auf Interessen, Mitgliedschaft oder Abstammung beruht. Sie ist werklos, absichtslos und ohne Zweck, sola gratia, also nicht auf ein Werk ausgerichtet, auch nicht auf ein Eigentum.

    Das zu denken ist eine Herausforderung. Paulus hat dafür das Denkbild des corpus Christi erfunden. Es steht allerdings unter historisch-institutioneller Besatzung. Den Unterschied dazu macht der musikalische Horizont eines mehrstimmig singenden Chores deutlich.

    Dietrich Bonhoeffer hat in „Widerstand und Ergebung“ auf Begriffe wie Polyphonie, Kontrapunkt und cantus firmus als christologische Denkfiguren aufmerksam gemacht. Der Gründer und künstlerische Leiter des belgischen Gesangs-Ensembles Graindelavoix, Björn Schmelzer, hat vorgeschlagen, die polyphone musikalische Praxis von Komponisten wie Ockeghem und Dufay mit der Philosophie eines Nikolaus von Kues in Resonanz zu denken.[1] Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy hat diese spezielle Form des Wir mit der Figur „singulär plural sein“ beschrieben.

    Être singulier pluriel sind drei hintereinander aufgereihte Worte. Zwischen ihnen besteht keine „bestimmte Syntax“. „Être ist Verb oder Hauptwort, singulier und pluriel sind Hauptworte oder Adjektive“. Alle lassen sich in der französischen Sprache kombinieren. Dennoch sind sie von einer absoluten Gleichwertigkeit bestimmt. Ihre derart offene „Artikulation“ lässt sich „unmöglich wieder zu einer Identität verschließen“. Diese offene Wortreihung findet eine entsprechende Übersetzung in die deutsche Sprache am ehesten in: „singulär plural sein“.[2]

    Diese offene Artikulation denkt das Sein als „Singular und Plural (bzw. […] singulär und plural) zugleich, ununterschiedener- und unterschiedenermaßen“. Es denkt das Sein „auf singuläre Weise plural und auf plurale Weise singulär“. Damit ist keine „Prädikation des Seins“ gemeint, „als wäre es oder als habe es eine bestimmte Zahl an Attributen, und darunter jenes doppelte, kontradiktorische oder chiastische Attribut eines singulär-pluralen Seins“. Nein, es bildet „die Wesensverfasstheit des Seins“.[3]

    „Singulär plural Sein heißt: Das Wesen des Seins ist, und ist nur, als Mit-Wesen (co-essence). Aber ein Mit-Wesen oder Mit-sein – das Sein-mit-mehreren – bezeichnet seinerseits das Wesen des Mit-, oder auch, oder vielmehr, das Mit- (das cum,) selbst in der Position oder Art des Wesens. Eine Mit-Wesentlichkeit kann in der Tat nicht in einer Ansammlung von Wesenheiten bestehen, in der das Wesen der Ansammlung noch zu bestimmen bliebe: Auf sie bezogen würde die versammelten Wesenheiten zu Akzidenzien. Mit-Wesentlichkeit bedeutet wesentliche Teilung der Wesentlichkeit, Teilung als Ansammlung, wenn man so will. Dies könnte man auch auf diese Weise ausdrücken: Wenn das Sein Mit-sein ist, dann ist im Mit-sein das ‚Mit‘ das, was das Sein ausmacht, es wird diesem nicht hinzugefügt.“[4]

                                                                                                  ***

    Wir wollen aus einem auf den ersten Blick befremdlichen Zusammenhang darauf zurückkommen und damit zugleich die für christliches Denken dominierende Trennung zwischen Natur und Kultur[5] hinter uns lassen. Diese Perspektive eröffnet nicht nur bislang unbearbeitete öko-theologische Felder, sie ist umso befremdlicher, als ihr Anknüpfungspunkt kontrapunktisch zur Tierkonnotation des Abendmahles, zum Lamm, steht.

    „Plötzlich durchdringt es die Nacht. Ein perfektes Wolfsheulen, gleich neben uns. Wir bleiben stehen wie vom Blitz getroffen, jeder reißt die Mütze des anderen runter, wir halten uns an den Schultern fest. Eine große Stille folgt, so wie beim Warten auf das Responsorium der Messe. Also antworte ich. Ich heule, wie ich es gelernt habe, um dem Gehabe, dem Gerüst, dem besonderen Ablauf ihrer Sprache zu entsprechen. Ich ahme nach so gut es geht, wie ein mittelalterlicher Reisender auf dem Weg ins Morgenland, der einen diplomatischen Begrüßungssatz in der Sprache des mythischen Volks der Kynokephalen (jener Tier-Menschen mit Hundekopf, die in den weiten Steppen nördlich des Baikalsees leben sollen, wie Marco Polo in seinem Buch der Wunder erzählt) auswendig auszusprechen gelernt hätte. Aber ohne ein einziges Wort zu verstehen.

    Neuerlich eine Stille, wie die verliebte Erwartung einer Antwort auf eine Aufmerksamkeit. Und er singt. Ein großartiger, sehr monotoner, fast zu perfekter Schrei. Also antworte ich, man muss ja höflich bleiben, aber wie soll man dieser Farce beenden? Er singt neuerlich, höher dieses Mal, mit Sorgfalt moduliert, ganz nahe, gleich hinter dem Kamm, dreißig Meter von uns entfernt. Dann antwortet ein zweiter Wolf, weiter im Süden: ein stärkeres, gefestigteres Heulen, das auch tiefer ist. Darauf antworten wir, der versteckte Wolf und ich gemeinsam. Ein dritter Wolf antwortet im Südosten, aber nicht sehr weit weg, höchstens ein paar Hundert Meter entfernt. Der Dialog setzt sich noch weiter fort, er antwortet immer gerne.

    Ich bedeute mit dem Finger auf dem Mund zu schweigen, wir werden noch seine Neugier wecken. Oft kommen die Wölfe nachschauen, wer geheult hat, auch wenn sie wissen oder spüren, dass es kein Artgenosse ist. In der Stille, die Hände an den Schultern des anderen, warten wir, suchen mit eifrigen Augen den Kamm ab, wo er auftauchen muss. Er heult von Neuem, als Gesuch, und ich beiße mir auf die Lippen, um nicht zu antworten. Die Erwartung ist groß, der Bergkamm zittert, nur eine Fichte bewohnt ihn, und niemand zeichnet sich auf ihm ab. Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich einen Wolf sah. Es war ein schwarzer Wolf auf einem Bergkamm, sein Profil in der blauen Luft hat ihn verraten, während seine Farbe ihm in der Dämmerung mit den Salbeibüschen des Lamar Valley in Montana verschmelzen ließ. Aber hier sind wir zwei Autostunden von Lyon entfernt, auf der Hochebene des Vercors, eines vertrauten Gebirges, wo man keine mythologischen Begegnungen erwartet.

    Wir laufen zur Hütte zurück, die anderen Reisenden sind an die Schwelle getreten. Sie haben es gehört. Ich rufe in den Wind, lange, moduliert, fast sehnsüchtig. Und da, hundert Meter von uns entfernt, antwortet in der Nacht eine Polyphonie: gemeinsam heulen alle jungen Wölfe des Jahrgangs, der ganze Wurf, der am Ende des Frühlings geboren wurde. Ihr Gesang rollt erregt, ängstlich, schrill, fröhlich, unbeherrscht, ohne die perfekte Effizienz des Gesangs der Erwachsenen, mit Kläffen, Trillern, Wuffen – und zahlreich. Die Fortpflanzung ist bestätigt (und zugleich lächeln wir über die Unverhältnismäßigkeit: In Wirklichkeit ist die wissenschaftliche Dimension dieser Art nicht der letzte Zweck, sie dienst uns als Gerüst fr Begegnungen einer anderen Art, einer anderen Größe).

    Ich antworte noch einmal, wir sind alle still wie bei der Jagd oder in einem Tempel, und das Rudel antwortet noch einmal. Dieses Mal mit den Jungen und ein paar Erwachsenen, es ist unmöglich, sie zu zählen. Dann heulen wir alle im Chor. Keine Antwort. Man hört neuerlich, ein paar Mal, das entfernte Heulen eines Erwachsenen, der wahrscheinlich die Gruppe sucht, aber diese bleibt nunmehr still. Der Wind dreht und macht es schwierig, die Herkunft der fernen Gesänge festzustellen, die manchmal noch zu uns kommen. Die Wolfsgruppe vor uns antwortet nicht mehr. Die Menschen befinden sich in einer stillen Begeisterung: Das Geheul hat jeden sanft außer sich gebracht, in eine alte Entzückung, die aus Verwirrung und Dankbarkeit besteht. Die Bergexperten, die sich vorher noch beim Herd über die Form der Schneeflocken oder die Vorzüge ihrer Skier ausließen, stammeln wie Kinder, und aufgrund einer sonderbaren Alchemie, die ich noch nicht verstehe, bedanken sich die Leute, so also ob wir uns etwas gegeben hätten, und dann lachen sie, als sie merken, dass niemand unter uns der Urheber der Gabe ist. Ich vermute, dass diese Dankbarkeit, die ihre Quelle nicht findet und erfolglos ihren Empfänger sucht, ein unglückliches Erbe der Monotheismen unserer Tradition ist, die die Vorstellung der Gabe auf etwas beschränkt haben, das ein absichtsvoller Gott austeilt. Sodass wir nicht wissen, wen wir für die wahren täglichen Gaben, für das erfrischende Wasser, für die in Frucht verwandelte Sonne, die in unser Fleisch übergeht, für die Schönheit des Eisvogels und für die Schönheit des von unseren uralten Augen in Landschaft übersetzen Lichts danken sollen (man löse die Gabe aus de, Gefängnis der Idee der Absicht, und alle immanenten Danksagungen werden möglich).“[6]

    ***

    Durch die Christusworte: „Dies ist mein Leib“ und „Dies ist mein Blut“ ist das Abendmahl bis heute als ein besonders intimes Geschehen markiert. Der polnische Theaterwissenschaftler Jan Kott nennt dies „Gott – Essen“[7]. Kott fügt der Deutung des Geschehens aus der Tradition des jüdischen Passahmahles eine Interpretation aus der Tradition der griechischen Tragödie hinzu. Und doch wird der Grundton bestimmt durch eine gemeinsame Mahlzeit. Und es ist dieses Kontinuum, das es erlaubt, alltägliche Vollzüge mit liturgischen und sogar theatralischen Vollzügen in polyphonem Zusammenklang zu denken und zu erleben.

    Der Grundton der alltäglichen Mahlzeit wird von Michel Serres hervorgehoben, wenn er das Abendmahl in folgende biblische Tradition stellt: „Du sollst keinen Mann, keine Frau, kein Kind mehr töten, du sollst keinem Tier mehr das Leben nehmen, ob Widder oder Stier, du sollst Brot essen und Wein trinken. Ja, die Eucharistie lässt ein unschuldiges, sanftes Zeitalter anbrechen, das dem Schlachten abgeschworen hat und sich der Flora zuwendet. Pflanzen sind autotroph, anders als die heterotrophen Tiere: Diese überleben nur auf Kosten anderer Lebewesen, jene brauchen nur die Welt, das Wasser, die Sonne, das Licht und materielle Moleküle. Sie überleben unabhängig von anderen Lebewesen. Sie töten nicht. Fleisch und Blut entstammen also den alten Opferungen, aber beide verwandeln sich in opferlose Substanzen, in Brot und Wein. Eins: Um des Friedens willen einen Menschen töten, Zwei: Ein Tier töten, um es zu essen. Und endlich: Essen, ohne zu töten.“[8]

    ***

    Neben den Verwandlungen, die sich an das Abendmahl anschließen bzw. von ihr ihren Ausgang nahmen, gilt es eine nicht aus dem Blick zu verlieren. Das kann bedeuten, sie in diesem Zusammenhang erst einmal in den Blick zu nehmen. Es handelt sich um die Verwandlung einer Gabe in eine Ware und zurück.

    Selbst wenn diese Wandlung nicht im Zentrum des liturgischen Mahles steht, so findet sich doch bis in früheste eucharistische Gebete Bezüge zu ihr, nämlich zu Herkunft und Herstellung der Gaben Brot und Wein aus Korn und Trauben, Ernte und Kelterung.

    Der entscheidende Begriff im Verhältnis zwischen Gabe und Ware ist die Entfremdung. „In der kapitalistischen Logik der Kommerzialisierung werden die Dinge aus ihren Lebenswelten gerissen, damit sie Tauschobjekte werden können. Diesen Prozess nenne ich ‚Entfremdung‘, und ich schreibe den Begriff gegebenenfalls Menschen wie Nichtmenschen zu.“[9]

    In der Auseinandersetzung mit Studien zu dem melanesischen Tauschritual „Kula“ kommt die amerikanische Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing zu der Erkenntnis, dass der „Wert der Dinge“ aber „nicht einfach durch den Gebrauch oder den Gütertausch“ entsteht, sondern durch „soziale Beziehungen, zu denen sie gehören“.[10] Es können also relativ wertlose Dinge durch soziale Beziehungen, die durch sie geknüpft oder unterhalten werden, einen hohen Wert erhalten. Das bedeutet aber, dass „Warenökonomie“ und „Gabenökonomie“ einander nicht zwangsläufig dichotomisch gegenüberstehen.[11]

    Mit diesem Befund beobachtet Tsing die immer wieder im Zentrum ihrer Untersuchungen stehenden Praktiken um den japanischen Matsutake Pilz. Dieser wächst insbesondere auf von Waldrodungen gezeichneten Gebieten in Symbiose mit einer Kiefernart. In Oregon, USA, bildeten sich in derartigen Waldgegenden mehr oder weniger lose Gruppen von Aussteigerindividuen, die es zu ihrer Aufgabe machten, diese Pilze suchen, zu ernten und auf Versteigerungen feil zu bieten. Wie Trophäen ihrer Freiheit, im Wald zu leben, versteigern diese Leute ihre Pilze und verdienen damit das Geld, was sie für ihre Existenz benötigen. Die Pilze haben als Verlängerung und Ausdruck ihrer Persönlichkeit einen hohen Wert. Die Ersteigerer wissen diesen Wert zu schätzen und kennen die Sammler und Orte, an denen sie ihre Pilze anbieten. Im Weiterverkauf an Zwischenhändler wird den Pilzen ihr wertvoller relationaler Charakter Stück für Stück entzogen. Sie werden sortiert, kategorisiert, anonymisiert, verpackt, transportiert und werden so zur Ware. In ihrem Zielland Japan angekommen, werden sie wiederum von Händlern in Augenschein genommen und für den weiteren Verkauf an Supermärkte, Spezialitätenhändler bis hin zu ausgewählten Einzelpersonen ausgewählt und dann schließlich verkauft. In diesem Prozedere werden also der Ware wieder beziehungsknüpfende Werte hinzugefügt. Sie ergeben sich aus ihrer Qualität. Schließlich spielen Matsutake-Pilze in der japanischen Kultur als beziehungsstiftende und –unterhaltende Delikatesse eine zentrale Rolle. Die Pilze erhalten also wieder den Charakter einer Gabe.

    In dem hier skizzierten Prozess findet eine Verwandlung oder Übersetzung von einer Gabe in eine Ware und zurück statt. In unserer durchkommerzialisierten Welt könnte er die Aufmerksamkeit für einen Moment auf eine individuelle kleine Liturgie einer Vorbereitung der Gaben lenken, die beim Abendmahl auf den Tisch und in unsere Körper kommen.


  • Taufe und pastorale Macht

    Taufe und pastorale Macht

    Martin Luthers Umweg über das Vaterunser zur Taufe führt die antiphonische Komposition des Kleinen Katechismus, wenngleich sie bei ihm unausgesprochen bleibt, fort. Denn die Taufe als kirchliche Praxis ist zu aller erst ein Echo auf die Taufe Jesu. Er hat selbst nicht getauft. Aber zu seiner Taufe am Jordan kam zur johannäischen Taufe eine Stimme hinzu. Ein Klangphänomen, das uns unter den Worten: „Dies ist mein liebes Kind, an dem ich Wohlgefallen habe“ (Mt 3, 17 par.) überliefert ist.

    Aus dem „Ich bin der Herr Dein Gott“ wurde das „Du sollst“ bzw. das „Du sollst nicht“. Die Antwort darauf erklingt im „Ich glaube“. Letzteres macht nur Sinn in der direkten vertrauten Anrede: „Vater unser“, worauf wiederum „Du bist mein liebes Kind“ als Antwort erklingt.

    In derartigen responsiven Klangräumen bilden sich Subjekte des Glaubens (Röm 10,17). Sie sagen Ich und meinen damit zugleich etwas zutiefst Innerliches und etwas vermeintlich Äußeres. Jean-Luc Nancy hat tief und genau in diesen Klangraum hineingehört: „Das Subjekt ist zuerst der Adressat: Du bist gerufen (Abraham), aber davon nicht zu trennen ist das Subjekt zugleich eine Behauptung: „Ich bin’s“. Mit Augustin entdeckt sich dieses „Ich“ als dazu fähig, die Anrede zu erwidern in einem Gruß, der nicht mehr abrahamitisch ist: interior intimo meo.1 Nun ist aber dieses interior (und superior) das Ich, das sich behauptet… Es gibt da eine Ambivalenz: „Ich“ bin es, der Gott anerkennt, selbst wenn es Gott ist, der sich mir öffnet. Die Verderbtheit (corruption) liegt im Hochmut dieses „Ichs“. Sie ist der Anspruch (prétention), Gott gleich zu sein (eritis sicut deus: man müsste erneut fragen, was mit diesen Worten des Satans gegeben ist). Der Mensch ist die Kreatur, die das Geheimnis seiner Kreation erkennt, aber wenn diese ihn (wieder)erkennt bzw. (an)erkennt, warum sollte er nicht Gott gleich sein?” 2
    Die Ambivalenz dieser Fragestellung wird seit den Zeiten der Alten Kirche diskutiert und tritt in ihren in der Taufe angelegten institutionellen Konkretionen (Mitgliedschaft, Steuern, Verwaltung etc.) nicht zuletzt angesichts aktueller Fragestellungen in ihrer Abgründigkeit geradezu bedrückend hervor.

    Wie konnte es dazu kommen?

    In seiner Lektüre der Kirchenväter des zweiten bis vierten Jahrhunderts geht der französische Philosoph Michel Foucault diesen Entwicklungen nach. Im Band 4 seiner „Geschichte der Sexualität“ untersucht Foucault das, was das Fleisch gestehen kann.3Les aveux de la chair“, die Geständnisse des Fleisches, verfolgen die Organisation des physischen Lebens, der praktischen Existenz der frühen Christen anhand ihrer Schriften. Foucault hatte den Horizont dieser breit angelegten Untersuchung in den vorigen Bänden abgeschritten: „La volonté de savoir“, Der Wille zu wissen, „L‘usage des plaisirs“, Der Gebrauch der Lüste und „Le souci de soi“, die Sorge um sich.

    Die Geständnisse des Fleisches würden jedoch den komplexen und grundlegenden Gedanken des Verhältnisses „zwischen Schöpfer und Geschöpf“ 4 nie ganz ausblenden können. Bei der Formulierung ihrer Praxis griffen die ersten langsam zahlreicher werdenden Christen in erstaunlichem Maße auf ihre Umwelt zurück bzw. knüpften an Bestehendes an. So bei der Entwicklung von Vorschriften die Ernährung, Hygiene und den sozialen Umgang betreffend bis hinein in den Umgang mit nichtöffentlichen Praktiken innerhalb der Ehe und Familie der Fall und auch in Fragen vom Scham, Gewissen und Schuld des Einzelnen.

    „Das ‚Fleisch‘ ist dabei als ein Erfahrungsmodus zu verstehen, d.h. als ein Modus der Erkenntnis und der Umwandlung (transformation) des Selbst durch sich selbst in Funktion zu einem bestimmten Verhältnis zwischen der Vernichtung (annulation) des Bösen und der Darstellung (manifestation) der Wahrheit. Mit dem Christentum ist man nicht von einem toleranten Verhaltenscodex sexuelle Handlungen betreffend in einen strengen, restriktiven oder repressiven Verhaltenscodex übergegangen. Man muss diese Prozesse und ihre Artikulation anders auffassen: Die Aufstellung eines sexuellen Verhaltenscodex, organisiert um die Ehe und die Fortpflanzung, war bereits vor und neben dem Christentum weit verbreitet. Das Christentum hat ihn im Wesentlichen übernommen. Erst im Laufe weiterer Entwicklungen und im Zuge der Ausbildung bestimmter Technologien des Individuums – poenitentielle Disziplin, monastische Askese – hat sich  eine Form der Erfahrung (expérience) herausgebildet, die den Verhaltenscodes auf eine neue und ganz andere Art und Weise praktizierte und für die Führung des Individuums nutzte.“ 5

    Die Praxis der metanoia bzw. poenitentia im Zusammenhang der Taufe ging einher mit der Entwicklung einer „Kunst der Künste“ (art des arts), der Kunst der geistigen Führung (direction spirituelle).6 Auch diese war von den Christen zunächst übernommen worden, bildete aber in monastischen Kontexten ihre christlichen Besonderheiten heraus.7
    Im Zentrum der monastischen direction spirituelle stand der Gehorsam mit den Prinzipien der subditio (Unterwerfung), patientia (Geduld) und der humilitas (Demut). Im Austausch mit dem geistlichen Führer geht die „Suche nach der Wahrheit über sich selbst“ mit einem „Sich selbst absterben“ 8 einher. Der Horizont dieser Praxis, die in Mönchsregeln, Traktaten und Vorschriften ihren Ausdruck fanden, wird besonders deutlich in der Praxis der virginitas (Jungfräulichkeit):

    „Die Jungfräulichkeit ist steril. Aber diese Sterilität gilt nur der fleischlichen Geburt, die [ihrerseits] auf zweierlei Art an den Tod gebunden ist: Zuerst ist er ihre Konsequenz und dann ist sie das Prinzip des ständigen dem Tode geweiht seins. Als Verweigerung der Fortpflanzung (génération) ist die Jungfräulichkeit also eine Verweigerung des Todes, eine Unterbrechung dieser unbestimmten Verkettung, die in der Welt begonnen hat, als der Tod in ihr erschienen ist, und die sich nun von Generation zu Generation, also von Tod zu Tod fortsetzt. […] Diese Serie, die mit dem Fall (chute) eröffnet wurde, wird hier unterbrochen. Die Macht des Todes findet nichts mehr, um seine Aktivität auszuführen. In dieser physischen Sterilität der Jungfräulichkeit ist also kein langsamer Fortgang in den Tod zu sehen, sondern ein Triumph über der Tod und die Ankunft einer Welt, in der der Tod keinen Platz mehr hat.“ 9
    Wie ein Kontrapunkt zu dieser radikalen Weltverneinung in den Klöstern erscheint seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts die zunehmende  Zahl der Christinnen und Christen, die in Städten lebten. 10 Man musste also die monastischen Werte und Praktiken denen zugänglich machen, die in der Welt lebten. Es musste also eine Pastorale mit dem Ziel entwickelt werden, „bestimmte asketische Werte der monastischen Existenz, wie die Praktiken der Führung von Individuen, an das Leben in der Welt anzugleichen”. 11

    Diese Entwicklung vollzog sich parallel zu den Veränderungen der Verhältnisse zwischen dem Christentum, seinen sich ausbreitenden Organisationen, und dem Römischen Reich.  „Als zunächst anerkannte, dann offizielle Institution übernimmt die christliche Kirche immer einfacher und sichtbarer Funktionen in Organisation, Verwaltung, Kontrolle und Reglementierung der Gesellschaft.  Die imperiale Bürokratie ihrerseits sucht über die traditionellen Strukturen hinaus einen stärkeren Zugriff auf die Individuen.“ 12
    Und genau an diesem Punkt wird ein paradoxer Effekt deutlich sichtbar: „die Praktiken und Werte, die für Lebensformen entwickelt oder intensiviert wurden, die ausdrücklich im Bruch mit der Welt und der zivilen Gesellschaft sich vollzogen, schickten sich an, nicht ohne Abmilderung und Modifikation, eine Rolle in institutionellen Formen zu spielen, die gestützt oder unterhalten wurden von Organisationen des Staates und allgemeinen politischen Strukturen.“ 13   

    Auf der einen Seite stehen asketische Ideale und Praktiken, die außerhalb der traditionellen Formen des Sozialen, ja sogar gegen sie entwickelt wurden. Auf der anderen Seite stehen sich aufeinander stützende kirchliche Organisationen und Strukturen des Staates. „Das Leben des Individuums in dem, was es als privat, alltäglich und singulär haben konnte, findet sich wieder als Objekt der Überwachung (vigilance) oder zumindest in Anspruch genommen von einer Sorge, die zweifellos weder dem ähnelte, was in den hellenistischen Städten vor sich ging, noch dem, was die ersten Christen Gemeinden praktizierten.“ 14
    Es entstand eine Herrschaftsform, die die Menschen „über (par) die Manifestation ihrer individuellen Wahrheit“ regiert. Michel Foucault nennt diese Herrschaftsform „die pastorale Macht“, le pouvoir pastorale. 15 

    Mit der Pastorale übernimmt das Christentum wiederum eine althergebrachte Praxis. Foucault analysiert aus den Texten der Kirchenväter im Herzen der pastoralen Praxis der Kirche einen „Imperativ der Wahrheit“ bzw. ein „Ensemble von Imperativen“. 16  Ein „Imperativ der doktrinalen Strenge“ (rigueur doctrinale), ein „Imperativ der Lehre“ (enseignement), ein „Imperativ der Kenntnis der Individuen (connaissance des individus) und ein „Imperativ der Vorsicht“ (prudence) lassen die pastorale Macht als eine Verbindung von „Ausbildung und Übermittlung von Wahrheit“ erscheinen. 17

    Die Wahrheit ist der entscheidende Operator der pastoralen Macht. Und dies in doppelten Form: „doktrinale Gleichförmigkeit“ (conformité), die man kennen und bekannt machen muss und „individuelle Geheimnisse“ (secrets), die man aufdecken muss, sei es um sie zu korrigieren, sei es um zu strafen (châtier).“ 18 

    Eine solche Analyse der pastoralen Macht – ganz gleich, ob sie hierarchisch oder strukturell diffundiert ausgeübt wird – müsste direkt in die Beichte führen und Fragen nach einer institutionellen Form der Beichte dringlich erscheinen lassen. Stichworte dafür könnten die Begriffe des Aufschließens und  des Lösens sein, verstanden im Sinne eines Aufschließens und Loslösens von Herrschaftsformen; mit anderen Worten: minderheitlich werden. 19

    Doch wieder macht Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus einen Umweg.

  • Bleib bei uns, denn es will Abend werden (BWV 6)

    Bleib bei uns, denn es will Abend werden (BWV 6)

    Zu Beginn des Gottesdienstes steht der Chor im Halbkreis unter der Empore. Dort ist auch die brennende Osterkerze. Der Chor zieht singend mit dem ersten Lied „Bleib bei uns Herr“ (EG 488) ein uns nimmt im Halbkreis hinter dem Orchester, das auf der Höhe von Kanzel und Lesepult platziert ist und den Choral begleitet hat, Aufstellung.

    Auf die im Wechsel mit der Gemeinde gesprochene liturgische Begrüßung (EG 729) durch die Liturgin am Altar folgt direkt die Lesung Der Emmausgeschichte aus dem Lukasevangelium (24, 13-35). Die Lesung wird im Vers 29 unterbrochen durch den Eingangschoral der Bachkantate (BWV 6): „Bleib bei uns, denn es will Abend werden“. Anschließend wird die Lesung fortgeführt.

    Es folgt Psalm 118 in einer Vertonung von Edward John Hopkins, der vom Chor a capella gesungen. Danach nimmt der Chor auf der Kanzelseite im Chorgestühl Platz.

    Daraufhin erklingen die Teile 2, 3 und 4 der Kantate, die Alt-Arie „Hochgelobter Gottessohn“, der Sopran-Choral „Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ“ und das Bass-Rezitativ „Es hat die Dunkelheit an vielen Orten überhandgenommen“.

    Daran anschließend erklingt das „Exsultet“, den Lobgesang auf das Osterlicht, aus der Osternacht. Es wird im Wechsel gesungen beginnend neben der Osterkerze unter der Empore und auf der Kanzel. Die Liturgin vorm Altar übernimmt den Wechselgesang mit der Gemeinde von der Orgel begleitet zur Einleitung der Abendmahlsliturgie. Als Präfation wird eine gekürzte Fassung der großen Osterpräfation abwechselnd zwischen Kanzel und unterhalb der Empore gesungen, wobei die Osterkerze in drei Stationen durch den Mittelgang nach vorn getragen wird.

    Auf der Höhe des Orchesters angekommen wird von der großen Orgel „Christ ist erstanden“ (EG 99) intoniert und von der gesamten Gemeinde stehend gesungen. Es schlie0en sich gemeinsam gesprochen die Einsetzungsworte und das Vater unser an. Zur Gabenverteilung wird die Osterkerze in den Altarraum getragen und auf den entsprechenden Leuchter gestellt. Die Gemeinde folgt der Kerze zum Abendmahl und empfängt rechts vom Altar Brot und links vom Altar Wein bzw. Traubensaft und kehrt zu den Sitzplätzen zurück.

    Während des Abendmahles singt der Chor im Chorgestühl a capella ein Nunc dimitis von Thomas Tallis. Anschließend wird von allen Laudate omnes gentes (EG 789.1) gesungen. Nach dem Abendmahl nimmt der Chor Aufstellung im Halbkreis hinter dem Orchester.

    Es folgt der fünfte Teil der Bachkantate, die Tenor-Arie „Jesu, lass uns auf dich sehen“ und der Schlusschoral der Kantate „Beweis dein Macht, Herr Jesu Christ“.

    Danach erhebt sich die Gemeinde zum Segen und der Chor zieht mit dem Gemeindelied „Wir wollen alle fröhlich sein“ (EG 100) aus und kehr an die Anfangsposition unter der Empore zurück.

  • Umweg Vater Unser

    Umweg Vater Unser

    Bevor Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus vom Glaubensbekenntnis zur Taufe kommt, macht er einen Umweg. Dieser Umweg ist zugleich ein Interpretament, das auch als Technik des minderheitlich-Werdens gelesen werden kann.

    Nach dem Credo müsste eigentlich die Taufe kommen, denn der liturgische Ort von Bekenntnissen ist bis in die Bekenntnisfragmente des Neuen Testamentes zurück die Taufe. Am Wasser oder im Wasser kann man ehrwürdige Worte sprechen, die man vielleicht nicht versteht. Entfernter vom Ufer rufen sie ganze Bibliotheken auf, die sich in ‚wachsenden Ringen‘ ‚über die Dinge‘ gezogen haben.

    Auf seinem Umweg öffnet Luther sein ‚Was‘ auf eine unerwartet zärtliche Art und Weise für das ‚Wer‘ eines Sprechers bzw. einer Sprecherin. Das „Vater unser“ zeigt Jesus als den „Lehrer des Vatersagens zu Gott“[1]. Und dies nicht in einem abstrakten Sinne, sondern ganz konkret: Die „vox ipsissima des Nazareners“[2] erklingt im aramäischen Abba[3].  

    Den Zeitgenossen Jesu „soll, Philologen zufolge, die Anrede Abba zu respektlos vertraulich geklungen haben, als wenn heute einer übersetzte ‚Papa Gott‘ oder das ‚Herrengebet‘ beginnen ließe mit ‚Papa unser‘“.

    Die Intimität dieser Anrede wird besonders deutlich, wenn sie in Spannung eines anderen aramäischen Anrufes Jesu gehört wird: „Eli, eli, lama asabthani. Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mt 27,46, Mk 15,34).

    Mit dem Anruf Eli wird Gott „fast wie ein Fremder genannt“[4]. So fremd, dass die, die dabei standen, es für den Ruf nach dem Elias hielten oder auch für das Zitat des zweiundzwanzigsten Psalms.[5] Die Klage dieses Anrufes hat ihren unglaublichen Abgrund darin, dass „einer Gott als den Seinen anruft und zugleich ihn als den Nicht-Seinen der Verlassenheit anklagt“[6]. Ja, mehr noch, diese Klage „hat die Wahrheit eines Schreis, der noch an den ‚toten Gott‘ gerichtet sein könnte. Wenn nicht sogar erst recht an diesen.“[7] Dem konnte nur ein letzter, wortloser, wilder Schrei noch folgen.[8]

    Lukas hatte diesen ans Unerträgliche grenzenden Abgrund seinen Lesern offenbar nicht zumuten wolle. Er verdeckte ihn mit einer Anspielung auf den einunddreißigsten Psalm. Anstelle des Eli legte Lukas Jesus ein anderes Wort in den Mund: Vater (Lk 23,46).[9] Was auf den ersten Blick nach einer frommen Verharmlosung aussieht, öffnet eine Frage von kaum zu überschätzender Tragweite. Deutet Lukas damit darauf hin, dass Gott von der Passion seines Sohnes nicht unberührt geblieben sein konnte, dass er durch die Passion seines Sohnes selbst ein anderer geworden wäre, wie der Philosoph Hans Blumenberg zu denken gibt? „Mussten Menschensöhne seit je danach gefragt werden, oder sich fragen, wie sie mit der Vaterlast leben konnten und können, ist hier der Gottesvater zu fragen, wie er mit der Passionslast des Sohnes hat weiter ein ›Gott‹ sein können. Ist es möglich zu denken, dass dies es war, was ihn tötete? ‚Wir setzen uns mit Tränen nieder …‘ – über jenen Tod. Auch über diesen?“[10]

    „Die Polarität zwischen dem Eli und dem Abba muss stark empfunden worden sein, bevor die Urgemeinde das von Jesus sakralisierte Abba in ihre Gebetssprache übernahm. Damit hing zusammen, dass in der aramäischen Form auch die Suffixe der Possessivpronomina der ersten Person des Singular wie des Plural aufgegangen sind: Abba ist also das authentische erste Wort des ‚Herrengebets‘ gewesen, ob Jesus es für sich gesprochen oder es seine Jünger als deren gemeinsame Anrede an den gemeinsamen Vater gelehrt hatte. Überliefert ist es in der Gethsemane-Szene gespannter Vertraulichkeit mit dem Vater, der das, was da heraufkam, doch noch am Sohn vorübergehen lassen konnte.“[11]

    P.S.

    Als die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach dreißig Jahre nach der Staatsgründung zum ersten Mal in Israel aufgeführt wurde, hat ein prominenter Mann gefragt, was denn passiert wäre, wenn Pilatus auf Geheiß des Volkes den Barabbas gekreuzigt hätte. Hans Blumenberg greift diese Frage auf. Sie sei eine der weisesten Fragen und viel zu selten gestellt.

    „Hier liegt ein Geheimnis, das mit dem Abba-Namen eng zusammenhängt. ‚Barabbas‘ ist gar kein Name, sondern die authentische Selbstbezeichnung Jesu als ‚Sohn des Vaters‘, lingua aramaica: Bar-abbas. Das passt zur Geschichte des Einzugs in Jerusalem und der Huldigung für den Sohn Davids als König der Juden. Diesen ‚Sohn des Vaters‘ hatte die erregte Volksmenge gegen den Willen des Hohen Rates freigegeben sehen wollen. Dafür hatten sie vor dem Vertreter der Besatzungsmacht demonstriert, der es nicht wagte, dem Druck des Volkes nachzugeben und sich die zu Feinden zu machen, die er zur Machtausübung brauchte. Das Volk, die ‚Turba‘, war bei dem geblieben, was sie beim Einzug in Jerusalem gezeigt und was die Priesterschaft zum Handeln getrieben hatte.

    Das Volk hatte in seiner Sprache geschrien. Die Evangelisten Matthäus und Johannes, die den vermeintlichen Namen überliefern, haben es nicht mehr verstanden oder wollten es anders verstanden wissen. So wurde der Raubmörder Barabbas als der Andere erfunden und das Gottesvolk zum mörderischen Mob gemacht, der seinen König verriet.“[12]

    Zittert hier das, was später die konstantinische Versuchung gewesen sein wird, bereits in der Passionsüberlieferung? Bar-abbas durfte als König nur tot sein, aber er durfte als Einziger die vertraute Anrede des Einen mit Abba als ein Privileg übertragen[13] an die armen, echten Menschen, die sich schlugen, um ihre Herrn zu stürzen, ohne aber deswegen ihre Plätze einnehmen zu wollen. Sie sind Bar-abbas und Bath-abbas.


  • Zwischen den Zehn Geboten und dem Glaubensbekenntnis

    Zwischen den Zehn Geboten und dem Glaubensbekenntnis

    Zwischen den Zehn Geboten als dem ersten Teil des Kleinen Katechismus von Martin Luther und seinem zweiten Teil, dem Glauben, liegen nicht nur die Wechsel der An- und Aussprüche von „Ich bin“ (der Herr Dein Gott) über „Du sollst“ bzw. sollst nicht (und Luthers Beantwortung in Form von Wir sollen) zu „Ich glaube“.

    Zwischen den Zehn Geboten und dem Glaubensbekenntnis liegen auch Wechsel von Zeiten, Sprachen, Kulturen, Lebens- und Herrschaftsformen, Geschichts- und Menschenbildern; das alles wäre und ist interessant.

    Die Wechsel der An- und Aussprüche setzen sich aber direkt in weiteren Wechseln fort, die ins Heute führen. Sie lassen sich mit drei Stichworten beschreiben: Praxis, Werk, Entwerkung.

    Die Zehn Gebote, ganz gleich, ob sie einer nomadischen, einer liturgischen oder einer moralischen Praxis zuzuschlagen sind, sie sind auf eine Praxis bezogen, sie verlangen nach Praxis, nach Tun. Von ihnen als von Glaubenssätzen überzeugt zu sein, ist schön, aber entscheidend ist ihre Praxis, ihr praktisches und konkretes Tun, welches ein Nicht-Tun einschließt, je nach Gebot.

    Die Problematik dieses Zusammenhanges wird deutlich, wenn die von den Geboten geforderte Praxis mit dem Begriff des Werkes als einem Resultat von Praxis in Verbindung gebracht wird. Diese Schlinge zieht sich zu, wenn eine Praxis über ihr Werk hinaus mit einem Verdienst gekoppelt wird, das sich anzurechnen wiederum allzu leicht in den verführerischen Strudel von versprochener oder erhoffter Erlösung, Geld und Repräsentation zu geraten droht und historisch eklatant geraten ist. In seiner perfidesten Form, dem Ablasshandel, führte diese institutionelle Technik als eine der größten Aktionen kirchlichen Marketings zur Spaltung des westlichen Christentums und ließ Werke fürderhin als verdächtig erscheinen, ja sogar Praxis selbst.

    Ist das nicht ein weitverbreitetes Missverständnis, das vor allem deshalb so über die Maße beliebt ist, weil es bis heute konfessionsübergreifend zu so etwas wie (zumindest verwalterischem) Machterhalt dient?

    Im Zusammenhang seiner „Dekonstruktion des Christentums“ hat der französische Philosoph Jean-Luc Nancy den Jakobusbrief gelesen. Im Zentrum seiner Lektüre steht das griechische Wort argé im Vers 20 des Briefes. „Der Glaube ist ohne Werk argé, das heißt leer oder eitel, ineffizient und ineffektiv. Argos ist eine Zusammenziehung von a-ergos: ‚ohne ergon‘. Jakobus formuliert eine Quasi-Tautologie. Doch sie bedeutet, das ergon ist hier die Existenz. Es bedeutet also auch, dass ergon generell viel eher als Wirksamkeit denn als Produktion verstanden wird, und als In-actu-sein viel eher denn als operari eines opus.“[1] Das heißt, die Werke sind hier nicht als Werke des Glaubens im Sinne eines Kundtuns oder einer Demonstration zu verstehen, sondern der Glaube existiert in Werken. Nancy liest das Verhältnis zwischen Glauben und Werken hier in umgedrehter Perspektive. „Der Glaube besteht nicht an sich. Deshalb geht es darum, ihn ek tôn ergôn, aus den Werken heraus zu zeigen, aus ihnen hervorgehend. Statt das die Werke aus dem Glauben hervorgehen, ja anstatt dass sie den Glauben ausdrücken, existiert dieser nur in den Werken: in den Werken, welche die seinen sind und deren Existenz das ganze Wesen des Glaubens ausmacht, wenn man so sagen kann.“[2]

    Diese Logik des Jakobsbriefes verschiebt „unser gewohntes Verständnis von ergon“ und damit zugleich „unsere platonische und aristotelische Auffassung von poiesis“. Denn beide Worte treten im Jakobusbrief gemeinsam auf. Beide Worte müsste man hier im Sinne von praxis verstehen, nämlich als „das Tun eines Handelnden“ und nicht als „die Handlung an einem Objekt“.[3]

    Es liegt also im Werk selbst eine Differenz, etwas, was mit sich selbst nicht adäquat ist: „die praxis ist das, was keine Produktion eines seinem Begriff adäquaten Werkes“ (also eines Objektes) sein kann. Das Werk ist entwerkt (désoeuvré). Und Glaube kann weder seinem Werk noch seinem Subjekt eigen sein. Er kann nur empfangen werden, geschenkt, umsonst.[4]

                                                                                                  ***

    Im Zusammenhang des Kleinen Katechismus erlaubt dieser Gedanke einen kleinen Exkurs zu den Zehn Geboten.

    Die innere Logik des Jakobusbriefes kommt nach Jean-Luc Nancy in folgender Frage zum Ausdruck: „Wenn die Menschen nach dem Bilde Gottes erschaffen worden sind, was ist dann diese homoiosis? Wem oder Was sind sie ‚homogen‘?“[5]

    Und Nancy folgt der Spur des Schöpfers, den der Brief den „Vater der Lichter“ (1,17) nennt und stellt fest: „Gott ist zuerst der Gebende.“ Und folgt man der „Logik der Gabe […], gibt der Geber sich in seine Gabe auf. Ebendies geschieht hier. Gebend die Gabe vollbringend, gibt er sich und bleibt zugleich an sich schattenlos, denn es ist diese Auflösung des Schattens, dieses Aufhellen, das er gibt und das er ‚allen gerne gibt‘ (1,5). Geben und Zurückhalten sind hier keine Gegensätze – und dementsprechend wären Sein und Schein hier identisch: phänomenologische Theologie.“[6]

    Wenn sich hier die Logik der Gabe und die Logik des Homogenen überlagern, folgt Nancy dem Jakobusbrief, dann ist das Gegebene von besonderer Bedeutung: Es ist die Gnade, die besser ist als jegliches Verlangen, und sie wird den Demütigen gegeben (4,6 mit Bezug auf Spr 3,34).

    In Martin Luthers rigoros katechetischer Gebärde könnte man nun fragen: Was ist das?

    „Die Gnade, das ist die Gunst, das heißt zugleich die Erwählung, die begünstigt und das Vergnügen oder die Freude, die so gegeben ist. Die Gnade ist gratis, ein Geschenk (gratia übersetzt charis, zeigt Beneviste, und hat gratis und gratuitas ergeben). Es ist die Gratuität des Vergnügens, das um seiner selbst willen gegeben wurde.“[7]

    Eine Pointe dieser Lektüre ist die, dass im Unterschied zur einer Logik des Mangels, des Neides oder des Verzichts die Logik der Gnade „vom Genießen herrührt“ als einem „Begehren und Vergnügen als Empfänglichkeit für die Gabe.“ Diese Empfänglichkeit ist ihrerseits eine Hingabe oder Aufgabe und muss der Gabe selbst „an Gratuität gleichkommen“.[8]

    Diesen Gedanken folgend wären die Zehn Gebote also weniger im Sinne von Gesetzen, Geboten oder Verboten und ihren vorrangig ins Ethische und Juristische weisende Implikationen zu verstehen, sondern als Gaben im Sinne von Praxis (s.o.) oder Lebensform. Diese Spur entspricht eher dem hebräischen Wortlaut der „Zehn Gaben“, die weniger mit „Du sollst“ als mit “Du bist“ oder „Du wirst sein“ beginnen.

                                                                                   ***

    Aber kommen wir zurück zum zweiten Teil des Kleinen Katechismus, auf das Credo und auf den Begriff der Entwerkung.

    Das eigenartige französische Wort désoeuvrement[9] lässt sich auf zweierlei Art und Weise ins Deutsche übersetzen: Werklosigkeit und Entwerkung. Die erste Übersetzung legt das Gewicht stärker auf einen Zustand, die zweite auf eine Tätigkeit. Diese Tätigkeit meint eine werklose Tätigkeit. Das ist eine Tätigkeit, die kein Werk hat und auch auf kein Werk ausgerichtet ist; eine werklose Tätigkeit produziert nichts, stellt nichts her, sie hat kein Ziel und bewerkstelligt nichts. Eine werklose Tätigkeit verschenkt sich, gibt sich, ist umsonst.

    Die werklose Tätigkeit par excellence nennen wir Glauben.

    Credo – ich glaube – zu sagen ist also eine werklose Tätigkeit.

    Dazu steht das Credo klassischer Tradition in einer Spannung. Sie wird schlagartig deutlich, wenn man die Bezeichnung „Glaubensbekenntnis“ verwendet, einen Werkbegriff. Credo – ich glaube – als Überschrift meint aber immer zugleich das Prinzip einer Entwerkung, und zwar einer Entwerkung des Bekenntnisses selbst. Was zunächst befremdlich klingt, zeigt sich bereits im liturgischen Vollzug von Mehrstimmigkeit und Wechselgesang; beide Praktiken lassen sich als Grundmodi einer Entwerkung verstehen.

    Der Mehrstimmigkeit entsprechen Signaturen im Bekenntnistext selbst.[10] Sie zu öffnen, also ohne Werk zu lesen, heißt, sie vom Gestus der Macht zu befreien:

    Zuerst legt die Mehrstimmigkeit eines Bekenntnisses seine doppelte Zeitbewegung offen, ein alter Text wird heute gesprochen, er aktualisiert Ereignisse oder Erfahrungen, die noch älter sind als er selbst und öffnet sie auf einen Zeithorizont hin, der als kommend, adventisch, gedacht werden muss. Ein Credo kann also nicht bloßes Gedächtnis sein.

    Zudem trägt der Text des Bekenntnisses Narben von Machtentscheidungen und Herrschaftsgesten in sich, die zur Formulierung des Bekenntnisses führten. Das heißt, er verschweigt nicht nur Stimmen aus dem mehrstimmigen Spiel des Glaubens, sondern schließt sie aus, was nicht selten konkret hieß: vernichtet sie. Die Spur der Mehrstimmigkeit unter den Narben solcher Herrschaftspraxis kehrt nun aber in einem weiteren Grundmodus der Entwerkung wieder.

    Dieser ist der Grundmodus des Wechselgesanges; er öffnet sich zwischen »ich glaube« und »hilf meinem Unglauben« in der Person dessen, der credo sagt, und also immer schon mehrstimmig ist. Ein Credo kann auch nicht bloße Gewohnheit sein.

    Wenngleich ein Credo Anteile von Gedächtnis und Gewohnheit in sich birgt und mit ihnen arbeitet, so bietet sich der Begriff der Wiederholung an, ein darüber hinaus Gehendes des Credo zu denken und zu beschreiben. Dies darüber Hinaus ist zugleich Impuls und Ziel der Entwerkung des Credo als Ausdruck einer werklosen Tätigkeit.

    Die Wiederholungsforscher Kierkegaard und Péguy fügen nämlich der Wiederholung neben Gedächtnis und Gewohnheit noch einen weiteren Aspekt hinzu, nämlich den der Zukunft.

    Wiederholung als Kategorie der Zukunft übertrugen sie dem Glauben. Glauben war für beide eine Art Sorge. Sie sollte die Erfahrung der Abwesenheit Gottes überwinden und dessen zweifelnden Niederschlag im Ich ausgleichen.

    Gilles Deleuze geht in seiner Rezeption von Kierkegaard und Péguy darüber hinaus, wenn er fest stellt: „Aber der Glaube fordert uns dazu auf, Gott und das Ich ein für allemal in einer gemeinsamen Auferstehung wiederzufinden.“  Darin sieht Deleuze „ein Abenteuer des Glaubens, demgemäß man immer der Narr seines eigenen Glaubens, der Komödiant seines eigenen Ideals ist.“  Genau dies ist der Moment der Entwerkung, der im Glauben selbst sich findet. Deleuze führt fort: „Das rührt daher, dass der Glaube ein Cogito hat, das ihm eignet und ihn seinerseits bedingt, das Gefühl der Gnade als innerer Erleuchtung. Dieses ganz besondere Cogito ist es, in dem der Glaube sich reflektiert und erfährt, dass seine Bedingung ihm nur als ‚wieder-gegebene‘ gegeben werden kann und das er nicht nur von dieser Bedingung abgetrennt, sondern in ihr entzweit ist. Der Glaubende sieht sich dann nicht nur als tragischer Sünder, weil der Bedingung beraubt, sondern als Komödiant oder Narr, als Trugbild seiner selbst, weil in der Bedingung entzweit und reflektiert. Zwei Gläubige betrachten einander nicht ohne zu lachen“[11].

    Ein Lachen, risus pascalis, findet sich also im Glauben selbst als ständige Praxis seiner Entwerkung. So wird Glauben unablässig eine werklose Tätigkeit, „eine Tätigkeit, in der das Wie das Was vollkommen ersetzt hat, in der das formlose Leben und die unbelebte Form in einer Lebensform zusammen fallen“[12]. Glauben ist ein vergnügliches Geschenk, das klingt in vielen Stimmen. Oder es schweigt.


  • Die Zehn Gebote

    Die Zehn Gebote

    Blättert man in Martin Luthers Kleinem Katechismus, so fällt einem schnell sein strukturierendes Element auf: Die immer wiederkehrende Frage: Was ist das? Nach jedem Glaubenssatz stellt Luther diese Frage, um sie dann kurz und prägnant zu beantworten.

    Luther mag vielerlei Gründe gehabt haben, seinen Kleinen Katechismus auf diese Weise zu gestalten. Der Hauptgrund liegt sicher in seiner Übersetzung des berühmten Verses des Apostels Paulus im Römerbrief (Röm 10, 17). Paulus schrieb dort, der Glaube komme aus dem Hören. Luther übersetzt, der Glaube komme aus der Predigt.

    Mit dieser Übersetzung schränkt Luther das Hören, aus dem der Glaube kommt, folgerichtig auf ein Gehorchen und damit auf eine Sache, eine Lehre ein.[1] Also fragt er immer: „Was ist das?“

    Diese Frage mag gerade im ersten Teil des Kleinen Katechismus, den Zehn Geboten, angemessen erscheinen. Denn die werden ja jeweils mit „Du sollst“ oder „Du sollst nicht“ beginnend übersetzt. Und Luther nimmt dies geradewegs auf, indem der seine Frage nach dem Was jeweils mit einem „Wir sollen“ zu beantworten beginnt.

    Aber bevor es sich um etwas handelt, nach dem man überhaupt mit „Was?“ fragen kann, gehen Menschen durch eine große Leere. Einem Befreiungsimpuls folgend, der bis zu „Go down, Moses“ durch die Menschheitsgeschichte hallt, geht der Mensch. Und es ist zu hoffen, dass er, sie oder es weiter geht. „Der Mensch geht im sengenden Gelb des Sandes, und dieses Gelb hat für ihn keine Grenzen mehr. Der Mensch geht im Gelb, und er versteht, dass der Horizont selbst, wie scharf er dort auch sein mag, dort hinten, ihm nie als Grenze oder als ‚Rahmen’ dienen wird: Er weiss nun genau, dass jenseits der sichtbaren Grenze der gleiche glühende Ort liegt, der immerzu weiter geht, immer gleich und gelb bis zur Verzweiflung. Und der Himmel? Wie könnte er diese farbige Einkerkerung lindern, er, der nur einen Mantel aus glühendem Kobalt bietet, den man nicht unmittelbar anschauen kann? Er, der unseren Gehenden zwingt, den Nacken zu einem immer rauheren Boden zu beugen?“[2]

    Das Entscheidende dieser Erfahrung ist die Erfahrung einer Abwesenheit. Sie gehört zwangsläufig und konstituierend zu den Wünschen, dem Denken und dem Schmerz des Menschen. „Aber die Wüste – weiträumig, entleert, monochrom – bildet wahrscheinlich den angemessensten visuellen Ort, um diese Abwesenheit als etwas unendlich Mächtiges, Souveränes zu erkennen. Darüber hinaus bildet sie wahrscheinlich den treffendsten imaginären Ort, um zu glauben, dass sich diese Abwesenheit als eine Person manifestieren wird, mit einem Eigennamen – unaussprechlich oder ohne Ende ausgesprochen. Und darüber hinaus bildet sie wahrscheinlich den angemessensten symbolischen Ort, um die alte Herkunft eines Gesetzes und eines Bundes mit dem Abwesenden zu erfinden.“[3]

    Schritt für Schritt wird aus dem Abwesenden, „der Ersehnte“, dann „der Bevorstehende“ und schließlich „der Anwesende“, und der Mensch „erfindet sich als ‚auf ihn zu‘ gehend, auf dem Wege zur Oase eines Dialogs, eines Gesetzes, eines zu schließenden endgültigen Bundes“.[4] Schließlich wird der gehende Mensch es wagen, „die Augen zum Himmel zu erheben, zum Berg gegenüber – und er wird den Abwesenden sehen. Endlich“[5].  

    In den Notizen zu seiner Inszenierung von Arnold Schönbergs unvollendeter Oper „Moses und Aron“ schreibt der italienische Regisseur Romeo Castellucci: „Schönbergs Moses scheint zu sagen: das größte Problem liegt nunmehr an dem, der sieht, und wie er sieht, und vor allem, was er sieht.“[6] 

    Aber sogleich schreibt der Dekalog vor, (sich) kein Gottesbild zu machen (Ex 19, 16-25; 20, 19).

    Und so vertraut Moses selbst seinen Worten nicht. Castellucci notiert: „Seiner Meinung nach ist die wahre Aussage mehr als nur das Wort selbst, das, wie Aron es beweist, immer ein Haufen versteckter Absichten ist. Moses dagegen möchte die Stille, die vorbeugende Wirkung des Bildes, die Askese der Idee. Er denkt nicht, dass Gott in der Sprache zu erkennen ist, selbst wenn diese das einzige ihm zur Verfügung stehende Mittel ist, um das, was er gesehen und gehört hat, zu übermitteln. Aber er hat weder ein Gesicht, noch einen Namen, noch einen Körper.“[7]

    Und so lässt Castellucci seine Inszenierung mit dem letzten Satz des von Schönberg in Musik gesetzten Materials schließen. Moses endet in der seiner Rolle eigenen Art des Sprechgesangs mit den Worten: „O Wort, du Wort, das mir fehlt!“[8] Und der Vorhang senkt sich erdrückend auf ihn herab.

    Was bleibt, ist Schrift. Und das hat direkte architektonische und kultische Konsequenzen wie das Buch Exodus weiter berichtet.[9] Bis auf uns Heutige hat es aber vor allem mediale Konsequenzen und diese sind von höchster Aktualität: „Auch im Fernsehen, das als Bildmedium gilt, muss es irgendwo Schrift geben. Geschriebener Text, der in einigen Einzelfällen stärker als jedes Bild sein kann. Das weiß man von Moses und Aaron. Was Aaron sagt und nicht schreibt, ist populär und gewinnt die Menschen schnell. Und dennoch gibt es etwas, sagt Moses, was nicht ins Bild gesetzt werden und nicht durch Worte übertönt werden darf. Es muss Schrift bleiben.“[10]

    Als ob auch Martin Luther gelegentlich einen kleinen Zweifel am gesprochenen Wort verspürt hätte, fügte er den Zehn Geboten des Kleinen Katechismus etwas hinzu bzw. geht über ihn hinaus. Bereits 1524 verfasste er einen die zehn Gebote umschreibenden Liedtext in zwölf Strophen und verband ihn mit der Melodie eines Pilgerliedes in Form einer Leise. Auf diese Art Weise sind die Zehn Gebote nicht nur Teil einer Lehre, sondern auch Teil einer spirituellen Praxis, des Singens.


  • Nun komm, der Heiden Heiland (BWV 61)

    Nun komm, der Heiden Heiland (BWV 61)

    Zu Beginn des Gottesdienstes steht die Schola Cantorum Adam Rener in einem Halbkreis unter der Empore. Die kleine Orgel steht in der Mitte etwas vor der Linie, die Kanzel und Lesepult bilden. Die InstrumentalistInnen des Ensembles sitzen bereits rechts und links der Orgel auf ihren Plätzen.

    Unter Empore und singt der Chor den alten Adventshymnus Veni redemptor genitum. Anschließend geht der Chor in zwei Teilen rechts und links den Seitengang am Gestühl vorbei nach vorn und nimmt hinter dem kleinen Orchester Aufstellung.

    Es erklingt der erste Satz der Bachkantate Nun komm, der Heiden Heiland (BWV 61), also die erste Strophe des titelgebenden Chorales. Anschließend geht die Liturgin zum Altar und begrüßt die Gemeinde mit der im Wechsel gesprochenen Eröffnung aus der Vesper und lädt die Gemeinde zum Mitsingen der weiteren Strophen des Chorales ein. Der Chor beginnt mit der ersten Strophe in einem Satz von Johann Herman Schein. Die Gemeinde folgt mit den Strophen 2-4.

    Anschließend spricht der Chor gemeinsam die Lesung aus Sacharja 9, 9-10b „Du Tochter Zion, freue dich sehr“ und nimmt rechts und links im Chorgestühl Platz.

    Es erklingen der zweite und der dritte Satz der Bachkantate, das Rezitativ „Der Heiland ist gekommen“ und die Arie „komm, Jesu, komm“. Anschließend drehen die beiden Solisten sich zueinander und sprechen im Wechsel die Verse 7-10 aus Psalm 24 „Machet die Tore weit“.

    Es folgen der 4. Satz der Bachkantate, das Rezitativ „Siehe, siehe, ich stehe vor der Tür“ und das Abendmahlsgebet. Die gesamte Gemeinde sprechen die Einsetzungsworte und das Vaterunser. Anschließend wir der 4. Satz der Kantate „Siehe, siehe, ich stehe vor der Tür“ wiederholt und dann das Austeilung mit Hilfe einiger Choristen vor der Orgel (Brot) und rechts und links von der Orgel (Wein/Saft) als Wandelabendmahl.

    Die Gemeindemitglieder kommen durch den Mittelgang und gehen an den Seiten zurück zu ihren Plätzen. Dann erklingt der 5. Satz der Kantate, die Arie „Öffne dich, mein ganzes Herze“ gefolgt von einem Fürbittgebet und dem Gemeindelied „Wie schön leuchtet der Morgenstern“, die Strophen 1-4. Der Chor schließt mit Strophe 6 im Satz von J.S. Bach an und endet mit der 7. Strophe, die direkt in den 6. Satz der Bachkantate „Amen, Amen“ übergeht.

    Während des Gemeindeliedes hat der Gospelchor der Schlosskirche von den hinteren Sitzreihen der Gemeinde aus unter der Empore Aufstellung genommen.

    Die Liturgin geht zum Segen an den Altar. Nach dem Segen beginnt hinten der Gospelchor mit einer Rapvariante des Chorales Nun komm, der Heiden Heiland begleitet vom E-Piano.

  • Martin Luthers „Kleiner Katechismus“: Der Plan

    Seit Januar 2017 schreibe ich hier einen Blog auf der Homepage des Zentrums für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur. Seine Arbeit operiert eher wuchernd als zielgerichtet aufeinanderfolgend. Ein Teil der dort veröffentlichten Texte folgt Arbeitsthemen des Zentrums und ist an konkreten Veranstaltungen und Projekten orientiert. Andere erforschen Fragestellungen, die sich aus konkreten Fragen der Arbeit am Auftritt mit Pfarrerinnen und Pfarrern ergeben. Wieder andere nehmen Zeitfragen auf oder folgen Lektüren. Alle Einträge breiten Material aus, mit dem weitergearbeitet werden kann und sollte. Als Material markieren die Einträge oft Fehlstellen in den herkömmlichen Zusammenhängen, in denen das Zentrum agiert.

    Die vergangenen zwei Jahre habe ich um die Feste des Kirchenjahres herum gearbeitet, dabei war es wichtig, nicht nur historische Anknüpfungspunkte in den Blick zu nehmen, sondern Verbindungen zu heutigen Fragestellungen, Forschungen und auch direkt zur Praxis herzustellen, zu testen.

    Im Jahr 2024 soll es um den „Kleinen Katechismus“ von Martin Luther gehen. Diese einst weit verbreitete Schrift soll darauf getestet werden, ob sie tatsächlich als „kleine“ bzw. minderheitliche Schrift gelesen werden kann[1].

    Historische gesehen ist der „Kleine Katechismus“ als Maßstab reiner lutherischer Lehre eine sogenannte Bekenntnisschrift. Angefüllt und ausgelegt in Luthers Predigten und kirchenpolitische Befestigungen führte er schließlich zum „Großen Katechismus“. Aber das ist nur die eine Seite seiner Wirkung.

    Die andere Seite besteht darin, dass er von allen möglichen Leuten gelesen wurde. Also auch von denjenigen, an die er zumindest zunächst nicht gerichtet war. Normale Leute trugen das Büchlein in ihren Taschen und nahmen sich daraus, was sie brauchten konnten. Der „Kleine Katechismus“ wurde zu einer Art „Volksbuch“, wie die Geschichten von Doktor Faust, Till Eulenspiegel oder Don Quichote.

    Dieser Seite seiner Wirkung folgen wir das kommenden Jahr über einmal im Monat. Dabei wird Luthers „Kleiner Katechismus“ auch konfrontiert werden mit dem Denken vor allem heutiger Autorinnen und Autoren, an die er eben so wenig, zumindest zunächst nicht, gerichtet worden ist.

    In der Abfolge wird es einen Beitrag zu den Zehn Geboten geben, einen zum Credo, was in diesem Falle das Apostolikum ist. Das Hauptgewicht wird auf dem Vater unser mit mehreren Beiträgen liegen. Darauf folgen ein Eintrag zur Taufe, einer zum Abendmahl und einer zur Beichte bzw. den Schlüsseln. Soweit die Orientierung, Änderungen sind möglich.

    Begleitet wird dieser Zyklus von grafischen Arbeiten des Wittenberger Grafikers Christian Melms. Er ist hierzu auf der Suche nach grafischen Arbeiten von Lucas Cranach im Zusammenhang des „Kleinen Katechismus“ und wird seine Funde zur Grundlage von Bearbeitungen machen.

    Ein Gedanke zum Einstieg in diese Blogserie auf www.predigtzentrum.de:

    Bekenntnisse – schriftlich oder mündlich – rufen schon immer Abgrenzungsstrategien auf den Plan. Sie entstehen aus Abgrenzung und reichen bis ins Neue Testament zurück. Sie haben von Anbeginn an mit Ab- und Ausgrenzung – damnatio – zu tun. Nicht selten sind sie von Kriegen orchestriert. Sie sind also immer auch Ausdruck von Machtstrategien und von (Vor-) Herrschaftsansprüchen. Sie tragen Narben von Unterdrückung anders Denkender bzw. anders Glaubender auf ihrer textlichen Haut. Wir als kirchliche gläubige Christinnen und Christen haben es gelernt, diese Vernarbungen oder Tattoos zu übersehen, oder besser: zu übersprechen, (meist ein wenig sinnlos rhythmisiert). 

    Hinzu kommt, dass Bekenntnisschriften auf ihre eigene Art eine Formeltradition behaupten, und damit Denkstile der Zeit ihrer Formulierung für allgemein- und alleingültig zu halten. Diese Art der Traditionswahrung wirft zumindest Fragen auf. Ihre Art Dichtung im Sinne von Verdichtungen neigen dazu, Einstimmigkeit zu verlangen. Das ist ihrer Dichtigkeit und zum Teil auch ihrer Poesie nicht angemessen. Im Gegenteil: Ihr entspricht eine Mehrstimmigkeit, die ohne musikalische und tänzerische Nachbarschaften[2] nur schwer oder, genauer gesagt: nicht zu denken ist. 

    Aber: Ohne Denken geht es nicht! Sonst landet man bei Überzeugungen aller Art/ Meinungen/ über alles und nichts/ in hoher Geschwindigkeit/ ohne Zeit/ rausgehauen/ geliked / gehated: Krieg. Der findet, wie immer seinen Weg in die Realität. Kurzum: Bekenntnisse haben eine starke Tendenz zum Binären und sind darin brandgefährlich. Wiederholungen: Ja. Aber: Ohne Differenzen? Nein! Wie ist dann mit ihnen umzugehen?

    Parallel zu der Serie im Blog auf www.predigtzentrum.de gibt es auf derselben Homepage eine Hörbuchreihe mit Ausschnitten aus den Bekenntnissen des Nordafrikaners Augustinus von Hippo. Jeden Monat ein Kapitel.   

    Die Verwendung des Titels Bekenntnisse (confessiones) weist auf einen Aspekt hin, der auch den Kleinen Katechismus in seinem Aufbau rahmt. Zu Beginn das Credo, also das Glaubensbekenntnis, zum Beschluss, die Beichte, also das Schuldbekenntnis. Was bei Augustinus in die inneren Windungen seines Ich führt, führt auch in die Verließe der Institutionen, die auf Bekenntnisse gegründet sind.

    Im Kleinen Katechismus stehen die alten Zehn Gebote wie ein Präludium vor dem Credo. Du und Ich. Welches Du und welches Ich wird von den entsprechenden Institutionen und ihren Repräsentanten gesprochen – und das heißt: bekannt – werden müssen? Das Postludium der Schlüssel ist nicht ausgearbeitet. Das wird eine Frage der Zukunft des Christentums sein.

    Im Blog auf www.predigtzentrum.de versuche ich es einmal damit, alte Texte zu lesen und zu öffnen. Ob es gelingt, dabei eine Strategie zu entdecken, wie oder dass Bekenntnisse anders als in Abgrenzungen gedacht und bekannt werden können, ist durchaus nicht sicher. Ich hoffe es. Und bei welcher Bekenntnisschrift sollte man beginnen können mit dieser Arbeit als beim „Kleinen“ Katechismus?


  • 2 Jahre Kirchenjahr: Der Bericht

    Als ich im November 2021 begann, mich für meinen Blog näher mit den Festen des Kirchenjahres zu befassen, wollte ich versuchen, an die Schätze liturgischer, homiletischer und auch denkerischer Vollzüge heran zu kommen, die sich im Laufe der Zeit im Kirchenjahr abgelagert haben. Zugleich wollte ich versuchen, diese Schätze für heute zu lesen, sie mit heutigen Vollzügen und Themen in Verbindung zu bringen, ja manchmal zu konfrontieren.

    Das hat zu Beiträgen zu 17 Festen geführt. Drei davon haben zwei Einträge, was seinen Grund darin hat, dass mir der erste Eintrag so konkretisiert erschien, dass ein weiterer hinzukommen sollte, um das Feld dieses Festes nicht zu sehr einzugrenzen. Ich habe sie hier mit den Daten ihrer Veröffentlichung aufgelistete, so dass Interessierte Leserinnen und Leser sie bei Bedarf zur Anregung leichter ausfindig machen können.

    Advent (11/21, 9/22), Weihnachten (12/21, 12/22), Epiphanias (12/22), Mariae Verkündigung (3/23), Passion (2/22), Palmsonntag (3/23), Gründonnerstag (3/23), Karfreitag (3/22), Ostern (3/22, 3/23), Himmelfahrt (4/22), Pfingsten (5/22), Trinitatis (5/22), Johanni (6/23), Mariae Heimsuchung (6/23), Verklärung (7/23), Michaelis (9/23), Ewigkeit (8/22),

    In all diesen Beiträgen ging es mir vor allem darum, so etwas wie eine Praxis dieser Feste freizulegen. Ich wolle Reflexionsräume eröffnen, in denen oder aus denen heraus es möglich werden könnte, konkret liturgisch, manchmal auch homiletisch, etwas zu machen. Ich habe versucht, performativ zu denken und zu umreißen, was in diesem Sinne Liturgie eigentlich ist, bzw. jenseits ihrer historischen Betrachtung heute sein, oder besser: werden könnte.

    Letzteres kommt insbesondere in 6 liturgisch-homiletische Reflexionen in der sogenannten Nach-Trinitatis-Zeit 2022 zu Ausdruck.

    Im Laufe der Zeit ist mir aufgefallen, dass das Kirchenjahr oder der Jahreskreis, wie man auch sagt, nicht nur als geschlossener Kreis zu betrachten ist. Er hat mehrere Anfänge und Enden. Es gibt mehrere Bewegungsformen. Sie überlagern sich. Es gibt Querverbindungen, die vorwärts und rückwärts verlaufen. Genauer betrachtet, ist der Kreis des Kirchenjahres eher eine Spirale, das bedeutet mehr Differenz als nur Wiederholung.

    Es gibt eine Zeit im Kirchenjahr, die die liturgische Mühsal der Ebene so stark zum Ausdruck bringt, dass sie sich im Abzählen der Sonntage erschöpft. Es hat den Anschein, als dass die Praxis christlichen Lebens hier geradewegs in ihren Verwaltungsapparat und seine Selbstrepräsentation überführt würde. Wird Liturgie aber als Tun oder Vollzug verstanden, ist dies eine Sackgasse. In ihr verkümmert Praxis. Oder sie nimmt still und leise Reißaus. 

    Dann bleibt nichts weiter, als sie zu suchen. Was machte man da früher? Wo findet heute ähnliches statt? Wie können Verbindungen hergestellt werden? Wie könnte man etwas mit Vielen aber auch mit Wenigen machen? Was ist unbedingt notwendig, was nicht mehr? Wie kann etwas zum Ausdruck gebracht werden, einfach, ohne Erklärungen? Was kann man wieder lernen? Derartige Fragen öffnen Felder des Ausprobierens, des Entwickelns und auch des Verwerfens. Und ich vermute, dass sich dabei mehr und mehr herausstellen wird, dass das, was man Glauben nennt viel mehr mit dem zu tun hat, was man tut, also lebt, als mit dem, wovon man eine Überzeugung hat.

    Allerdings geht es dabei um werkloses Tun, das sich verschenkt und das man nicht ansehen kann als ein Verdienst oder Eigentum.

    Werklose Tätigkeiten wie sie in Tun-Worten, also Verben, ausgedrückt werden, bilden die Grundlagen der kleinen grafischen Arbeiten des Wittenberger Grafikers Christian Melms. Sie begleiten die Einträge. Die lateinischen Verben stammen für das erste Jahr des Zyklus aus dem alten, Nizäno-Konstantinopolitanum genannten Glaubensbekenntnis, im zweiten Jahr aus dem Magnifikat genannten Lobgesang der Maria im Lukasevangelium. Die Zuordnung der Wortgrafiken zu den Beiträgen ist zufällig in dem Sinn, dass die Kombination der Reihenfolge des schlichten Erscheinens der Verben in den Texten folgt. Verbindungen zwischen Text und Bild entstehen also nur mit etwas Glück.

    Ich hoffe, dass die in diesem Blogzyklus erarbeiteten Beiträge anregend dabei sein können, liturgische Praxis weiter und zugleich wieder zu entwickeln. Darin besteht die vielleicht wichtigste Erfindungsaufgabe einer minderheitlich werdenden Kirche. Sie lässt sich charakterisieren als ein „wahrheitsgetreues Erfinden“[1] und verspricht, etwas Jubilierendes an sich zu haben, aber auch etwas Weinendes und Stilles.


  • Michaelis: Endspiel

    Michaelis: Endspiel

    Wie immer induziert man die gewaltigen Bilderwelten der biblischen Apokalypse bewerten mag[1], man kommt nicht umhin, in einschlägigen filmischen Großproduktionen ihre geldgierigen Nachfolger zu erkennen. Real und überaus beschämend ist ihr direkter Aufruf im Zusammenhang aktueller kriegerischer Handlungen.

    Doch es gibt eine andere Tradition von Endspielen. Unbemerkt scheint sie ausgewandert zu sein aus ihren angestammten kirchlichen Gehäusen und Zuflucht genommen zu haben in Dichtung oder auf Theaterbühnen. Wirkungsvoll ist diese Tradition nicht allein in ihrer Auswanderung, weil sie befremdet und sich Befremdungen, also Differenzierungen unterschiedlicher Art und Richtung ausgesetzt sieht. In Bezug auf ihre biblische apokalyptische Herkunft und Überlieferung kommt in dieser Bewegung noch eine weitere Erfahrung/Technik zum Tragen: Erschöpfung.

    „Erschöpft sein heißt viel mehr als ermüdet sein. […] Der Ermüdete verfügt über keinerlei subjektive Möglichkeit mehr, er kann also gar keine objektive Möglichkeit mehr verwirklichen. Die Möglichkeit bleibt jedoch bestehen, denn man verwirklicht nie alle Möglichkeiten, man schafft sogar in dem Maße, wie man sie verwirklicht neue. Der Ermüdete hat nur ihre Verwirklichung erschöpft, während der Erschöpfte alles, was möglich ist, erschöpft. Der Ermüdete kann nichts mehr verwirklichen, der Erschöpfte hingegen kann keine Möglichkeit mehr schaffen.[2] […] Man kombiniert alle Variablen einer Situation, vorausgesetzt, dass man auf Vorlieben, Zielsetzungen oder Sinngebungen jedweder Art verzichtet.[3]

    Eine theologische Pointe dieses Gedankenganges des französischen Philosophen Gilles Deleuze über Samuel Beckett findet sich in dessen „Endspiel“ (1957): Nachdem Hamm in seinem Sessel sitzend, den er nicht verlassen kann, Nagg, der aus der Mülltonne, in der er lebt, herausguckt, eine längere Geschichte erzählt hat – für deren Anhören Nagg eine Praline als Belohnung in Aussicht gestellt bekam – Clov herangerufen hat, sagt er plötzlich:

    HAMM Lasst uns zu Gott beten.

    CLOV     Schon wieder?

    NAGG   Meine Praline!

    HAMM Erst zu Gott beten! Pause. Seid ihr soweit?

    CLOV     resigniert Meinetwegen.

    HAMM zu Nagg Und du?     

    NAGG   die Hände faltend und die Augen schließend, sehr schnell sprechend Vaterunser, der Du bist im …

    HAMM Still! Jeder für sich! Etwas Haltung! Also los. Gebetshaltungen. Stille. Hamm ist der erste Entmutigte. Na?

    CLOV     die Augen wieder öffnend Kein Gedanke! Und du?

    HAMM Kein Funke! Zu Nagg Und du?

    NAGG   Moment! Pause. Die Augen wieder öffnend. Keine Spur!

    HAMM Der Lump! Existiert nicht!

    CLOV     Noch nicht.[4]

    Ist hier Gott als „die Gesamtheit alles Möglichen […] nicht mehr zu unterscheiden vom Nichts“[5]?

    What when words gone? None for what then. But say by way of somehow with sight to do. With less of sight. Still dim and yet -. No. Nohow so on. Say better worse words gone when nohow on. Still dim and nohow on. All seen and nohow on. What words for what then? None for what then. No words for what when words gone. For what when nohow on. Somehow nohow on.

    Worsening words whose unknown. Whence unknown. At all costs unknown. Now for to say as worst they may only they only they. Dim voids shades all they. Nothing save what they say. Somehow say. Nothing save they. What they say. Whosesoever whencesoever say. As worst they may fail ever worse to say.

    Remains of mind then still. Enough still. Some whose somewhere somehow enough still. No mind and no words? Even such words. So enough still. […]

    Less. Less seen. Less seeing. Less seen and seeing when with words then when not. When somehow that when nohow. Stare by words dimmed. Shades dimmed. Void dimmed. Dim dimmed. All there as when no words. As when nohow. Only all dimmed. Till blank again. No words again. Nohow again. Then all undimmed. Stare undimmed. That words had dimmed. […]

    Blanks for when words gone. When nohow on. Then all seen as only then. Undimmed. All undimmed that words dim. All so seen unsaid. No ooze then. No trace on soft when from it ooze again. In it ooze again. Ooze alone for seen as seen with ooze. Dimmed. No ooze for seen undimmed.  For when nohow on. No ooze for when ooze gone. […]

     All save void. No. Void too. Unworsenable void. Never less. Never more. Never since first said never unsaid never worse said never not gnawing to be gone. […] ?

    Same stoop for all. Same vasts apart. Such last state. Latest state. Till somhow less in vain. Worse invain. All gnawing to be naught. Never to be naught. […]

    Enough. Sudden enough. Sudden all far. No move ans sudden all far. All least. Three pins. One pinhole. In dimmost dim. Vasts apart. At bounds of boundless void. Whence no farther. Best worse no farther. Nohow less. Nohow worse. Nohow naught. Nohow on.

    Said nohow on.[6]

    Die Frage danach, ob Gott als „die Gesamtheit alles Möglichen […] nicht mehr zu unterscheiden [ist] vom Nichts“[7], kann im erschöpfenden Sinne nicht beantwortet werden. Man kann nur „mit dem gleichen  Recht wie von den Sternen“ oder von Keksen sagen, dass eine Fragestellung (Gott als die Gesamtheit alles Möglichen) von der anderen (Gott als Nichts) „verschieden“ ist; man kann sie „jedoch nicht in ihrer Fülle genießen“, wenn man „nicht gelernt“ hat, irgendeine[] irgendeine[r] anderen nicht vorzuziehen“.[8]

    Deleuze erkennt in dieser Formulierung von Beckett, „irgendeinen irgendeinem anderen nicht vorzuziehen“, eine Variante der Formel von Bartleby I would prefer not to.[9]

    „Die Formel I prefer not to schließt jede Alternative aus und verschlingt ebenso das, was sie zu bewahren vorgibt, wie sie auch jede andere Sache beseitigt; sie impliziert, dass Bartleby abzuschreiben, das heißt, Worte zu reproduzieren aufhört; sie lässt eine Unbestimmtheitszone wachsen, so dass die Worte sich nicht mehr unterscheiden, sie schafft die Leere in der Sprache. Aber sie entschärft auch die Sprechakte, denen zufolge ein Arbeitgeber befehlen, ein wohlwollender Freund Fragen stellen, ein aufrichtiger Mensch Versprechungen machen kann.“[10]

    Die Analyse der bekannten Novelle von Melville untersucht die verschiedenen Aspekte der speziellen Formel Bartleby‘s, seine Person, die Umstände, in denen der Angestellte einer Rechtsanwaltskanzlei seine Formel gebraucht, die literarischen und geschichtlichen Zusammenhänge, die sie eröffnet. Am Ende kommt Deleuze zu dem Punkt, der auch unseren Versuch einer Erschöpfung des michaelisch-apokalyptischen Prinzips der Verknüpfung von richtender Herrschaft und Christentum auf den Punkt bringt: Dieser Bartleby ist mit der Praxis seiner Formel „nicht der Kranke, sondern der Arzt“ oder, wie Deleuze sagt: „der neue Christus oder unser aller Bruder“.[11]


  • Verklärung: Kleine Lichter

    Verklärung: Kleine Lichter

    Aus ökumenischer Sicht hüpft das Fest der Verklärung zwischen mehreren Terminen im Kirchenjahr hin und her. Auf diese Weise ist es ein weiterer Beleg dafür, das Kirchenjahr nicht so sehr wie einen geschlossenen Kreis zu verstehen, sondern wie eine Spirale. In dieser Bewegung sah die belgische Tänzerin und Choreographin Anne Teresa De Keersmeaker eine „Figur des Lebens“: „Ihr dreht euch, ihr verändert euch, und dann findet ihr euch an der gleichen Stelle wieder wie zuvor, aber nicht ganz auf demselben Platz.“[1] Es ist dies Element des kleinen Unterschiedes, der kleinen Lücke, der kleinen Verschiebung, das dem Fest der Verklärung seine diskrete Dynamik verleiht.

    Das Fest der Verklärung Christi ist ein kleines Fest. Man könnte es minderheitlich nennen. Das kommt schon in den evangelischen Erzählungen von der Verklärung Christi darin zum Ausdruck, dass man ihrer ansichtig, nicht einmal Hütten bauen kann. Der verklärte Christus selbst schließt dies Ansinnen aus und verweist auf einen eher verschwiegenen Umgang mit dieser Erfahrung.

    Die beschriebene Erfahrung ist eine Lichterfahrung. Sie hat aber weniger mit dem zu tun, was wir mit dem Begriff der Aufklärung verbinden. Ihr wohnt eine Tendenz zur Durchleuchtung und „Verlichtung“[2] inne, deren Gefährdungen wir heute deutlicher denn je ausgesetzt sind.

    Zumal sich in ihrem Zuge, die Beleuchtungsverhältnisse in unserer Welt deutlich verändert haben. Der französische Philosoph und Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman hat darauf hingewiesen, dass sich die Lichtverhältnisse, wie sie noch in Dantes Göttlicher Komödie beschrieben wurden, umgekehrt haben. Heute strahlt nicht mehr das Paradies am hellsten, sondern die Beleuchtungen der Werbeindustrie und die Flackscheinwerfer in Kriegen. Die trügerischen Ratgeber, die bei Dante wie Glühwürmchen im achten Kreis der Hölle, dem politischen Bezirk, schmorten, präsentieren sich heute ohne Scham in grellem Licht. So wurden für Didi-Huberman auf den Spuren des italienischen Dichters und Filmregisseurs Pier Paolo Pasolini die kleinen Lichter der Glühwürmchen zu Hoffnungszeichen unserer Zeit. Im Unterschied zum großen Leuchten von Herrschaft und Herrlichkeit nennt er das kleine Licht der Glühwürmchen klein oder minder (mineur)[3], anders übersetzt: minderheitlich. Es ist eher ein flüchtiges Schimmern als ein strahlendes Leuchten.

    Eine solche Deutung des Lichtes der Verklärung Christi stellt für die christlichen Kirchen eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Sie können sich nicht mehr auf ein jenseits des Wunders beziehen, in der ihre Herrschaft und Herrlichkeit offenbar geworden sein wird. Im Gegenteil, sie müssen es lernen, diesseits des Wunders minderheitlich zu werden. Biblisch gesprochen heißt das, auf den Hüttenbau zu verzichten; von Palästen und hochsicherheitsgeschützten Verwaltungsgebäuden gar nicht zu sprechen.

    Abseits institutioneller Beschönigung wird man die Herrschaftsgeschichte der Kirchen minorisierend zu deuten lernen müssen.[4] Dies wird nicht nur aus historischen Gründen nötig sein. Die derzeitige Glaubwürdigkeitskrise lässt nicht durch beleidigtes Fortführen bürgerlich moralisierenden Repräsentationsgehabes beheben.  

    Um ihrer Glaubwürdigkeitskrise entgegenzutreten werden sich die christlichen Kirchen eine fröhliche Beweglichkeit im Denken und Handeln erarbeiten müssen, die zu weiten Teilen als ein Rückzug aus dem hellen Licht der öffentlichen Wichtigkeit erscheinen wird. Um seine Kraft zu entfalten, darf ein solcher Rückzug sich allerding nicht im Selbstbezug erschöpfen. Untrügliches Merkmal dieser zu entdeckenden rückzüglichen  Bewegungsform wird in seiner „Fähigkeit, immer wieder ein Stück Menschlichkeit in Erscheinung treten zu lassen“[5] bestehen.

    Denn die vorgeschlagene Deutung des Lichtes der Verklärung stellt zugleich eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für das Leben der Einzelnen dar. Sie besteht vor allem darin, erfahrenen und empfundenen Schmerz in lebendige und schöpferische Energie umzuwandeln. Diese Verwandlung lässt sich als minderheitliche Figur der großen Feste um Kreuz und Auferstehung deuten. Sie lässt sich aber auch als allgemein menschliche, also „nichtreligiöse“ Verwandlung verstehen.

    Um bei Georges Didi-Hubermans Bild zu bleiben, „müssten [wir] also – Im Rückzug von Herrschaft und Herrlichkeit, in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft – selbst zu Glühwürmchen werden und dadurch von neuem eine Gemeinschaft bilden, eine Gemeinschaft des Begehrens, der gegenseitig zugesandten Schimmer, des Tanzes trotz allem, der Weitergabe des Denkens. Es gilt also, in der von Schimmern durchzogenen Nacht von neuem Ja zu sagen und uns nicht damit zu begnügen, das Nein des uns blendenden Lichts zu beschreiben“[6].


  • Extra: Jan Bender Markuspassion

    Extra: Jan Bender Markuspassion

    Szenische Aufführung

    Schola Cantorum Adam Rener
    Musikalische Leitung: Sarah Herzer
    Tenor (Evangelist): Christoph Burmester
    Bass (Jesus): Maik Gruchenberg
    Weitere Solistinnen und Solisten aus dem Chor
    Orgel: Thomas Herzer, Christoph Hagemann
    Szenische Einrichtung: Dietrich Sagert

    2. Juli 2023, 17.00 Uhr, Schlosskirche zu Wittenberg

    Eine Kooperation zwischen der Schlosskirche und dem Zentrum für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur in Wittenberg

  • Mariae Heimsuchung: Gastfreundschaft

    Mariae Heimsuchung: Gastfreundschaft

    Dem alten Wort Heimsuchung haftet zumindest heute ein negativer, schicksalhafter Klang an. In der Bezeichnung des Festes der Maria meint es aber einfach Besuch, vielleicht den ersten aller Besuche, wie sie in der Christenheit von der Apostelgeschichte an dokumentiert und vor allem praktiziert wurde und noch wird. Hier geht es um den Besuch Mariens bei Elisabeth. „Übers Gebirg‘ Maria geht / zu ihrer Bas‘ Elisabeth“ klingt es bei Johann Eccard und versetzt uns Evangelische eher in die Kirchenjahreszeit des Advent. Das weist wiederum auf den weniger, oder zumindest nicht nur zyklischen Charakter des Kirchenjahres, das vielleicht eher einer Spirale gleicht.1

    „Die Spirale ist eine geometrische Figur. Aber sie ist auch eine Figur des Lebens, die Figur einer bestimmten Konzeption des Lebens. Ihr dreht euch, ihr verändert euch, und dann findet ihr euch an der gleichen Stelle wieder wie zuvor, aber nicht ganz auf demselben Platz.“2

    Dieses Fest des Besuches der Maria bei Elisabeth nach der lukanischen Überlieferung ist ein Fest der Bewegung, das die Gastfreundschaft als liturgische Grundform umreißt. Da ist zuerst ein Aufbrechen, dann ein Unterwegssein und ein Ankommen. Dann ist da die Begrüßung, das Hüpfen des Kindes im Leibe der Besuchten und der inspirierte, berühmte Gruß, mit dem Elisabeth Maria willkommen heißt, ihr von der innersten Bewegung berichtend. Und dann einer der wichtigsten und ältesten Gesänge der Christenheit: das Magnifikat, als Antwort. Bausteine einer Gastfreundschaft als liturgische Grundform.  

    Nun ist der Begriff der Gastfreundschaft äußerst riskant, liegen in ihm doch zwei Dimensionen antinomisch ineinander. Der eine kommt aus alter nomadischer Zeit und ist markiert von einer katastrophalen Notsituation. Jemand hat sich verlaufen in der Wüste und trifft auf jemanden bzw. wird gefunden. Vor diesem Hintergrund gilt der Brauch, dass der Reisende drei Tage aufgenommen werden muss. Das wäre reine Gastfreundschaft. Ihr gegenüber steht die begrenzte Gastfreundschaft.

    „Wir müssen festhalten, dass eine Gastfreundschaft, die diese Bezeichnung auch verdient, eine katastrophenbedingte Prüfung ist, gegen die sich leider die gastfreundlichsten Menschen, Nationen und Gemeinschaften schützen durch das Gesetz, die Kontrolle an den Grenzen, die sogenannten guten Sitten. Deshalb ist reine Gastfreundschaft keine Kategorie der Politik, auch nicht des Rechts oder gar der Vergebung. Begrenzte Gastfreundschaft hingegen kann eine Kategorie des Rechts sein. Sie wurde in die internationalen Rechtskonventionen aufgenommen, während die reine, die katastrophenbedingte Gastfreundschaft politik- und rechtsfremd ist. Es kann definitionsgemäß keine Politik und kein Recht geben, die dem Ereignis der Katastrophe gegenüber offen stehen. Das bedeutet aber nicht, dass wir auf Recht und Politik verzichten sollten. Sie müssen nur neu gestaltet werden.“3

    Die hier nach dem französischen Philosophen Jacques Derrida skizzierte Problematik kennen wir aus der aktuellen Politik. Auch Derridas Überlegungen von 1996 entstanden vor dem Hintergrund einer konkreten politischen Flüchtlingskrise.

    Es beginnt damit, dass der Fremde die Gastfreundschaft in einer Sprache erbitten muss, „die per definitionem nicht die seine ist, in derjenigen, die ihm der Hausherr auferlegt, der Gastgeber, der König, der Herr, die Macht, die Nation, der Staat, der Vater usw. Dieser zwingt ihn zur Übersetzung in seine eigene Sprache, und das ist die erste Gewalttat. Hier beginnt die Frage (nach) der Gastfreundschaft.“4  

    „Besteht die Gastfreundschaft darin, den Ankömmling zu befragen? Beginnt sie mit der Frage, die an den Kommenden gerichtet wird […]:

    Wie heißt du? Sag mir deinen Namen, wie soll ich dich nennen? Ich, der ich dich rufe, der ich dich bei deinem Namen rufen möchte? Wie werde ich dich nennen? Ebendiese Frage stellt man, ganz zärtlich gelegentlich auch Kindern oder Geliebten.

    Oder beginnt die Gastfreundschaft damit, dass man empfängt, ohne zu fragen, in einer doppelten Streichung, der Streichung der Frage und des Namens. Ist es gerechter und liebvoller, zu fragen, oder nicht zu fragen? Beim Namen zu rufen oder ohne Namen zu rufen? Einen bereits gegebenen Namen zu geben oder zu erfahren? Gewährt man die Gastfreundschaft einem Subjekt?

    Oder wird die Gastfreundschaft dem Anderen gewährt, ihm geschenkt, bevor er sich identifiziert, ja noch ehe er ein Subjekt, ein Rechtssubjekt und ein bei seinem Familiennamen zu rufendes Subjekt usw. ist (als ein solches gesetzt oder vorausgesetzt wird)?“5

    Die Pointe von Derridas ausschweifenden Analysen zur Gastfreundschaft besteht darin, dass es schließlich erst der von außen ankommende Fremde ist, der einem Gastgeber die Möglichkeit eröffnet, sich zu Hause zu fühlen. „Der Hausherr ist bei sich zu Hause, doch tritt er nichtsdestoweniger dank des Gastes – der von draußen kommt – bei sich ein. Der Herr tritt also von drinnen ein, als ob er von draußen käme. Er tritt dank des Besuchers bei sich ein, durch die Gnade seines Gastes.“6

    Dieser Wechsel wird ohne ihren Hintergrund der französischen Sprache nicht deutlich. Im Französischen heißt zu Haus sein être chez soi, also bei-sich-sein. Man ist also nicht mit sich selbst identisch, sondern immer Gast und Gastgeber zugleich.

    Vor diesem Hintergrund ins christliche gewendet pointiert die Denkfigur der Gastfreundschaft selbst eine Begegnung: das paulinische: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus in mir (Gal 2,20); und das matthäische: Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen (Mt 25,35).7

    In den liturgischen Zusammenhang einer Grundform gewendet ist Gastfreundschaft in einem Vollzug gestiftet von zwei Frauen. Der einzig beteiligte Mann, Zacharias, ist bis auf Weiteres stumm. Als Fest des Besuches der Maria bei Elisabeth stammt es aus der minderheitlichen Tradition des Christentums. Die auch Minderbrüder genannten Franziskaner, um genauer zu sein Johannes Bonaventura, haben es 1263 zunächst in ihrem Orden eingeführt, bevor es sich dann verbreitete.

    Gastfreundschaft als liturgische Grundform ist umfängt sowohl die paulinische Geste als auch die matthäische. Sie ist offen in beide Richtungen, auch wenn der Fremde im liturgischen Falle eher die Gottesdienstbesucherinnen und –besucher sind und das Aufnehmen ein Empfangen, Ansehen, Zuhören und Ansprechen, einen geschmückten Ort Bereiten. Anders gesagt bedeutet das so etwas wie zugewandt- und angeschaltet- Sein, menschlich – aber auch liturgisch und homiletisch – ein Minimum an Stil nicht unterschreitend. Und bei allem Anspruch eine gewisse Diskretion nicht überschreitend.

  • Johanni: Eine Skizze

    Johanni: Eine Skizze

    Stöbert man in der Geschichte des Johannistages, dem 24. Juni als dem liturgischen Hochfest der Geburt Johannes des Täufers, so hat man den Eindruck auf einen Knoten von Überlieferungen gestoßen zu sein.

    Schon ein Blick auf die entsprechende Seite von Wikipedia1  vermittelt diesen Eindruck. Da ist die lukanische Konstruktion einer quasi genealogischen Beziehung zwischen Jesus und Johannes. In sie hinein montiert sind hymnischen Zeugnissen mündlicher Überlieferung: neutestamentliche Psalmen. Dieser lukanischen Inspiration folgt die zeitliche Konstruktion der linearen Ebene des liturgischen Kirchenjahres über biologisch rekonstruierte Konzeptions- und Geburtstermine. Historisch vorauslaufend, aber in Abstimmung gebracht, kommen astronomische Konstellationen zum Zuge. Hinzu kommen natürliche und jahreszeitliche Zusammenhänge, die sich in Verbindungen zu Pflanzen und deren Wachstum, Ernte und Wirkung zeigen, oder zu Tieren und deren Fortpflanzungsrhythmen und -ritualen. Nicht zu vergessen eine Fülle von Formen regionalen und überregionalen Brauchtums mit vielfältigen sozialen und psychologischen Aspekten.

    Man könnte den Johannistag und seine Geschichte als ein Labor zur Entwicklung dessen ansehen, was man in der Verwaltungstheologie mit dem etwas morbid klingenden Begriff der Kasualie bezeichnet.
    Die skizzierten Aspekte könnten als Teile konkreter Bauanleitungen für den Umbau von Kasualien genannten Ereignissen gelten, an denen vielerorts gearbeitet wird. Die persönliche Nähe zwischen Johannes und Jesus erweitert dabei den Blick auf die Taufe als liturgischen Quellort von Kasualien und öffnet ihre Vollzüge; sie könnten vielleicht sogar gelegentlich von ihrer administrativen Verwicklung mit Mitgliedschaft entkoppelt werden. Denn es könnte sein, dass in der kommenden Weltlage noch ganz andere Kasualien aus dem Taufwasser herausgezogen werden müssen…

    Einige Stichworte:
    Es könnte sein, dass man quasi nach innen gerichtete Kasualien erfinden muss, die den eigenen Bedeutungsverlust der Kirchen und ihrer AmtsträgerInnen in unseren Gesellschaften ‚bearbeiten‘ …

    Es könnte sein, dass, wenn sich nicht unerhebliche Teile der Missionsgeschichte als Aktivitäten von Kolonisatoren erweisen, Kirchen alte Schuld bekennen und darüber trauern lernen müssen…

    Es könnte sein, dass sich herausstellt, dass alte dogmatische Grundentscheidungen eher machtpolitische Ziele als theologische Wahrheitssuche abbilden; im Zuge ihrer Überarbeitung werden sich Fragen nach kirchlicher Praxis stellen…

    Es könnte sein – den Blick nach draußen wendend –, dass man den Verlust gewohnter Landschaften im Zusammenhang des Klimawandels ‚kasualtechnisch bearbeiten‘ müsste …

    Es könnte sein, dass durch demographische Prozesse, Pandemien und Migrationen viel mehr Menschen sterben, als wir es ‚gewohnt‘ sind …

    Es könnte im Zusammenhang von näher rückenden Kriegen sein, dass man neue Formen von Friedengebeten entwickeln muss, die weniger moralische Selbstdeklarationen sind, sondern an so etwas wie Lamentationen anknüpfen, damit Gefühle wie Ängste und Wut irgendwo bleiben können…

    Es könnte sein, dass man die aussterbenden (Vogel)-Arten vermisst, weil man sie im Garten oder am Kanal nicht mehr hört und sieht und ‚kasualpraktisch bearbeiten‘ müsste…

    Und weiter:
    Welche Rolle spielen die Kirchengebäude, wenn es nur noch wenige Christinnen und Christen gibt? Werden sie neben Gottesdienstorten öffentliche Leseorte, Ausstellungsorte …, die auch andere mitgestalten können?

    Werden sie Orte der Stille für alle in einer lärmenden Welt?

    Werden sie kühle Orte für alle, in überhitzten Sommern?

    Vielleicht werden auch Kirchen zu Orten, an denen man zu essen bekommen und schlafen kann…

    Die Gemeinsamkeit der hier nur hingeworfen skizzierten Kasualien – manches entwickelt sich ja längst – würde deutlich weniger in ihrer verwalterischen Begrenzung und Besitzstandswahrung liegen, sondern mehr in einer „Offenheit für das Erschütternde“, von der der tschechische Philosoph Jan Patocka über „Die Kriege des 20. Jahrhunderts und das 20. Jahrhundert als Krieg“2  schreibt. Diese Offenheit verlangt von uns „durch die Erfahrung des Sinnverlustes hindurchzugehen“, und mündet in eine „Solidarität der Erschütterten“. Mit anderen Worten: Gastfreundschaft3  ist eine, wenn nicht die liturgische Grundfigur.

    P.S. Eine (kleine) Kasualie, die so intim ist, dass sie jegliches verwalterisches und merkantiles Begehren natürlicherweise unterwandert, dabei aber untrüglich ins Herz aller Kasualien führt, äußert sich in der Frage danach, wie schon jetzt Gottesdienste jeglicher Art und Kirchen als Orte so gestaltet sein können, dass in ihnen behütet, (also auch diskret), geweint werden kann (Lk 19, 41-44).

  • Ostern: Die Geschichte einer Frau

    Ostern: Die Geschichte einer Frau

    Auf den ersten Blick mag es überraschen, Ostern als die Geschichte einer Frau zu bezeichnen. Aber blickt man genauer hin, ist sie dies im doppelten Sinne, als die Geschichte, die eine Frau erlebt und als die Geschichte, die eine Frau erzählt. Als solche ist sie zudem „eine Geschichte erregter Körperbewegung“1.

    Wir folgen dem 20. Kapitel des Johannesevangeliums. Da spürt früh am Morgen des Tages nach dem Sabbat Maria Magdalena den Wunsch, dort fortzufahren, wo sie vorher aufgehört hatte. Sie geht zum Grab Jesu. Eine besondere Motivation wird nicht erwähnt. „Es ist die reine Anziehungskraft des Leichnams Jesu und der reine Antrieb dieser Frau.“2

    Als sie am Grab ankommt, muss sie feststellen, dass sie nicht die erste ist. Jemand war ihr zuvorgekommen und hatte den Stein, der das Grab verschlossen hatte, weggenommen. Die politische Situation um Jesu Tod war äußerst angespannt: Raub? Bestürzt läuft sie zurück und benachrichtigt ihre Freunde: „Sie haben den Herrn weg genommen aus dem Grab, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ Petrus und Johannes laufen sofort los, um die Wette. Johannes ist schneller, kommt zuerst ans Grab, schaut hinein, sieht die Leinentücher liegen, geht aber nicht hinein. Petrus kommt heran, geht hinein und sieht ebenfalls nur die Leinentücher. Sie sehen und glauben der Nachricht der Maria Magdalena: Das Grab ist leer.3  Die beide Jünger gehen der Sache nicht weiter nach und kehren heim.

    Maria bleibt dort draußen stehen. Sie kann es nicht fassen. Weinend blickt sie ins Grab hinein (20, 11). Dort, wo die anderen die Leinentücher liegen gesehen hatten, sieht sie „zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo der Leichnam Jesu gelegen hatte“ (20, 12).

    „Aber die aus den Tüchern aufgegangenen Engel sind hier nicht – wie in den anderen Evangelien – himmlische Boten, die die irdische Negation umgehend ins himmlische Positivum wenden: ‚Er ist nicht hier; denn er ist auferstanden‘ (Mt 28, 6 par.). Sie bleiben Fragezeichen, die nur dazu dienen, dass der Grund der Trauer zur Sprache kommt.“4

    „Und sie sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ (Joh 20, 13) Die Engel sind offenbar kein Trost in dieser Lage. Maria wendet sich ab und blickt aus dem Grab hinaus, „sieht den dastehen, den ihre Seele sucht, aber erkennt ihn nicht“5. Die Frage wiederholt sich: „Frau, was weinst du? Wen suchst du?“ (20, 15). Maria sucht eine Leiche. Sie hält die fragende Person „für einen Gärtner, der den Leichnam umgebettet haben könnte und bittet ihn um Auskunft, um zu finden und sich zu holen, was sie vermisst. Aber sie erhält keinen Bescheid, sondern wird mit Namen gerufen: ‚Maria!‘, ist auf einmal die angesprochene Person, die die Stimme sofort erkennt, sich noch einmal dreht“6  und auf Hebräisch antwortet: „Rabbuni“, mein Meister (20, 16).

    Maria „sucht einen Leichnam und sie findet eine Stimme, die Stimme dessen, den sie tot wähnte, und mit der Stimme eine Gestalt, die sie anrühren und umfangen möchte wie den toten Leib. Aber da entzieht sich ihr der, der sich ihr gerade zugeneigt hatte: ‚Noli me tangere‘“ (20, 17).7  Er schickt sie zu seinen Brüdern (20, 17).

    An dieser Stelle kippt die Geschichte, die eine Frau erlebt hat, in die Geschichte, von der eine Frau erzählt. Maria wird hier die Botin, die in den anderen Evangelien die Engel waren. Sie wird die apostola apostolorum. Und sie rennt los.

    Das ist etwas anderes, als es die Frauen in den anderen Evangelien tun. Sie ergreifen die Füße des Herrn und werfen sich vor ihm nieder. Maria Magdalena rennt los, und „verkündet den Jüngern: ‚Ich habe den Herrn gesehen‘ und was er zu ihr gesagt habe“ (Joh 18, 18). Dann verschwindet sie aus dem Blick des Evangelisten.

    „Maria von Magdala ist eine komplexe Person. […] Der Kirchenvater Ambrosius (ca. 339-397) hat darum gemeint, es müsse sich da um zwei verschiedenen Marien aus Magdala handeln. Zweihundert Jahre später war für Gregor d. G. (um 540-604) die johanneische Maria Magdalena selbstverständlich identisch mit der, die nach den Synoptikern mit anderen Frauen bei der Kreuzigung und der Grablegung und am Ostermorgen zugegen ist. Und diese war nach Mt 16, 9 eben jene Frau, ‚aus der Jesus die sieben Dämonen ausgetrieben hatte‘, wovon Lk 8, 2 erzählt, dass sie solchermaßen geheilt, zusammen mit anderen Frauen Jesus und die Zwölf begleitete und mir ihrem Vermögen für sie sorgte.“8

    In der ihr eigenen Art erinnert die römische Liturgie an das Verhältnis zwischen Jesus und Maria Magdalena, wie es in der johanneischen Ostergeschichte aufscheint. Zum Fest der Hl. Maria Magdalena wird aus dem Hohelied des Alten Testamentes gelesen:

    „Ich will aufstehen und in der Stadt umhergehen auf den Gassen und Straßen und suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht. Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: ‚Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebt?‘ Als ich ein wenig an ihnen vorüber war, da fand ich, den meine Seele liebt. Ich hielt ihn und lies ihn nicht los, bis ich ihn brachte in meiner Mutter Haus, in die Kammer derer, die mich geboren hat.“ (Hohel 3, 2-4)

    Auf dieser Folie gelesen markiert das Ende der „Magdalena-Geschichte des Johannesevangeliums“ die entscheidende Differenz, das Neue: „Ich hielt ihn und lies ihn nicht los, bis ich ihn brachte in meiner Mutter Haus“, und: „Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater“. 

    In der Lesung des Hoheliedes „endet die Suche in der Umarmung von Braut und Bräutigam im Cubiculum der Mutter. Im Johannesevangelium ist der Augenblick des Findens der der Trennung, des Abschieds aus der leiblichen Intimität. Dass nicht die Rückkehr in das Gemach der Mutter (und sei es der mater ecclesia) das glückliche Ende ist, sondern dieser Umsprung der irdischen Annäherung in die Entfernung von Himmel und Erden, ist nur nachzuvollziehen, wenn man nachliest, was Joh 14-16 über den Gang zum Vater und seinen Folgen für die Jüngerschaft schon geschrieben steht. Was Maria Magdalena den Jüngern auszurichten hat, ist die postmortale Ratifikation des in den Abschiedsreden Besprochenen.“8

    Sollte Maria Magdalena den Jüngern die jesuanisch-johanneischen Abschiedsreden predigend in Erinnerung gerufen und auf seinen Satz: „Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ (Joh 20, 17) hin kommentiert haben? Ähnliches ist in Bezug auf Phoebe und den paulinischen Römerbrief anzunehmen.9  Konkretere Spuren dieser homiletischen Praxis sind zumindest so verwischt, dass man sie verloren glauben muss. Allerdings weiß die legenda aurea zu berichten, dass Maria Magdalena in der französischen Provence als Predigerin gewirkt hat: „Da verwunderte sich alles Volks der Schönheit ihres Angesichts und der Süßigkeit ihrer Rede“.10

    Sehen und hören wir doch noch einmal genauer hin: Nachdem sich die Jünger, allen voran Johannes und Petrus vom Faktum des leeren Grabes überzeugt hatten, waren sie heimgekehrt. Dort sitzen sie abends noch, die Türen zu, eingeschlossen in die Furcht vor den Juden (Joh 20, 19). „Die abendliche Szene ist das genaue Gegenbild der morgendlichen: Dort die einzelne Frau, die offenbar ohne Angst, sich im Freien bewegt, hier das verängstigte Männerkollektiv. Dort der Stein schon weggewälzt, hier das verriegelte Verlies.  Dort alles in suchender Bewegung, hier die eingeschnürte Stagnation der Geschichte.“11

    Von Maria Magdalena ist keine Rede mehr. Keine Reaktion der Jünger auf ihre Worte ist geschildert. Was nun aber geschildert wird, passiert entweder gleichzeitig zu ihrer Nachricht, oder etwas später wie eine Erläuterung, Bestätigung oder Umsetzung ihrer Worte: Da kam Jesus und trat in ihre Mitte, sagt: „Friede sei mit euch!“ (Joh 20, 19) und zeigt seine Todeswunden. So erkannten ihn die Jünger „und wurden froh“ (Joh 20, 20), wie Maria Magdalena wenig vorher. Dann sagt Jesus nochmals: „Friede sei mit euch!“ Er fügt aber etwas hinzu, was er auch Maria Magdalena schon gesagt hatte, als er sie zu seinen Jüngern sandte und an die Abschiedsreden anknüpfte: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“ (Joh 20, 21). Dann blies er sie an wie der Schöpfer seine Kreationen anblies und ihnen Leben einhauchte, und sagt: „Nehmt hin den Heilige Geist!“ (Joh 20, 22).

    Zu diesen Gesten der Öffnung und Erneuerung der Schöpferkraft erklingt ein weiterer Satz: „Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“ (Joh 20, 23) Und dieser Satz ist ein Rätsel. Ähnlich wie: Noli me tangere. Liest man ihn nicht als Rätsel, landet man in der Kirchengeschichte, im Gemach der mater ecclesia.

    Nach ihrer Erfahrung mit dem Noli me tangere mag der Rätselsatz Jesu in den Ohren der Maria Magdalena eine andere Szene wachgerufen haben. Wahrscheinlich ist sie sogar nahe dabei gewesen. Selbst wenn nicht, wird sie ihr als Erzählung der anderen sehr nahegegangen sein:

    „Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? Das sagten sie aber um ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. (Joh 8, 3-89)

    „Selbstverständlich hat die Frau alleine Ehebruch begangen, und so sind die Männer sich einig: Sie muss gesteinigt werden. Die Gewalt innerhalb der Gruppe kehrt sich gegen das Individuum. Anders gesagt: Das Menschenopfer verbindet die Mörder untereinander. Bevor er antwortet und ihr vergibt, bückt sich Jesus, um etwas auf die Erde zu schreiben. Als wollte der Evangelist in seinem Bericht unter seine Schrift eine zweite, die Schrift Jesu, erkennen lassen, so wie ein Palimpsest einen Schriftzug zeigt und einen anderen unter ihm verbirgt. Müssen wir den einen wiederlesen, um den anderen zu entziffern?

    Der Begriff Religion, sagen die Sprachwissenschaftler, hat zwei Ursprünge, einer wahrscheinlicher als der andere: relegere – ‚wiederlesen‘, ‚überdenken‘ – und religare – ‚verbinden‘, binden‘. [Wir müssen also] beharrlich die [alten] Texte lesen, um eines Tages vielleicht den einen wiederlesen zu können, den Jesus auf die Erde schrieb.  Und […] jene zwei Bedeutungen zueinander in Beziehung setzen, wie es hier der Bericht des Johannes tut: Steht in ihm nicht zu lesen, dass Jesus, indem er dem Opfer vergibt, ohne die Henker zu richten, das Band löst, das die Männer in ihrem schändlichen Einverständnis miteinander verbindet?“12

    Und sie rannten los. Maria Magdalena bis in die Provence. Und mit der Süßigkeit ihrer Rede wird etwas wohltuend Rätselhaftes gemeint gewesen sein, was eine öffnende und schöpferische Wirkung im Einzelnen zu entfalten vermochte.

  • Gründonnerstag: Verwandlungen

    Gründonnerstag: Verwandlungen

    Der Bericht einer Pilgerin mit Namen Egeria vom Ende des 4. Jahrhunderts lässt die liturgische Feier der gesamten Karwoche – der „großen Woche (septimana maior)“1  wie sie dort genannt wird – als eine Abfolge von Stationsgottesdiensten und Gängen den biblischen Tageszeitangaben und einschlägigen Erinnerungsorten folgend erscheinen.

    Auf diese Weise wird die Passion Christi „im wörtlichen Sinne begangen“2. „Der Bericht der Pilgerin unterstreicht ausdrücklich die körperlichen Anstrengungen, Mühen und Ermüdungen, die mit dieser Form des Begehens der Leidensgeschichte verbunden sind.“3  Dabei geht es nicht um „symbolische Repräsentation“, sondern um „bis zur körperlichen Erschöpfung betriebene Anteilnahme an einer körperlichen Leidensgeschichte“. Ihre Stimmigkeit erhält diese Erfahrung „durch die Lesungen, Gebete und Hymnen“, die sie ins Bewusstsein heben. Der Zusammenklang von beidem bewirkt eine „emotionale Beteiligung“ und verschafft sich auch „körperlich Ausdruck“.4

    In diesem körperlichen Zusammenhang ist der Gründonnerstag durch die Christusworte: „Dies ist mein Leib.“ und „Dies ist mein Blut.“ bis heute als ein besonders intimes Geschehen markiert. Der polnische Theaterwissenschaftler Jan Kott nennt dies „Gott – Essen“5. Kott fügt der Deutung des Geschehens aus der Tradition des jüdischen Passahmahles eine Interpretation aus der Tradition der griechischen Tragödie hinzu. 

    Und doch wird der Grundton bestimmt durch eine gemeinsame Mahlzeit. Und es ist dieses Kontinuum, das es erlaubt, alltägliche Vollzüge mit liturgischen und sogar theatralischen Vollzügen in polyphonem Zusammenklang zu denken und zu erleben.

    Der Grundton der alltäglichen Mahlzeit wird von Michel Serres hervorgehoben, wenn er das Mahl von Gründonnerstag in folgende biblische Tradition stellt: „Du sollst keinen Mann, keine Frau, kein Kind mehr töten, du sollst keinem Tier mehr das Leben nehmen, ob Widder oder Stier, du sollst Brot essen und Wein trinken. Ja, die Eucharistie lässt ein unschuldiges, sanftes Zeitalter anbrechen, das dem Schlachten abgeschworen hat und sich der Flora zuwendet. Pflanzen sind autotroph, anders als die heterotrophen Tiere: Diese überleben nur auf Kosten anderer Lebewesen, jene brauchen nur die Welt, das Wasser, die Sonne, das Licht und materielle Moleküle. Sie überleben unabhängig von anderen Lebewesen. Sie töten nicht. Fleisch und Blut entstammen also den alten Opferungen, aber beide verwandeln sich in opferlose Substanzen, in Brot und Wein. Eins: Um des Friedens willen einen Menschen töten, Zwei: Ein Tier töten, um es zu essen. Und endlich: Essen, ohne zu töten.“6

    Neben den Verwandlungen, die sich an die Mahlzeit von Gründonnerstag anschließen bzw. von ihr ihren Ausgang nahmen, gilt es eine nicht aus dem Blick zu verlieren. Das kann bedeuten, sie in diesem Zusammenhang erst einmal in den Blick zu nehmen. Es handelt sich um die Verwandlung einer Gabe in eine Ware und zurück.

    Selbst wenn diese Wandlung nicht im Zentrum des liturgischen Mahles steht, so findet sich doch bis in früheste eucharistische Gebete Bezüge zu ihr, nämlich zu Herkunft und Herstellung der Gaben Brot und Wein aus Korn und Trauben, Ernte und Kelterung.

    Der entscheidende Begriff im Verhältnis zwischen Gabe und Ware ist die Entfremdung. „In der kapitalistischen Logik der Kommerzialisierung werden die Dinge aus ihren Lebenswelten gerissen, damit sie Tauschobjekte werden können. Diesen Prozess nenne ich ‚Entfremdung‘, und ich schreibe den Begriff gegebenenfalls Menschen wie Nichtmenschen zu.“7

    In der Auseinandersetzung mit Studien zu dem melanesischen Tauschritual „Kula“ kommt die amerikanische Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing zu der Erkenntnis, dass der „Wert der Dinge“ aber „nicht einfach durch den Gebrauch oder den Gütertausch“ entsteht, sondern durch „soziale Beziehungen, zu denen sie gehören“.8  Es können also relativ wertlose Dinge durch soziale Beziehungen, die durch sie geknüpft oder unterhalten werden, einen hohen Wert erhalten. Das bedeutet aber, dass „Warenökonomie“ und „Gabenökonomie“ einander nicht zwangsläufig dichotomisch gegenüberstehen.9

    Mit diesem Befund beobachtet Tsing die immer wieder im Zentrum ihrer Untersuchungen stehenden Praktiken um den japanischen Matsutake Pilz. Dieser wächst insbesondere auf von Waldrodungen gezeichneten Gebieten in Symbiose mit einer Kiefernart. In Oregon, USA, bildeten sich in derartigen Waldgegenden mehr oder weniger lose Gruppen von Aussteigerindividuen, die es zu ihrer Aufgabe machten, diese Pilze suchen, zu ernten und auf Versteigerungen feil zu bieten. Wie Trophäen ihrer Freiheit, im Wald zu leben, versteigern diese Leute ihre Pilze und verdienen damit das Geld, was sie für ihre Existenz benötigen. Die Pilze haben als Verlängerung und Ausdruck ihrer Persönlichkeit einen hohen Wert. Die Ersteigerer wissen diesen Wert zu schätzen und kennen die Sammler und Orte, an denen sie ihre Pilze anbieten. Im Weiterverkauf an Zwischenhändler wird den Pilzen ihr wertvoller relationaler Charakter Stück für Stück entzogen. Sie werden sortiert, kategorisiert, anonymisiert, verpackt, transportiert und werden so zur Ware. In ihrem Zielland Japan angekommen, werden sie wiederum von Händlern in Augenschein genommen und für den weiteren Verkauf an Supermärkte, Spezialitätenhändler bis hin zu ausgewählten Einzelpersonen ausgewählt und dann schließlich verkauft. In diesem Prozedere werden also der Ware wieder beziehungsknüpfende Werte hinzugefügt. Sie ergeben sich aus ihrer Qualität. Schließlich spielen Matsutake-Pilze in der japanischen Kultur als beziehungsstiftende und –unterhaltende Delikatesse eine zentrale Rolle. Die Pilze erhalten also wieder den Charakter einer Gabe.

    In dem hier skizzierten Prozess findet eine Verwandlung oder Übersetzung von einer Gabe in eine Ware und zurück statt. In unserer durchkommerzialisierten Welt könnte er die Aufmerksamkeit für einen Moment auf eine individuelle kleine Liturgie einer Vorbereitung der Gaben lenken, die am Gründonnerstagsmahl und seinen Folgemahlen auf den Tisch und in unsere Körper kommen.

  • Palmsonntag: Draußen

    Palmsonntag: Draußen

    Als das Christentum zum ersten Mal raus auf die Straßen einer Großstadt ging, reklamierte es sein Recht zu erscheinen, eine bisher vernachlässigte Art der Epiphanie.

    Das Besondere dieser Aktion, die man auch Demonstration oder Versammlung nennen könnte, besteht darin, dass ihre öffentlichen und damit politischen Bedeutungen „nicht nur durch den – geschriebenen oder gesprochenen – Diskurs aufgeführt werden, sondern dass sich dort Körper versammeln“1. Was da geschieht, kann man „verkörperte Handlung“ nennen. Sie tun etwas, was „weder diskursiv noch vordiskursiv ist“2

    „Mit anderen Worten, Versammlungen haben schon vor und unabhängig von den spezifischen Forderungen, die sie stellen, eine Bedeutung. Stille Zusammenkünfte, zu denen auch Mahnwachen und Beerdigungen gehören, haben häufig eine Bedeutung, die jeden schriftlichen oder mündlichen Bericht darüber, worum es bei ihnen geht, übersteigt.“3

    Die amerikanische Philosophin Judith Butler nennt diese Formen „plurale Formen der Performativität“4. In ihnen agieren Formen „sprachlicher Performativität“ mit Formen „leiblicher Performativität“. „Sie überschneiden sich; sie sind nicht völlig verschieden; sie sind freilich auch nicht identisch.“ Manchmal ist das, „was man mit seinen Ausdrucksmitteln zu erkennen gibt, etwas ganz anderes als das, was als eigentliches Ziel des Sprechakts explizit zugegeben wird.“5

    Hier öffnet sich ein beweglicher Zwischenraum, ein Spielraum „pluraler Formen des Handelns und sozialer Widerstandpraktiken“6, der den öffentlichen Raum zugleich beansprucht und hervorbringt7.   

    Ganz gleich ob in Bewegung oder in Ruhe, ich parke meinen Körper „inmitten der Handlung eines anderen“. Und diese Handlung „ist weder meine noch deine Handlung“. Sie ist etwas, „das aufgrund der Beziehung zwischen uns geschieht“. Sie ist etwas, „das aus ebendieser Beziehung hervorgeht“ und dabei „zwischen dem Ich und dem Wir laviert“. Dies Geschehen bringt den „generativen Wert einer Doppeldeutigkeit“ hervor, den es „zugleich zu bewahren und zu verbreiten sucht“.8

    Eine solche Situation des sich gegenseitigen Aussetzens und Gefährdens lässt sich noch anders und weitergehend beschreiben mit dem Begriff des Gefüges.

    „Die Ökologen haben sich diesem Begriff zugewandt, um die mitunter starren und eng umgrenzten Konnotationen der ökologischen ‚Gemeinschaft’ zu umgehen. Die Frage, wie sich die verschiedenen Arten in einem Arten-Gefüge – wenn überhaupt – gegenseitig beeinflussen, ist nie letztgültig zu entscheiden. Manche behindern (oder fressen) einander; andere arbeiten zusammen, um zu überleben; wieder andere befinden sich einfach zufällig am gleichen Ort.

    Gefüge sind offene Versammlungen. Der Begriff gestattet es, nach gemeinschaftlichen Wirkungen zu fragen, ohne sie vorauszusetzen. Gefüge lassen uns möglichen Geschichtsprozessen beiwohnen.

    Mir geht es jedoch nicht nur um Organismen im Sinne von sich versammelnden Elementen. Vielmehr möchte ich begreifen, wie Lebewesen – und nichtlebende Seinsweisen – zusammenkommen. Wie menschliche Seinsweisen wandeln sich auch nichtmenschliche Seinsweisen im Lauf der Geschichte. Was die Lebewesen anlangt, ist die Artenidentität ein Anfang, aber sie reicht nicht aus: Seinsweisen sind emergente Effekte von Begegnungen. Das wird deutlich, wenn man über Menschen nachdenkt. Auf Pilzsuche zu gehen, ist eine Lebensweise; es ist aber kein allen Menschen gemeinsames Charakteristikum. Das gilt auch für andere Arten. Kiefern finden Pilze, die ihnen helfen, menschengemachte offene Flächen in Beschlag zu nehmen.
    Gefüge versammeln nicht nur verschiedene Lebewesen, sie bringen sie hervor.

    In Gefügen zu denken lässt uns fragen: Wie können Ansammlungen zu ‚Ereignissen‘ werden, das heißt, mehr als die Summe ihrer Teile? Wenn Geschichte ohne Fortschritt unbestimmt ist und in viele Richtungen geht, können uns dann Gefüge die ihnen innewohnenden Möglichkeiten aufzeigen?
    In Gefügen entwickeln sich Muster absichtsloser Koordination. Um solche Muster wahrnehmen zu können, muss man das Zusammenspiel zeitlicher Rhythmen und Größenordnungen in den sich ansammelnden, divergierenden Lebensweisen beobachten.
    Überraschenderweise zeigt sich damit eine Methode, die sowohl der politischen Ökonomie als auch der Umweltforschung neue Impulse zu geben vermag. Gefüge binden politische Ökonomie in die Umweltforschung ein – und das nicht nur im Hinblick auf die Menschen.
    Großflächig angebaute Nutzpflanzen haben ein anderes Leben als ihre unkultivierten Geschwister; Zugpferde und Jagdrösser gehören der gleichen Art an, nicht aber der gleichen Lebensweise. Gefüge können sich nicht vor dem Kapital und dem Staat verbergen; sie sind Orte, an denen zu beobachten ist, wie politische Ökonomie funktioniert. Wenn der Kapitalismus keine Teleologie hat, müssen wir verstehen, was wie zusammenläuft – nicht nur Vorgefertigtes, sondern auch im einfachen Nebeneinander.“9

    Die amerikanische Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing, deren Überlegungen wir hier folgen, übernimmt den Begriff Gefüge (assemblage) aus den Sozialwissenschaften, in denen er unterschiedliche Bedeutungen haben kann, etwa die von Diskursformationen oder die von Netzwerken. Gilles Deleuze verwendet ebenfalls den Begriff Gefüge (agencement) und hat „damit Bestrebungen angestoßen […], das ‚Soziale‘ zu öffnen.“10

    Anna Tsing erklärt ihr Verständnis des Begriffes Gefüge mit der Charakterisierung „polyfonisch“ und erweitert damit das Feld noch einmal und nimmt zugleich die o.g. plurale Form wieder auf: „Mit Polyfonie wird Musik bezeichnet, in der selbstständige Melodien miteinander verwoben sind. In der westlichen Musik sind das Madrigal und die Fuge Beispiele für Polyfonie. Weil diese Formen durch eine Musik verdrängt wurden, in der ein einheitlicher Rhythmus und einförmige Melodien die Komposition zusammenhalten, wirken sie für viele moderne Hörer fremd und archaisch. In der klassischen Musik, die an die Stelle der barocken trat, was Einheitlichkeit das Ziel; das ist ‚Fortschritt‘ […]: eine vereinheitlichende Koordination der Zeit. Im Rock ‘n‘ Roll des zwanzigsten Jahrhunderts erreichte diese Einheitlichkeit die Form eines starken Beats, der den Herzschlag des Hörers andeutet. Wir sind es gewohnt, Musik mit einer einzigen Perspektive zu hören. Als ich das erste Mal mit Polyphonie in Berührung kam, war das eine Höroffenbarung. Ich war gezwungen, verschiedene, simultan ablaufende Melodien voneinander zu unterscheiden und zugleich auf die harmonischen und dissonanten Momente zu achten, die aus ihrem Zusammenspiel hervorgingen. Genau diese Art der Wahrnehmung ist nötig, will man die verschiedenen zeitlichen Rhythmen und Trajektorien eines Gefüges würdigen.“11

    In einem solchen Gefüge – und damit kommen wir auf den Palmsonntag und die Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem zurück –, mitten in dieser „Polyphonie des Lebens“12  schickt sich nun eine Stimme oder Stimmgruppe an, wenigstens für eine Zeit lang zum cantus firmus zu werden und einen alten Psalmvers auszurufen. Wie immer man sich dieses Ausrufen konkret vorstellen muss, gerufen, geschrien, gesungen oder alles zusammen, es hat den Charakter einer „sprachlichen Performativität“ (s.o.).

    Zu diesem cantus firmus gehört ein contrapunctus in Form einer „leiblichen Performativität“, die man sich am besten als eine szenische Ausprägung des choreographischen Grundgedankens der belgischen Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker: my walking is my dancing, vorstellen kann. Aus dem Gehen innerhalb einer größeren Versammlung von Menschen bildet sich die Szene um den auf einem Esel reitenden Landstreicher heraus und stabilisiert sich für eine Zeit lang.

    Diese Szene ist das Gegenbild des klassischen Einzugs eines Herrschers. Und dies nicht nur deshalb, weil das Reittier kein Pferd, sondern ein Esel und der Herrscher weder wie ein Herrscher gekleidet, noch mit den Insignien einer Herrschaft ausgestattet ist. Auch die Menge der die Szene umgehenden Menschen wird nicht zum Platzmachen von Sicherheitskräften gestoppt, auseinandergetrieben oder geteilt und zu Unterwürfigkeitsgesten gezwungen. Das Gefüge bleibt polyphon.    

    Christentum erscheint auf der Straße.

    P.S.
    Was in dieser Geschichte des Einzugs in Jerusalem noch nicht abzusehen ist, ist deren historische Folge: das Hinausziehen in die Schlacht an der Milvischen Brücke und in ihrer Folge die konstantinische Ausprägung des Christentums. Man vergisst, dass diese die weitere Kirchengeschichte dominierende Verbindung von Christentum und Herrschaft aus Geist und Praxis des Krieges entstanden ist. Bis in unsere Tage wird das Christentum diesen Geist, trotz augustinischer Differenzierungsversuche, nicht los. Eine Neubewertung der theologie- und ideengeschichtlichen Topoi, die aus dieser Verbindung heraus entstanden, müsste eine denkerische Geste aufnehmen, den man „minderheitlich-werden“ nennen kann…

  • Mariae Verkündigung: Begegnung

    Mariae Verkündigung: Begegnung

    Gibt es etwas Gemeinsames zwischen der Begegnung einer Frau mit einem Engel und der Begegnung einer Frau mit einem Bären? Für die Frauen hatte die Begegnung jeweils umstürzende Folgen, die jedoch unterschiedlicher kaum sein können.

    Einen Sinn macht die Eingangsfrage allerdings nur, wenn man die Begegnungen nicht vertikal hierarchisch, also in Seins-Kategorien von oben nach unten, sondern horizontal denkt. Dazu müssen wir „unsere Aufmerksamkeit auf das richten was entsteht (se crée) bei der Begegnung zwischen Welten, die a priori in unermesslichem Maß voneinander abweichen“1.

    Die Anthropologin Nastassja Martin studiert Lebensweise und Kosmologie der indigenen Ewenen auf der russischen Halbinsel Kamtschatka. Auf einer Bergtour begegnet sie einem Bären. Es kommt zum Kampf, doch es gelingt ihr, das Tier in die Flucht zu schlagen. Schwer verletzt überlebt sie und reflektiert das Ereignis:

    „Ich versuche, das Wasser zu sehen, das unter dem Eis fließt, was wegen der dicken Eisdecke schwierig ist, und zerbreche mir weiter den Kopf. Ich sage mir: Ein Bär und eine Frau, das ist als Ereignis zu viel. Zu viel, um nicht sofort in das eine oder andere Denksystem eingegliedert zu werden; zu viel, um nicht von einem bestimmten Diskurs instrumentalisiert oder zumindest darin integriert zu werden. Das Ereignis muss transformiert werden, um akzeptabel zu sein, es muss seinerseits gegessen und dann verdaut werden, um Sinn zu ergeben. Warum? Weil es zu schrecklich ist, um es sich vorzustellen, weil es den Rahmen des Begreifbaren, ja allen Rahmen übersteigt, sogar die der ewenischen Jäger in Kamtschatka.
    Da dem so ist, da ich zwangsläufig in den Rahmen der einen oder der anderen gezwängt werde wie ein Dreieck in einen Kreis oder ein Kreis in ein Quadrat, muss ich es schaffen, um nicht zu dem Quadrat oder Kreis zu werden, der ich nicht bin, mein Urteil auszusetzen. Denn der Bär ist für mich erschienen; und ich für ihn. Es ist schwer den Sinn so in der Schwebe zu lassen. Sich zu sagen: Ich weiß nicht alles über diese Begegnung; ich lasse die hypothetischen Desiderate der Welt der Bären beiseite; ich mache aus der Ungewissheit ein Geschenk. Ich muss also um die Orte, Wesen und Ereignisse herum nachdenken, die von einem Schatten geschützt und mit einer Leere umgeben sind, am Kreuzpunkt dieser Erfahrungsknoten, die sich durch Beziehungsschemata nicht erfassen, nicht strukturieren lassen. Das ist unsere gegenwärtige Situation, die des Bären und meine eigene. Zu einem Brennpunkt geworden zu sein, von dem alle Welt spricht, den aber niemand begreift. Genau deswegen stolpere ich auf Schritt und Tritt über vereinfachende, ja triviale Interpretationen, so liebevoll sie auch sein mögen: weil wir einer semantischen Leere gegenüberstehen, einem Außerhalb des Bildfelds, das für alle Kollektive gilt und ihnen Angst macht. Daher der Eifer, mit dem von allen Seiten Etikette verteilt werden, um zu definieren, einzugrenzen, dem Ereignis eine Form zu geben. Es nicht im Ungewissen zu belassen, bedeutet, es zu normalisieren, um es um jeden Preis in das menschliche Kollektiv hineinzupressen. Und doch. Der Bär und ich zeugen von Liminalität, und auch wenn das furchterregend ist, wird niemand daran etwas ändern. Hinter mir knacken Äste, es kommt jemand. Ich beschließe: Sollen sie sagen, was sie wollen. Ich werde in diesem Niemandsland verweilen.“2

    Das Gemeinsame der Begegnung zwischen einer Frau und einem Bären und der Begegnung zwischen einer Frau und einem Engel besteht darin, dass beide Begegnungen „zwischenartliche Begegnungen“3  sind. Als solche sind sie Ereignisse, also „Dinge, die passieren“4, die größer sind als die „Summe ihrer Teile“5, aus denen sie zusammengesetzt sind. Sie bilden „kein sich im Innern selbstreproduzierendes System“ und „finden stets im Rahmen von Kontingenz und Zeit statt“.6  Um derartige Begegnungen zu verstehen, „muss das ganze Verhältnis für jede Größenordnung neu gedacht werden“7.

    Hierzu muss das Denken selbst „zum Ort einer möglichen Begegnung“ werden. Es muss also seine „imaginativen Kapazitäten“ dazu nutzen, in eine „Realität einzudringen, die nicht seine eigene ist, deren vollständige Gültigkeit es aber anerkennt“.8  In einem solchen „heuristischen Prozedere“, setzte sich das Denken zeitweilig an den Platz des anderen, „um sich die Frage der Welt aus seiner Perspektive zu stellen“, immer dessen eingedenk, dass das Denken des anderen „uns in jedem Moment überwältigen könnte“.9

    Auf der Basis dieser Art „geteilten und durch alle teilbaren“10  Denkens formt sich eine gemeinsame Welt im Sinne einer „Symbiopoiesis“11  (aus Begegnung entstanden) in Abgrenzung zu einer „Autopoiesis“12  (aus Durchsetzung eines Einzelnen und seines Systems entstanden).

    Es bleibt das Risiko, dass es zum Kampf kommt.13

    Noch im Krankenhaus erhält die Frau, die dem Bären begegnet ist, Besuch von einem mit ihr befreundeten ewenischen Bildhauer. „Wir sehen einander schweigend an, die Tür geht zu, wir sind allein. Er sagt: Nastja, hast du dem Bären vergeben? Wieder Schweigen. Du musst dem Bären vergeben. Ich antworte nicht gleich, ich weiss, dass ich keine Wahl habe, und doch möchte ich mich wenigstens einmal auflehnen, gegen das Schicksal, gegen das, was uns bindet, gegen alles, worauf man zugeht und was unausweichlich ist, ich möchte ihm entgegenschreien, dass ich ihn am liebsten getötet, aus meinem System hinauskatapultiert hätte, und wie sehr ich es ihm übelnehme, dass er mich derart entstellt hat. Aber ich tue es nicht, ich sage nichts. Ich atme tief durch. Ja, ich habe dem Bären vergeben. Andrej senkt den Kopf und schaut zu Boden, seine langen schwarzen Haare fallen auf die linke Seite seines Gesichts, er bleibt eine Weile so, zwei Tränen tropfen auf den Fliesenboden. Er blickt wieder auf, seine Augen sind schwarz, nass, glänzend, durchdringend. Er wollte dich nicht töten, er wollte dich zeichnen. Du bist jetzt miedka, die zwischen den Welten lebt.“14 

    In diesem Sinne ist Maria gratia plena, voll der Gnade, holdselige (Lk 1, 28), die zwischen den Welten lebt.

    P.S. Nach diesem Entwurf zu einer Naturgeschichte der Verkündigung Mariens, kann jedoch zumindest ein Unterschied nicht unerwähnt bleiben. Im Unterschied zu der Begegnung zwischen einem Bären und einer Frau, von der die Frau selbst berichtet und reflektiert, ist die Begegnung zwischen einem Engel und einer Frau, um die es hier geht, von einem Erzähler geschildert. Bei dieser Schilderung handelt es sich also nicht direkt um ein Performativ des Denkens ausgelöst durch eine Begegnung, die die Beteiligten wechselseitig verwandelt. Von einer solchen Begegnung müsste Maria selbst berichten.15  Und schon sind wir bei einem Dilemma im Verhältnis von Theologie und Naturgeschichte, auf das sich stärker zu besinnen Bruno Latour vorschlägt (vgl. in diesem Blog den Eintrag vom 12. 12. 2022), ja worin er die Zukunft des Christentums vermutet (oder sollte man sagen: erhofft?).  Das Dilemma besteht darin, dass die Theologie in ihrem Verhältnis zur Natur nicht nur die der westlichen Moderne geschuldete Trennung zwischen Natur und Kultur übernimmt, sondern diese noch verstärkt, indem sie Kultur auf Schrift und Sprache begrenzt.16  Das Dilemma beschreibt eine der größten Herausforderungen an die heutige Theologie, wenn sie sich nicht nur selbst verwalten will. Ob ihre Vertreter die Herausforderung annehmen? Die Nachbardisziplinen haben jedenfalls schon einiges vorbereitet, mit dem man sich auseinander- oder/und auch zusammensetzen könnte.

  • Epiphanias: Spurenlesen

    Epiphanias: Spurenlesen

    Die Verwendung des Begriffes Spurenlesen eröffnet einen ungewohnten Hintergrund von Epiphanias, nämlich seine Naturgeschichte. Sie beginnt bei der Spurensuche und die hat „eine Vorgeschichte, die wir mit den Tieren teilen“1. Sie ist ein Erbe aus der Zeit von „vor rund zwei Millionen Jahren, da wir uns von sammelnden Fruchtfressern zumindest teilweise in Spurensucher und jagende Fleischfresser verwandelten“2

    Was zuerst der Versorgung mit Nahrung untergeordnet war, Spuren auffinden, sie geduldig verfolgen und schließlich die Beute erlegen, ging einher mit einem Interesse für das verfolgte Tier, seine Gewohnheiten, Vorlieben, Bewegungsarten. Die Spur oder Fährte wird mehr und mehr gelesen als Zeichen, das es ermöglicht, sich in das Wildtier und seine Bewegungen hineinzuversetzen, sie zu rekonstruieren, mit seinen Augen zu sehen, sein Verhalten zu antizipieren.

    „Es geht darum, das Unsichtbare zu sehen, die immateriellen Habitate aufzudecken in einer Welt, die reicher ist als gedacht und in der man niemals alleine war. Spurenlesen bedeutet, aufmerksam zu werden auf das Netz unsichtbarer Einflüsse, das die lebendige sichtbare Welt strukturiert, und sie hervortreten zu lassen.“3

    Diese konzentrierte Aufmerksamkeit hat Nebeneffekte. Zum Beispiel, dass man sich selbst vergisst, über sich selbst hinausgeführt wird „in ein erweitertes Ich hinein, das nicht mehr so viele hinderliche subjektive Probleme hat, aber anderen Lebewesen Platz lässt“4, eben den beobachteten.

    Zugleich wird man im konzentrierten Blick „aus sich selbst herausgeschleudert“5. Durch ein Instrument wie ein Fernglas verstärkt, wird man ganz Blick, was eine eigenartige Transzendenz erzeugt und den spurensuchenden Menschen zu einem Lebewesen „mit glühendem und unparteiischen Interesse an den Lebewesen ringsum“6  macht.

    „Ein Lebewesen, das fasziniert ist von Lebewesen, das sich aber ihrer Gesamtheit zugehörig fühlt – eines, das weiß, dass wir in allererster Linie Lebewesen sind und erst dann Menschen. Ein Lebewesen, das das Gemeinsame im Unterschiedlichen sucht, die Schnittmenge, anhand derer sich unsere besondere Animalität erst bestimmen lässt: unsere menschliche Art und Weise, Lebewesen zu sein.“7

    Diese Komponenten führen zur zentralen Hypothese der Überlegungen des französischen Philosophen Baptiste Morizot, denen wir hier folgen. Demnach spielte das Spurenlesen eine erhebliche Rolle bei der Entwicklung der Denkfähigkeit des Menschen:

    „Der Mensch hat seine geistigen Fähigkeiten, Dinge zu entschlüsseln, zu interpretieren, oder zu erahnen, weiterentwickelt, weil er sich vor etwa drei Millionen Jahren in eine ökologische Nische begeben hat, in der er seine Nahrung lediglich mittels Spuren erlangen konnte. Geborene Jagdtiere hingegen verfügen oft über einen starken Geruchssinn.
    Das ganze Problem besteht letztlich darin, dass wir einst fruchtfressende Primaten waren, das heißt visuell orientierte Tiere mit einem schlechten Geruchssinn, und erst später Jäger und Spurenleser wurden, die davon lebten, abwesende Dings zu finden.
    Um das zu schaffen, so ohne verlässlichen Geruchssinn, mussten wir uns das Auge zunutze machen, das das Unsichtbare sieht, nämlich das Auge des Geistes.
    Beim Spurensuchen erlebt man, wie sich entscheidende intellektuelle Fähigkeiten entfalten, die sich um die Gabe drehen, das Unsichtbare zu erkennen, etwa die Zukunft eines Tieres oder eine Sequenz aus dessen Vergangenheit. Spurenlesen ist ein intellektuelles Problem, das vielleicht zur Werdung des Menschen beigetragen hat.“8

    Nun gehört zu Spurensuchen und –Lesen auch die Tatsache, dass man Spuren hinterlässt, selbst dann wenn man sich tarnt. Man wird also selbst lesbar für andere. Das kann schließlich zu der für uns ungewohnten Perspektive führen, sich selbst als mögliche Beute erkennen zu müssen.

    Zum Spurenlesen gehören also auch psychologische und soziale Fähigkeiten, die zugleich aus ihm hervorgehen. Eine Vielzahl von Perspektiven kreuzen sich in dieser Praxis, die sich als Lebenspraxis herausstellt:

    „Leben bedeutet, großzügig mit seinen Zeichen zu sein. Es bedeutet allen anderen Zeichen zu geben, auch widerwillig, ohne es zu wünschen und ohne dass sie angemessen wären – das ist die phänomenologische Definition einer ‚reinen Gabe‘. Zeichen geben und empfangen bzw. austauschen – das ist das Fundament und die Natur der großen Lebenspolitik, die die Geschöpfe zu einer ökologischen Gemeinschaft verbindet.“9

    Von hier aus lässt sich auch die Bewegungsart des Spurenlesens genauer beschreiben: Mitgehen. „Gehen wird zu einem Akt der Übertragung. Dabei gehen wir weder neben dem Tier noch gleichzeitig mit ihm. Man folgt den Schritten eines Anderen, der einen Weg beschritten hat und dessen Spuren allesamt Zeichen sind, die sein Wollen festgehalten haben – einschließlich des Wunsches, seinem Aufspürer zu entkommen, sofern er dessen Vorhandensein bemerkt hat.
    Mitgehen, ohne Gleichzeitigkeit und Gegenseitigkeit, verschafft uns folglich Erfahrungen, durch die wir etwas von einem anderen Wesen lernen: Man lässt sich leiten, lernt, wie ein anderer zu fühlen und zu denken. Man überschreitet die Grenzen seiner eigenen Logik, um eine andere zu lernen; wir lassen uns durchdringen von Wünschen, die nicht die unseren sind. Besonders aber müssen unsere Vorstellung und unser Denken von den Zeichen ausgehen, die das Tier dort zurückgelassen hat, wohin es seine Absichten und Gewohnheiten lenken, damit wir auf der richtigen Spur bleiben.
    Eines vor allem ist wichtig: auf der Spur bleiben. Was uns die Kunst des Spurenlesens lehrt, ist, das nicht zu verlieren, was man nicht besitzt.“10

  • Weihnachten: Geburt

    Weihnachten: Geburt

    Es ist keine überraschende These zu behaupten, dass die Geburt zu „den häufigsten Motiven der europäischen Malerei“1 zählt. Überraschender ist folgende Beobachtung: „Die Geburt, die [da] geschildert wird, ist kein gewöhnliches, sondern ein einmaliges, nicht darstellbares und widernatürliches Ereignis. Die christliche Theologie hat dazu beigetragen, die Geburt zu etwas Undenkbarem zu machen, indem sie sie aus jeglichem naturalistischen Rahmen heraustreten ließ, sie gegen die Natur auszuspielen wusste und sie als Wunder begriff.“2

    Genauer gesagt bedeutete das, die Geburt von der Natur und von der Mutterschaft zu entkoppeln3  und „zum Synonym einer absoluten Neuheit“4  zu machen.5  Nach und nach wurde dieses Wunder „säkularisiert und durch Bedeutungserweiterung“6  auf die menschliche Geburt übertragen. Dieser Vorgang lässt sich bis in das Werk von Hannah Arendt verfolgen.

    In „Das Leben des Geistes: Das Denken, Das Wollen“ beschreibt sie die Geburt als den „Eintritt eines neuen Geschöpfes, das mitten im Zeitkontinuum der Welt als etwas völlig Neues erscheint“7. Als solche betrifft die Geburt vor allem die Menschen. Sie sind „Initium, Neuankömmlinge und Anfänger von Geburt an“8. Nur sie, die Menschen, „ergreifen die Initiative“ und „werden zum Handeln veranlasst“9. Nach Hannah Arendt ist mit dem Menschen „das Anfangsprinzip in die Welt gekommen“10.

    So faszinierend und wirkmächtig derartige Theologie(n) und Philosophie(n) der Natalität auch (gewesen) sein mögen, so sehr führen sie doch in die hegemoniale Enge eines Anthropozentrismus, der spätestens in der Perspektive des Anthropozän sich als fatal und damit als zerstörerisch erweist.

    Wie lässt sich die weihnachtliche Geburt anders denken?

    Die Frage stellen heißt zugleich danach zu fragen, wie man Geburtlichkeit jenseits hierarchisch-ontologischer Begriffe beschreiben kann. Der in Frankreich lebende italienische Philosoph Emanuele Coccia versteht Geburt als Metamorphose und schlägt vor, die weihnachtliche Geburt und in ihrer Folge alle Geburten als etwas zu denken, an dem nicht nur die Natur, sondern auch Gott teilhat:

    „Wir müssten uns vorstellen, dass ein Gott, der an der Geburt teilhat, in allen erdenklichen natürlichen Wesen, ob Ochse, Eiche, Ameise, Bakterie oder Virus, verkörpert sein muss. Wenn die Geburt Heil mit sich bringt, dann in jeder erdenklichen Geburt, zu jedem erdenklichen Moment, an jedem erdenklichen Ort. Wir müssten uns vorstellen, dass jede Geburt nicht nur eine Form der Vergöttlichung, der Weitergabe göttlicher Substanz ist, sondern vor allem eine Form der Metamorphose Gottes. Dieser Gott würde in seiner Alleinigkeit alles Lebendige einschließen, umgekehrt wäre jedes einzelne Lebewesen eine Erfahrung der Vervielfältigung des Göttlichen – in einem theologischen Karneval, vor dem alle historischen Religionen verblassen müssten.“11

    Was hier überraschend und etwas wild klingt, könnte vielleicht herkömmliche theologische Anknüpfungspunkte suchen und diese in eine karnevalistische Bewegung bringen. So könnten Schöpfung, Geburt und Kenosis zusammen gedacht werden. In jeder Geburt wandert Gott verborgen durch die Schöpfung, genauso wie die Materie wandert, sich ständig neu konfiguriert.

    Einer so skizzierte Geburtlichkeit entspricht die Inspiration eines Franz von Assisi, in seinem „Sonnengesang“ (1224/25) von „Bruder Sonne“ und „Schwester Mond“ zu singen. In unseren Tagen (2015) hat Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato si“12  diese Gedanken aufgegriffen und auf unsere aktuelle Weltlage bezogen. Insbesondere die Verbindung des Schreies der Erde mit den Schreien der Armen13  weckte das Interesse des Philosophen Bruno Latour an der Enzyklika. Nach dem Grund seines Interesses gefragt antwortete Latour in einem Gespräch:

    „Die aktuelle Umweltfrage nimmt die Theologie in die Pflicht, Stellung zu beziehen, die sich über 300 Jahre auf die Welt des Spirituellen beschränkten. Die Wissenschaft beansprucht ihre eigene Hegemonie und versucht, die Hegemonie der Religion zu verdrängen. Den armen Religiösen bleibt nur noch das Übernatürliche. Es ist extrem schwierig, Bischöfen und Priestern zu erklären, dass die Umweltfrage eine enorme Chance für die Kirche ist, um zu den ursprünglichen Themen der Kirche zurückzukehren. Man nennt das: Inkarnation. Das heißt, es geht um die Erde und nicht um den Himmel. Das ist ein altes Thema der Kirche, das aber verloren ging. Die Umweltfrage soll jetzt nicht zur neuen religiösen Ideologie werden, aber sie eröffnet neue Chancen. Die Umweltfrage bringt etwas ganz Neues mit sich. Nämlich diese außergewöhnliche Verbindung, die in einer laizistischen Welt undenkbar ist, die Verbindung des Schreies der Armen und des Schreis der Erde14. Das ist großartig und Sie taten gut daran, diesen Satz zu zitieren. Der Kosmologie der Modernen war dieser Ansatz fremd. Die Erde schreit nicht und die Armen werden nicht gehört. Wobei es hier um die sozial Benachteiligten geht, nicht um die „Armen“ im theologischen Sinne. Die Umweltfrage eröffnet also neue Möglichkeiten. Sie bringt eine Neuorientierung in den Wertvorstellungen und bietet somit neue Chancen. Ich sage den Theologen: ‚Sie haben großes Glück. Schauen Sie: Seit 150 Jahren fragen Sie sich, ob die Kirche modernisiert werden muss. Jetzt geht die Moderne vor Ihren Augen zu Ende.‘ Die Frage nach der Modernisierung wird also hinfällig, es gibt keine Moderne mehr. Wir alle sind uns einig, auch wenn nicht alle Christen sind, dass die Moderne endet. Wir versuchen die politischen Werte zu retten. Und die Kirche hat das Glück, wenn ich so sagen darf, die Moderne sterben zu sehen, die sie bekämpfte, mit der sie nicht umgehen konnte. Jetzt kann die Kirche ein völlig neues Gedankenumfeld schaffen. Sie kann zu ihrer Tradition zurückkehren, zu einem Gott, der Mensch wurde, der zur Erde, zur Schöpfung gehört. Er nimmt an der Schöpfung teil, er ist Zeuge und Betroffener aller Entwicklungen. Jetzt kann die Theologie sich neu positionieren. Vielleicht auch beim Thema der Jungfrau Maria. Denn in der Theologie wurden Projektionsflächen angehäuft, die sicher aus guten Gründen entstanden sind. Doch diese Gründe sind nun einige Jahrhunderte alt. Der Papst erfand nun einen neuen Mythos. Doch viele Priester und Kardinäle sehen diese neue Sicht mit Argwohn. Die „Schwester Erde“. Was soll ein Priester damit anfangen? Ein Papst, der von “Schwester Erde“ spricht, das ist befremdlich. Doch es eröffnet eine neue Chance. Das ist eine sehr weit gefasste Version der Umweltfrage. Es ist eine Chance auf die Erneuerung der Zivilisation. Die Zivilisation der Moderne war schlecht, denn sie führte in diese Sackgasse. Die ökologische Frage bietet nun die Chance einer neuen Zivilisation.“15

    Die Metamorphose des theologischen Begriffes der Geburt bzw. der Geburtlichkeit, an der Gott teilhat, deren Zeuge er ist und von deren Entwicklungen er betroffen ist, könnte ein Beitrag dazu sein. Ein „theologischer Karneval“ ist hier gefragt – nicht zu vergessen: Franz von Assisi ist der Erfinder des Krippenspiels. Und wo fand es statt? Im Wald…

    P.S. In Kriegszeiten, weit jenseits selbstreferentieller kirchlicher Verwaltungen, die damals für den Krieg predigten, im Cabaret Voltaire in Zürich: „Das ‚Krippenspiel‘ (Concert bruitiste, den Evangelientext begleitend) wirkte in seiner Schlichtheit überraschend und zart. Die Ironien hatten die Luft gereinigt. Niemand wagte zu lachen. In einem Kabarett und gerade in diesem hätte man das kaum erwartet. Wir begrüßten das Kind, in der Kunst und im Leben.“ (Hugo Ball am 3. Juni (!) 1916)16

  • Adventisch denken

    Adventisch denken

    Denkt man über das Offene und das stets zu Kommende nach, kommt man im deutschen Sprachraum an zwei Polen oder auch Überschreitungen nicht vorbei. Die eine findet sich markiert in der dritten Strophe der Elegie „Brod und Wein“ von Friedrich Hölderlin: „So komm! dass wir das Offene schauen, / […] / Dorther kommt und zurück deutet der kommende Gott“. Die andere findet sich in dem Gedicht „Todtnauberg“ von Paul Celan: „die in dies Buch / geschriebene Zeile von / einer Hoffnung, heute, / auf eines Denkenden / kommendes / Wort / im Herzen“.

    Vor dem Hintergrund dieses hier nur hingeworfen skizzierten Aufrisses1, denkt Jean-Luc Nancy das Kommen (venue, venant) als „den Zustand von etwas, das dabei ist, zu kommen“2. Nancy entwickelt das Denken des Kommenden im Austausch mit seinem Kollegen und Freund, Philippe Lacoue-Labarthe, über Theater, genauer gesagt über die Theorie der Tragödie von Aristoteles.

    Darum ringend, wie etwas erscheint oder vergegenwärtigt werden könne, unterscheidet Lacoue-Labarthe zwischen einer Vergegenwärtigung (présentation) und einem nicht Vergegenwärtigbaren (imprésentable). Dabei nimmt er folgendes Beispiel:
    „Sehen wir das Bild des gekreuzigten Christus. Das ist gegenwärtig (présent). Nichts verweist auf etwas, was sich nicht vergegenwärtigen ließe (imprésentable), aber man kann auch eines nicht verwechseln, und darum ist es ein so gutes Beispiel: die Szene oder das Buch (die Erzählung), die bemalte Leinwand oder er ‚behauene Stein‘ realisieren nicht (irréalisent) das, was sie vergegenwärtigen, d.h. sie ziehen von der Gegenwart (présence) das ab, was sie vergegenwärtigen (faire présentation). Und wieder kommt man auf den paradoxalen Begriff der Vergegenwärtigung (présentation), der nichts annimmt, was sich nicht vergegenwärtigen ließe (imprésentable). (Außer, wie ich befürchte, in der christlichen Theologie, die die ‚Verendlichung‘ (finitisation) Gottes als un-endlich (in-fini) denkt, wie ein forcierter Wunsch, das zu vergegenwärtigen, was nicht zu vergegenwärtigen (présentation de l’imprésentable) ist.)“3

    Nancy erscheint das zu kompliziert. Er will überhaupt keine Vergegenwärtigung (présentation) von irgendetwas. Er zieht es vor, ein „in eine Gegenwart Kommen“ (venue en présence) zu denken, einen „permanenten Zustand des Beginns“ (inchoatif permanent), „etwas, das von sich aus stets wiederbeginnt“ (initialité répétée).4

    Um diesen Gedanken auf das Bild des Gekreuzigten anzuwenden, auf das Nancy in seinem Austausch mit Lacoue-Labarthe nicht zurückkommt, müsste man ein solches jeweils als eine Zeichnung betrachten, welchen künstlerischen Ausdruck es auch immer annimmt. Denn das, „was die Zeichnung in der Kunst oder die Kunst der Zeichnung ausmacht“, ist „das Denken der nicht konformen noch verifizierbaren Form, das Denken der Form als sich formend, als selbstformende Form“.5  Eine Zeichnung entspricht der „Geste einer Offenlegung (mise en évidence)“. Und diese Praxis kommt von alters her:
    „Der Erste, dessen Hand, einen Hirsch oder eine Wellenlinie auf eine Felswand zeichnete, begann die endlos modulierte Weiderholung seiner Geste, die grenzenlose Variation seines Themas. Diese Wiederholung, deren Öffnung und seltsame Notwendigkeit in der Zeichnung enthalten sind, nährt eine Lust, deren Wesen die Wiederholung selbst ist. Davon ausgehend ist es möglich zu verstehen, dass Kunst in all ihren Formen immer mit Lust in Verbindung steht.“6

    Diese Lust ist nicht abschließend, „weil sie eine Lust des Anfangs, der Öffnung ist. Die Lust eines Begehrens also, das weniger auf ein zu erlangendes Objekt, auf ihren Schwung, auf ihre eigentliche Möglichkeit – wenngleich sich diese eben gerade nicht in Begriffen des Darstellbaren, [wir müssten hinzufügen: des Vergegenwärtigbaren], Berechenbaren, Durchführbaren bietet, – sondern sich als unbestimmte Möglichkeit des Möglichen als solchem erweist, als ein Sein-Können“7.

    Nancy denkt hier die Zeichnung als „kontinuierliche Öffnung“8  und damit konkret als das „Abenteuer einer Linie, sich ihres eigenen Kommens (venue) auszusetzen“9.

    Man könnte Nancys Kommen als ein „beständiges Verschwinden“10  verstehen. Das würde bedeuten, sich in einem „Zustand der Nostalgie nach etwas, was wir auf immer verloren hätten und das vielleicht niemals da war“11, zu befinden.

    Oder aber, man erkennt im Kommen die Züge einer „beständige[n] Geburt“12. Das würde bedeuten danach zu verlangen, „ein absolut-Kommendes hervorbrechen zu lassen, dem keine Art von Präsenz hätte vorausgehen können“13.

  • Erik Satie: Messe des Pauvres

    Erik Satie: Messe des Pauvres

    Erik Satie: Messe des Pauvres
    Man könnte Erik Satie einen Dada-Komponisten nennen. Ob man ihm damit gerecht wird, ist die Frage. Er spielte Klavier in einem Cabaret auf dem Montmartre in Paris. Eine Ballettmusik, die von Djagilew‘s Ballets Russes mit einem Bühnenbild von Picasso aufgeführt wurde, geriet zum Skandal. Ein Kollege, den man heute nicht mehr kennt, riet ihm abfällig, er solle Kontrapunkt studieren, und er tat es. Satie wollte angenehme Musik komponieren. Sie sollte eine/n wie Möbel umgeben. Einige Klavierstücke sind sehr bekannt, spätestens seit Debussy sie orchestriert hat.

    Satie hat auch eine Messe geschrieben. Der Anlass dieser Komposition ist unklar, wahrscheinlich war es Liebeskummer. Der Messe fehlt ein Gloria, die Handschrift ist verschollen, wenn sie denn existiert hat. So ist die Messe Saties der Form nach nicht einmal eine missa brevis. Sie ist eine Armenmesse. Olivier Messiaen hat sie zuerst aufgeführt. Manchmal hört und sieht man Teile dieser Messe auf dem Theater. Es ist Zeit, sie einmal zu feiern.

    Öffentlicher Gottesdienst am 20. November 2022, 17.00 Uhr
    Schlosskirche Wittenberg

    Schola Cantorum Adam Rener
    Musikalische Leitung, Orgel: Sarah Herzer
    Orgel: Thomas Herzer
    Liturgie: Gabriele Metzner
    Liturgisch-szenische Einrichtung: Dietrich Sagert

    Der Spieltisch der Chororgel steht zwischen Kanzel und Lesepult. Mit etwas Abstand vor der Orgel steht ein Altartisch mit vorbereitetem Abendmahlsgerät. Zu Beginn des Gottesdienstes stehen die Sängerinnen und Sänger des Chores unter der Orgelempore im Rücken der Gemeinde und singen die erste und zweite Strophe des Liedes „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ im Satz von Johann Sebastian Bach (BWV 140).

    Anschließend spricht die Liturgin der Gemeinde zugewandt hinter dem Altartisch stehend im Wechsel mit der Gemeinde den Eingang der Vesper (EG) und begrüßt die Anwesenden.
    Die Gemeinde singt das Lied „Bleib bei uns Herr“ (EG 488). Während des Liedes gehen die Sängerinnen und Sänger auf den Seitengängen nach vorn und nehmen rechts und links neben dem Altartisch Aufstellung in versetzt schräger Position zum Hochaltar blickend. Die Männerstimmen auf der zum Altar blickend linken Seite, die Frauen auf der entsprechend rechten Seite. Die Organistin besetzt die kleine Orgel und leitet von dort aus den Chor.

    Begleitet von beiden Orgeln wird das Kyrie (Nr. 1) und das Dixit Dominus (Nr.2, Ps. 110) aus der Messe des Pauvres von Erik Satie (1866-1925) gesungen.
    Während das von der Liturgin im Chor stehend gesprochenen Tagesgebet und daran anschließenden dem Prière des Orgues (Gebet der Orgeln) aus der Messe des Pauvres (Nr. 3) bleibt der Chor betend in dieser Position.
    Anschließend stellt sich die Liturgin zur Lesung hinter den Altartisch und der Chor dreht sich zur Gemeinde. Die Lesung (Mt 25,1-13) wird von der Lektorin ohne Mikrophon Vers für Vers gelesen und vom Chor verstärkend gemeinsam gesprochen wiederholt.
    In dieser Position wird mit der Gemeinde gemeinsam das Glaubensbekenntnis gesprochen.
    Während des folgenden Gemeindeliedes „Herr, du wollest uns bereiten“ (EG 220) geht der Chor über die Seiten rechts und links ab und setzt sich verteilt unter die Gemeinde. Auch die Organistin verlässt die Chororgel.

    Die Liturgin beginnt hinter dem Altartisch stehend mit der Abendmahlsliturgie. Die Gemeinde erhebt sich. Nach dem Präfationsgebet und dem mit der Gemeinde zusammen gesungenen Sanctus folgt das Vaterunser. Die Einsetzungsworte werden vom in der Gemeinde stehenden Chor und den ggf. einstimmenden Gemeindegliedern mitgesprochen.
    Die Austeilung erfolgt als Wandelabendmahl vom Mittelgang aus rechts und links vom Altartisch und auf den Seiten zurück. Während der Austeilung erklingt das Andante aus den Trois Mouvements pour Flute und Piano von Jehan Alain (1911-1940) und die Gymnopédie Nr. 1 von Erik Satie auf der großen Orgel.
    Die Gemeinde erhebt sich zum anschließenden Dank- und Fürbittengebet. Es wird das Lied „Im Frieden dein, o Herre mein“ (EG 222) gesungen. Während des Liedes versammelt sich der Chor unter der Empore.

    Liturgin, Gemeinde und Chor sprechen gemeinsam den Segen.
    Zum Abschluss erklingt das „Gloria sei dir gesungen“ aus „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (BWV 140) vom Chor gesungen.

  • Ewigkeit: Offene Zeit

    Ewigkeit: Offene Zeit

    In der Morgendämmerung des vergangenen Jahrhunderts fuhr ein feuerköpfiger junger Mann durch die Straßen von Paris. Meist trug er einen schwarzen Hut und hatte die Hosen in die Strümpfe gesteckt. Denn er fuhr nicht irgendwie: Er fuhr Fahrrad. Eines jener stilsicher einfachen Rennräder, die man auf alten Fotos sieht. Sie sind heute wieder angesagt.

    Der feuerköpfige Radfahrer fuhr allerdings nicht nur Rad, um sich fortzubewegen. Seine Gedanken bewegten sich mit. Das Fahrrad wurde ihm zur Denkmaschine, genauer gesagt wurde es ihm zum Modell einer „Maschine zur Erforschung der Zeit“.

    „Die Maschine besteht aus einem Edelholzrahmen, analog zu dem Rahmen eines Fahrrades. Die Ebenholzstangen sind durch miteinander verlötete Kupferbeschläge zusammengefügt. Die drei Rundstäbe in den drei waagerechten Ebenen des euklidischen Raumes sind aus kupferbeschlagenem Ebenholz, in Richtung ihrer Achsen auf ein Gestänge aus spiralförmig gewickeltem Quarzblech montiert, und die äußersten Glieder drehen sich in Quarzmuffen…“1

    Der Erfinder dieser Maschine zur Erforschung der Zeit heißt Alfred Jarry. Bekannt ist der Protodadaist vor allem wegen seines Theaterstückes „König Ubu“ (1896), das von einem grotesk skrupellosen Diktator handelt und dessen Uraufführung zum Skandal geriet.

    Seiner Beschreibung und Theorie der Maschine fügt Jarry schließlich folgendes hinzu und setzt uns damit auf die Spur dessen, was wir Ewigkeit zu nennen die Angewohnheit haben:

    „Es muss noch gesagt werden, dass es für die Maschine zwei Vergangenheiten gibt: die Vergangenheit, die vor unserer Gegenwart liegt oder die reale Vergangenheit, und die von der Maschine konstruierte Vergangenheit, wenn sie zu unserer Gegenwart zurückkommt, und die nichts anderes als die Umkehrbarkeit der Zukunft ist. Ebenso kommt die Maschine, da sie die reale Vergangenheit nur auf dem Wege über die Zukunft erreichen kann, durch einen unserer Gegenwart symmetrischen Punkt, einen toten Punkt, wie jener zwischen Zukunft und Vergangenheit, den man richtiger Weise imaginäre Gegenwart nennen müsste.“2

    Um diese Beobachtung genauer zu beschreiben, nimmt Jarry das Beispiel eines Apfels. Läuft die Maschine zur Erforschung der Zeit, so ist sie „immer auf die Zukunft gerichtet“. „Die Zukunft ist die normale Abfolge der Phänomene: ein Apfel hängt am Baum; er wird fallen; die Vergangenheit ist eine Umgekehrte Abfolge: der Apfel fällt – vom Baum. Die Gegenwart ist gleich null. Sie ist ein kleiner Bruchteil eines Phänomens.“3

    Das bedeutet im Umkehrschluss: „Die Fahrt in die Vergangenheit besteht in der Wahrnehmung der Umkehrbarkeit der Phänomene. Man wird den Apfel wieder von der Erde auf den Baum springen […] sehen.“4

    Diese Wahrnehmung betrifft jedoch nur die Abfolge der Phänomene bzw. die ihrer „visuelle[n] Aspekte“, die „der Raum bewahrt hat“.5  Jarry geht es jedoch nicht um die Phänomene, sondern um die Umkehrung der Zeit selbst.

    Der französische Philosoph Gilles Deleuze entdeckt in Alfred Jarry „ein[en] verkannte[n] Vorläufer Heideggers“. Dazu liest Deleuze Jarry und Heidegger und ihr Verhältnis zur Metaphysik, zur Technik und zur Sprache vergleichend. In Bezug auf die Zeit und ihre Umkehrung führt ihn das zu folgender Analyse, die für unseren Zusammenhang entscheidend ist:

    „Die Abfolge der drei Stasen Gewesenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges weicht der Ko-Präsenz oder Simultaneität der drei Ekstasen, nämlich des Seins des Gewesenen, des Seins des Gegenwärtigen und des Seins des Zukünftigen. Die Gegenwart ist das Sein des Gegenwärtigen, aber auch das Sein des Vergangenen und des Zukünftigen; Die Aethernitas bezeichnet nichts Ewiges, sondern die Gabe oder die Aussonderung der Zeit, die Verzeitlichung der Zeit, wie sie sich gleichzeitig in den drei Dimensionen herstellt (Zeitraum). Daher beginnt die Maschine mit der Verwandlung der Sukzession in Simultaneität, bevor sie zur letzten ‚Umkehr‘-Transformation gelangt, wenn sich das Sein der Zeit insgesamt in Möglich-Sein, in Seinsmöglichkeit als Zukunft verwandelt. Jarry erinnert sich vielleicht seines Lehrers Bergson, wenn er das Thema der Dauer aufgreift, die er zunächst durch eine Unbeweglichkeit in der zeitlichen Abfolge (Bewahrung des Vergangenen) definiert, dann als Erforschung des Zukünftigen oder als eine Öffnung der Zukunft: ‚Die Dauer ist die Umwandlung von Abfolge in Umkehr, das heißt: das Werden eines Gedächtnisses‘.“6

    Von hier aus verstanden wäre mit der christlichen Ewigkeit nicht irgendeine jenseitige Zeit von unendlicher Dauer gemeint, sondern die Öffnung der Zeit in ein Zukünftiges als Möglichkeit und dies aufgrund einer Umkehr. In Deleuzes Lektüre von Jarry bedeutet dies die Möglichkeit eines „stets zu-kommenden Denkens“7.

    Sind Ewigkeit und Advent etwa dasselbe?

  • Vom Rande her

    Vom Rande her

    Als Martin Luther im Jahre 1523 in Wittenberg das Fronleichnamsfest abschaffte, tat er vor allem Zweierlei. Das Eine ist die Umgestaltung der gottesdienstlichen Praxis im Sinne der Reformation wie sie pragmatisch in der Formula missae et communionis pro ecclesia Vuittembergensi zum Ausdruck kommt und darin ihren Ausgang nimmt.

    Es sollten vor allem die mittelalterlichen Fehlentwicklungen der Eucharistie auf ihre biblischen Ursprünge hin korrigiert werden. Dabei ging Luther nicht nur mit der in seinen Invokavit-Predigten von 1522 grundgelegten Rücksicht auf unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten vor. Er flankierte diese praktische Gestaltungsaufgabe mit der Übersetzung der maßgeblichen Quellentexte, nämlich der Bibel. Die Übersetzung des Neuen Testamentes hatte er aus der Einsamkeit der Wartburg bereits zu Invokavit nach Wittenberg mitgebracht. Sie erschien als „Septembertestament“.  Noch im Sommer begann Luther die Übersetzung des Alten Testaments, nun nicht mehr allein, sondern im direkten Austausch mit seinen Fachkollegen und auch mit Cranach, der nicht nur große und kleine Holzschnitte schuf, sondern Teile auch druckte in seiner Druckerei am Markt 4. So erschienen mit den Fünf Büchern Moses, den Historischen Büchern, dem Psalter, dem Hohelied und dem Buch Hiob in den Jahren 1522-24 drei Viertel der Bibelübersetzung.1

    In diesen Schaffenskontext gehört die liturgische Umgestaltung, bei der Martin Luther eine Feinfühligkeit zeigt, die zum Schönsten gehört, was die Reformation hervorgebracht hat.

    In Blick auf Fronleichnam und das Abendmahl greift er auf „ein volkssprachliches Kirchenlied des späten Mittelalters“ zurück und bearbeitet es auf eine Art, die „das besondere Abendmahlsprofil, das er dem abgeschafften Fest entgegensetzen wollte, auf beste“ zeigt. „Das Lied, dessen älteste Quelle aus der 2. Hälfte des 14. J[ahr]h[underts] stammen, ist ursprünglich – dafür spricht auch die musikalische Verwandtschaft – ein volkssprachlicher Leis zur Fronleichnamssequenz Lauda Sion salvatorem. Während die Sequenz vom Chor gesungen wurde, sang das Volk zwischen den lateinischen Strophen den refrainartigen Leis.“2

    Luther geht in seiner Bearbeitung von der Fassung aus, die aus zwei Leisen besteht. Er nimmt also zwei Strophen, die jeweils mit dem Refrain ‚Kyrieleis‘ schließen und verbindet sie zu einer Strophe, der ersten eines neuen Abendmahlsliedes. „Bei dieser Bearbeitung entfallen drei Verse der mittelalterlichen Vorlage, die dem Reformator aus formalen wie auch aus theologischen Gründen überflüssig zu sein schienen.“ Wie er in der formula missae et communionis schreibt, missfällt Luther an den von ihm gestrichenen Partien „die Akzentuierung der Eucharistie als Sterbesakrament, das die Pfaffen als gutes Werk verwalten, mit dem man ohne Glauben das ewige Leben erlangen kann, auch wenn man das Sakrament zu Lebzeiten geringgeachtet hat“. „Ohne diesen missliebigen Zusatz ist ihm das mittelalterliche Lied jedoch das reinste Zeugnis wahren Abendmahlsverständnisses.“3

    Diese Bearbeitung hat Luther nun mit zwei weiteren Strophen aus eigener Feder vervollständigt und erstmals in Johann Walters Gesangbüchlein von 1524 veröffentlicht. Es hat bis heute seinen Platz im evangelischen Gesangbuch (EG 214) und findet sich auch im katholischen Gotteslob, seit 1975 sogar mit Nennung von Luthers Namen.4

    In dem sogenannten „Babstschen Gesangbuch“ von 1545 hat Luther diesem Abendmahlslied „Gott sei gelobet und gebenedeiet“ noch ein Gebet hinzugefügt. Dieses Gebet ist Luthers deutsche Fassung der Oration aus der alten Fronleichnamsliturgie. „Es sind nur zwei Wortpartikel, in denen Luther die lateinische Vorlage verändert. Dem ‚gedenken‘ wird ein ‚und predigen‘ hinzugefügt und statt ‚venerari / verehren‘ heisst es ‚brauchen‘.“5
    Die letzte der beiden Veränderungen führen uns zum zweiten Teil des Tuns Luthers bei der Abschaffung des Fronleichnamsfestes 1523 in Wittenberg.

    Fronleichnam wurde im Jahre 1264 von Papst Urban IV. als Fest eingesetzt. Es ging auf Visionen der Juliana von Lüttich zurück, in denen sie sah, das der Kirche ein Fest zu Verehrung des Altarsakramentes fehle. „Das tiefer liegende Motiv war jedoch die große Verehrung, des eucharistischen Brotes im späten Mittelalter. Aus dem alten christliche Brauch, einige geweihte Hostien zur Verwendung in der Zeit zwischen den Messen aufzuheben (z.B. als Sterbekommunion), entstanden ausgeklügelte Formen des Hostienkults. […] Mit dem zunächst in Deutschland beheimateten Brauch, die Hostie während des Gottesdienstes auszusetzen, wurde das heilige Brot noch mehr aus der eigentlichen Kommunion herausgelöst und als eigenständiges sakrales Objekt betrachtet. […] Bei der Wandlung hochgehoben, damit jedem der ‚erlösende Anblick‘ zuteilwerden konnte, wurde das heilige Brot nicht verzehrt, sondern vor allem verehrt. Der Anblick der Hostie während der Wandlung drängte ihren Verzehr so sehr in den Hintergrund, dass die ‚Augenkommunion‘ (manducatio per visem, ‚das Kauen mit den Augen‘) von manchen Kirchenmännern für genauso heilswirksam betrachtet wurde, wie der Verzehr. Ja, man konnte seine Verehrung des Altarsakraments gerade dadurch bekunden, dass man die Kommunion nicht oder nur selten empfing (ab 1215 erhielten die Laien die Kommunion nur einmal im Jahr).“6

    Luthers theologische Argumentation angesichts dieser Tradition (ihrer Auswüchse sowieso), ist klar: Nach der Schrift ist das Abendmahl zum usus bestimmt, nicht zur visio.  Sieht man jedoch die mit der visio verbundene Praxis genauer an, muss man erkennen, was Luther mit der Abschaffung von Fronleichnam und der Rückführung des Abendmahles auf seine biblischen Ursprünge als Praxis und damit als Erfahrung aber eben mit abschaffte:

    „Anders als das mit Zulassungsbedingungen und Sanktionen belegte Essen, bot der Fernsinn des Sehens jedermann einen freien Zugang zum Mysterium. Aus der gebotenen Distanz konnte jeder partizipieren an der Präsenz. Die einzuverleiben er sich scheute oder ihm versagt war. Dass der Gesichtssinn als der geistigste der fünf Sinne galt, konnte im Frömmigkeitshaushalt des Laienvolkes den Verzicht aufs Verzehren kompensieren. Vor der magischen Faszination des bloßen Blicks sollten die Gebete zur Elevation die Christenmenschen bewahren.“9

    Mit anderen Worten und geöffnetem Kontext: „Wie Museumsbesucher durch strukturierte Räume und Tableaus ihre Bahnen ziehen, so nehmen auch die an der Messe teilnehmenden Laien, ausgeschlossen von der Produktion des Heiligen, mit der Peripherie vorlieb. […] Dem direkten Konsum entzogen, tauchte das Heilige im Zuge einer bricolage verstohlener Blicke und phantasievoller Simulationen wieder auf. […] Was die einfachen Gläubigen mit der Messe anfingen – ihre ausgeklügelten individuellen und gemeinschaftlichen Repräsentationen am Rande des liturgischen Geschehens –, war an den Standards gemessen nicht weniger wirkungsmächtig oder zentral als die priesterlichen Handlungen.“10

    Diese skizzierte Analyse wäre lediglich von historischem Interesse, würde sich nicht heute durch die stark bildgestützten digitalen Medien und die Versuche, sie für die Übertragung gottesdienstlicher Formen zu nutzen, die Fragen nach ihrer Praxis und Gestaltung erneut stellen.

    Was ist das Anschauen eines Gottesdienstes im Fernsehen oder via Zoom anderes als eine Praxis der visio, besonders in Bezug auf das Abendmahl? Die Differenzen sind offensichtlich: Eine Monstranz ist kein Bildschirm, zumindest ist der technische Abstand zwischen beiden, wenn man sie denn beide als Bildhalter verstehen will, beträchtlich. Auf das Gezeigte – also zu Sehende – konzentriert ist ihr Unterschied unüberbrückbar. So ist die Hostie ein Bild, das über Unähnlichkeit funktioniert: „Was ist eine Hostie? Eine Hostie ist zugleich Zeichen und Präsenz des Leibes Christi. Und doch ist die Hostie nur eine weiße Fläche ohne ‚Figur‘, d.h. ohne irgendeine Ähnlichkeit mit dem, dessen Zeichen und Präsenz sie ist. So als erforderte das Element der Präsenz in gewisser Weise die Nicht-Ähnlichkeit von Zeichen und Referent.“11  Das Fernsehbild jedoch funktioniert über Ähnlichkeit und Identifikation, was eine große Frage an die aktuelle Bildpraxis der Kirchen stellt.12

    Aber dieser gravierenden Unterschiede ungeachtet bleibt die tatsächliche Praxis dennoch das Sehen: visio. Solches Sehen als konkrete liturgische Praxis hatte in seinem Vollzug jedoch eine Besonderheit entwickelt. Es suchte sich sein Praxisfeld „am Rande des liturgischen Geschehens“ und vollzog somit eine „Dezentrierung des Sehens“13, was heute eher Seherfahrungen in Museen entspricht und wiederum „eine Eigenschaft der visuellem Erfahrung allgemein“14  verstärkt.

    „Studien mit Eyetrackern haben gezeigt, dass ein Auge, das unbeweglich gehalten wird oder dem man ein Bild zeigt, das sich zum Auge synchron bewegt, nichts sieht. Im Moment der Aufmerksamkeit leer, taucht mit Verzögerung ein Bild Im Geist auf, das das Auge bereits hinter sich gelassen hat. Auch Kunsthistoriker bekunden eine merkwürdige Blindheit sowohl gegenüber der Physiologie des ruhelosen Blicks als auch gegenüber der den Ablenkungen, die mit dem realen Erleben ihrer Objekte verbunden sind.“15

    Setzt man nun diese Seherfahrung mit dem streng zentralisierten und identifikationsdominanten Sehmodus der heutigen technischen Medien ins Verhältnis, so erkennt man ihre Unzulänglichkeit für den liturgischen Gebrauch. Die Aufgabe bestünde darin, das Sehen auf für zentrales Sehen konstruierte technische Medien (Bildschirme) zu dezentralisieren.

    Das kann dadurch geschehen, dass man der wiedergewonnenen visio den ihr zugehörigen usus hinzufügt, indem man das starre, auf den blinkenden Bildschirm Glotzen unterbricht und nebenbei das tut, was liturgisch zum usus dazu gehört nur eben übersetzt ins eigene Tun. Die Bestandteile dieses Tuns sind die der klassischen Liturgie, Bereitung der Gaben und Rezitieren der Einsetzungsworte, Essen und Trinken. Wie sie genau zu tun sind, so, dass sie jeder vor dem Bildschirm „machen“ kann und sie doch eine Verbindung zu dem haben, wie es die Pfarrerin in der Kirche tut, ist behutsam zu erfinden, so dass visio und usus nicht (wieder) auseinanderfallen, also vom Rande her.

    Das würde übrigens auch eine leichte Verschiebung dessen bedeuten, was man Liturgie zu nennen die Angewohnheit hat, vom Finanzieren und Organisieren des Dienstes am Volk bei den alten Griechen über die sakramentale Verwaltung als Dienst am Volk durch wie auch immer definierte Kleriker hin zu einem Tun, bei dem das Volk mittun kann, weil es mit seinen alltäglichen Vollzügen in Verbindung steht, mit dem, was man sowieso macht.16

  • Was ist Liturgie?

    Was ist Liturgie?

    Liturgie ist vor allem Tun und könnte zentral für die kirchenjahreszeitliche Trinitatiszeit, die Lebenszeit sein. Liturgie ist alles Tun insofern sich in ihm eine Öffnung oder Verbindung zu einer gemeinschaftlichen Öffentlichkeit herstellen lässt (Dienst fürs Volk, oder auch: Dienst am Volk).

    Das beginnt mit dem Körper und meint zunächst einmal unsere alltäglichen körperlichen Vollzüge, die dann zu Lebenszusammenhängen werden: Atmen, Essen, Lieben, also in Beziehungen treten … Und es schließt alles ein, was sich auf einer Bühne, in der Öffentlichkeit zeigen lässt. Dafür hat die griechische Tragödie Formen gefunden.

    Das Christentum hat diese Formen verschiedentlich geschrumpft, ritualisiert, in Formeln verdichtet.1 Dieses Vorgehen birgt die Gefahr des Abschließens und folgenden Verkümmerns in Verwaltung. Denn das Entscheidende bleibt die Offenheit der Formen – sie müssen also geöffnet oder zumindest aufschließbar bleiben für ihre Drift in etwas, das man das Offene nennen kann.

    Das meint Öffentlichkeit in einem weiteren, wiederum geöffneten Sinne:

    „Ich werde mit euch von Gott sprechen, ja, aber zuerst werde ich vom Himmel sprechen und ihr begreift warum. Denn wenn es Gott gibt, ist er natürlich im Himmel. […]
    Es gibt die Erde, es gibt das, was wir auf dem Horizont stehen sehen, und es gibt das, was darüber ist. Der Himmel erscheint weit weg, in der Entfernung, hoch, durchsichtig, durchscheinend, fast immateriell. Wenn ihr wollt, so würde ich sagen, der Himmel ist die Seite des Offenen. Er ist die Dimension der Öffnung. Wenn man hingegen die Erde vor uns anschaut, dann ist immer alles geschlossen. Alles hört immer in einer gewissen Entfernung auf. […]
    Mit dem Himmel also und mit dem Göttlichen als dem, was im Himmel ist, damit ist […] etwas gemeint, das nirgendwo wäre, an keinem Ort – und damit zugleich überall. Etwas – falls man überhaupt ‚etwas‘ oder ‚jemand‘ sagen kann –, das oder der oder die nirgendwo und überall wäre. […]
    Was die Religion in [ihrer] Form sagt, kann man, allgemeiner gesprochen, wohl auch dann verstehen, wenn man außerhalb der Religion steht. Ich rede völlig außerhalb jeder Religion zu euch. Man kann es anders verstehen. Letztlich spricht man, wenn man von Gott spricht, von diesem Namen, der wie ein Eigenname ist und dennoch kein Eigenname ist. Er ist kein Eigenname, weil er nicht jemanden bezeichnet, der irgendwo wäre und seine Eigentümlichkeiten hätte, so wie Célestin Müller seine Eigentümlichkeiten hat. Sondern Gott bezeichnet die Möglichkeit, dass es für uns, allesamt und kollektiv, aber auch für jeden einzeln und individuell einen Bezug zu diesem Nirgendwo und Überall gibt. Gott oder das Göttliche oder das Himmlische würde somit die Tatsache bezeichnen, dass ich im Bezug bin – aber nicht zu einer Sache: Vielmehr bin ich im Bezug zu der Tatsache, dass ich mich in eben diesem Bezug zum Nirgendwo und Überall nicht an diejenigen Bezüge halte, die ich zu allen Sachen der Welt habe, ja nicht einmal an diejenigen, die ich zu allen Wesen der Welt habe. Sondern dass es etwas anderes gibt, und das würde ich hier ‚die Öffnung‘ nennen: denn es macht, dass ich offen bin, dass wir, als Menschen, offen sind auf mehr als darauf, in der Welt zu sein und Dinge zu nehmen, Dinge zu handhaben. […]
    Was ist dies andere? Diese andere, davon haben wir nichtsdestoweniger eine kleine Vorstellung, eine Ahnung, eine leise Empfindung. Zum Beispiel, wenn wir wissen, was es heißt, sehr große Freuden oder großen Kummer zu verspüren, Liebe zu empfinden, oder, nun vielleiht würde ich nicht sagen ‚Hass‘, aber zumindest Unliebe, Nicht-Mögen. In solchen Verfassungen, wenn wir fühlen, dass es etwas Unermessliches, etwas Unendliches gibt, etwas, dass ich auch nicht einfach irgendwohin tun kann, wenn ich also Freude oder Leid verspüre, Liebe oder Hass, Kraft oder Schwäche, dann gibt es in allem etwas, das unendlich übersteigt, was ich bin, was ich zugleich mit meiner Person, meiner Persönlichkeit, meinen Mitteln bin, mit meiner Situiertheit, mit meiner Art und Weise, an irgendeinem Ort der Welt zu sein. In all dem gibt es Öffnung. Und der Gott der drei monotheistischen Religionen und alle anderen Götter ebenfalls, der Gott stellt nichts anderes dar als das. […]
    Warum soll man ihn Gott nennen? Warum haben die Religionen dieses Wort ‚Gott‘ verwendet? Warum kann man sogar außerhalb der Religionen gar nicht so einfach darauf verzichten, Gott auf die eine oder andere Weise zu benennen? Weil sich dies, weil sich diese Dimension der Öffnung und des Übersteigens nicht einfach mit […] abstrakten Namen benennen lässt. Es genügt nicht, sie Liebe, Freude, Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit zu nennen. Denn man muss sich an diese Dimension wenden können, man muss sie anreden, sich auf sie beziehen können. Und warum soll man sie anreden, sich auf sie beziehen? Um ihr treu zu sein.
    Was heißt denn das, so sehr man es irgend vermag, man selbst zu sein, und folglich, so sehr man es irgend vermag, Mensch zu sein? Heißt es nicht genau, diesem unendlichen Übersteigen des Menschen durch den Menschen, oder dieser Öffnung treu zu sein? Dem Himmel treu zu sein […]. Diese Treue kann sich begreiflicherweise als die Treue zu jemandem zeigen […]. Der religiöse Name dieser Treue ist das Wort ‚Glaube‘. […] Der Glaube ist der Bezug der Treue. […]  
    Man kann [also] zumindest sagen: Der Name Gottes und der Name des Gottes als das, was das Himmlische wäre, birgt zumindest den Hinweis auf die Möglichkeit oder vielleicht die Notwendigkeit, treu zu sein. Es ist die Treue, die ohne irgendein Element von Wissen oder Halbwissen […] dem treu ist, was ich hier die Öffnung genannt habe. Und ohne die wären wir vielleicht nicht einmal Menschen, sondern einfach Dinge unter Dingen, innerhalb der um sich selbst geschlossenen Welt.“2

    Nun ist Liturgie aber auch Tun mit Worten. Diese Worte haben eine Besonderheit. Sie besteht darin, dass sie nicht nur Worte sind:

    „Nicht das Wort Versöhnung, sondern das Wort der Versöhnung, also das Wort zur Versöhnung; das Wort, mit dem man die Versöhnung einleitet; das Wort, mit dem man Versöhnung anbietet, indem man als erster die Hand ausstreckt. Das Wort der Versöhnung ist also der Akt, der Sprechakt, durch den man mittels eines Wortes, indem man spricht, mit einem gesprochenen Wort die Versöhnung einleitet, sie anbietet, indem man sich an einen anderen wendet. Das bedeutet zumindest, dass vor diesem Wort Krieg und Leid geherrscht haben müssen, Traumatisierung und Verwundung.
    Das heißt, nach dem gesunden Menschenverstand unwiderlegbar, dass nur ein Lebender verletzt werden kann, eine Verletzung empfangen und empfinden kann, auch wenn die Verletzung tödlich ist, die er oder sie erleidet. Eine Verletzung, die absehbar zum Tode führen wird.
    Also: Verletzung, Schlag, Wunde, Traumatisierung, Riss, Schnitt, Schürfung, Kratzer Verstümmlung, Einschnitt, Herausschneiden, Beschneidung, jede erdenkliche Verletzung, wenn sie ein lebendes Gewebe trifft, hinterlässt, zumindest für eine Zeit lang, eine Narbe.
    Und selbst wenn Verletzung eine biologische Chiffre für ein psychisches Leiden sein sollte, oder ein moralisches, spirituelles Phantasma, so machen Versöhnung und Vergebung doch nur dort einen Sinn, wo diese Verletzung etwas hinterlassen hat: eine Erinnerung, eine Spur. Also eine Narbe, die zu heilen wäre, oder zu lindern, zu denken.“3

    Der terminus technicus für solches Tun mit Worten ist effectus4.

    Liturgie ist öffentliches öffnendes Tun, Praxis des Offenen. Ihre körperliche Zuspitzung kommt in der Formel: hoc est corpus meum zugleich grundlegend und paradigmatisch zum Ausdruck.

    „Das Interesse am Denken der Körper als einem hoc est corpus meum besteht darin, sich ihrer Realität in Nähe und Empfindsamkeit (sensibilité) zuzuwenden, denn nur dort kann sich Sinn (sens) erheben. Nun entwickeln aber heute die Gegenwarten von Milliarden von Körpern, die den Planeten bevölkern, durch medial erzeugte Nähe eine zunehmende Dichte und Intensität. Und das ist nicht in einem spektakulären und entwirklichenden Sinne des ‚Bildes‘ (image) gemeint. Im Gegenteil, es handelt sich dabei um eine Hyperbel des Reellen. Ich sehe jeden Tag aufständische Massen, polizeiliche Repressionen, Flüchtlingslager oder im Meer treibende Körper, Opfer von Attentaten oder von Kampfhandlungen, die weder militärisch noch zivil, sondern vor allem Folgen von Auseinandersetzungen mit schweren Waffen sind. Und ich sehe Hungernde, Kranke, Verfolgte, von ihren Territorien und von ihren Existenzmöglichkeiten Verjagte… Ja man kann sagen, dass das Wort ‚Was ihr einem meiner Geringsten unter euch getan habt, das habt ihr mir getan‘ auf eine sehr befremdliche Weise widerhallt. Aber wer ist noch verbunden mit dem, der da spricht? Christus ist fast keine Figur mehr und noch weniger eine Gegenwart, die hindurchscheinen würde durch die realen Figuren der Unglücklichen. Eine einzige Sache schein hindurch: eine grenzenlose und nicht zurückdrängbare Gewalt. Eine rasend-wütende Behauptung von Macht, die den Gebrauch von Mitteln einer grauenvollen Macht schürt oder sogar heraufbeschwört.“5

    Angesichts dieser Öffnung körperlicher Intimität auf öffentliche körperliche Praxis hin, kommt Liturgie als öffnendem Tun wiederum eine zeigende, zu sehen gebende Aufgabe zu:

    „Jesus hatte kein Wissen über Gott: Er zeigt nur die Kleinen, die Armen, die Ehebrecherinnen, die Prostituierten, die Arbeiter der elften Stunde, die verlorenen Söhne, die Lilien auf dem Felde… Das alles erscheint manieriert, süßlich, zu freundlich, um glaubwürdig zu sein. Dennoch sind es die Wege, den Hochmut, den Willen, die Absicherung abzulegen…“6

  • Dramaturgische Homiletik in fünf Szenen nach Motiven von Paulus, Pasolini, Taubes, Müller u.a.

    Dramaturgische Homiletik in fünf Szenen nach Motiven von Paulus, Pasolini, Taubes, Müller u.a.


     
    I.
    PAULUS: Ich spreche zu Menschen, die mir unbekannt sind. Das Ende tritt nicht ein. Niemand erbarmt sich unser.
    Paulus weint
    ENGEL: Warum weinen Sie? Sind Sie barmherziger als Gott?
    PAULUS: Weshalb sind wir geboren worden?
    Eine Zeit vergeht
    ENGEL: Warum weinst du? Bist du barmherziger als Gott?
    PAULUS: Wäre es besser für uns, wenn wir nicht geboren wären, wir alle, die wir Sünder sind?
    Projektion des hingerichteten Pier Paolo Pasolini. Laute Autogeräusche. Wild umher leuchtende Autoscheinwerfer
    STIMME: Warum verfolgst du mich?
    Dunkel
    PAULUS: Wer bist du?
    STIMME: Ich war Jesus, den Du verfolgst.
    PAULUS: Wer bist du?
    STIMME: Fass mich nicht an!
    Licht. Eine Zeit vergeht
    ENGEL: Sind Sie Paulus?
    PAULUS: Ja, aber das Rezept ist auf Jacob Taubes ausgestellt.
    Musik
     
    II.
    PAULUS: Ich war Paulus aus Tarsus in Zilizien, beschnitten am achten Tag, aus dem Volk Israel vom Stamme Benjamin, hebräischer Sohn von Hebräern, ausgesondert als Pharisäer nach dem jüdischen Gesetz, zum Schutz des Gesetzes vor den Nichtjuden.
    ENGEL: Du bist Paulus?
    PAULUS: Ich habe mit großem Eifer bei Gamaliel studiert. Ich habe Männer und Frauen verfolgt, gefesselt und in Gefängnisse eingeliefert, gesteinigt und töten lassen… Im lo ak shaf e matai…
    ENGEL: Du bist Paulus?
    PAULUS: Ich bin Zeltmacher von Beruf und Bürger Roms.
    ENGEL: Du bist Paulus?
    PAULUS: Ich habe Kallimachos gelesen und Euripides: Helena vor allem, über die Auferstehung, Anastasis …
    ENGEL: Du bist also Paulus?
    PAULUS: Mit meiner Identität ist es ganz einfach: Ich habe einen Pass der derzeit militärisch stärksten Nation der Welt. Ich habe aschblondes Haar und trage keinen Bart mehr, seit ich von der Universität zurück bin.
    ENGEL: Deine sehr leise Stimme klingt rebellisch bei einigen Konsonanten.
    Projektion des hingerichteten Pier Paolo Pasolini. Laute Autogeräusche. Wild umher leuchtende Autoscheinwerfer
    Dunkel
    STIMME: Wer bist du?
    Licht
    PAULUS: Paulus servus Jesu Christi, vocatus apostolus, segregatus in evangelium Dei.
    ENGEL: Das ist aber nicht Griechisch!
    PAULUS: Nein: Paulos doulos christou iesou, kletos apostolos aphorismenos eis euangellion theou.
    ENGEL: Das ist doch nicht Griechisch, das ist Jiddisch!
    PAULUS: Ja eben, darum versteh ich‘s ja auch: Paulus Sklave des Jesus Messias, berufen zum Apostel, ausgesondert für das Evangelium Gottes. Ouk eimi hikanós kaleísthai apostólos – ich bin nicht wert, Apostel genannt zu werden, also besser: Paulus, zum Sklaven des Messias Jesus berufen, als Apostel ausgesondert für die Verkündigung Gottes.
    ENGEL: Du bist also Paulus?
    PAULUS: eláchistos, der Kleinste, der Geringste, ja. Ich werde Paulus gerufen, aber ich bin es nur, wie man sein Spitzname ist. Ich bin der ich bin, der Kleinste.
    ENGEL: Du bist ein Narr.
    Musik
     
    III.
    PAULUS: Ich bin Paulus, aber ich kannte die anderen nicht … Oft geschieht es, dass ich mich nach vorn werfe, wie das Meer auf den Strand. Aber ich kann es noch nicht. Ich werfe mich nach vorn. Komme zurück und werfe mich von neuem vor. Meine Anstrengung wächst. Zeit ist Frist, aber das Ende tritt nicht ein …
    Projektion des hingerichteten Pier Paolo Pasolini. Laute Autogeräusche. Wild umher leuchtende Autoscheinwerfer
    Dunkel
    STIMME: Wer bist du?
    PAULUS: Wo bist du?
    STIMME: Ist das die Sprache, in der Wahnsinn, Skandal und Schwäche an die Stelle der erkennenden Vernunft treten?
    PAULUS: Wo bist du? Die Welt ist nicht untergegangen.
    STIMME: Ist das die Sprache, in der Wahnsinn, Skandal und Schwäche an die Stelle von Ordnung und Macht treten?
    PAULUS Wo bist du? Die Welt ist nicht untergegangen. Vorausgesetzt, dies hier ist keine andere Welt.
    STIMME: Ist das die Sprache, in der das Nichtsein die einzig glaubhafte Bestätigung des Seins ist?
    PAULUS: Ich bin nicht Paulus. Ich spiele keine Rolle mehr. Ich spiele nicht mehr mit.
    Licht
    Eine Zeit vergeht
     
    IV.
    PAULUS: Ich war Paulus, den Griechen ein Grieche, den Juden ein Jude, den Schwachen ein Schwacher. Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus in mir: Da ist nicht mehr Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau. Ich bin allen alles geworden: hoc est enim corpus meum.
    ENGEL: Eine Kraft des Vergangenen, moderner als die modernsten.
    Plötzlich Sturm, Brandung, Lärm
    PAULUS: Wer bist Du?
    STIMME: Ich war Jesus, den das Grab nicht behalten hat.
    PAULUS: Was?
    STIMME: Ich bin die Kraft des Vergangenen, moderner als die modernsten.
    Stille.
    Eine Zeit vergeht

     
    V.
    PAULUS: Ich war Paulus. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung. Der Morgen finde nicht mehr statt. Ich gehe auf die Straße, gekleidet in dein Blut. O löste dieses allzu feste Fleisch sich auf und schmölze weg in einen Tau!
    ENGEL: Willst du mein Herz essen?
    PAULUS: Ich wusste, dass du ein Schauspieler bist.
    ENGEL: Lass mich dein Herz essen, das meine Tränen weint.
    PAULUS: Etwas wie Heiterkeit breitet sich in mir aus.
    ENGEL: Eine Form die denkt. Ein Gedanke der formt.
    PAULUS: Er wird mir entgegen kommen mit meinem Gesicht aus Schnee.
    ENGEL: Auf deinen Lippen Schnee.
    Immer heller werdendes, gleißendes Licht, plötzlich Dunkel.

    Zuerst veröffentlicht in: Versteckt. Homiletische Miniaturen, Leipzig 2016.

  • Säkulare Liturgien

    Säkulare Liturgien

    Sollten nicht nur Gedanken, sondern auch Praktiken aus ihren angestammten, mitunter verknöcherten Gehäusen ausgewandert sein?

    Bei genaueren Hinsehen ließ sich etwas derartiges auf der kürzlich vergangenen Fußballeuropameisterschaft der Frauen in London beobachten. Neben dem, was immer zu diesem begeisternden, leidenschaftlichen und kämpferischen Wettbewerb und daran beteiligten Personen resp. Spielerinnen und Trainerinnen zu sagen wäre, stellt sich die Frage nach Praktiken, die dort vollzogen wurden und die man als säkular liturgisch bezeichnen kann. Sie hatten nicht nur eine große Wirkung. Sie lassen ihre originär liturgischen Herkünfte erkennen obwohl sie verwandelt sind.

    Worum geht es? Was sind demnach öffentlich verständliche und praktizierte liturgische Gesten und Vollzüge? Ich meine Vollzüge, die in aller Einfachheit doch Verbindungen erkennen lassen zu Vollzügen von denen sie ausgewandert sind, von denen sie sich aber unterscheiden.

    Direkt vor Beginn des Spiels knieten alle Spielerinnen auf dem Feld auf ihren Positionen auf einem Knie nieder. Diese einfache Praxis des Kniens, die der evangelischen liturgischen Praxis verloren gegangen ist, zeigt sich hier als körperliche Geste der Solidarität, Antirassismus und Fairplay auf eine denkbar natürliche und kraftvolle Art und Weise ohne Erklärungen übrigens. Könnte diese Geste zurück finden in kirchliche liturgische Zusammenhänge? Auf Großereignissen wie Kirchentagen etwa?

    Am Todestag des legendären Fußballspielers Uwe Seeler hielt das gesamte Stadion eine Schweigeminute ab. Auch hier ohne große Erklärungen. Zum Verständnis dieser kleinen Zeremonie, die ja in unterschiedlichen Kontexte verbreitet ist, wurde nichts erklärt, was ihr schnell etwas Pädagogisches bis hin zu etwas Erzwungenem angetragen hätte, sondern es erschien einfach ein großes Lichtbild des betrauerten Spielers mit den Lebensdaten auf den im Stadion verteilten Videotafeln.1

    In diese Beobachtungsreihe gehört auch das gemeinsame Singen der Nationalhymnen der jeweils gegeneinander spielenden Herkunftsländer der Mann- bzw. Frauschaften vor dem Spiel. Bei aller Emotionalität, Kraft und auch Verschiedenheit der Hymnen stellt sich hierbei jedoch ein Unterschied zu den beiden vorherigen Praktiken heraus. Er besteht in ihrem unweigerlichen Bezug zu Macht, Repräsentation und eben möglicherweise auch zu Gewalt.

    Im Anblick der im Fernsehen während des Singens eingeblendeten Frauenporträts fiel mir ein, dass es einen Moment lang kurz nach der Wende eine öffentliche Diskussion darüber gab, ob nicht die gemeinsame Nationalhymne des wiedervereinten Deutschland ein Festlied für Kinder sein könnte:

    Anmut sparet nicht noch Mühe,
    Leidenschaft nicht noch Verstand,
    dass ein gutes Deutschland blühe
    wie ein andres gutes Land,
    dass die Völker nicht erbleichen,
    wie vor einer Räuberin,
    sondern ihr Hände reichen
    uns wie andern Völkern hin.
     
    Und nicht über und nicht unter
    Andern Völkern woll‘n wir sein.
    Von der See bin zu den Alpen,
    von der Oder bis zum Rhein.
    Und weil wir dies Land verbessern,
    lieben und beschirmen wir’s.
    Und das liebste mag’s uns scheinen,
    so wie andern Völkern ihrs.2
     
    Dieses Lied ist von Bertolt Brecht gedichtet, von Hanns Eisler vertont und mir am eindrücklichsten in der Fassung des Komponisten und Theaterregisseurs Heiner Goebbels in seinem Musiktheaterprojekt „Eislermaterial“. Ein Livemitschnitt ist zu hören auf der gleichnamigen CD von 2002 mit dem Ensemble Modern, gesungen von Josef Bierbichler. Zu seiner Wahl des Schauspielers als Sänger sagt Heiner Goebbels und weist in unserem Zusammenhang auf ein Kriterium:

    „Er ist zwar ein Schauspieler, aber keiner, der etwas künstlich herstellt, sondern der große Möglichkeiten hat, die Dinge sehr direkt zu formulieren und zu verkörpern. Außerdem hat er eine sehr schöne, relativ zarte Gesangsstimme, die dieser Einfachheit und Melancholie und dem Fehlen von Prätention in den Liedern sehr nahe kommt.“3

    In Heiner Goebbels’ neuester Komposition A House of Call. My imaginary notebook (UA 2021) kann man einen Eindruck davon gewinnen, dass Hymnen nicht nur in Form von Nationalhymnen eine gefährliche Verbindung zu Macht, Repräsentation und möglicherweise sogar Gewalt eingehen können, sondern auch kirchliche Hymnen wie in diesem Falle das bekannte Lied „Nun danket alle Gott“ (EG 321).

    Im Ethnologischen Museum, Phonogramm-Archiv Berlin stieß er auf die Sammlung Lichtenecker von 1931. Hier findet sich ein Tondokument, auf dem Schulkinder „das Kirchenlied „Nun danket alle Gott“ in der Sprache der Nama“ singen. „Sie sind Nachfahren jener Volksgruppe, die sich 1904 an dem Aufstand der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) beteiligt hatten.“4

    Auf geradezu beklemmende Art kann man in diesem Dokument (es erklingt im Kapitel Wax and Violence von A House of Call) hören, inwiefern die Aufnahme „Teil eines bisher wenig erforschten, polyphonen Echos kolonialer Wissenspraxis – und dessen inhärenter epistemischer Gewalt“5  ist. Im Falles dieses Kirchenliedes kommt man kaum um umhin, von liturgischer Gewalt sprechen.

    In aktuellen Krise der Kirchen stellt sich nach dem Hören dieses Dokumentes ebenso beklemmend die Frage danach, ob sich eine Glaubwürdigkeit der Praxis der Kirchen wiederherstellen lässt, ohne diese Kapitel ihrer Geschichten aufzuarbeiten und entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen.6

    In A House of Call nimmt Heiner Goebbels Spur säkularer Liturgien aber noch auf andere Weise wieder auf als die, die uns zu den Hymnen und ihren säkularen und liturgischen Verbindungen zu Macht und eben auch zu Gewalt geführt hat.

    Er beschreibt das gesamte Werk als einen „Zyklus mit Rufen, Aufrufen, Anrufungen, Beschwörungen, Gebeten, Sprechakten, Gedichten und Liedern für großes Orchester. Aber nicht das Orchester ruft, sondern es ist mit Stimmern konfrontiert, es präsentiert, unterstützt, begleitet sie, antwortet und widerspricht ihnen – wie in einem säkularen „Responsorium“, einer gemeinschaftlichen Antwort des Orchesters auf die vielen einzelnen Stimmen, die mit ihren ganz eigenen Klängen und Sprachen zu hören sind.“7

    Der Introitus des Werkes trägt den Untertitel A Respons to Répons und verwendet einen Ausschnitt auf dem Werk Répons von Pierre Boulez vom Beginn der 1980er Jahre. Boulez macht folgende Bemerkung in seiner Partitur: „Der Titel des Werks bezieht sich auf das Responsorium des Gregorianischen Chorals, bei dem ein Solosänger mit dem Chor alterniert. Zwei Faktoren dieser Form erlangen hier Bedeutung: zum einen die Beziehung zwischen ‚dem Einen und den Vielen‘, zum anderen das räumliche Element, das durch den Abstand zwischen Solist und Chor entsteht.“8

    In seinem Introitus antwortet nun Heiner Goebbels seinerseits auf das Werk von Boulez, indem er es mit einem Orgel-Loop konfrontiert, den er, ebenfalls zu Beginn der 1980er Jahre mit seiner Band Cassiber spielte. Dabei handelt es sich um eine Orgelkadenz nach der Stelle mit dem Text „Ach heile mich“ in der Bachkantate BWV 135 „Ach heile mich, du Arzt der Seelen“.

    Am Ende des Werkes singt das gesamte Orchester, das Ensemble Modern Orchestra9, auf einem Ton den Abschnitt aus einem der letzten Texte von Samuel Beckett „Worstward Ho“ den Abschnitt der mit den Worten „what when words gone“ beginnt.10 

    Anlässlich der Uraufführung bei Musikfest Berlin 2021 schrieb ein Kritiker von einem „säkularen Gebet“11.

    Sollten nicht nur Gedanken, sondern auch Praktiken aus ihren angestammten, mitunter verknöcherten Gehäusen ausgewandert sein?
     

  • leiturgia

    leiturgia

    „Die Tragödie kam mit dem Kult von Helden rund um frühe Heldengräber auf. Chöre fanden sich beisammen und ihren Ruhm zu tanzen, reiche Gönner, um die Chöre selber einzuüben und über Monate zu unterhalten. Ein Grabmal, ein Altar – ein Tanzplatz, eine Orchestra. Nichts anderes hieß für viele hundert Jahre leiturgia, ‚Werk für die Leute‘“.1 Dann kam Krieg, das Geld ging aus, die Chöre mussten gestrichen werden, bis schließlich die Christen den Griechen „auch dieses schöne Wort und Tun entwenden“: Liturgie.

    Geklaut, zur bürgerlichen Kasualie herabverwaltet oder als Dienstleistung kommerzialisiert lassen die Gänge an die Gräber nur schwer erkennen, dass ihre Spur ins Herz des Tuns der Christen führt: den Tod Christi und seine Praxis: die Taufe (Röm 6, 3f), also die Einwilligung in den eigenen Tod als einen, der etwas zu tun haben möge mit dem Tode Christi wie er erinnerbar ist und eine Öffnung anzeigt.

    Oder sollte man sagen: die Einwilligung in die eigenen Tode, als solche, die etwas zu tun haben mögen mit dem Tode Christi wie er erinnerbar ist und eine Öffnung anzeigt?

    Mit den Worten des atheistischen Dichters: „Was man braucht, ist Zukunft und nicht die Ewigkeit des Augenblicks. Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder. Denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen.“

    Heiner Müller hat diese Erkenntnis in seinem Leben gewinnen müssen in einer Intensität, die man sich nur selten einzugestehen wagt: „Gestern, an einem sonnigen Nachmittag, als ich durch die tote Stadt Berlin fuhr, heimgehrt aus irgendeinem Ausland, hatte ich zum ersten Mal das Bedürfnis, meine Frau auszugraben aus ihrem Friedhof – zwei Schaufeln voll habe ich selbst auf sie geworfen – und nachzusehen, was von ihr noch daliegt: Knochen, die ich nie gesehen habe, ihren Schädel in der Hand zu halten und mir vorzustellen, was ihr Gesicht war hinter den Masken, die sie getragen hat durch die tote Stadt Berlin und andere Städte, als er bekleidet war mit ihrem Fleisch. Ich habe dem Bedürfnis nicht nachgegeben, aus Angst vor der Polizei und dem Klatsch meiner Freunde.“

    Inge Müller war im Zweiten Weltkrieg mehrfach verschüttet worden und hatte ihre Eltern aus dem Schutt gegraben, um ihre Reste zu beerdigen. Seitdem war ihr Leben ein „heroische Kampf, gegen den Wunsch, sich zu töten“.

    Eines Tages verlor sie diesen Kampf: „Sie war tot als ich nach Hause kam. Sie lag in der Küche auf dem Steinboden. Ich bückte mich, hob ihr Gesicht aus dem Profil und sagte das Wort, mit dem ich sie anredete, wenn wir allein waren. Ich hatte das Gefühl, dass ich Theater spielte. Ich sah mich, an den Türrahmen gelehnt, halb gelangweilt, halb belustigt, einem Mann zusehen, der gegen drei Uhr früh in seiner Küche auf dem Steinboden hockte über seine vielleicht bewusstlose, vielleicht tote Frau gebeugt.“  Nach dem Tod seiner Frau Inge, versuchte Heiner Müller das Ereignis aufzuschreiben und hörte Wochen und Monate das Wohltemperierte Klavier von Bach.3

    Im aktuellen Kontext von Klimawandel, Pandemie, Krieg und Katastrophen rücken derartige Erfahrungen bedrohlich nah und das begleitende „Wort und Tun“ von Pfarrerinnen und Pfarrern an den Gräbern legt den Zugang zu dem, was Liturgie bedeuten könnte in der heutigen Welt im Stillen wieder frei:

    Was könnten Christen den Menschen, die nicht glauben, unter denen sie leben, geben? Und zwar im Sinne von Gnade. Was könnten sie den Menschen, unter denen sie leben, also schenken?

    In einem Porträt über das alte Kloster Sucevita in der Bukowina im Norden Rumäniens4  sagt ein orthodoxer Priester folgendes: „Wenn es keine Liturgie, keine Erinnerung an den Tod mehr gibt, endet die Welt. Das ist eine über Jahrhunderte weitergeführte Tradition. Die Kirche ist nicht nur für die Lebenden, sondern auch für diejenigen da, die eingeschlafen sind, diejenigen, die gestorben sind. Der Hauptunterschied zwischen den Christen im Orient und Okzident ist, dass die westlichen Religionen diesen Bund mit den verstorbenen Ahnen verloren haben. Aber bei uns im Orient bleibt die Verbindung zwischen den Lebenden und denen die eingeschlafen sind, erhalten. Wir sind ein Ganzes. Eins in Christus.“

    Man muss diesem Priester nicht in jeder Nuance zustimmen.5  Aber wäre das nicht Etwas, wenn man über die Christen sagen würde: Sie weisen niemanden ab? Sie vereinnahmen niemanden? Jede Tote und jeden Toten begraben sie mit heiterer Würde aus Respekt vor dem gelebten Leben?

    Sie verschenken dies an die Menschen, unter denen sie leben, auf eine Art und Weise, die es jeder und jedem, die das möchte, ermöglicht, ein solches Geschenk auch anzunehmen.

  • Der Mensch ist ein liturgisches Tier

    Der Mensch ist ein liturgisches Tier

    Dieser markante Satz des eigenwilligen Sprachphilosophen Eugen Rosenstock-Huessy1  speichert nicht nur die Grundlagen liturgischen Denkens. Er lässt sich in unserem Zusammenhang von Trinitatis als Lebenszeit lebensliturgisch zuspitzen.
     
    In seiner Lektüre der Geschichten von der Opferung Isaaks durch Abraham, der Errettung des Jona und der Passion Christi zieht der französische Philosoph Michel Serres folgende Bilanz für das Christentum: „Du sollst keinen Mann, keine Frau, kein Kind mehr töten, du sollst keinem Tier mehr das Leben nehmen, ob Widder oder Stier, du sollst Brot essen und Wein trinken. Ja, die Eucharistie lässt ein unschuldiges, sanftes Zeitalter anbrechen, das dem Schlachten abgeschworen hat und sich der Flora zuwendet. Pflanzen sind autotroph, anders als die heterotrophen Tiere: Diese überleben nur auf Kosten anderer Lebewesen, jene brauchen nur die Welt, das Wasser, die Sonne, das Licht und materielle Moleküle. Sie überleben unabhängig von anderen Lebewesen. Sie töten nicht. Fleisch und Blut entstammen also den alten Opferungen, aber beide verwandeln sich in opferlose Substanzen, in Brot und Wein. Eins: Um des Friedens willen einen Menschen töten, Zwei: Ein Tier töten, um es zu essen. Und endlich: Essen, ohne zu töten.“2

    Dennoch, so stellt die amerikanische Philosophin Donna Haraway fest, besteht „statistisch gesehen die häufigste Form einer Beziehung eines Menschen zu einem Tier darin [], es zu töten“3.

    Und dieses Faktum haben wir in unserer Kultur geschickt hinter Sprache versteckt. So kann man auf entsprechenden Internetseiten statistische Angaben dazu finden, dass beispielsweise im Jahr 2009 „zwei Milliarden und dreihundertneunundachtzig Millionen Kilo“ Nutztiere getötet wurden, um gegessen zu werden. Wie hier sprachlich Tiere hinter Kilo versteckt werden, fällt einem schlagartig auf, wenn man sich eine zahlenmäßige Todesangabe auf Menschen bezogen vorstellt. Die entsprechende Zahl würde nicht in Kilo dargestellt, sondern es würde von Individuen gesprochen.4

    In Bezug auf getötete Tiere findet also ein Übersetzungsvorgang statt, den man „Deanimalisierung“ nennen kann. Auf dem Schlachthof hört ein Tier auf, ein Körper zu sein. Es wird zu einem Kadaver und es sind unsere „Konsumgewohnheiten“, die „bestimmen, welche Metamorphosen dieser als nächstes durchläuft“, bis wir ihn auseinandergenommen und mit Bezeichnungen versehen, die mit seiner Anatomie nichts mehr zu tun haben, als Produkte kaufen, zubereiten und verzehren. Diese Praxis ermöglicht es uns, zu vergessen, dass wir etwas zu essen begehren, was dem Lebendigen entstammt und getötet werden musste.

    Um erneut eine Verbindung zwischen Mensch und Tier herzustellen, müssten wir Möglichkeiten erfinden, die Tiere als Lebewesen „zu würdigen, und zwar außerhalb der Logiken von Opfergaben […] Und das überall dort, wo Haus- und Nutztiere leben, leiden, arbeiten, sterben und fressen, von den Laboren, die Mensch und Tier zusammen bringen, über die Ställe bis an unseren Tisch. Wie wir würdigen können, muss noch erdacht werden. Dafür müssen wir besonders auf die Worte achten, darauf, wie wir etwas sagen und wie wir damit eine bestimme Art, etwas zu tun oder zu sein, bestätigen.“6

    Die Tiere müssten als „Verstorbene“ gewürdigt werden, als „Lebewesen“, die „weiterhin auf eine andere Weise unter den Lebenden“ existieren, die sie ernähren und „deren Fortdauern“ sie sichern. Tiere würden gewürdigt als „Verstorbene[]“, deren „Existenz sich verlängert wenn nicht in unseren Erinnerungen, dann in unseren Körpern.“ Zu solcher Würdigung gilt es „zu lernen, wie wir ‚im Fleisch erben‘ […], lernen, gemeinsam Geschichte zu schreiben, als Spezies, die Seite an Seite leben, deren Existenzen derart miteinander verschlungen sind, dass jede von ihnen anders lebt und stirbt.“7

    Die amerikanische Philosophin Judith Butler stellte sich angesichts des 11. September 2001 die Frage, welche Leben als Leben zählen und konkretisierte diese Frage nach der danach, was ein Leben zu einem solchen Leben mache, das man betrauern kann. Wenn auch Judith Butler mit ihrer Frage nicht an Tiere dachte, so führt ihre Antwort doch auf einen Begriff, der auf sie erweitert werden kann: Verletzlichkeit. Wir leben in einer Welt, „in der jeder vom anderen abhängig ist und vor allem durch die anderen und ihnen gegenüber verletzlich“8.

    Es ist also die „gemeinsame Verletzlichkeit“9, die aus einem Leben eines macht, das betrauert werden kann. Gemeinsame Verletzlichkeit sollte nun aber nicht „mit der Rolle eines Opfers verknüpft“ werden und auf diese Weise „lediglich Schwäche“ offenlegen. „Diese Verletzlichkeit entsteht aus einer aktiven Teilhabe an einer verantwortungsvollen Beziehung, einer Beziehung, in die jedes der Lebewesen sich einzubringen lernt und von der es lernt, sich einzubringen. Durch die Trauer, die gezeigt wird, kann das Leben etwas zählen. Dadurch, dass diese Trauer akzeptiert wird, zählt es etwas. Verletzlichkeit angesichts der Trauer zu wagen, damit ein Leben, das verletzlich ist, nicht nichts zählt, damit es als Leben zählt, anzunehmen, gemeinsam mit den Tieren und auf jeweils andere Weise verletzlich zu werden“, könnte dann heißen, dass man die Tiere „nicht um Verzeihung bitten, sondern ihnen danken“ müsste.10

    Die angedeutete Erfindungsaufgabe besteht darin, „Sinn zu erschaffen, selbst wenn er nicht auf der Hand liegt“11 :  eine eminent liturgische Aufgabe.

  • Trinitatis: Lebenszeit

    Trinitatis: Lebenszeit

    Im Vorwort zu seinen „Meditationen über das Mysterium der Heiligen Dreifaltigkeit“ (1969) schreibt der französische Komponist und Organist Olivier Messiaen: „Die verschiedenen bekannten Sprachen sind vor allem ein Kommunikationsmittel. Sie sind im Allgemeinen von vokaler Art. Aber ist es das einzige Mittel der Übertragung? Man kann sich sehr gut Sprachen vorstellen, die auf Bewegungen, Farben und Parfüm beruhen, und jedermann weiß, dass sich die Blindenschrift des Tastsinns bedient. In allen Fällen muss man von vorher etablierten Konventionen ausgehen. Man kommt überein, dass dieses jenes ausdrücken wird. Die Musik aber drückt nichts direkt aus. Sie kann suggerieren, ein Gefühl, einen Seelenzustand auslösen, das Unterbewusste berühren, die Fähigkeiten zum Träumen vergrößern, und das sind unermessliche Kräfte: Sie kann absolut nichts ‚sagen‘, über nichts mit Genauigkeit informieren.“1

    Demnach geht es bei der Trinität also eher um so etwas wie Musik oder Tanz2. In dieser Art müsste man sie auch denken bzw. ihre traditionellen Denkfiguren lesen.3  

    Im Ablauf des Kirchenjahres krönt das Fest Trinitatis das Heilsgeschehen nachdem sich die Trinität für den parakletos geöffnet hat. In dieser Sicht eines linearen Kreises kommt sie direkt her vom Advent und bildet einen Kirchenjahreskreis den man Passions- oder Auferstehungsring nennen könnte. Er verläuft zumindest metaphorisch eher von unten nach oben.

    Aber die Trinität muss natürlich dem Advent auch vorausgegangen sein. Ihre erste Öffnung ist Mariae Verkündigung. Insofern ist sie immer auch Engelsbotschaft und Frauenwissen. Letzteres hat seinen Höhepunkt und konkretesten Ausdruck im Magnifikat. Es wird abendlich gesungen.4  
    Von Mariae Verkündigung aus startet ein anderer Kirchenjahreskreis, seine Stationen oder Feste wären der Besuch Mariens bei Elisabeth / Mariae Heimsuchung, das Fest Johannes des Täufers, das Michaelsfest. Konkret biologisch-kalendarisch gedacht trifft der Verkündigungsring zu Weihnachten auf den Passionsring. Seine Bewegung ist eher von oben nach unten.

    Das Kirchenjahr ist also liturgisch polychron gebaut. Es besteht aus mindestens zwei Ringen, die aneinandergekoppelt sind. Die Ringe sind nicht geschlossen, sondern mehrfach in unterschiedliche Richtungen geöffnet und aneinandergekoppelt. Sie bilden eine spiralhafte, bewegte Figur mit offenen Enden. Trinität und damit ihr Fest könnte eine Art offenes Zentrum dieser Figur sein. Als solches ist ihre Bewegung dezentralisierend, aus sich herausgehend.

    Anders gesagt, (spätestens) von Pfingsten an bleibt die Trinität geöffnet. Und dies zumindest auf zweierlei Art und Weise. Zum einen bleibt sie geöffnet für alles Menschliche (Mariae Verkündigung). Zum anderen bleibt sie geöffnet für alles Schöpferische (Pfingsten).

    Die herkömmliche liturgische Praxis des Kirchenjahreskreises beschreibt nun das ganze Gegenteil. Nach dem Trinitatisfest stürzt die Liturgie ab in Verwaltung. Deren Inspiration beschränkt sich aufs Abzählen. Dabei erscheint sie als das Ergebnis eines historisch gesehen mehrstufigen Prozedere:

    Mit der konstantinischen Hierarchisierung des Christentums geht eine dogmatische Vereinheitlichung einher. Diese bildet die Grundlage der gregorianischen Zentralisierung von Liturgien und der carolinischen Heroisierung ihrer Figuren mit einem Ziel, das man rückblickend kaum anders als die Unterwerfung der Welt bezeichnen kann.

    Um liturgisch diesem dramatischen Missverhältnis zu entkommen, stellt sich eine Aufgabe, die man als Rekonstruktion beschreiben kann. Dazu müsste zuerst die von verschiedenen verwalterischen Linearisierungen dominierte Praxis der Kirchen und ihrer Mitglieder:Innen so angesehen werden, dass sie jenseits ihres notorischen Selbstbezugs beschreibbar würden. Sie müsste wie fremde Praktiken angesehen werden. 

    Stellen wir uns zu diesem Zwecke eine Anthropologin vor, „die sich in den Kopf gesetzt hätte“, die liturgische Praxis unsere Kirchen „zu rekonstruieren“. Stellen wir uns weiter vor, „dass sie, belehrt durch die Lektüre einiger guter neuerer Autoren, der Versuchung widerstanden hätte, ihre Forschungen auf jene Aspekte zu beschränken, die oberflächlich den klassischen Gebieten der Anthropologie gleichen – Folklore, [Gemeinde]feste, kulturelles Erbe, unterschiedliche Archaismen. Soviel hat sie verstanden: […] sie muss ihre Aufmerksamkeit auf das Herz der [Sache] richten, nicht auf die Ränder, nicht auf die Relikte, nicht auf die Überreste“. 

    Stellen wir uns weiterhin vor, „was schwieriger ist, jedenfalls weniger verbreitet, dass sie weiss, wie man […] jenem Exotismus der Nähe [widerstehen kann], der darin besteht, das zu glauben, was der [Theologe, die Pfarrerin] über sich selbst sagt, sei es lobend, sei es kritisierend. Sie hat schon verstanden, dass die Berichte, die [die Kirche] von sich selbst gibt, womöglich keinerlei Beziehung zu dem haben, was ih[r] zugestoßen ist. Kurzum, es handelt sich um eine wahre Anthropologin: Sie weiss, dass allein die lange und detaillierte Analyse der Handlungsverläufe, sie dazu bringen kann, das wirkliche Wertesystem derer zu entdecken“, die sie untersucht. Man sieht, die allergewöhnlichsten Bestandteile der ethnographischen Methode.“6

    Dann geht es um nichts geringeres, als aus den Ablagerungen der Tradition Leben, Erfahrung zu rekonstruieren und mit dem heutigen Leben in eine wechselseitige Beziehung zu setzen.7  Liturgie würde mit Leben verbunden werden können und Leben mit Liturgie.

    Diese Verbindung realisiert sich in der homiletischen Verbindung zwischen der privaten und der öffentlich redenden Person. Sie realisiert sich in der liturgischen Verbindung zwischen alltäglichen und ritualisierten Vollzügen, sowie der Verbindung zwischen dem aufgezeichneten Analogen und dem Analogen vor dem Bildschirm bei medialen Übertragungen zumindest im gottesdienstlichen Zusammenhang. Die zu verbindenden Bereiche sind nicht deckungsgleich, ist aber ihre Verbindung abgerissen, trockenen sie aus.

    Mit diesen Gedankengängen finden wir uns unversehens im Zentrum dessen wieder, was man Religion nennt: „Der Begriff Religion, sagen die Sprachwissenschaftler, hat zwei Ursprünge, einer wahrscheinlicher als der andere: relegere – ‚wiederlesen‘, ‚überdenken‘ – und religare – ‚verbinden‘, ‚binden‘.“8

    Und diese hat eine größere Aktualität, als es ihre dominierenden Formen in Theorie und Praxis erkennen lassen: „Zerschneiden ist destruktiv, Verbinden ist konstruktiv. In Elemente unterteilen, in Stücke schlagen, Energie zuführen, um die Mischungen schmelzen zu lassen und ihre Komponenten voneinander zu scheiden. Die Auslöschung der Arten, die Klimawandel, die Umweltverschmutzung gehen auf dieses Projekt […] des Zerschneidens, der Lösung und Auflösung zurück, das eine Welt in Stücken, einen Ozean von Abfällen hinterlässt. Schluss mit dem Schneiden und Trennen, Morgenröte der Verbindungen – das ist um der Bewahrung der Welt willen unsere Zukunft.“9

  • Pfingsten: Neue Schöpfung

    Pfingsten: Neue Schöpfung

    Im Nachvollziehen der Bewegungspuren in den einzelnen Stationen des Kirchenjahres haben wir bemerkt, dass zum linearen heilshistorischen Ablaufgedanken des Kirchenjahreskreises weitere Bewegungsmodi hinzugetreten sind. Sie unterbrechen den linearen Ablauf und verziehen ihn nach oben und unten. Dabei kann offenbleiben, ob es sich um realräumliche Verschiebungen handelt oder um imaginär-räumliche bzw. innenräumliche, wie sie in der frühchristlichen Formel sursum corda verdichtet sind. 

    Bis zur Himmelfahrt waren die Bewegungen mit der Person Jesus Christus verbunden, der niemals aufhört, „sich zu manifestieren, zu verschwinden und schließlich sein Verschwinden selbst zu manifestieren. Fortwährend öffnet er sich und verschließt sich wieder. Fortwährend kommt er uns zum Greifen nahe und zieht sich wieder zurück bis ans Ende der Welt.“1

    Pfingsten nun tritt ein neuer Akteur in diese Bewegungen ein: der Tröster, der Heilige Geist, der creator spiritus. Mit ihm bzw. ihr öffnet sich die Bewegung noch einer weiteren Dimension. Sie wird im lineare Konzept der Kirchenjahres Pfingsten als nächste Station am Fest Trinitatis dargestellt und spätestens hier ahnt man, dass das lineare Kreiskonzept des Kirchenjahres an seine Grenzen gestoßen ist.

    Führen wir uns die Bewegungen noch einmal vor Augen:  Eine Bewegung mündet in ein Weg, die andere in ein Kommen. Wenn das Weg seinen hiesigen, sichtbaren Vorlauf in der Abfolge Schritt, Sprung, Flug hat, so hat das An seinerseits einen Vorlauf:

    „Die Bewegung geht vom linken Fuß des rechten Engels aus, setzt sich in der Neigung seines Kopfes fort, geht auf den mittleren Engel über und zieht unwiderstehlich den Kosmos in sich hinein: den Fels, den Baum, und löst sich in der aufrechten Position des linken Engels auf, wo sie Ruhe findet […].2

    So beschreibt der orthodoxe Theologe Paul Evdokimov die Bewegung auf der Ikone der Heiligen Dreifaltigkeit von Andrej Rubljow. Diese gemalte Bewegung ist eher ein innertrinitarischer Tanz, der sich Pfingsten öffnet. Er hat auch bildperspektivisch die Besonderheit, sich zusätzlich zu seiner Kreisbewegung mit Ruhepunkt, auf die Betrachterin, den Betrachter der Ikone zuzubewegen. Denn in „der umgekehrten Perspektive ist der Fluchtpunkt gleich dem Beobachtungspunkt insofern, als dass die Linien nicht vom Betrachter aus an einem Punkt hinter dem Bild situiert sind, sondern im Gegenteil vom Bild ausgehend auf den Betrachter zulaufen“3.

    Diese Position des Fluchtpunktes auf den Betrachter erlaubt es außerdem, „die Elemente des Bildes zu dissoziieren und die verschiedenen Bildteile so zu betrachten, als würde man jedes Mal einen besonderen Blickwinkel einnehmen und somit die eigenen Horizont vervielfältigen“4. Auf diese Weise öffnet sich ein „polyperspektivischer Raum“5, der dem tendenziellen Selbstbezug (solipsisme) linearer bzw. zentraler Perspektive entgegen steht.6

    Nimmt man nun den biblischen Befund des Johannesevangeliums hinzu, der Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten zusammenfallen lässt7, so muss man die in diesem Ereignis generierte Bewegung als eine geöffnete Drehbewegung, einen Strudel bezeichnen.

    Als solche wird die Bewegung zum Indiz dafür, dass das Kirchenjahr nicht nur als Phänomen der Geschichte, also in der linearen Kontinuität historischer Einflüsse, Epochen und Kulturen, „in seiner Zeit“ zu beschreiben ist, sondern auch „gegen seine Zeit“ als ein „Ensemble verschiedener Zeiten“, die „voneinander entfernt“ sind, „diskontinuierlich und dennoch benachbart“. In diesem Sinne ist die Bewegung anachronistisch, sie montiert heterogene Zeiten und drückt auf diese Art und Weise zugleich eine „lange Dauer der Erinnerung“ bzw. eines Nachlebens und eine „Diskontinuität der historischen Zeit“ aus.8

    Der zumindest nach außen rauschhaft wirkende rhetorische Akt, von dem die Apostelgeschichte zu Pfingsten berichtet, hätte sich in unterschiedliche Register der Bewegung vervielfältigt, bzw. lässt sich als Teil eines Ensembles von Bewegungen verstehen. Die Form, in der die Bewegung sich in der Liturgie fortsetzen könnte, müsste in elementarer Einfachheit auch so etwas wie Tanz sein.9

    „Tanzen ist immer noch das Einfachste, Natürlichste, was der Körper kann“10, sagt die belgische Tänzerin und Choreographin Anne Teresa De Keersmaekers. Und um direkt auf den oben beschriebenen Bewegungsmodus zu kommen: „Sich zu drehen war für mich die natürlichste Art zu tanzen“.11

    Ausgangspunkt des Tanzes ist das Gehen: Gehen „ist die Basis der menschlichen Bewegung, wir haben eine vertikale Aufrichtung des Skeletts und zwei Füße. (Steht auf und geht durch den Raum.) Es ist die Verbindung zur Erde. Gehen hat mit der Schwerkraft zutun. Man kann tanzen auch sehen als den Versuch, die Schwerkraft herauszufordern. Gehen organisiert auch meine Zeit. Es ist die einfachste Weise, mein Verhältnis zur Welt und zu den Menschen zu organisieren.“12

    Der Übergang vom Gehen ins Tanzen ist fließend: „Ich betrachte das Gehen als den Tanz im Reinzustand. Das Gehen ist die einfachste Bewegung, jeder kann es, man kann es zusammen machen. Es ist immer der Ausgangspunkt eines möglichen Tanzes. Es organisiert den Raum und die Zeit. Gehen regiert auch unseren sozialen Raum. Zum Beispiel kann ich mich von Ihnen entfernen. Und ich kann es sehr schnell oder langsam tun.“13

    De Keersmaeker spricht von einem „parametrischen Denken“, wenn sie choreographisch arbeitet. D.h. sie bringt dann „einen der Parameter in Bewegung um die Schönheit dieser oder jener Bewegung zu steigern, indem ich sie lebendiger oder befremdlicher mache. Zum Beispiel wenn ich mit dem Parameter „Zeit“ arbeite, spiele mit extremer Beschleunigung oder mit extremer Verlangsamung.“14

    Auf welche Art und Weise und wie immer zurückhaltend elementar Bewegung im Zusammenhang liturgischer und homiletischer Gestaltung auch ausfällt, sie ist ein vergessenes Charakteristikum von Pfingsten und betrifft den Menschen und die Schöpfung als Ganze in allen ihren Einzelheiten. Paulus spricht von einer neuen Schöpfung, die sich zeigt.
     

  • Himmelfahrt: Bewegung am Rand

    Himmelfahrt: Bewegung am Rand

    Ein anonymer kolorierter Holzschnitt der grafischen Sammlung Albertina in Wien aus der Mitte des 15. Jahrhunderts heißt „Christi Himmelfahrt“. Man sieht darauf Maria und die zwölf Jünger in Gewändern am Boden kniend um einen plateauhaften Felsen herum angeordnet. Sie tragen einen Heiligenschein. Die Hände der im Vordergrund Abgebildeten zeigen Gebetshaltungen, ihr Blicke gehen nach oben. Die Spitze des Felsens ist abgeschnitten und flach, wie eine kleinen Bühne und nach vorne geneigt, so dass man zwei Fußspuren sehen kann. Am oberen Bildrand über der Felsbühne sieht man die zwei schwebenden Füße, die offenbar die Fußspuren hinterlassen haben. Sie tragen jeder ein Wundmal und sind von ihrer Mitte an von einem Gewand verdeckt, das in einer Ansammlung von Wolken verschwindet. Dies Ensemble aus Füßen, Gewand und Wolken ist von einem Strahlenkranz umgeben, als ob sie sich in der Mitte der Sonne befänden.  

    „Abgrund – am Rande des Verschwindens“ heißt ein Text des französischen Philosophen und Kunsthistorikers Georges Didi-Huberman. Er beschäftigt sich mit diesem Holzschnitt und entwirft darin eine überraschende These:

    „Vermutlich gibt es keinen Glauben ohne das Verschwinden eines Körpers. Und man könnte eine Religion, wie beispielsweise das Christentum, als eine immense kollektive Arbeit begreifen, die auf Dauerhaftigkeit, auf Wiederholung, auf ihre permanente obsessive Selbst-Erzeugung angelegt ist: als die immense symbolische Bewältigung dieses Verschwindens. So hört Christus niemals auf, sich zu manifestieren, zu verschwinden und schließlich sein Verschwinden selbst zu manifestieren. Fortwährend öffnet er sich und verschließt sich wieder. Fortwährend kommt er uns zum Greifen nahe und zieht sich wieder zurück bis ans Ende der Welt: Beispielsweise wenn er in seinem demütigen Tod und seinem Begräbnis verschwindet, aber bald darauf in seiner glorreichen Auferstehung zurück erscheint. Seine Auferstehung bedeutet zugleich aber auch, in einer dialektischen Wendung, dass mit ihr die Zeit eines erneuten Verschwindens beginnt, die nun aber durch den Glauben ausgezeichnet ist: die menschliche Zeit, die Zeit der Gemeinschaft und der Liturgie, in der seine Abwesenheit zum Warten auf seine Wiederkehr, auf seine ‚ewige Herrschaft‘ wird.“1

    Im Weiteren seines Textes untersucht Georges Didi-Huberman die „logischen und visuelle Zeichen dieses Verschwindens“ eben am Beispiel des kleinen Holzschnittes und charakterisiert sie als „subtile Formen des Spiels der Grenzen zwischen dem Offenen und dem Geschlossenen, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Hier und dem Jenseits, der erfassten Sache und dem, was sie erfasst hat, dem Außen und dem Innen“. Das, was sich den „Blick[en] der Anwesenden entzieht“, wandelt das „Verschwinden in ein visuelles Ereignis“ um, „das in der Lage ist, die Abwesenheit zu einer Sache des Glaubens zu machen“. Auf diese Weise wird das „Unsichtbare als ein visuelles Zeichen der entzogenen Gegenwart“ konstituiert.2

    Das besondere dieser Untersuchung für unseren Zusammenhang besteht nun darin, dass Abwesenheit keinen Zustand beschreibt, sondern eine Bewegung, die auf Dauerhaftigkeit angelegt ist, auf Wiederholung: Fortwährend kommt Christus und entzieht sich wieder, wie Hubermann schreibt. Eine solche Abwesenheit als entzogene Gegenwart hinterlässt einen Sog, setzt in Bewegung.

    In unserem Holzschnitt wird diese Bewegung auf der kleinen Bühne, von der Christus gerade verschwindet, als Abdruck der Füße Christi dargestellt. Die Versammelten können ihn jedoch nicht sehen. Der Abdruck ist oberhalb ihres Einblickes. Für uns Betrachter des Bildes ist er sichtbar, weil die Bühne leicht nach vorn gekippt ist, also aus der Perspektive fällt – eine doppelte Spur von Bewegung.

    Diese Analyse trifft auf die theologische Definition des Thomas von Aquin: ascensio est quidam motus.3  Die Himmelfahrt „ist eine Art von Bewegung“4  übersetzt Alex Stock. Er überdeckt damit freundlich die theologische Verlegenheit gegenüber allem, was mit Bewegung zu tun hat. Und Thomas‘ Analyse gleicht dann auch eher einer, zwar subtilen, aber in Bezug auf die Bewegung einer Beschreibung von etwas, was gewissermaßen eine Bewegung aber doch mindestens zielgerichtet im Sinne von Mechanik oder Architektur hätte gewesen sein können; genauer gesagt: eine Inthronisation; also, wenn es denn sein muss: irgendetwas wie Bewegung, eine gewisse Bewegung, dann eine im Sinne von Erhebung zur Macht, Verwaltung und Ordnung (höherer Ordnung selbstredend, was einer Erstarrung von Bewegung gleichkommt, schon deshalb, weil man immer Angst haben muss, von irgendwo herunter zu fallen).

    Hier klafft ein Desiderat. Zu entwickeln wäre nichts geringeres als die Einführung der Bewegung ins theologische Denken und damit zugleich auch in die liturgische Praxis.

    Alex Stock versammelt Spuren von Bewegung und macht darin das „Schreitmotiv“ als „die kinetische Basisformel“ der „westlichen Himmelfahrtsikonographie“ aus. „[I]hre eigentliche Entdeckungsleistung liegt aber darin, die Fahrt in der Mobilität des Körpers erfahrbar zu machen.“5  Diese erfahrbare Mobilität eines Körpers, „der große Schritt“, wird nun „vom irdischen Terrain in den Luftraum verlagert“. Dann ist es „[v]om Laufschritt“ nur ein „Geringes zum Sprung“.6 
    Verleiht man nun einem solche Sprung neben der unerlässlichen Bewegungsintensität, noch etwas ekstatische Energie, so gelangt man unversehens zum Flug.7

    „Schritt – Sprung – Flug war der erst Typus, den die abendländische Himmelfahrtsikonographie entwickelt hat.“8  Hinzu kommt „die frontale Schwebe“9  (das klingt schon wieder mehr nach Thomas) und ein dritter Typus nimmt diese „Körperbewegungselemente in sich auf, transponiert sie aber in eine veränderte Raumerfahrung. „Maria und die Apostel blicken staunend mach oben, wo Christus in der Wolke verschwindet; nur die Füße (gehend, schwebend) und der untere Teil des Gewandes sind noch sichtbar.“10  Damit landet auch Alex Stock beim eingangs erwähnten Holzschnitt.

    Die homiletische Pointe derartiger ascensischer Bewegung findet sich bei Gregor dem Großen: „Mit Recht wird der Herr Vogel genannt.“11

    Was wie eine avantgardistische Metapher aus dem Munde eines Kirchenvaters anmutet, findet seinen Widerhall in der zeitgenössischen Philosophie und der dortigen Art, Begriffe in Bewegung zu bringen:

    Wenn man davon ausgeht, dass jeder Begriff „nicht nur in seiner Geschichte, sondern auch in seinem Werden und in seinen gegenwärtigen Verbindungen“ auf andere Begriffe verweist, dann besitzt jeder Begriff „Komponenten, die ihrerseits als Begriffe aufgefasst werden können“.12
    Wenn nun diese Komponenten in einem Begriff „unzertrennbar“ sind: „deutlich geschieden, heterogen und dennoch nicht voneinander trennbar“, es also „ eine partielle Überlappung, eine Nachbarschaftszone oder eine Ununterscheidbarkeitsschwelle“ einer Komponente mit einer anderen gibt, und zwar so, dass „etwas von der einen zur anderen“ Komponente übergeht, als „etwas, von dem man nicht weiß, zu welcher es gehört“. Dann kann „jeder Begriff als Koinzidenz-, Kondensation- oder Akkumulationspunkt seiner Komponenten angesehen werden“. Und dieser „Begriffspunkt durchläuft unaufhörlich seine Komponenten, steigt unaufhörlich in ihnen auf und ab“.13  Begriffe sind also in sich „prozessual und modulatorisch“.
    So liegt der „Begriff eines Vogels“ beispielsweise „nicht in seiner Gattung oder seiner Art, sondern in der Zusammensetzung seiner Haltungen, seiner Farben und seines Gesangs“, also als „eine Anordnung seiner Komponenten durch Nachbarschaftszonen. Bezüglich seiner Komponenten „befindet sich der Begriff im Zustand des Überfliegens“, er ist „unmittelbar ohne Abstand ko-präsent in allen seinen Komponenten“, er durchquert sie immer von neuem.    

    Zu Himmelfahrt wird aber auch „eine menschliche Urszene“14  verhandelt. „Im Blick auf die Vögel sehen die Menschen am klarsten, was ihnen im Vergleich zur übrigen Kreatur wirklich abgeht, die Fähigkeit zu fliegen.“15  Die liturgisch Praxis dieses Menschheitstraumes bleibt eine Erfindungsaufgabe: Schritt, Sprung …
     

  • Ostern: Es ist Krieg in Sarmatien!

    Ostern: Es ist Krieg in Sarmatien!

    In Sarmatien ist Krieg! Wieder ist dieses von den alten Griechen und Römern so genannte Gebiet zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, östlich der Weichsel und westlich der Wolga heute ein Schlachtfeld Europas.

    Einer, dem das „Land Sarmatien“ besonders am Herzen lag, war der Dichter Johannes Bobrowski. Er selbst kommt aus dieser Gegend und hatte dort die Verheerungen des 20. Jahrhunderts erlebt. Daher kommt das Thema seines Schreibens als „so etwas wie eine Kriegsverletzung“1. Der „erste Anlass, die Landschaft zu schildern, hat sich durch die Kriegs- und Nachkriegserlebnisse dahin erweitert, dass ich nun Landschaft und Menschen schildern wollte, um meinen deutschen Landsleuten etwas zu erzählen, was sie nicht wissen“, worin ich aber „sehr viele Erfahrungen habe“.2

    Der Dokumentarfilmregisseur Volker Koepp hat das Thema Bobrowskis, „Neigung [zu] erwecken“3, als einen Auftrag angenommen und ist auf seinen Spuren gereist. In seinen Filmen, sehen wir Landschaft und Menschen, wir sehen sie nicht nur, wir begegnen ihnen.4  Das ist vor dem Hintergrund des heutigen Krieges besonders berührend und steigert die Dringlichkeit ins Allgemeine: die Menschen zu sehen.5

    Was das mit Ostern zu tun hat, kann man in einem Gedicht von Johannes Bobrowski lesen:
     
    Ostern
    Dort noch Hügel,
    die Finsternis, aber
    die Steige sind recht, aus der Ferne
    die Ebenen nahn, mit dem Wind
    herüber ihr Schrei.
     
    Über den Wald. Der Fluß
    kommt, die Birkenschläge
    gehen an die Mauer, Türme,
    Gestirn um die Kuppeln, das goldne
    Dach hebt an Ketten ein Kreuz.
     
    Da
    In die finstere Stille
    Licht, Gesang, wie unter
    der Erde erst, Glocken, Schläge,
    der Stimmen Hähnegeschrei
    und Umarmung der Lüfte,
    schallender Lüfte, auf weißer
    Mauer Türme, die hohen
    Türme des Lichts, ich hab
    deine Augen, ich hab deine Wange,
    ich hab deinen Mund, es ist
    erstanden der Herr, so ruft,
    Augen, ruft, Wange, ruf, Mund,
    ruf Hosianna.6
     
    In der Komposition von „Landschaft und Liturgie, in der Opposition von finsterer Stille und Licht, Gesang, Osterumarmung, Ostergruß“7 realisiert sich Bobrowskis Lebensthema in diesem Gedicht. Und dazu lässt er seine Leserinnen und Leser eintreten in eine Landschaft.

    „In den ersten beiden Strophen baut sich eine Landschaft auf, bezogen auf einen wandernden Blickpunkt. Es wird nicht gesagt, dass hier jemand in einer winddurchwehten Nacht, zunehmend Weitblick ins Land gewinnend, zu einer Kirche hinaufsteigt, deren Mauern, Türme, deren goldene Kuppel, vom Kreuz überragt, er nacheinander zu Gesicht bekommt. Erst ein solcher Blickpunkt aber erlaubt es dem Leser, den sukzessiven Aufbau der Landschaft (noch Hügel / die Steige / aus der Ferne die Ebenen nahn / über den Wald / der Fluß kommt / die Mauer / Türme / Kuppeln / das Dach hebt an Ketten ein Kreuz) zu realisieren. Die subjektive Seh- und Hörerfahrung erscheint als archaische Selbstbewegung und Selbstartikulation der Dinge, der Natur und der Architektur. Die Position des sehenden Subjektes ist ausgespart: sie ist dem Leser des Gedichtes angeboten. Wenn er sie übernimmt, rücken in der Imagination die zitierten Landschaftsfragmente auf ein Bild hin zusammen.“8

    Auf die gleiche Weise lässt die Komposition des Gedichtes seine Leserinnen und Leser in die Liturgie eintreten und damit in wesentliche Erfahrungen der Feier einer Osternacht.

    „Das zeilenfüllend die dritte Strophe intonierende ‚Da‘ verweist – wie das biblische ‚und siehe!‘  – auf ein Ereignis, die Durchbrechung der ‚finstere[n] Stille‘ durch ‚Licht, Gesang‘.
    Gesang: leise und dumpf anhebend (‘wie unter der Erde erst, Glocken, Schläge‘), heller lauter werdend (‚der Stimmen Hähnegeschrei‘), im Echo wiederhallend (‚und Umarmung der Lüfte, schallender Lüfte‘ in Opposition zum einsamen Windschrei der Ebenen in der 1. Strophe). 
    Licht: die im Finstern der ersten Strophe bereits gesichteten Mauern und Türme werden ‚weiß‘ und ‚Türme des Lichts‘. Es ist das Licht der Morgenfrühe (‚Hähnegeschrei‘ konnotiert über den metaphorischen Bezug zu ‚Stimmen‘ hinaus auch den Tagesanbruch; schon nach sehr alten liturgischen Texten findet die Osternachtfeier ihren Höhepunkt und ihr Ende ad gallicantum), vielleicht auch (die enge Koppelung mit ‚Gesang‘) das liturgische Licht der Kerzen.
    Von den ‚Türme[n] des Lichts springt der Vers (Verszäsur) in die intime Nähe des ‚ich hab / deine Augen, ich hab deine Wange, / ich hab deinen Mund, es ist / erstanden der Herr, so ruft / Augen, ruft, Wange, ruf, Mund‘. Wie ostkirchliche Gläubige am Ende der Osterliturgie einander hin und her umarmen und den Ostergruß einander zurufen, wird in der Fügung der Worte und Rhythmisierung der Verse als Vorgang sinnlich wahrnehmbar, so wie im ersten Teil dieser Strophe schon die ansteigende Bewegung von Gesang und Licht nicht nur benannt, sondern im metrisch syntaktischen Aufbau selbst zur Darstellung gebracht wird.“9

    Doch das Gedicht schließt überraschend, irritierend: Als Antwort auf den Ostergruß: Der Herr ist auferstanden! folgt nicht das übliche: Halleluja, sondern: Hosianna. Dieser Schluss hat manche literaturwissenschaftliche Interpretation dieses Gedichtes ratlos zurückgelassen.10  Nicht so Alex Stock, dessen Lektüre wir hier folgen. Den Schlüssel seiner Lektüre findet er in einem Verfahren, das bereits bei Klopstock und Hölderlin Anwendung fand und bei dem „die Stärke des Einzelwortes eben so viel gilt, wie der Zusammenhang des Satzes“11. Das Verfahren nennt sich „harte Fügung“12.

    „In drei Strophen ist das Gedicht gegliedert, gruppiert in zwei gleich lange fünfzeilige und eine längere vierzehnzeilige. Die Verse sind von unterschiedlicher Länge, ohne Reim und ohne festes metrisches Schema in freien Rhythmen gebaut. Syntaktische Gliederung und Versgliederung überschneiden einander, Sätze gehen über das Versende hinaus (Enjambement), enden bzw. beginnen im Versinnern (Verszäsur). Die Konstruktion der Sätze folgt nicht der normalen Prosasatzfolge; reguläre Elemente, vor allem Satzprädikate, sind häufig ausgelassen (Inversion/-Ellipse). Ein Text mit solcherart metrisch-syntaktischen Eigenschaften, ein poetischer Text also, ‚in dem die Frequenz an Inversionen hoch ist, bei dem unregelmäßige Metren, d.h. kein alternierendes oder daktylisches Metrum vorherrscht und dessen Verslänge variiert‘, wird literaturwissenschaftlich als ‚Text harter Fügung‘ bezeichnet“. Eine solche „harte Fügung“ setzt „Worte und Wortgruppen“ nebeneinander und lässt die dabei entstehenden Fugen offen, so dass „sie unterschiedliche semantische Beziehungen aufnehmen können“. Auf diese Weise „ergibt sich ein mehrsinniger Text, mehrsinnig aber nicht im Sinne vager Vieldeutigkeit, sondern polyphoner Spannung“.13

    Derart polyphon gelesen lassen sich die Schlussworte der Schlusszeilen der drei Strophen – die Worte „Schrei“, „Kreuz“ und „Hosianna“ –  als „Elemente aus dem sprachlichen Feld der biblischen Passionsgeschichte“ erkennen. Seit seiner Kindheit war Johannes Bobrowski mit der „Sprache der Bibel, im Sprachgestus der Übersetzung Luthers“14, vertraut. Hört man nun das Gedicht mit dem biblischen Text der Matthäuspassion zusammen, ergeben sie eine Reihe weiterer Anklänge.15

    Neben ihrem Sinn im Gedicht eröffnen diese Worte über Assonanzen „kaum hörbare Anspielungen auf die Hauptszenen der Passionsgeschichte“. Die Reihenfolge der anklingenden Zitate „folgt dem Gang der biblischen Geschichte vom Einzug in Jerusalem bis zum Tod am Kreuz“, allerdings „in Form einer Umkehrung, so dass das ‚Hosianna‘ mit dem die biblische Karwoche beginnt, am Schluss des Gedichtes erscheint“.16

    „Nach der Art einer Kontrapunkttechnik wird in diesem Gedicht gegen die Hauptstimme, deren Thema ‚russische Ostern‘ ist, die leise Unterstimme der Passionsgeschichte geführt, wobei es durch die gegenüber der biblischen Abfolge durchgeführte Motivumkehrung nicht nur im Ganzen, sondern auch im Einzelnen zu unerwarteten semantischen Dissonanzen kommt: Ostergesang und Verleugnung, Osterumarmung und Verräterkuss. An seinem originären biblischen Ort ist ‚Hosianna‘ der Jubelruf zur Begrüßung des Messiaskönigs in seiner Stadt Jerusalem, aber es ist zugleich der höchst zweideutige Auftakt der Passionsgeschichte.“17

    Szenisch gesehen geht der aktuelle politische Brennpunkt dieser kontrapunktisch harten Fügung von „Ostern“ jedoch noch einen Schritt weiter: „Es ist erstanden der Herr“ kann nur ausrufen, wer mit dem Auferstandenen dem König auf einem Esel zuruft und keinem anderen!
     

  • Extra: Exsultet chorisch

    Der Lobgesang des Osterlichtes gehört traditionell in die Osternacht. Das Exsultet in den Zusammenhang einer liturgisch-szenischen Einrichtung zu bringen, bedeutet, ein altes liturgisches Stück szenisch zu öffnen für Mehrstimmigkeit. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, diesen Text, der für heutige Ohren befremdlich bis in die religionsgeschichtlichen Tiefen der griechischen Tragödie hinabreicht (Jan Kott), im Vollzug zu demokratisieren.

    Dazu braucht es zwei Dimensionen. Die erste besteht darin, den Gesang auf mehrere SängerInnen zu verteilen. Hierzu werden die responsif angelegten Teile als solche ernst genommen und realisiert. Die zweite verteilt die auf diese Weise entstehenden zwei Solisten, eine Schola und die Gemeinde den jeweiligen architektonisch-liturgischen Gegebenheiten entsprechend räumlich auf und dies möglichst auf eine Weise, die die Gemeinde mithineinnimmt.

    Nicht realisiert
    Siehe auch Blog I Dietrich Sagert, Eintrag vom 25.11.2019

    (I) Ein/e Sänger/in steht an der Osterkerze
    (II) Ein/e Sänger/in steht am Altar (eine der beiden Solisten sollte eine Frau sein)
    (C) Eine gemischte Schola steht hinter der Gemeinde (je nach Architektur)
    (A) Als Gemeinde singen alle anwesenden zusammen
     
    (I)
    Frohlocket nun, ihr Engel und himmlischen Heere; frohlocket, ihr Wunderwerke Gottes; hell töne, Posaune des Heiles, und preise den Sieg des ewigen Königs. Es freue sich auch die Erde, erhellt vom strahlenden Lichte, und, vom Glanze des ewigen Königs erleuchtet, erkenne sie, wie aller Enden die Finsternis von ihr gewichen.
    (II)
    Es freue sich auch die Kirche im herrlichen Glanze solchen Lichtes, und der Lobgesang ihrer Kinder erfülle das Haus unseres Gottes. Darum, meine Lieben, die ihr beim Scheine des Osterlichtes zugegen seid, rufet mit mir an die Barmherzigkeit des allmächtigen Gottes, dass er, der uns zu der Schar seiner Kinder hinzugezählet hat, uns mit der Klarheit seines Lichtes erfülle und unser Loblied gnädig annehme.
    (C)
    Durch Jesum Christum, seinen Sohn unseren Herren, der mit ihm und dem Heiligen Geiste lebet und regieret von Ewigkeit zu Ewigkeit.
    (A)
    Amen.
    (II)
    Der Herr sei mit euch.
    (A)
    Und mit deinem Geiste.
    (II)
    Erhebet die Herzen.
    (A)
    Wir erheben sie zum Herrn.
    (II)
    Lasset uns danken dem Herrn, unserm Gott.
    (A)
    Das ist würdig und recht.
    (I)
    Wahrhaft würdig ist es und recht, den unsichtbaren Gott, den allmächtigen Vater und seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn Jesus Christus, mit aller Glut des Herzens und Geistes zu rühmen und mit jubelnder Stimme zu preisen.
    (II)
    Es hat für uns beim ewigen Vater die Schuld getilgt, die seit Adam auf uns liegt, und hat die alte Schuldschrift gelöscht mit seinem heiligen Blut.
    (C)
    Dies ist das Fest der Ostern:
    (II)
    Christus ist geopfert als wahres Passahlamm, dessen Blut die Türen zeichnet zum Schutz der Gläubigen.
    (C)
    Dies ist die Nacht,
    (II)
    In der du unsere Väter im Glauben, dein Volk Israel aus Ägypten geführt und trockenen Fußes durch das Rote Meer geleitet hast.
    (C)
    Dies ist die Nacht,
    (I)
    in der uns die Feuersäule Gottes aus dem Dunkel der Welt herausführt.
    (C)
    Dies ist die Nacht,
    (I)
    die heute ringsum auf Erden alle, die an Christus glauben, scheidet von den Lastern der Welt und dem Elend der Sünde, die heimführt zur Gnade und einfügt in die Gemeinschaft der Heiligen.
    (C)
    Dies ist die Nacht,
    (II)
    in der Christus die Fessel des Todes zerriss und aus der Tiefe als Sieger emporstieg. Was nützte es uns, geboren zu werden, wären wir nicht erlöst! Wie wunderbar ist das Geschenk deiner Treue, wie unbegreiflich deine Liebe: Um den Knecht zu befreien, gabst du den Sohn dahin. Selbst Adams Sünde wurde zum Segen, Christi Tod hat sie vernichtet. O glückselige Schuld, die einen solchen Erlöser gefunden hat!
    (C)
    O wahrhaft selige Nacht,
    (I)
    der allein es vergönnt war, Zeit und Stunde zu erleben, in der Christus von den Toten erstanden ist.
    (C)
    Dies ist die Nacht, von der geschrieben steht:
    (I)
    Die Nacht wird hell wie der Tag, als strahlendes Licht wird die Nacht mich erfreuen.
    (II)
    Diese heilige Nacht vertreibt den Frevel, sie wischt ab die Schuld. Den Sündern gibt sie zurück die Unschuld und den Trauernden Freude. Sie vertreibt den Hass, schafft Frieden und Eintracht, und beugt die Gewalten.
    (C)
    In dieser gnadenvollen Nacht nimm an, himmlischer Vater, diesen festlichen Gesang, der dir dargebracht wird im Lobpreis dieser Kerze!
    (II)
    So haben wir nun das Lob dieses österlichen Lichtes vernommen, das entflammt wurde durch das lodernde Feuer zur Ehre Gottes. Wenn es auch vielfach geteilt ist, wurde dabei seine Leuchtkraft nicht gemindert, wird sie doch ständig genährt vom schmelzenden Wachs, das die mütterliche Biene für diese kostbare Kerze bereitet hat.
    (C)
    O wahrhaft selige Nacht, die einst die Ägypter arm und die Hebräer reich machte, in der irdisches Wesen mit himmlischem und menschliches mit göttlichem Wesen verbunden wird.
    (I)
    So bitten wir dich nun, Herr, lass diese Kerze ungemindert weiter brennen, die wir dir gewidmet haben zur Ehre deines Namens. Sie verbanne das Dunkel dieser Nacht, werde aufgenommen als lieblicher Opferduft und mische sich unter die Lichter am Himmel. Sie leuchte noch, wenn der Morgenstern kommt, jener Morgenstern, der keinen Untergang mehr kennt:
    (C)
    Christus, dein Sohn der zurückgekehrt ist aus dem Reich des Todes und mit hellem Licht die Menschen erleuchtet: er, der lebt und regiert in alle Ewigkeit.
    (A)
    Amen.
     
    Text: VELKD (Hg.), Passion und Ostern, Leipzig 2011; dort finden sich auch die Noten.
    Fassung: Dietrich Sagert

  • Karfreitag: Der Tod Gottes

    Karfreitag: Der Tod Gottes

    Mein Gott! – In seinem Text dieses Titels kommt der französische Philosoph Jean-Luc Nancy auf den Tod Gottes zu sprechen. Während seiner Meditation einer Predigt von Meister Eckhart (Q52) nimmt er die alltägliche rhetorische Praxis des spontanen Ausrufes „Mein Gott!“ auf als „eine kulturelle Ablagerung, ein winziges Überbleibsel der Christenheit, das sich durch die Sprache zieht“1. Sie wird zweifellos immer seltener und Nancy möchte diese Formel keinesfalls mit einem Gewicht versehen, das sie lange verloren hat.

    „Aber sie hat es mit Recht verloren, nicht nur weil ‚Gott tot ist‘ (Meister Eckhart sagt es übrigens selbst, ‚Gott ist tot, damit ich der Welt absterbe und allen geschaffenen Dingen‘), sondern weil die Wahrheit von ‚mein Gott!‘ nicht in der Anrufung einer helfenden oder tröstenden Macht oder eines Seins liegt, das im Besitz einer solchen Macht ist.“2

    Um das alles bitten wir Gott, wenn wir ihn mit Meister Eckhart bitten, uns von Gott loszulösen, wie in seiner Predigt über die erste Seligpreisung. Doch um zum Kern dieses Ausrufes zu gelangen, müssen wir mit Nancy fortzufahren:

    „‘Mein Gott!‘ ist ein Ausruf, der die Tonalität des Erstaunens annehmen kann ebenso wie die des Schreckens, der Bewunderung, der Bedrückung, und er kann sich auch bis zu einer denkerischen Unterbrechung (‚Wer ist Gott? Mein Gott, ich habe keine Ahnung…‘) reduzieren. Ausruf oder Unterbrechung, ‚mein Gott‘ verweist auf ein Unsagbares: nicht auf eine Sprache des Jenseits, aber auf ein Jenseits der Sprache, das die Sprache noch anzeigt.“3

    Am Karfreitag gedacht bzw. ausgerufen, ist „Mein Gott!“ das Echo eines Schreis. Wenngleich dieser Schrei eines Sterbenden zwar auch ein Jenseits der Sprache markiert, aber eines, das die Sprache nicht mehr anzeigt.

    Der letzte Schrei Christi am Kreuz ist ein reines Performativ, radikaler Entzug. Angezeigt oder besser: übrig bleiben nur noch Konstellationen von Körpern: um das Kreuz herum vereinzelt der erschrockene Hauptmann, wahrscheinlich einige Soldaten, etwas entfernt trauernde Frauen, auch zuschauende Bekannte; Jesu Mutter Maria, sein Jünger Johannes nah beieinander, auch bei ihnen Maria Magdalena und die andere Maria, Klopas‘ Frau, letztere in Hörnähe. Diese Konstellationen sind in den evangelischen Erzählungen beschrieben, skizziert als kleine Szenen, die aus dem Vorgegangenen übriggeblieben sind. Sie wurden oft und unterschiedlich bildlich dargestellt.

    Der Schrei am Kreuz bildet den performativen Kern dieser Szenen und ihnen folgend der christlichen Liturgie des Karfreitages. Doch liturgisch ist der Schrei verstummt. Aber auch liturgisch bleiben Körper übrig, ob sie erschrocken vereinzelt verharren, mit etwas Abstand trauern, allein weinen, sich gegenseitig trösten, in den Arm nehmen, beten …

    Derartige Ansammlungen von Körpern, in kleine Szenen skizziert, kondensieren zu liturgischen Formen, wandern in Liturgie ein, wenn, wie etwa bei einem Gebet um das Kreuz, wie es in Taizé aus einer orthodoxen Tradition heraus entwickelt wurde, ein Kreuz auf den Boden gelegt wird und die Menschen hingehen, die Stirn auf das Holz des Kreuzes legen und durch ein Gebet mit dem Körper die eigenen Lasten und die der anderen in Gott versenken.

    Vor diesem Hintergrund lässt sich die tabubrechende Referenz für den Tod Gottes am Karfreitag lesen. Auch sie ist eine Szene; allerdings scheint sie wieder aus der Liturgie ausgewandert und an jedem Ort der Welt vorstellbar. Ihre ins Tragische ragende Dramatik erlangt sie auf den Schlachtfeldern Europas und der Welt: 

    „Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander.
    Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. »Wohin ist Gott?« rief er, »ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. »Ich komme zu früh«, sagte er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehn und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!« – Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. 
    Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind? »“4

    Auf den Schlachtfeldern wird auch der Schrei wieder hörbar, dessen Echo dieser Ausruf ist: „Mein Gott!“

  • Passion: Entzug

    Passion: Entzug

    Im Vergleich zur Sehnsucht der ersten großen Fastenzeit des Kirchenjahres, dem Advent, gestaltet sich die zweite, die Passion, wie ein Entzug. Als Mimese der Leidensgeschichte Jesu zeichnet sie den Menschen in dieser Perspektive: „Memento, homo“ 1, bedenke, Mensch.

    Diese Formel geht zurück auf das „seit dem 7. J[ahr]h[undert] übliche Ritual der Büßeraustreibung“2 und wurde seit  dem 10./11. Jahrhundert „kommunalisiert“3, also auf alle übertragen.

    „Auf den Kopf zu wird da jedem gesagt und mit Asche besiegelt, dass dieser Schädel ein künftiger Totenschädel sein wird, dass er, der jetzt noch denken kann, dies nicht vergessen, sondern sich in Erinnerung rufen möge. Mit diesem Bedenksatz wird die Aschenbestreuung ein persönliches Memorial, nicht Gedenken der Toten, wie Allerseelen, sondern Gedenken des eigenen, künftigen, unentrinnbaren Todes, Memento mori.“4

    In der Bezeichnung durch ein Aschekreuz auf die Stirn am sogenannten Aschermittwoch, lässt sich eine lange Tradition von Trauer- und Bußgebräuchen, die auf das Alte Testament zurückgehen, finden. Dabei kann sich die „Entstellung des körperlichen Aussehens“ als „Selbstdemütigung“ vor Gott und den Menschen „mit dem Entzug von Nahrung verbinden“5. Was in heutiger kirchlicher Fastenpraxis häufig mit moralisierendem Zeigefinder als Lebensstil auf Zeit proklamiert wird, findet sich radikaler, also seiner Wurzel näher, und aus der Kirche ausgewandert, in Praktiken der Jugend-, Pop- und Trashkultur wieder, wie bei Punks an Bahnhofsaufgängen in westlichen Großstädten oder – hier wider Willen – bei den vom Leben auf der Straße gezeichneten Menschen aller Erdteile.    

    In der Welt wird mehr als genug sichtbar, was sich im Zeichen der Asche verdichtet: „Seitdem die Menschen mit Feuer hantieren, ist ihnen zur Hand, was Asche ist, ein Rest, das, was übrig bleibt von dem, was sie an pflanzlichem oder tierischem Stoff in die Flammen geworfen haben, flüchtige Mineralien der Erde. Die Einäscherung von Menschen führt als Todesritual drastisch vor Augen, dass sie, auch sie zu dieser organischen Natur gehören. Die Kirche hat den kurzen Prozess der Kremation, die den Menschen im Nu zu einem Häuflein Asche in der Urne macht, lange Zeit verpönt, weil Leichenverbrennungen propagandistisch mit materialistischer Ideologie verbunden wurden. Am Resultat ändert die kirchliche Option für die Erdbestattung nichts. Der langsame Prozess der der Erde überlassenen organischen Verwesung endet, wenn er auch auf den Eingriff menschlicher Technik verzichtet, gleichfalls in einer Mineralisierung.“6

    Zielt die vorweihnachtliche Fastenzeit auf das Ereignis einer Geburt, so zielt die vorösterliche Fastenzeit auf das Ereignis eines Todes. Beiden gemeinsam ist die Zeitstruktur, wobei die „horizontale Aufeinanderfolge der vorübergehenden Gegenwarten den Todeslauf aufzeichnet“. Diese horizontale Aufeinanderfolge entspricht dem chronologischen Ablauf von Zeit. Nun entspricht aber „jeder Gegenwart [auch] eine vertikale Linie“. Diese verbindet jede Gegenwart „in der Tiefe mit ihrer eigenen Vergangenheit“. Das geschieht ebenso „mit der Vergangenheit der anderen Gegenwarten“.  Untereinander bilden alle diese vergangenen Gegenwarten „ein und dieselbe Koexistenz“, d.h. „ein und dieselbe Gleichzeitigkeit“. Diese ist nun eher als „das ‚Internelle‘ als das Ewige (l’éternel)“ zu verstehen. In dieser Gleichzeitigkeit als einer „reinen Erinnerung sind wir ‚gleichzeitig‘ mit dem Kind, das wir gewesen sind, so wie der Gläubige sich ‚gleichzeitig‘ mit Christus fühlt.“7

    Diese Gleichzeitigkeit konkretisiert sich liturgisch in der Taufe als Taufe auf den Tod Christi, wie Paulus es im Römerbrief schreibt (Röm 6,3). Daher der besondere Sinn eines Aschekreuzes auf der Stirn eines Menschen: Es ist „als ob der Tod außerhalb von ihm [ihr] von nun an nur auf den Tod in ihm [ihr] stoßen“  könnte.  Diese Erfahrung erzeugt ein „Gefühl von Leichtigkeit“, das schwer zu übersetzen ist: „[V]om Leben befreit? Das Unendliche, das sich öffnet? Weder Glück noch Unglück, auch nicht die Abwesenheit von Furcht und vielleicht schon der Schritt jenseits“?9

    Das Ereignis des Todes des Gottessohnes, „hat dann nichts mehr gemeinsam mit dem Raum, der ihm als Ort dient“, also das Kreuz auf Golgatha, „noch mit dem vorübergehenden gegenwärtigen Aktuellen“, also der Gegenwart vor 2000 Jahren. „[D]ie Zeitspanne des Ereignisses endigt, bevor das Ereignis endigt, das Ereignis wird dann eine andere Zeitspanne einnehmen.“ In dieser neuen Zeitspanne des Ereignisses ereignet sich nicht Neues, diese Zeit ist eine „leere Zeit“. In diese leere Zeit lösen wir das vorübergegangene gegenwärtige Aktuelle auf und versetzen „die einmal gebildete Erinnerung“ hinein. Auf diese Weise entdeckt man „eine dem Ereignis innerliche Zeit, die sich aus der Simultaneität“ verschiedener „Gegenwarten zusammensetzt“10, selbst dann, wenn sie flüchtig ist.

    … „Was macht‘s. Einzig bleibt das Gefühl von Leichtigkeit, das der Tod selbst ist, oder um es genauer zu sagen, der Augenblick meines Todes fortan stets in der Schwebe.“11
    Memento, homo!

  • Hugo Distler, Stiftungsworte Op. 3

    Hugo Distler, Stiftungsworte Op. 3

    In seiner Zeit als Lübecker Kantor hat der Komponist Hugo Distler (1908-1942) „Eine deutsche Choralmesse für sechsstimmigen gemischten Chor a cappella“ komponiert (Op. 3). Hört man dieses Werk, hat man den Eindruck, es sei eigentlich nicht für eine konzertante Aufführung, sondern für den gottesdienstlichen Vollzug gedacht. Nur wurde dieser nie realisiert.

    In der Wittenberger Schlosskirche wurde zusammen mit der Schola Cantorum Adam Rener ein liturgisch-szenischer Gottesdienst erarbeitet. Dabei wird das liturgische Geschehen zum großen Teil vom Chor übernommen. Im Zentrum steht die Einsetzung des Abendmahles (die Stiftungsworte), bei der eine singende Pastorin mit dem Chor gemeinsam agiert.

    Schola Cantorum Adam Rener
    Liturgin: Susanne Fischer
    Orgel: Thomas Herzer
    21. November 2021, 17.00 Uhr
    Schlosskirche Wittenberg

    Zu Beginn des Gottesdienstes sitzen die Sängerinnen und Sänger der Schola Cantorum Adam Rener im Kirchenschiff der Wittenberger Schlosskirche diskret in der versammelten Gemeinde verteilt.
    Der Gottesdienst beginnt mit dem Orgelvorspiel, der Choralbearbeitung „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ von Johann Sebastian Bach.
    Anschließend geht die Liturgin vom Chorgestühl zu Altar und begrüßt die Gemeinde mit Votum und Tagesgebet. Anschließend sprechen Chor und Gemeinde den vorgeschlagenen Psalm 126 im Wechsel. Die Liturgin setzt sich wieder ins Chorgestühl.
    Die Gemeinde singt das die ersten beiden Strophen des Gemeindeliedes „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (EG 147). Sie steht dazu auf. Während der zweiten Strophe gehen die Sängerinnen und Sänger von Ihre Plätzen aus nach vorne und stellen sich auf der Höhe zwischen der Kanzel und dem Lesepult in versetzten Reihen zur Gemeinde blickend auf.

    Nach dem Lied sprechen sie gemeinsam chorisch die Lesung, das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen aus dem Matthäusevangelium (25, 1 – 13).
    Direkt im Anschluss an die Lesung singt der Chor die dritte Strophe des begonnenen Gemeindeliedes im Choralsatz von Johann Sebastian Bach Liedes „Gloria, sei dir gesungen“. Anschließend setzt sich die Gemeinde. Der Chor nimmt im Chorgestühl rechts und links im Altarraum Platz.

    Als homiletischer Hör-Impuls wird aus dem szenischen Off ein Ausschnitt aus der Predigt Q 12 von Meister Eckhart gelesen.
    Im Anschluss wird im Stehen die ersten beiden Strophen des Gemeindeliedes „Als Jesus Christus, unser Herr“ (Text: Sebald Heyden) zur Melodie von „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ (EG 76) gesungen.
    Während der zweiten Strophe geht die Liturgin zum Altar. Die Choristen folgen ihr und stehen links und rechts zu ihrer Seite in abständiger, leicht versetzter Doppelreihe (wie zur Lesung, nur in offenem Halbkreis).
    Die Liturgin spricht das Gebet zur Präfation zum Altar gewandt. Gemeinsam mit Chor und Gemeinde spricht sie das Vaterunser.
    Mit der Patene dreht sie sich zur Gemeinde und beginnt die Stiftungsworte von Hugo Distler mit den Einsetzungsworten, die vom Chor mit dem Choral „Als Jesus Christus, unser Herr“ begleitet werden, zu singen.
    Nach dem Brotwort dreht sie sich um, stellt die Patene auf dem Altar ab, dreht sich mit dem Kelch wieder zurück und fährt fort.
    Nach dem von der Liturgin gesprochenen Wort: „Kommt, denn es ist alles bereit“, gehen drei Paare aus dem Chor zur Austeilung an drei Stationen in der Kirche (Altarraum, Mitte und Hinten) und teilen die Gaben mit den Spendeworten aus.

    Während das Austeilung spielt die Orgel und die Choristen kehren an ihre Plätze in der Gemeinde zurück. Es folgen Dankgebet und Segen von der Liturgin am Altar.
    Den Gottesdienst beschließt die erste Strophe des Abendliedes „Christe, du bist der helle Tag“ (EG 469). Es wird im Stehen gesungen. Während des Liedes geht die Liturgin zurück ins Chorgestühl.
    Das Ausgangstück der Orgel ist die Partita über „Christe, du bist der helle Tag“ (Op. 8, Nr. 7) von Hugo Distler mit den Sätzen: I Choral, II Bicinium, III Pastorale. Hierzu setzt sich die Gemeinde.

  • Weihnachten, Epiphanias: Ein Geschenk

    Weihnachten, Epiphanias: Ein Geschenk

    „In einem Weihnachtsbrief des Jahres 1923 schreibt [Walter Benjamin (1896-1943)] an seinen älteren Freund Florens Christian Rang: ‚Dann aber ist bei solchem Gruße das Merkwürdige, dass er neben allen Weihnachtserinnerungen aus der Kindheit, denen das Gewissen einen breiteren Raum zu gönnen verbietet, auf eine trifft, die zu den drei oder vier unveräußerlichen meines Lebens gehören, in denen dieses sich vernehmlich in mir gestaltete. Ich weiss nicht, wie alt ich war, vielleicht sieben, vielleicht zehn Jahre. Vor der Bescherung saß ich allein in einem dunklen Zimmer und dachte an das Gedicht ‚Alle Jahre wieder‘ oder sagte es. Was dabei eigentlich geschah, weiss ich nicht und der Versuch, es auszusprechen, würde nur eine Fälschung hervorbringen. Kurz, noch heute sehe ich in diesem Augenblick mich in jenem Zimmer sitzen und weiss, dass es das einzige Mal in meinem Leben war, dass ein seinem Gehalt nach religiöses Liedwort oder Wort überhaupt in mir eine unsichtbare oder nur flüchtige sichtbare Gestalt annahm.‘1

    W[alter] Benjamin stammt aus einem Berliner bildungsbürgerlichen Haus assimilierter Juden, die die Gebräuche ihrer christlichen Umgebung übernommen hatten, auch Weihnachten mit seiner häuslichen Inszenierung. Der erwachsene Mann erinnert sich an etwas, was annähernd ein halbes Jahrhundert zurückliegt und ihm im Gedächtnis geblieben ist als eine der wenigen ‚unveräußerlichen‘ Erinnerungen des Lebens, die einzige, die sich an ein Stück religiöser Sprache heftet: ‚Alle Jahre wieder…‘ Und er offenbart dem evangelischen Freund, dass hier aus einem christlichen Liedvers so etwas wie eine Epiphanie hervorgegangen ist, die tiefbewegend, aber nicht näher zu beschreiben ist.

    Anfang der dreißiger Jahre hat W[alter] Benjamin ein Buch mit dem Titel ‚Berliner Kindheit um Neunzehnhundert‘2  geschrieben. In der Topographie dieser philosophischen Stadtskizzen begegnet ein Stück mit dem Titel ‚Ein Weihnachtsengel‘3, das die Stelle aus dem Brief an F. Chr. Rang in einer Art narrativer Reflexion aufgreift.

    ‚Ein Weihnachtsengel
    Mit den Tannenbäumen begann es. Eines Morgens, noch ehe Ferien waren, hafteten an den Straßen-ecken die grünen Siegel, die die Stadt wie ein großes Weihnachtspaket an hundert Ecken und Kanten zu sichern schienen. Dann barst sie eines schönen Tages dennoch und Spielzeug, Nüsse, Stroh und Baumschmuck quollen aus ihrem Innern: der Weihnachtsmarkt. Mit ihnen quoll aber noch etwas anderes hervor. Die Armut. Wie nämlich Äpfel und Nüsse mit ein wenig Schaumgold neben dem Marzipan sich auf dem Weihnachtsteller zeigen durften, so auch die armen Leute mit Lametta und bunten Kerzen in den bessern Vierteln. Die Reichen aber schickten ihre Kinder vor, um denen der Armen wollene Schäfchen abzukaufen oder Almosen auszuteilen, die sie selbst vor Scham nicht über ihre Hände brachten. Inzwischen stand bereits auf der Veranda der Baum, den meine Mutter insgeheim gekauft und über die Hintertreppe in die Wohnung hatte bringen lassen. Und wunderbarer als alles, was das Kerzenlicht ihm gab, war, wie das nahe Fest in seine Zweige mit jedem Tag dichter sich verspann. In den Höfen begannen die Leierkästen die letzte Frist mit Chorälen zu dehnen. Endlich war sie dennoch verstrichen und einer jener Tage wieder da, an deren frühesten ich mich hier erinnere. In meinem Zimmer wartete ich, bis es sechs werden wollte. Kein Fest des späteren Lebens kennt diese Stunde, die wie ein Pfeil im Herzen des Tages zittert. Es war schon dunkel, trotzdem entzündete ich nicht die Lampe, um den Blick nicht von den dunklen Fenstern überm Hof zu wenden, hinter denen nun die ersten Kerzen zu sehen waren. Es war von allen Augenblicken, die das Dasein des Weihnachtsbaumes hat, der heimlichste, in dem er Nadeln und Geäst dem Dunkel opfert, um nichts zu sein als nur ein unnahbares und doch nahes Sternbild im trüben Fenster einer Hinterwohnung. Doch wie ein solches Sternbild hin und wieder eins der verlassenen Fenster begnadete, indessen viele weiter dunkel blieben und andere, noch trauriger, im Gaslicht der frühen Abende verkümmerten, schien mir, dass diese weihnachtlichen Fenster die Einsamkeit, das Alter und das Darben – all das, wovon die armen Leute schwiegen – in sich fassten. Dann viel mir wieder die Bescherung ein, die meine Eltern eben rüsteten. Kaum aber hatte ich so schweren Herzens wie nur die Nähe eines sichren Glücks es macht, mich vom Fenster abgewandt, so spürte ich eine fremde Gegenwart im Raum. Es war nichts als ein Wind, so dass die Worte, die sich auf meinen Lippen bildeten, wie Falten waren, die ein träges Segel plötzlich vor einer frischen Brise wirft.
    ‚Alle Jahre wieder
    Kommt das Christuskind
    Auf die Erde nieder
    Wo wir Menschen sind‘
    – Mit diesen Worten hatte sich der Engel, der in ihnen begonnen hatte, sich zu bilden, auch verflüchtigt. Doch nicht mehr lange blieb ich im leeren Zimmer. Man rief mich in das gegenüberliegende, in dem der Baum nun in die Glorie eingegangen war, welche ihn mir entfremdete, bis er, des Untersatzes beraubt, im Schnee verschüttet oder im Regen glänzend, das Fest da endete, wo es ein Leierkasten begonnen hatte.‘

    Es ist ein ‚Stadtbild‘4, ein Bild der Stadt Berlin, dieses besonderen bürgerlichen Viertels, gesehen von einem bestimmten Haus, dieser Stube im begüterten Vorderhaus der, ein Zeitbild, um 1900, zur Weihnachtszeit. E. Fischer hat W. Benjamin einen ‚Geisterseher in der Bürgerwelt‘5  genannt: ‚Die scheinbar unbedeutenden Dinge, an denen die meisten achtlos vorübergehn, werden für ihn zum Zeichen; sie deuten auf ein andres hin, sie fordern zur Deutung heraus, sie sind bedeutend. Die Fähigkeit Benjamins, im kleinsten Gegenstand den größten Zusammenhang wahrzunehmen, das Gegenständliche als Hieroglyphe aufzufassen und durch deren Entzifferung das Zuständliche, das gesellschaftlich Wirkende aufzudecken …‘6.

    ‚Die Stadt wie ein großes Weihnachtspaket.‘  –  Es ist ‚der Blick des Allegorikers, der die Stadt trifft‘7. Die Tannenbäume an den Straßenecken der vorweihnachtlichen Stadt lösen die Imagination eines grün verseigelten Weihnachtspakets aus. Das Packet birst eines schönen Tages. Was verborgen war, quillt hervor: der Weihnachtsmarkt, aber mit den schönen Dingen, die sich da anbieten, zugleich ‚die Armut‘. Und wie auf dem Weihnachtsteller neben dem wohlhabenden Marzipan sich die proletarischen Äpfel und Nüsse zeigen, so jetzt zur Weihnachtszeit, die armen Leute … in den bessern Vierteln‘. Die Stadt offenbart sich über die Kinder und Leierkastenspieler als Ort sozialer Klassen, von Arm und Reich.

    Das drängt sich für das Kind zusammen in die Stunde vor der Bescherung (‚die wie ein Pfeil im Herzen des Tages zittert‘), da es allein vom dunklen Zimmer des Vorderhauses in die Hinterhöfe blickt, deren Fenster ihm als emblematische Inbilder des Lebens der armen Leute erscheinen, ‚der Einsamkeit, des Alters und des Darbens‘, aber doch ‚hin und wieder‘ ‚begnadet‘ durch das Kerzenlicht eines Weihnachtsbaumes, der ‚Nadeln und Geäst‘, wie es heißt, ‚opfert‘, um nur noch ‚ein nahes und unnahbares Sternbild‘ zu sein. Die Erfahrung des Kindes nähert sich hier dem, was Benjamin andernorts im Phänomen der ‚Aura‘ zu begreifen sucht: die ‚einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag‘8; ‚Diese Bestimmung hat für sich, den kultischen Charakter des Phänomens transparent zu machen. Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare: in der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes.‘9  Die hier gemeinte Nähe ästhetischer Erfahrung zur religiösen wird in Benjamins Weinachtgeschichte gestützt durch die unerwartet religiösen, ja ‚kultischen‘ Termini ‚begnadet‘ und ‚opfert‘. Er ist eine Art von Epiphanie mitten in der Bürgerwelt, aber ganz im dunklen Vorraum der offiziellen ‚Bescherung‘, die den Baum zur manifesten Glorie nahen Glanzes bringt und im gleichen Augenblick seines Geheimnisses beraubt ‚entfremdet‘.

    An der Schwelle zwischen beidem liegt noch eine Erfahrung, die der Titel der Geschichte unmittelbar im Blick hat: ‚Der Weihnachtsengel‘. Es ist das Spüren einer ‚fremden Gegenwart im Raum‘, nun dem des Kindes selbst. Es ist nichts zu sehen, nur zu spüren, ‚nichts als ein Wind‘. Der Anhauch wird Wort in den Versen eines Weihnachtsliedes: ‚Alle Jahre wieder…‘. Die Worte des Liedes fangen den Wind auf wie ein Segel die Brise, Verse als Falten. Es ist, wie wenn sich aus diesem Zusammentreffen von fremdem Hauch und bekanntem Lied ein ‚Engel‘ bildete, die Figur eines Boten mit himmlischer Botschaft. Aber diese Verse, die den Anhauch aufzufangen scheinen, beendigen ihn im gleichen Augenblick, ‚der Engel, der in ihnen begonnen hatte, sich zu bilden‘, verflüchtig sich im Augenblick des Aussprechens schon. ‚Der Weihnachtsengel‘ ist eine allerflüchtigste Erfahrung. Vielleicht könnte man auch sagen, sie ist wie ein Traum, der in Windeseile von einem Ereignis ausgelöst wird, auf das er zuläuft, um mit ihm zugleich zu Ende zu sein. Dieses Ereignis wäre hier das Weihnachtslied, das dem Kind in den Sinn kommt. Es ist ein Lied, das nicht im Gesangbuch steht, aber zum festen Repertoire des geistlichen Volksliedes zu dieser Zeit gehört. Es ist wie ein Korn, das absichtslos ausgestreut wurde und hier in dieser Kindheitserinnerung, ja offenbar im geistigen Leben Walter Benjamins merkwürdig aufgegangen ist.

    Benjamins ‚Der Weihnachtsengel‘ ist eine Geschichte der Zeit, der Jahreszeit des Winters in seiner bürgerlichen Verfassung. Und darin eingelegt ist es eine nach Zeit und Stunde und Augenblick terminierte Geschichte einer intimen Erfahrung. Die Mystik dieser Erfahrung ist keine Naturmystik des Winters und seiner Landschaft, sie ist eine Mystik der Stadt, ihrer kulturellen Jahreszeit. Sie geht nicht zurück hinter die Phänomene der bürgerlichen Weihnachtskultur, um in ihrem kirchlichen Kern niederzuknien, sondern geht ihnen nach und auf den Grund. In dieser profanen Aufmerksamkeit erfährt sie etwas, wovon man nur träumen kann. Benjamins spät (1940) geschriebenen ‚Geschichtsphilosophischen Thesen‘ enden mit den Sätzen: ‚Den Juden wurde die Zukunft (…) nicht zur homogenen und leeren Zeit, Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.‘10  Hört man in dem ‚Christuskind‘ des Weihnachtliedes das ursprünglich Messianische mit, so konnte die beschriebene mystische Erfahrung eine Sekunde der Annäherung sein, die sich im gleichen Augenblick aber zurückziehen musste, weil es das Ende der Welt gewesen wäre: ‚Erst des Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, dass er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft.‘11

    Mit der Figur des Engels verbinden sich bei Benjamin Erfahrungen des ‚Ephemeren‘, der ‚Aktualität‘ als flüchtiger Berührung.12  In der Ankündigung der Zeitschrift ‚Angelus Novus‘ heißt es zum Schluss: ‚Werden doch sogar nach einer talmudischen Legende die Engel – neue jeden Augenblick in unzähligen Scharen – geschaffen, um, nachdem sie vor Gott ihren Hymnus gesungen, aufzuhören und ins Nichts zu vergehen.‘13  Der Anflug des Weihnachtsengels in jener Berliner Bürgerstube um 1900 hat diese mystische Flüchtigkeit.“

    Ein Geschenk von Alex Stock, Poetische Dogmatik, Ekklesiologie, 2. Zeit, Paderborn 2016, S. 129-133.
     

  • Advent: Sehnsucht

    Advent: Sehnsucht

    „Sehnsucht kommt aus dem Chaos … ist die einz‘je Energie … eine Sucht“ heißt es im spektakulären Titel „Sehnsucht“1  der Berliner experimental Band „Einstürzende Neubauten“. Es wurde auf ihrem Album „½ Mensch“ (1985) veröffentlicht und gleicht nicht nur einem Schrei. 

    Dass eine derartige Sehnsucht etwas mit dem christlichen Advent zu tun bekommen könnte, erscheint zunächst befremdlich. Macht man sich jedoch klar, dass Advent jenseits aller bürgerlich-kirchlichen Besinnlichkeit vor allem einem Zeitsturm gleichkommt, hört sich das schon anders an.

    Versteht man nämlich den ersten Advent, wie es sich seit dem 5./6. Jahrhundert stabilisiert hat, „als eine Art liturgisches Neujahr, so kommt man in eigentümliche Zeitverhältnisse: Die Zeit post Christum natum beginnt ante Christum natum. Die Adventsliturgie versteht die vier Wochen vor Weihnachten als Mimese der alttestamentlichen Erwartung des Erlösers“.2 Deshalb setzt der „tonangebende Adventsevangelist“3  Markus, auch mit Jesaja ein (Mk1,2) und eröffnet damit eine großartige Lektüreperspektive.

    Die Ankunft des Erlösers gilt als erfüllte Zeit. Doch wird sie schließlich bis zu seiner Wiederkunft auf Dauer gestellt. „‘Die Zeit ist erfüllt‘, ja, aber sie dauert fort.“4  Dieser Hiatus wird normalerweise überbrückt bzw. kurzgeschlossen. Zeittheoretisch klingt das so: „Das ante wird als ein ad verstanden, nicht nur chronologisch also, sondern teleologisch.“5

    Es spricht jedoch einiges vehement dafür, diesen Widerspruch zwischen erfüllter Zeit und ihrer ausgerichteten Fortdauer nicht zu überbrücken. „Es herrscht zwar das Gefühl eines radikalen Bruchs, jedoch mit der wesentlichen Nuance: dass er immer wieder neu zu vollziehen ist. Dieser grundsätzlichen Instabilität entkommt man nicht.“6  Und man sollte ihr je länger je weniger entkommen, denn sie bewirkt „eine gewaltige Öffnung“7.

    Zeittheoretisch – und eben nicht teleologisch überbrückt – gedacht bedeutet das, dass die „horizontale Aufeinanderfolge der vorübergehenden Gegenwarten den Todeslauf aufzeichnet“. Diese horizontale Aufeinanderfolge entspricht dem chronologischen Ablauf von Zeit. Nun aber, aus ihrem teleologischen Gatter befreit, entspricht „jeder Gegenwart [auch] eine vertikale Linie“, die diese Gegenwart „in der Tiefe mit ihrer eigenen Vergangenheit“ verbindet. Das geschieht ebenso „mit der Vergangenheit der anderen Gegenwarten“.  Untereinander bilden alle diese vergangenen Gegenwarten „ein und dieselbe Koexistenz“, d.h. „ein und dieselbe Gleichzeitigkeit“. Diese ist nun eher als „das ‚Internelle‘ als das Ewige (l’éternel)“ zu verstehen. In dieser Gleichzeitigkeit als einer „reinen Erinnerung sind wir ‚gleichzeitig‘ mit dem Kind, das wir gewesen sind, so wie der Gläubige sich ‚gleichzeitig‘ mit Christus fühlt.“8

    „Einer schönen Formulierung des heiligen Augustinus zufolge, gibt ‚es eine Gegenwart der Zukunft, eine Gegenwart der Gegenwart, eine Gegenwart der Vergangenheit, alle einbegriffen und aufgerollt im Ereignis, folglich simultan und unerklärlich.“9

    Ein Ereignis wie die Geburt des Erlösers, „hat dann nichts mehr gemeinsam mit dem Raum, der ihm als Ort dient“, also der Krippe in Bethlehem, „noch mit dem vorübergehenden gegenwärtigen Aktuellen“, also der Gegenwart vor 2000 Jahren. „[D]ie Zeitspanne des Ereignisses endigt, bevor das Ereignis endigt, das Ereignis wird dann eine andere Zeitspanne einnehmen.“ In dieser neuen Zeitspanne des Ereignisses ereignet sich nicht Neues, diese Zeit ist eine „leere Zeit“. In diese leere Zeit lösen wir das vorübergegangene gegenwärtige Aktuelle auf und versetzen „die einmal gebildete Erinnerung“ hinein. Auf diese Weise entdeckt man „eine dem Ereignis innerliche Zeit, die sich aus der Simultaneität“ der drei augustinischen „Gegenwarten zusammensetzt“.10

    Diese Turbulenzen in der leeren Zeit charakterisieren den Advent, machen seine Energie aus, erzeugen seine Sucht. Aber man muss es riskieren, sein Ereignis immer wieder neu offen zu lassen, die Zeit leer zu lassen, Platz zu lassen, ihn buchstäblich frei zu räumen im Kirchenraum, damit überhaupt etwas bzw. jemand ankommen kann.

    Einzig Rufe ins Offene zählen: Maranatha! „Nun komm, …“11!
     

  • Umbau

    Lassen sich die Verpackungen von Christo und Jeanne Claude, hier der Triumphbogen in Paris (2021), oder der Reichstag in Berlin (1995) eigentlich als Strategien eines minderheitlich-Werdens lesen? Interessierten sei das im Juli erschienene Buch „minderheitlich werden. Experiment und Unterscheidung“ (Leipzig 2021) empfohlen.

    Am 23. August ist Jean-Luc Nancy in Straßburg gestorben. Für die Herderkorrespondenz (November 2021) durfte ich einen Nachruf schreiben. Zur Lektüre empfohlen sei sein Buch „Mein Gott!“, das im Juni im Berliner Verlag Matthes und Seitz erschienen ist.

    Die beiden „TV-Serien“ dieses Blogs erscheinen im Frühjahr 2022 unter dem Titel „Wo bin ich, wenn ich vor dem Bildschirm bin? Liturgisch-ästhetische Untersuchungen“ bei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig:

    "Groß ist die Sehnsucht der Kirchen und ihrer Verwaltungen nach der teils enormen Öffentlichkeit, die die neuen „sozial“ genannten Medien erzeugt wird. Unter den Bedingungen einer Pandemie, die das öffentliche Leben in außergewöhnlichem Maße einschränkt, ist die Bedeutung der stark bildgestützten medialen Öffentlichkeit noch deutlich gewachsen.
    Künstlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Ausrichtungen erkunden seit Langem Möglichkeiten und Grenzen medialer Gestaltung und Existenz. Die konkrete Theorie und Praxis der Kirchen in diesem Feld zeigt sich davon überraschend unberührt.
    Das Buch stellt Untersuchungen vor, die während des Pandemiejahres praxisbeobachtend entstanden sind. Sie lassen sich als Anregungen lesen, einem medial suggerierten Selbstbezug – man könnte ihn selfiness nennen – liturgisch-ästhetisch zu entkommen."

    Dieser Blog wir unterdessen umgebaut. Jetzt macht er eine Pause. Mitte November nimmt er seine Denkwege wieder auf mit veränderten Bildmotiven und Themen. Die Themen konzentrieren sich auf das Kirchenjahr und seine Feste. Die Bilder werden als Buchstabengrafiken des Wittenberger Grafikers Christian Melms entsprechende lateinisch Worte aus dem alten, nizäno-konstantinopolitanum genannten Glaubensbekenntnis der Kirchen bearbeiten.

    Berliner Leserinnen und Lesern und solche, die gern dorthin reisen, seien inzwischen auf den nächsten LABORa-Gottesdienst am 14. November 2021 in der St. Matthäuskirche im Kulturforum hingewiesen. Er wird im Kontext des Ausstellungsprojektes „Mischa Kuball (UN)FINISHED“ stattfinden. Bilder dieser liturgisch-performativen Experimente können auf dieser Homepage unter „LABORa Fotos“ angesehen werden.

    Wittenbergerinnen und Wittenberger und solchen, die gern dorthin reisen, seien darauf hingewiesen, dass am Ewigkeitssonntag (21.11.) in der dortigen Schlosskirche die Stiftungsworte aus der Deutsche[n] Choralmesse (op. 3) von Hugo Distler in einer liturgisch-szenischen Einrichtung mit der Schola Cantorum Adam Rener unter der musikalischen Leitung von Sarah Herzer als Gottesdienst gefeiert wird.

    Bis bald!
    D.S.
     
     

  • Das Wort

    Jütland, hoher Himmel, Dünen. Ein Mann steht dort im Dünengras. Er trägt einen Mantel über den Schultern und ruft in den Wind: Weh Euch, ihr Heuchler … Wenig später, beim unverhofften Antrittsbesuch des neuen Pastors auf dem Bauernhof Borgensgaard, erfahren wir: Es ist Jesus von Nazareth.

    Sein Vater und seine Brüder rufen Ihn Johannes. Sie sind tief besorgt über seinen geistigen Gesundheitszustand1, darüber, dass er sich für Jesus Christus hält, in Bibelworten zu ihnen spricht: Ich bin das Licht der Welt, und dazu Kerzenleuchter ins Fenster stellt.

    Befremdlich erscheinen seine umherirrenden Bewegungen im Raum, die nicht recht in die Einrichtung des Hauses passen wollen. „Dieser Christus ist nicht mehr die Hostie, nicht mehr das Opferlamm, sondern der Idiot oder der Vagabund; er lebt in einer entvölkerten Welt und lässt in seiner langsamen monotonen Rezitation ganz einfach das Wort der Zeit hören.“2

    Er agiert auch nicht wie ein Schauspieler, der Christus spielt, vielmehr erscheint er wie ein Komparse (figurant)3, ein „Idiot vom Dienst“, der durch seine „rätselhafte oder peinliche Imitation Jesu“,  aber doch ein wenig „Gnade eindringen lässt in diese harte, kleinkarierte, moralische Welt“4.

    Seine „evangelische Verrücktheit“, bringt etwas „Licht und ein befremdliches Geheimnis“ in die Welt. Ihre „sinnliche und dramatische Wirkung“ ist ein  Anhalten, ein „Aufheben (suspension) der Zeit“.5

    „Ohne Zweifel ist Johannes Gott näher als die Christen, die ihn umgeben“6, sagt der dänische Regisseurs des Films Ordet (Das Wort), Carl Theodor Dreyer (1889-1968). Und so sagt es auch Johannes‘ Schwägerin, Inger, im Film.7

    Und sie ist es, die den Plot des Films atemberaubend zum Kippen bringt. Sie stirbt bei der Geburt ihres dritten Kindes und stürzt das Haus in verzweifelte Trauer. Nach einem Zusammenbruch am Totenbett verschwindet Johannes, doch nicht ohne seine Nichte Maren beruhigt zu haben: Sie solle sich um den Tod ihrer Mutter nicht sorgen, er werde sie auferwecken, wenn man ihn ließe.

    Während der Totenwache kehrt er plötzlich zurück und begrüßt seinen Vater. Als Johannes ihn als seinen Vater anspricht, versteht der sofort, dass er wieder bei Verstand ist und nicht mehr Jesus. Johannes bestätigt. Er steht vorm offenen Sarg seiner Schwägerin. Da ergreift Maren die Hand ihres Onkels und flüstert ihm zu, er solle sich beeilen.

    Als Johannes ankündigt, er wolle Inger ins Leben zurückrufen, wenn ihm Gott das rechte Wort dazu gebe, hält der Arzt den zum Protest anhebenden Pfarrer zurück. Johannes ruft seine Schwägerin ganz schlicht im Namen Jesu Christi dazu auf, sich zu erheben. Worauf sich nach einer gespannten Weile ihre Hände regen und sie kurz darauf in den Armen ihres am Sarg stehenden Mannes liegt, ihn küsst und sagt: Leben!

    Im zweiten Band seines Kinobuches beschreibt der französische Philosoph Gilles Deleuze, dass Carl Theodor Dreyer mit seinen letzten beiden Filmen, Ordet und Gertrud (1964), ein „neues Kino“ begründet hat, denn „je weniger die Welt menschlich ist, desto eher kommt es dem Künstler zu, an die Beziehung zwischen Mensch und Welt zu glauben und die anderen zu diesem Glauben zu veranlassen“. Das „kinematografische Bild“ zeigt „uns das Band zwischen Mensch und Welt“ auf, indem es das „Denken[] des Undenkbaren“ zeigt.8

    Das Denken selbst ist in Ordet „zur toten und kataleptischen jungen Frau geworden: der Wahnsinnige der Familie gibt ihr Leben und Liebe zurück, gerade deswegen, weil er nicht mehr wahnsinnig ist, nämlich sich nicht mehr einbildet, von einer anderen Welt zu sein, und weil er nun weiß, was glauben bedeutet“9.

    „[E]s ist das Unmögliche, das nicht anders als in einer Glaubenshaltung zurückkehren kann. Der Glaube richtet sich nicht an eine andere oder verwandelte Welt. Der Mensch ist in der Welt wie in einer rein optisch-akustischen Situation. Die dem Menschen verlorengegangene Reaktion kann einzig durch den Glauben ersetzt werden. Allein der Glaube vermag den Menschen an das zurückzubinden, was er sieht und hört. Von daher ist es notwendig, dass das Kino nicht die Welt filmt, sondern den Glauben an die Welt, unser einziges Band. Man hat sich vielfach über die Natur der kinematographischen Illusion ausgelassen. Uns den Glauben an die Welt zurückzugeben – dies ist die Macht des modernen Kinos (wenn es kein schlechtes mehr ist). Ob wir Christen oder Atheisten sind: in unserer universellen Schizophrenie brauchen wir Gründe, um an diese Welt zu glauben. Das  bedeutet eine regelrechte Konversion.“10

    Im bildlichen Zentrum stehen wiederum die Körper: Als in Ordet Mikkel weinend vor der Unmöglichkeit steht, sich von seiner gestorbenen Frau Inger zu verabschieden und sein Vater ihn ermahnt, erwidert er, dass er doch auch ihren Körper liebe. Wieder ins Leben zurückgekehrt küsst sie ihn sogleich leidenschaftlich.

    Im kinematographischen Bild kann es nicht um die Präsenz von Körpern gehen, wie z.B. im Theater. Vielmehr geht es wieder um einen Glauben, „der in der Lage ist, uns die Welt und den Körper von dem aus, was ihre Abwesenheit bezeichnet, zurückzugeben“. Dazu ist „die Erfindung von Kamerabewegungen und –positionen, die der Genese der Körper entsprechen und ihre ursprünglichen Stellungen miteinander verketten“, unerlässlich.11

    Dreyers Kameramann, Henning Bendsten, berichtet in einer Dokumentation über die Dreharbeiten zu Ordet von speziellen Kamerafahrten, die um Personen und Personengruppen herum gebaut wurden, und von der besonderen Sorgfalt, die er der Beleuchtung der Gesichter der beteiligten Personen und Personengruppen angedeihen ließ. Er behandle Gesichter wie Landschaften.12

    Diese Aufnahmen von Gesichtern spielen auch in der Analyse von Deleuze eine besonders markante Rolle und setzen sie in ein neues Verhältnis zum Raum. Denn Dreyer vermeidet „das Schuss-Gegenschuss-Verfahren, das jedes Gesicht in einem realen Verhältnis zu einem anderen Gesicht erhalten würde. Er isoliert „jedes Gesicht in einer Großaufnahme, die nur teilweise gefüllt wird“, um auf diese Art und Weise „aus der Stellung auf der linken oder rechten Seite unmittelbar eine virtuelle Verbindung“ abzuleiten, „die nicht mehr über eine wirkliche Verknüpfung zwischen den Personen verlaufen muss“.13

    Dreyer selbst nennt diese Technik „fließende Großaufnahme“. Dabei geht „die Kamera in einer kontinuierlichen Bewegung von der Großaufnahme über in die Halbnahe zur Totale“. Das Besondere besteht darin, „die Halbnaheinstellung und die Totale mittels fehlender Tiefe und aufgehobener Perspektive wie Großeinstellungen zu behandeln“. Auf diese Weise bekommt jede beliebige Einstellung den „Status einer Großeinstellung“ und die „vom Raum stammenden Unterscheidungen verschwinden tendenziell“.14
    Dadurch beseitigt Dreyer die „‘atmosphärische‘ Perspektive“ und erfindet „eine im eigentlichen Sinne zeitliche oder sogar spirituelle Perspektive“.15

    Die Pointe dieser Analyse ist folgende: „Durch die Vernichtung der dritten Dimension bringt er [Dreyer] einen zweidimensionalen Raum in unmittelbare Beziehung zum Affekt, zu einer vierten und fünften Dimension: Zeit und Geist.“16

    Dieser „spirituelle Affekt“17  eröffnet in unserem Zusammenhang von Bildschirmpraxis und Glauben ein konkretes bildtechnisches Forschungsfeld, das auf seine Bearbeitung wartet.


  • Bildtheorien

    In der Kinemathek in Lissabon hält der französische Bildtheoretiker Jean Louis Schefer im Jahre 1997 einen Vortrag mit dem Titel „Kinematographien“. Darin verfolgt er die Idee einer Genealogie der Bilder ausgehend von der Szene von Golgatha.

    Auf den ersten Blick erscheint diese Idee nur sinnvoll innerhalb einer christlichen Bildtheorie. Im größeren Zusammenhang einer Geschichte der Bilder stellt sich diese Perspektive jedoch als experimentelle Herangehensweise heraus. Sie trifft ins Herz unserer ästhetisch-liturgischen Untersuchungen.

    „Der Gott unserer Religion stirbt am Kreuz für den Loskauf der Menschheit. Er stirbt wie ein Mensch, im Körper eines Menschen, an einem Kreuz. […] Dieser Körper, der der Körper eines Menschen ist, repräsentiert nicht den Gott, der dieser Mensch war. Dieser Gott wird unsichtbar bleiben bis zum Ende der Zeiten. […] Das Wort oder der Logos hat also kein Porträt.“

    Demzufolge ist ein Bild „nicht die Gegenwart, sondern die Beschwörung (évocation) des verschwundenen Subjekts, es erinnert (commémore) dieses Verschwinden. Der Sinn wird nicht erhalten (tenu) durch die Linienführung der Form. […] Gott hat die menschliche Form verlassen.“2

    Das Kino, seine Vorläufer und Nachfolger, hat nun in zahlloser Art mit der menschlichen Form und das heißt mit dem menschlichen Körper gespielt, ihn aufgenommen, bearbeitet etc. Und siehe da, der Körper erscheint als eine Fiktion. Das liegt einerseits an der Kraft der aufgenommenen Bilder, andererseits erscheint aber auf dem Bildschirm bzw. der Projektionsfläche (écran) eine reine Lichtform (transposition lumineuse) ohne körperlichen Rückhalt (support).3

    „Unsere Kultur hat also eine Folge von technischen und somit formellen Erfindungen zu verzeichnen: Aufnahme von Bewegungen, Rahmungen, Einstellungen, Typen von Schnittfolgen. In dieser Logik wurde die Aufnahme des Lebens simultan zum Dokumentarfilm, d.h. zur Brutalität der Fakten und zur Parodie des Lebens; das Leben selbst ist als Fiktion (polizeilich, politisch, sentimental, formell) sichtbar geworden. Auf diese Weise hat ohne Zweifel das Kino bei der Erziehung der Gefühle (éducation sentimentale) die Rolle gespielt, die früher dem Roman zukam. Aber es hat zugleich, weil die Macht und die Struktur seiner Bilder derart beschaffen waren, die Gespenster (fantômes) kommen lassen, die man dem Gerücht nach schon kannte, nämlich diejenigen, die einfach niemals einen Körper annehmen könnten (die lieben Verstorbenen, die Vampire, aber auch alle Körper der Geschichte, die unter unseren Augen beweglich geworden sind). Es war also fatal, dass sich eines schönen Tages anlässlich dieser außerordentlichen Wiederholungen des Todes Gottes die Frage nach der Inkarnation stellte. Und diese Frage stellt sich immer wieder, nach dem selben Szenario, aus ihr besteht die gesamte Geschichte der Theologie: Ist Christus ein Mensch oder das Bild eines Menschen? Ist Christus in der Eucharistie in der Realität oder symbolisch? Ist ein gefilmter Mensch ein realer Mensch oder schon die Fiktion eines Menschen?“4

    Und Schefer fasst seinen Gedanken zusammen: „Ich glaube, dass dieser Kalvarienberg ein Symptom war und ein Beispiel, denn mit diesem gewaltigen Signalmast des Kreuzes, das über die Welt aufgerichtet wurde, hat die Realität ihre Erscheinung verlassen. Ohne Zweifel ist dies das einzige Beispiel der Welt, und unser Erbe (wir haben kein anderes), bei dem die Inkarnation, der Sinn einer Form, zugleich verständlich (intelligible) und unverständlich (incompréhensible) ist, denn der Gott, der diese Form bewohnt und sie auf diese Weise geheiligt (consacré) hat, verlässt diese Form. Dieser im Bild zurückgelassene Schock, diese Narbe machen zu einem guten Teil unsere Kunst und unsere Kultur aus.“5

    Deutlich sichtbar markiert dieses Trauma die bildtheoretischen Auseinandersetzungen zwischen der Ostkirche und der Westkirche. Sie führten nicht nur zur Spaltung der Christenheit, sondern setzen sich bis heute fort. Der für unseren Zusammenhang wichtigste Aspekt dieses Bilderstreits zwischen Byzantinern und Lateinern lässt sich als eine Transformation vom Bild zum Sakrament beschreiben. Was die Byzantiner rituell um die Bilder rekonstruierten, konstruierten die Lateiner formelhaft im Sakrament.6

    Innerhalb ihrer Heilsökonomie hatte die byzantinische Theologie das Bild als ein „Vehikel der Erkenntnis seines Prototyps“ definiert.7  Damit war das Bild rituell der „letzte Begriff für den Ersatz (substitution) von Opfergaben, die an Götter gerichtet“ wurden. Genau hier setzt die Kritik der Lateiner an. In den Libri carolini wird der Gedanke entwickelt, dass es keine „Ersetzung (substitution) des Leibes (corps) Christi in der Form eines Bildes geben kann“.8  Denn „die sakramentalen Gaben repräsentieren nicht, sondern ihre aktuelle Wirksamkeit ist ihr Wert selbst“9. Das heißt, auch die Hostie ist kein Porträt, sondern wahrer Leib.10

    Ein Bild jedoch „bedeutet (signifie) nicht das, was es zeigt (montre)“.11

    Die Leere, die ein derart deklassiertes Bild hinterlässt, wird gefüllt mit einer juridisch behaupteten sakramentalen „Theorie des corpus verus, wobei wahr (vrai) hier [zugleich] wirklich, also real (réel) bedeutet (signifie)“. Ein Bild (image) ist nur noch „Einbildung“ (imagination) 12 , suspekt Phantasma, Phantom oder simulacrum zu sein13.

    Inzwischen sind die sakramentalen Gewissheiten in ihrem Verhältnis zur körperlichen Wirklichkeit erschüttert. Sakramentaltheoretisch ist das Verhältnis zwischen wahr und wirklich zumindest reformatorisch diversifiziert. Hinzu kommt ein Missverhältnis zwischen der sakramentalen Intimität eines hoc est corpus meum und der körperlichen Praxis außerhalb des Sakramentes.14

    Im „Zeitalter der Bilder“15  sind die sakramentalen Gewissheiten digital und pandemiebedingt zugespitzt in Frage gestellt und in Bilder geradezu hineingefallen. Da kommt ein schlichtes Festhalten an carolinischen Automatismen einer Ideologisierung im doppelten Sinne des Wortes gleich.

    Kontinuität besteht jedoch im Trauma der Abwesenheit. Es zeigt sich unter den Umständen medialer Bilder verstärkt. Auf dieser Folie stellen sich die Fragen der Rekonstruktion sakramentaler Formen (er)neu(t).


  • Zur Rekonstruktion sakramentaler Formen

    Im Laufe unserer Untersuchungen sind inzwischen eine Reihe von Bausteinen beschrieben, die in verschiedenen und auch erweiterbaren Kombinationen Möglichkeiten eröffnen, ein Mit-Sein herzustellen zwischen aufgezeichneten analogen Formen und einem anderen Analogen, was einer medialen Übertragung beiwohnt.

    Dieses muss als solches rekonstruiert werden, wenn eine Übertragung mehr soll, also bloßes Zuschauen und Zuhören zu erzeugen.

    Grundlage eines solchen Vorganges der Rekonstruktion ist die Erinnerung, bzw. Wiederherstellung einer gemachten Erfahrung.

    Zum Beispiel war der Ausgangspunkt der Überlegungen mit einer jungen Pfarrerin einer Berliner Stadtgemeinde zu Karfreitag der Pandemiebeschränkungen und ihrer Unmöglichkeit analog Gottesdienst zu feiern, die Frage danach, wie das Kreuz anders in Erfahrung gebracht werden könnte als mit Worten in einer Predigt.

    Bereits im voraufgegangenen Jahr hatte zu diesem Anlass das sogenannte „Gebet um das Kreuz“1  in Taizé als Anregung gedient. Ein großes Holzkreuz wurde im Altarraum so schräg aufrichtet, dass es nicht zu tief am Fußboden lag und man es leicht auf unterschiedlichste Arten und Weisen berühren konnte. Die Anwesenden waren eingeladen zum Kreuz zu kommen, es zu berühren wie immer sie wollten, vielleicht einen Moment bei ihm zu verweilen. Währenddessen sang der Chor etwas, in das man leicht einstimmen konnte. Pfarrer bzw. Pfarrerin standen diskret in der Nähe, für den Fall, dass jemand sprechen wollte oder einen Segen erhalten.

    Wie konnte eine solche Erfahrung per online-Übertragung gemacht werden?

    Wer an diesem übertragenen Gottesdienst teilnehmen wollte, konnte ein kleines einfaches Holzkreuz nach Hause gebracht bekommen bzw. sich selbst abholen. In der Kirche, also über das Kamerabild sichtbar, war das große Holzkreuz in die entsprechende Position gebracht. Als es zu dem Moment dieses Gebetes mit dem Kreuz kam, nahm die Pfarrerin gut sichtbar aber ohne große Erklärungen ein ebensolches Holzkreuz, was die Leute zu Hause hatten, legte es auf das große Kreuz in der Kirche und lud die Leute ein, ihr kleines Kreuz in die Hand zu nehmen, und es jeder für sich zu berühren oder eine Geste zu vollziehen, die ihm oder ihr angenehm erschiene, wie sie jetzt auch in der Kirche.

    Ein anderes Beispiel: In einem liturgischen Werkstattzusammenhang entstand die Frage, wie man ein Taufgedächtnis etwa in der Osternacht über Worte hinaus erfahrbar machen könnte. Zur Grundlage wurde ein klassischer Text aus der Agende genommen und die bereits gemachte Erfahrung, in einer solchen Situation der Einladung eines Pfarrers gefolgt und nach dem Erinnerungsgebet an das mit Wasser gefüllte Taufbecken getreten zu sein, seine Hand ins Wasser getaucht und sich bekreuzigt bzw. sich ein Kreuzzeichen auf die Stirn gemalt zu haben.

    Im liturgischen Experimentieren entfaltete der alte Text eine überraschende Lebendigkeit, als er an mehreren Stellen unterbrochen wurde durch großzügige Gesten des Wasserversprengens von Hand auf die Anwesenden.2

    Bei einer online-Übertragung könnte diese Erfahrung rekonstruiert werden, indem die Teilnehmenden einer Einladung der Aufzeichnung folgen, sich eine Schale mit Wasser holen und sich mit nasser Hand oder Finger bekreuzigen oder einfach das Gesicht benetzen. Das zu solchen Gelegenheiten zugesprochene „Du gehörst zu Christus“ kann einfach in ein „Ich gehöre zu Christus“ umgewandelt werden.

    Und damit erreichen wir eine Kernfrage derartiger Rekonstruktionen, die sich mit zunehmenden Situationen des minderheitlich-Werdens christlicher Gemeinden decken. Was kann man machen, wenn es keine Pfarrperson mehr gibt, oder sie eben nur über den Bildschirm übertragen werden kann?

    Als Getaufte/r mitfeiern – als Praxis- bzw. Übungsaufgabe für analoge Situationen – und als Getaufte/r selber (mit-)machen – als Rekonstruktion des Analogen bei medialen Übertragungen.3

    Eine komplexe Herausforderung stellt die Rekonstruktion von Abendmahlsfeiern bei medialen Übertragungen dar. Zugleich könnte ihre genauere Untersuchung ein besonders wichtiges Praxisfeld für Situationen des minderheitlich-Werdens inklusive ihrer komplizierten ökumenischen Dimensionen eröffnen.

    Wie bereits unter dem Stichwort des bodybuilding4  angelegt, beginnt die Rekonstruktion des Abendmahles beim Mitsprechen der Einsetzungsworte. Was sich zunächst befremdlich anhört, kann seine Kraft finden in einer sich dahingehend ändernden Praxis in analogen Zusammenhängen.

    Wenn also bei analogen Gottesdiensten, die Gemeinden sich angewöhnten, die Einsetzungsworte der Pfarrerin oder des Pfarrers einfach mitzusprechen, wie ein Vaterunser (beides sind schließlich Bibeltexte), könnte auf diese analoge Erfahrung bei online-Übertragungen zurückgegriffen werden.

    Zum Mitsprechen der Einsetzungsworte könnte die grüßende Geste der leicht erhobenen Hand mit der offenen Handfläche zum Altar hinzukommen. Sie würde eine Geste aufnehmen und demokratisieren, wie sie bei sogenannten Konzelebrationen in katholischer Tradition üblich ist. Sie findet sich übrigens auch bei Aufnahme- oder Gelübdezeremonien in Klöstern, wo sie zum Ausdruck bringt, dass Aufnahme und Gelübde nicht nur Gott und dem oder der Verantwortlichen gegenüber sondern in den Zusammenhang der gesamten Gemeinschaft vollzogen werden.

    Die ökumenische Dimension einer solchen schlichten Praxis ist offensichtlich. Wenn sie ökumenische Verbreitung fände, würde sie es ermöglichen, auf diese Weise als ökumenischer Gast, die/der also nicht kommunizieren darf, trotzdem praktisch durch das Wort mitfeiern zu können und somit den Erfahrungsraum zur Überwindung dieser theologischen Sackgassensituation zu erweitern.

    Bei online-Übertragungen würde die Geste der Hand allerdings ersetzt werden müssen durch ein konkretes liturgisches Handeln an den vorbereiteten Gaben Brot und Wein, welches diese einfach in die Hand nimmt, oder auch – je nach Bekenntnis, aber auch einer eventuellen persönlichen Scham – ein Kreuz über sie schlägt.

    In einer Familien- oder Gruppensituation auf der Rekonstruktionsseite der Übertragung könnte dies mit ein wenig Übung die natürliche Situation einer Hausgemeinde entstehen lassen, bei der die Gaben dann mit Spendeworten geteilt würden. Wenn jemand allein vor dem Bildschirm mitfeiert, müsste auf Spendeworte verzichtet werden oder man würde sie durch ein akklamatives „Christus spricht: nimm hin und iss“ bzw. „… trink“ ersetzen.

    Bei derartigen Rekonstruktion sakramentaler Formen kommt es nicht auf die Imitation und somit schlichte Verdopplung dessen an, was auf dem Bildschirm geschieht (das ist insbesondere bei Zoom-Übertragungen schnell der Fall), sondern eben auf die rekonstruierte Praxis auf der anderen Seite der Übertragung.

    Dieser Praxis muss eine gewisse ermündigende Eigendynamik zugestanden werden in dem Sinne, dass man nichts tut oder meint tun zu müssen, was einem peinlich oder unangenehm erscheint.

    Im Zweifel hilft dabei eine Orientierung an den einfachen, den liturgischen Vollzügen zugrundeliegenden Alltagsvollzügen, wie man sie in den Evangelien nachlesen kann.

    Bei der Rekonstruktion des Singens kommt es auf das Mitsingen an.5  Das bedeutet, dass auch die Personen, die in einer kleinen Gruppe oder allein von ihrem Bildschirm sitzen, eine Möglichkeit haben müssen, ohne schamhaft zu verstummen und auf die ihnen mögliche Art und Weise, mitzusingen.

    Diese Herausforderung die gottesdienstliche Praxis anbetreffend steht in einem gewissen Widerspruch zu den Aktivitäten vieler Kirchenchöre, die gerade durch ihre Qualität viele Menschen anziehen und auch nichtgläubige und kirchenferne Personen ansprechen. Sie soll ja aber nicht das Maß aller Dinge behaupten. Festliche Gottesdienste sollen auch musikalische Feste sein in welchem Stile auch immer.

    Die Herausforderung der Mitsingbarkeit könnte zugleich aber auch eine Aufmerksamkeit nach sich ziehen, die sich darauf richtet, bestimmte Choräle, einige liturgische Gesänge und auch neue Lieder so zu praktizieren, dass sie den Leuten vertraut genug sind, bzw. werden können, dass sie allein oder in geringer Anzahl gesungen werden können.

    Jenseits von Fragen des Stils und Geschmacks, bieten die Gesänge von Taizé hier eine Orientierung. Sie sind unter dem Gesichtspunkt des Mitsingens entstanden und können sowohl einstimmig als auch mehrstimmig, mit und ohne Instrumente, also sehr einfach und auch festlich gesungen werden.

    Wie wäre es zum Beispiel in dieser Perspektive, den Gesang des Vaterunser in aramäischer Sprache6  zu lernen und auf Kirchentagen u.ä. so zu praktizieren, dass er mitsingbar würde mit allen geschichtlichen, historischen, aber heute auch politischen Implikationen?

    Auf derartige Weisen könnten Situationen des minderheitlich-Werdens und die Rekonstruktion religiöser Praxis bei online-Übertragungen vorbereitet und gestaltet werden.

    Als Leitsatz sei daran erinnert, das digital vom lateinischen Wort für Finger kommt: „Da sind fünf Finger, die fünf Seher, die fünf Erdenteile, ja, die fünf Feenfinger. Aber alle zusammen formen die Hand. Mit den Händen zu denken, ist die wahre Bestimmung des Menschen.“7


  • Showtime? Beobachtungen

    Etwas Markantes passiert die Zwischenräume zwischen Menschen und ist zugleich kennzeichnend für gottesdienstliche Vollzüge: das Singen.1  Insbesondere das gemeinsame Singen birgt die spezielle Erfahrung, sich als Einzelwesen zu erleben, das in einen klingenden Gruppenzusammenhang gestellt sich wiederfindet, ohne sich darin aufzulösen. Mit dem französischen Philosophen Jean-Luc Nancy müsste man diese Erfahrung „singulär plural sein“2  nennen. Er beschreibt mit dieser Denkfigur das, was Gemeinschaft zu nennen man die Gewohnheit hat.

    In liturgischem Zusammenhang haben sich vielfältige Formen dieser Erfahrung herausgebildet. Ihre Grundform ist responsiv, auf Antwort angelegt. Sie bildet sich im Wechsel von Einzelstimmen (Vorsängerin, Vorsänger) und einer Gruppe (Chor, Gemeinde) heraus. Derartige Wechselgesänge können dazu einstimmig oder mehrstimmig sein. Sie können sich vorübergehend zu gemeinsamen Gesängen verbinden.

    Sie können auch räumliche Gegebenheiten (Altarraum, Empore) miteinbeziehen und gestalten. Vor allem im westliche Christentum hat sich zudem die instrumentale Begleitung von Gesangsstimmen, klassischer Weise meist durch eine Orgel, eingebürgert. Es sind aber auch andere Instrumente und Instrumentenkombinationen möglich.3  Häufig rahmen Instrumentale Musikteile den Gottesdienst.

    Manchmal sind auch innerhalb von Gottesdiensten meditative musikalische Anteile zu hören, etwa eine Reaktion der Orgel auf die Predigt oder Musik sub communione. Vielfältige musikalische Stile sind in diesem Zusammenhang möglich. Bis hin zur Erkundung der Möglichkeit, dass ein Chor selbst zum liturgischen Akteur werden kann.4

    Gelegentlich deutet sich jedoch in den skizzierten Zusammenhängen liturgisch-musikalischer Praxis in Gottesdiensten ein merkwürdiges Phänomen an. Ungerechter Weise tritt dies Phänomen eher bei Musikstilen nicht ganz so hörgewohnter Art, wie z.B. zeitgenössischen Kompositionen, zu Tage. Dauert nämlich ein solcher Musikteil zu lange, oder ist er zu befremdend, verwandelt sich die den Gottesdienst feiernde Gemeinde plötzlich in ein Publikum und der Musikteil in ein Konzert.

    Dies Phänomen kann auch dadurch hervorgerufen werden, dass die den Gottesdienst mitgestaltenden Musikerinnen und Musiker, optisch exponiert platziert sind und somit eine Konzertsituation zitierend herbeiführen.

    Bei medialen Übertragungen wird dieser Effekt schon dadurch verstärkt, dass die Kamera gehalten ist, optisch das zu verfolgen, was geschieht, um es zu zeigen. Unter Pandemiebedingungen kommt hinzu, dass ausgerechnet das Singen in geradezu traumatisierender Art und Weise eingeschränkt bzw. untersagt werden musste. Die in Übertragungen gezeigten und zu Gehör gebrachten Musiken wurden deutlich sichtbar zu Konzertteilen.

    Insbesondere tritt der Effekt hervor bei den notgedrungen vorgespielten Gemeindeliedern. Je perfekter sie musiziert werden, umso konzertanter ist ihre Wirkung. Gemeinsames Singen vor einem Bildschirm zu simulieren, führt die Situation ins Absurde. Sie entsteht immer dann, wenn Gemeinde zum Publikum wird.

    Als Publikum singt man eben nicht mit, sondern hält sich ehrfürchtig zurück und hört zu. So erhellend es auch sein kann, einen Liedtext einmal eingeblendet mitzulesen, die Erfahrung des mit-Singens, eines gemeinsamen Singens –singular-plural – kann es nur schlecht stimulieren.

    Dieser Zusammenhang, bzw. sein pandemiebedingtes Hervortreten, lenkt den Blick auf die schon von ihren technischen Grundlagen her medial affinere musikalisch-liturgische Praxis der sogenannten popularen Kirchenmusik. Ihr Bemühen, modernen musikalischen Stilen wie dem Song, Rock, Pop oder Jazz im gottesdienstlichen Kontext eine entsprechende Geltung zu verschaffen, führt zu weiteren Phänomenen, die bei medialen Übertragungen besonders sicht- und hörbar werden.

    Sichtbar werden sie zunächst durch eine, meist von den örtlichen Gegebenheiten (Veranstaltungsbühne) angenommene Frontalstellung der agierenden Band. Sie macht ihren Auftritt fast automatisch zum Gig mit entsprechenden Tendenzen fürs agierende Personal. Vorbild und Modell dieser Form von Bandauftritt lässt sich am leichtesten erkennen, wenn man sie mit Showbands im Fernsehen vergleicht.6  Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass in derartigen settings Kirchenbands nicht nur so aussehen und agieren wie Showbands, sie klingen auch so. Das bedeutet zuerst einmal: professionell.

    Auf den zweiten Blick ist zu erkennen bzw. zu hören, dass die kirchliche Popularmusik sich in ihrer historischen Genealogie auf die Protestmusik der nordamerikanischen Sklaven und ihre Befreiungsbewegungen bezieht, d.h. heißt auf die Tradition von Gospel und Spiritual. Natürlicher Weise dieser Tradition folgend schließt sie sich nun aber direkt und einzig an deren kommerziell hervorstechende Nachfolger an. Und das heißt, sie schließt weite Teile der protesthaften, subkulturellen, minderheitlichen musikalischen Praktiken und Stile der Popkultur aus. Um nur einige Stichworte zu nennen: Disko, Punk, Hip Hop, House, Independent …7

    Hinzu kommt bei aller Differenz eine Gemeinsamkeit dieser Stile im Unterschied bzw. sogar im Gegensatz zu akademisch geprägter Musik, neu oder alt. Sie ist gekennzeichnet von einer Konzentration auf die musikalischen Mittel Rhythmus und Puls (groove) mit ihrer unmittelbaren Folge der Tanzbarkeit bis hin zu einer radikalen Reduktion auf diese Eigenschaften wie z.B. beim Techno oder Drum ’n‘ Bass.8

    Das bei größtmöglichen Unterschieden stilbildenden Prinzip von Pop-Kultur besteht darin, aus allen möglich subkulturelle Zusammenhängen immer wieder neue musikalische Formen, Techniken und Praktiken hervorzubringen. Irgendwann erlangen diese Stile aus Kneipen, Tanzkellern, Garagen, Straßen oder verlassenen Industrieanlagen kommend eine über ihre subkulturellen Soziotope hinausgehende Popularität. Die kann dann von der Musikindustrie erfolgversprechend aufgegriffen und vermarktet werden. Von Anfang an ist Popkultur ein „Produkt der herrschenden Ideologie und Ausdruck absoluter Rebellion zugleich“9. Und ebenso von Anfang an ist Popkultur „eine Sache der Jugend“10.

    Je mehr sie ihren Hintergrund von Jugend und Rebellion unsichtbar und unhörbar macht, verbirgt die kirchliche Popularmusik hinter ihrer technischen11  Professionalität eine kommerzielle Konformität. Das heißt zum einen: Es klingt alles irgendwie gleich. Und, was schlimmer ist: Es macht auch alles andere musikalisch gleich. Ob Choral, ob liturgischer Gesang, ob Meditationsmusik, ob sogenanntes „Neues Lied“, alles wird auf die gleiche Art gespielt und vorgeführt.12

    Bei medial übertragenen Gottesdienstformaten wird dieser Effekt durch die Homogenisierung des Fernsehens weiter in Richtung Kaufhauspop gesteigert.13  Man könnte diese Entwicklung für zufällig, spontan halten oder auf Geschmacksfragen reduzieren, wäre sie nicht durch akademisierte Ausbildungsgänge, Produktions- und Vertriebsnetzwerke gestützt. Als (kirchen-) politische Entscheidung vertraut sie sich allein kommerziellen Prinzipien an. Diese drücken sich am deutlichsten in der homogenisierenden Tendenz ihrer musikalischen Praxis aus.

    Eine klar sichtbare und hörbare Unterscheidung zwischen Konzert/Gig und Gottesdienst und eine klare Unterscheidung unterschiedlicher musikalisch-liturgischer Formen und Praktiken könnte aus dieser Sackgasse der Homogenisierung14  herausführen und gestalterisch variable Zwischenräume eröffnen.

    Leitmotiv dieser Unterscheidungen sollte in Bezug auf gottesdienstliche Formen das Mitsingen bzw. die Mitsingbarkeit sein. Dieses Kriterium hat seine Pointe in der real zunehmenden Situation, dass es nicht genug Sängerinnen und Sänger in versammelten Gemeinden gibt, um präsentabel schön zu singen.15

    In Bezug auf mediale Übertragungen von gottesdienstlichen Formen kommt die Frage hinzu, wie man Singen als aufgezeichnete analoge Form in dem anderen Analogen, was der Übertragung beiwohnt, rekonstruieren und es als Mitsingen bzw. gemeinsames Singen entwickeln kann.


  • Bilder der Güte

    Auf den Spuren von Arbeitsnomaden, die sich selbst nicht als homeless sondern als houseless bezeichnen, reiste die Filmregisseurin Chloé Zhao in die entlegensten Winkel der Vereinigten Staaten von Amerika. In ihrem Film Nomadland zeigt sie Bilder von Menschen unter denen sie, wo immer sie auch hinkam, Güte fand.1

    Wie wäre es, wenn die Bilder, die die gottesdienstliche Praxis von Christinnen und Christen zeigen, ‚Bilder der Güte‘ wären?

    Dazu müssten sie etwas zeigen, was in der ästhetischen Praxis der Bildübertragung und ihrer technischen Basis tendenziell nicht vorgesehen ist.2  Denn diese ist normiert vom Interesse an Verkauf, d.h. ästhetisch: Werbung. Sie wird gestützt von ausschließlich quantitativ bewertenden Algorithmen (Einschaltquoten bzw. Klickzahlen). Ihr Basismedium ist das Fernsehen. Daraus entwickelt und in unterschiedlicher Intensität mit ihm verbunden sind die medialen Plattformen.

    Das Abbilden und Übertragen gottesdienstlicher Praxis im Fernsehen geht zurück in die frühen 1950 Jahre und fungiert – ausgesprochen oder nicht – zumindest unter dem Blickwinkel technischer Professionalität und Entwicklung als Modell.

    In ihrer liturgischen Validität evangelischer- und katholischerseits nicht unumstritten, entwickelte sich das Format der Fernsehgottesdienste vor allem aus pastoralen Motiven – für Alte und Kranke. Zunächst bildeten sich Formen von Vespern und Festgottesdiensten aus besonderem Anlass und an besonderen Orten heraus. Schließlich werden bis heute Fernsehgottesdienste wöchentlich konfessionell abwechselnd in den öffentlich-rechtlichen Programmen des deutschen Fernsehens ausgestrahlt.

    Zwischen einer real Gottesdienst feiernden „Übertragungsgemeinde“3  und einer dieser im Modus einer „intentionalen Anteilnahme“4  verbundenen Zuschauergemeinde bildet der Fernsehgottesdienst eine gewisse „relationale Eigenständigkeit“5 heraus. Unter den Bedingungen hygienischer Beschränkungen durch eine Pandemie spitzt sich diese Verhältnisbestimmung zu: Was bedeutet es, wenn die „Übertragungsgemeinde“ gar nicht mehr da ist, das „relational“ der Eigenständigkeit also abhandenkommt?

    Anders gefragt: Wie wäre das Fernsehformat als „eine eigenständige Gottesdienstform“6  medial und liturgisch-theologisch zu bestimmen und zu gestalten? Welche Folgen hätte das für entsprechende Formate auf medialen Plattformen? Und schließlich: Was heißt das für die Unterscheidung von Teilnahme und intentionaler Anteilnahme?7

    Im Folgenden wird dieses Feld von Fragen mit Hilfe von liturgisch-ästhetischen Beobachtungen umrissen und konkretisiert.

    Fernsehgottesdienste sind per se Teil „einer medialen Inszenierung“8. Das heißt, sie sind Teil einer Programmfolge9  im Fernsehen, innerhalb derer sie vor allem ästhetisch immer zugleich eine unter vielen Fernsehformaten sind. In einem gewissen Rahmen können sie sich ästhetisch aber auch unterscheiden. Diese Unterscheidung findet ihre Konkretion zuerst in der Gestaltung des Ortes, an dem der Fernsehgottesdienst stattfindet, und seiner fernsehtechnischen Ausstattung.

    Nachgerade klassisch finden Fernsehgottesdienste in Kirchen statt. Damit ist der Ort unmissverständlich definiert. Fernsehtechnik und ihre ästhetische Praxis ordnet sich dann einer Architektur und häufig einer künstlerisch höchst anspruchsvollen und geschichtsträchtigen Gestaltung, wie der eines Altares beispielweise, unter und bringt sie zur Geltung. Das bedeutet meistens, dass die ausgewählten Kirchen mit hohem lichttechnischen Aufwand festlich ausgeleuchtet werden. Darin besteht ein hoher ästhetischer und auch spiritueller Reiz. Denn auf diese Weise können Details sichtbar und optisch in liturgische und auch homiletische Zusammenhänge gebracht werden, die sonst nicht beleuchtet oder nur schwer zu erkennen sind.

    Dieses Konzept zeigt die entsprechenden Kirchen oft als Juwelen und markiert in ihrer häufigen Wiederholung und technischen Raffinesse eine ästhetische Grenze zur gängigen Ausstattung inklusive Beleuchtung und Präsentation in großen Kaufhäusern. Denn diese wiederum haben in ihrer Funktion als Konsumtempel sich reichlich an der Ästhetik von sakralen Räumen bis hin zu Showorgeln bedient.

    Die Gefährdungen fließender Übergänge von sakraler Ästhetik in die konsumistische ästhetische Praxis des Marketing10  wird besonders deutlich, wenn man sich Fernsehgottesdienste ansieht, die als „Großgottesdienste“ etwa bei Kirchentagen und anderen kirchlichen Großereignissen stattfinden.

    Diese Gottesdienste beugen sich ästhetisch bereitwillig veranstaltungstechnischen Vorgaben und Notwendigkeiten. Das heißt sie finden auf Bühnen statt, die für Großveranstaltungen konzipiert sind. Das können klassische Konzerte, häufiger Rock- oder Popkonzerte oder auch Produktpräsentationen von großen Firmen sein. Sie dienen also der Präsentation von Stars.

    Klassische Orchesterkonzerte versuchen diese Gegebenheiten ihrem Publikum entsprechend möglichst seriös einzuhegen. Rock- und Popstars steigern die gegebenen technischen Möglichkeiten häufig. Firmen präsentieren ihre Produkte gern in leicht sakral angehauchter Atmosphäre, seriös, geheimnisvoll aber nicht zu pompös. Sie haben das besonderes Bedürfnis, sich mit ihren eigenen Zeichen des Marktes zu dekorieren, also Firmenlogo, saisonaler Werbeslogan, Markennamen u.a. Man kann das ästhetisch gut bei (z.B.) Autofirmen und ihren Präsentationen studieren.

    Für Fernsehgottesdienste bedeutet das, dass ihr angestammter architektonisch-historischer Zusammenhang verloren geht und um ihrer marktlichen Erkennbarkeit willen in mehr oder weniger geglücktes Design verwandelt wird. Als Hintergrund der Veranstaltung wird das Altarbild durch ein Logo ersetzt, ein Meditationsbild, Kreuz u.a. durch Deko, Licht und Musik durch Atmo.

    Auch das Verhalten der Beteiligten auf der Bühne, ihre performance, wird automatisch vom Sog des Mediums erfasst. Liturgische Kleidungsstücke oder deren Teile werden durch merchandising Artikel ersetzt, wie die Stola durch den Kirchentagsschal. Wenn Kleidung und auch Auftrittsmuster nicht direkt sozialer Repräsentation dienen, so machen sie doch beispielsweise eine Moderatorin oder Sängerin tendenziell zu girls, den zurückhaltend dirigierenden Herrn zum ältlichen bandleader oder frontman, das Spiel der Band zum gig. Hinzu kommt die Tendenz von Moderation alles, was man sieht, auch noch einmal zu erklären oder zu kommentieren. Und alles immer frontal von oben nach unten.11

    Die In diesem Zusammenhang liturgisch oder homiletisch agierenden Personen wirken oft leicht dressiert von A nach B geschoben. Das ist nicht nur fehlender oder geringer Erfahrung geschuldet, sondern auch schon im gewohnten, also realen gottesdienstlichen setting unklar unterschiedenen Sprechakten. Sie werden hier überdeutlich auf dem Bildschirm sichtbar und zeigen: begrüßen ist eben nicht moderieren ist nicht lesen ist nicht beten ist nicht predigen ist nicht aus dem alltäglichen Leben erzählen …12

    Weitere, kraftvolle und ästhetisch formgebende Gestaltungsmittel des Fernsehens – sie markieren natürlich auch Aufzeichnungen in Kirchenräumen – sind Regie und Kameraführung.13  Das meint zunächst die Auswahl und Abfolge der Bilder bzw. Bildausschnitte. Hinzukommen aber die ästhetisch formprägenden Kameraeinstellungen und Bewegungen. Die unterliegen den Vorgaben des Mediums, die zumindest in ihrem zeitlichen Rhythmus von Einschaltquoten definiert sind.

    Das heißt konkret (und man kann das nachzählen), dass je nach statistischer Erhebungslage, sagen wir nach 10 Sekunden, die Zuschauer/innen umschalten. So muss alle 10 Sekunden eine wie auch immer geartete Kamerabewegung stattfinden, so dass die Zuschauer/in, den Eindruck hat: Oh, da passiert was, ich bleibe dabei. Das führt zu unablässigen Kameraaktivitäten, die ästhetisch völlig sinnfrei der Vorgabe entsprechen. Da „fährt“ die Kamera schwindelerregend „in der Gegend“ herum, zoomt (…).

    Das kann zu Kuriositäten dramaturgischer Art führen, so dass zum Beispiel eine Lesung beginnt, während die Kamera noch auf den Goldengel zufährt und dann „zu spät“ auf die lesende Person schwenkt. Oder die begonnene Kamerafahrt bricht abrupt ab, um dramaturgisch „pünktlich“ am Ort des Geschehens zu sein.

    Als brave Fernsehkonsument/innen ist man derart an diese, das Medium Fernsehen bestimmende ständige Kamerabewegungen gewöhnt, dass man sie nicht bemerkt und/ oder sie für normal hält. Das sind sie aber nur, wenn man Fernsehen mit Werbefernsehen gleichsetzt. Das muss man allerdings wollen. Wie man leicht bemerken kann, wenn man diesbezüglich die Praxis unterschiedlicher Sendeanstalten vergleicht, gibt es zumindest mehrere Möglichkeiten. Zu großen Teilen ist es die Kameraführung, die die bildliche Homogenität des Fernsehens herstellt.

    Wie kann man diesem Sog zur Homogenität, die dem Fernsehen und seinen medialen Nachfolgern eigen ist, entkommen? Als technischer Basis kann man ihr nicht entkommen, unprofessionell zu arbeiten wirkt peinlich und ist technisch schlicht nicht kompatibel. Aber man kann Technik ästhetisch unterschiedlich einsetzen und muss die Marketinglastigkeit des Fernsehens in seinen Formen und Figuren nicht einfach übernehmen bzw. nachmachen.

    Diese imitatio bedeutet für die kirchliche Praxis, dass sie sich mimikryhaft opportunistisch zu einer ästhetischen Praxis verhält, deren Techniken unter dem Aspekt kommerzieller Zielsetzungen entwickelt bzw. perfektioniert wurden und deren Realisierung sie für einzig professionell hält.

    Angesichts des medienimmanenten Homogenitätsdrucks gehört dazu Mut. Es bedeutet, anders zu sein, Charakter zu zeigen und, konkreter gesagt, sprachlich, sprechend und visuell Unterschiede zu markieren.
    Warum wird ein Kreuz für die fernsehübertragenen Kirchentagsgottesdienste nicht von einer Künstlerin gestaltet, die sich in Material und Form von Glattheit und Hochglanz der Fernsehästhetik unterscheidet, die z.B. mit recycelten Materialien arbeitet, oder von streetart beeinflusst ist?

    Eine Bühne lässt ich auch anders gestalten als unter den immer gleichen Showgesichtspunkten der Veranstaltungstechnik. Auf Theaterbühnen kann man sehen, wie unterschiedlich sie gestaltet werden können. Beide Beispiele bedeuten jedoch nicht, dass eine „Gottesdienstbühne“ wie eine Theaterbühne aussehen soll oder wie eine Galerie.

    In „alten“ Kirchen wirkten verschiedene künstlerische Disziplinen zusammen. Sie bergen einen Fundus an Gestaltungstechniken, die man weiterentwickeln kann.14  Im Unterschied zu einem Bau bietet eine Fernsehbühne außerdem den Vorteil, provisorisch zu sein. Es könnte also auch etwas ausprobiert werden, was man bei der nächsten Gelegenheit nicht wiederholt, obwohl es gut war und funktioniert hat. Erkennbarkeit und Wiedererkennbarkeit müssen nicht vom Marketing diktiert werden.15

    Nicht zuletzt durch die an Zahl zunehmenden medialen Übertragungen von gottesdienstlichen Formen sind Fragen nach dem Auftritt und seinem gestalterischen Umfeld in den Vordergrund gerückt. An Gestaltung und Auftritt zu arbeiten, ist nicht nur bei Lesungen Teil einer spirituellen Praxis. Es lohnt sich, daran zu arbeiten, auch wenn man sich selbst nicht als telegen empfindet und nur begrenzte technische Möglichkeiten zur Verfügung hat. Beschränkte Mittel stellen sich oft als unerwartete Helferinnen heraus.

    Die Suche nach Bildern der Güte könnte als Orientierung dienen, der Schwerkraft Homogenität, wie sie das Fernsehen und seine medialen Nachfolger fest im Griff hat, zu entkommen. Bilder der Güte entstehen nämlich nur in Zwischenräumen, wenn etwas passiert zwischen Menschen, nämlich Güte.


  • In Bildern beten

    In Andrej Tarkowskijs Film „Opfer“ von 1986 blättert der Protagonist Alexander, gespielt von Erland Josephson, in einem Bilderbuch und sagt: „Das ist wie ein Gebet.“1  Angesichts der Bilder in diesem Buch – es sind Ikonen – verwundert diese Bemerkung nicht. Dennoch fügt Alexander unmittelbar hinzu: „Und dann ist all das verloren gegangen. Jetzt können wir nicht mehr beten.“2

    Als ob er seinem Filmprotagonisten widersprechen wollte3, versteht Tarkowskij selbst das Hervorbringen oder Schaffen von Kunst als so etwas wie Gebet. In seinem Falle müsste man es ein Gebet in, mit oder durch Bilder nennen. In seiner künstlerischen Praxis meint das allerdings nie ein Zeigen von Betenden, also Menschen im Gebet.

    Mit einer Ausnahme. In einem entscheidenden Moment im genannten Film „Opfer“ betet Alexander. Er spricht das „Vater unser“ und fügt ihm ein sehr persönliches Gebet hinzu, in dem er Gott direkt mit „Du“ anspricht, ihm ein Versprechen gibt und ihn um Hilfe bittet.

    Was sieht man?

    „Der Raum ist in dunkel-bläuliches Licht getaucht. Alexander steht an seinem Schreibtisch, trinkt aus einem Glas, geht langsam in den Raum, bleibt vor der Leonardo-Reproduktion4  stehen. […] Er geht in der Mitte des Zimmers in die Knie, lässt sich auf dem Boden nieder, stellt das Glas ab. […] Er blickt nach oben, dann wieder vor sich. Die Kamera nähert sich von oben Alexanders Gesicht. […] Alexander richtet sich halb auf, kriecht auf allen vieren zum Sofa, streckt sich, den Rücken zum Betrachter, darauf aus. Dunkelheit und Stille. (Geräusche: ein übers Parkett rollender Gegenstand, der sich schließlich totläuft. In der Ferne singende Stimme.)“5

    Die gängigen Übertragungen von Gebeten, sei es im Fernsehen oder über mediale Plattformen, zeigen allermeist Menschen beim Gebet, direkt gefilmt. Sprachlich werden dann Deklarationen oder Statements formuliert, die der oder dem, die oder der als „Gott“ angesprochen wird, Handlungsempfehlungen geben. Sie werden meist direkt in die Kamera gesprochen und sollen zu Gebeten umgeformt werden durch einen gesprochenen oder gesungenen Gebetsruf. Eine andere Variante, auch meist in die Kamera gesprochen, formuliert Gebetsanliegen in Form einer erläuternden Moderation: „Wir beten für…“, die dann im gesprochenen oder gesungenen Gebetsruf aktiviert werden. Die diskreteste Variante filmt nicht die Betenden, sondern zeigt eine Kerze oder ein Kreuz. Ähnlich ist die Bildpraxis beim Beten des „Vater unser“. Dabei dominiert meist die Stimme der oder des Zelebranten als Vorsprecherin das gemeinsame Sprechen des Gebetes.

    Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy beobachtet in seinen Untersuchungen „Am Grund der Bilder“6, dass, „[j]e ungehemmter die Verbreitung von Bildern ist, je machtvoller ihre Wirkung, desto stärker ist auch der Verdacht der Täuschung, der Bilder seit jeher ausgesetzt sind“. Er fragt, woher die Bilder ihre Macht beziehen, die ihre Oberfläche ausstrahlt. Und macht sie im „Oszillieren des Bildes zwischen Oberfläche und Grund, zwischen Darstellung und Undarstellbarem“ aus.7

    Exemplarisch dafür stehen für Nancy Porträts.8  „Ein Porträt berührt, sonst ist es nur ein Passfoto, ein Anzeichen, kein Bild. Was berührt, rührt aus einer Intimität, die an die Oberfläche kommt. Das Porträt ist hier jedoch nur ein Beispiel. Jedes Bild weist etwas vom ‚Porträt‘ auf, weniger, weil es die Züge einer Person reproduziert, sondern vielmehr, weil es zieht (das trait des Porträts leitet sich etymologisch von lateinisch trahere, ‚ziehen‘ ab), indem es etwas, eine Intimität, eine Kraft hervorzieht. Um hervorzuziehen, entzieht es diese Kraft der Homogenität, indem sie diese ablenkt, sie unterscheidet und sie nach vorne wirft. Sie projiziert sie vor uns und dieser Wurf, diese Projektion charakterisiert dessen Zeichen, dessen Zug und Stigma: die Pinselführung, die Linie, der Stil, der Einschnitt die Narbe, die Signatur – all dies zugleich.“9

    Im Bereich des Fernsehens und der medialen Plattformen kommt diesem Entzug der Homogenität eine besondere Bedeutung zu, da sie als Medien an sich zur Homogenisierung nicht nur neigen, sondern darin ihre entscheidende Praxis liegt. Ihr gegenüber ist ein erhöhtes Maß an ästhetischer Wachsamkeit angebracht.10

    Denn schließlich ist es dieser Kraftentzug an der Homogenität, der das Bild in seinen entscheidenden Zusammenhang stellt: „Das Bild – weder Welt noch Sprache – wäre eine ‚Realpräsenz‘, wenn man sich an den christlichen Wert11  dieses Ausdrucks erinnert: die ‚Realpräsenz‘ ist gerade keine alltägliche Gegenwart des Wirklichen: gerade kein in der Welt vorhandener, gegenwärtiger Gott. Diese Präsenz ist eine heilige Intimität, die als Fragment von Materie einnehmbar wird. Zur Realpräsenz wird sie als ansteckende, teilhabende und teilgehabte, in der Unterscheidung ihrer Intimität kommunizierende und kommunizierte Präsenz.“12

    Von hier aus ließe sich für die genannten medialen Zusammenhänge eine Praxis des Betens in, mit oder durch Bilder entwerfen. Wie wäre es, wenn als Fürbittgebet eine der ältesten Bilderpraktiken des Christentums aufgegriffen würde, nämlich die vom deutschen Bildwissenschaftler Hans Belting13  in Erinnerung gebrachte Praxis des Totengedenkens bzw. der Erinnerung an die Toten durch ein Bild, ein Porträt der Toten?

    Im Zusammenhang der aktuellen Pandemie könnte ein solches Gebet einfach darin bestehen, schweigend, ohne Worte oder Erklärungen Bilder von Toten zu zeigen. Eine solche betende, fürbittliche Praxis wäre auch vorstellbar für Lebende, zu Unrecht Inhaftierte, Dissidenten, Benachteiligte aller Art, aber auch Neugeborene, Verliebte, ja Landschaften, Tiere, Pflanzen…
    Einfach Bilder zeigen, Porträts, und gelegentlich ein gesprochener oder gesungener Gebetsruf.

    Denn es könnte sein, dass eine durchlässige, intime Sprache des Gebetes aus dem Visuellen wieder hervorkommt, wie oben in Tarkowskijs Film, dessen Gebetsszene „in dunkelbläuliches Licht getaucht“ begann:

    Vom Blauen und vom Dunkel kommen Worte her. / Vom Dunkel und vom Blauen, und werden immer mehr. / Im Dunkel und im Blauen geht Lächeln aus und ein. / Im Blauen und im Dunkel wird wohl auch Weinen sein. / Ins Blaue und ins Dunkel geht alles Lächeln einst. / Ins Dunkel und ins Blaue, wenn Du heut Worte weinst. / Ins Blaue und ins Dunkel geht alles Lächeln einst. / Ins Dunkel und ins Blaue, wenn Du heut Worte weinst.14


  • Gesten erfinden

    Wenn ein Bildschirmbild und die zu seiner Aufnahme hergestellte Realität ihre Verbindung verlieren, erstirbt die Realität. Sie wird durch eine simulierte Scheinrealität ersetzt.

    So bei unserem Beispiel1  des Segens in Zoom-Gottesdiensten – ein beliebtes Zeichen der Verbundenheit als Segnung, bei der die Handflächen an den rechten und linken Bildschirmrand so gehalten werden, als würden sie die entsprechend gehaltenen Hände eines anderen berühren, nämlich dessen, der zufällig auf dem benachbarten Bild abgebildet ist – für den, damit auf dem Bildschirm ein gewünschtes Bild entsteht, in der Realität eine völlig absurde Pose eingenommen werden muss.

    Genauer betrachtet verdoppelt der Abbruch dieser Verbindung zwischen Bild und Körper jedoch medial einen weiteren, nämlich den Abbruch der Verbindung zwischen liturgischer Geste und Alltagsgeste.

    Alle Gesten und Handlungen, die sich im Laufe der Zeit zu liturgischen Gesten und Handlungen verdichtet haben, sind im einfachen alltäglichen Leben begründet: grüßen, zu essen geben, über den Kopf streichen … Das kann man im Neuen Testament nachlesen.

    Beide Ebenen sind nicht deckungsgleich. Reißt aber die Verbindung zwischen ihnen ab, höhlt die liturgische Geste aus und erstirbt allmählich. Sie verliert ihre Energiezufuhr aus dem alltäglichen Leben.

    Vor diesem Hintergrund wäre eine geeignete Geste des Segens über Zoom z.B. die zum Gruß oder zum Abschied erhobene Hand mit der Handfläche in die Kamera gehalten.

    Die Verbindung zwischen Bild und körperlicher Geste wäre hergestellt und diese reale sowie abgebildete Geste wären verbunden mit einer Alltagsgeste, wie man sie im Leben auf der Straße praktiziert.

    Rhetorisch-homiletisch entspricht diese Verbindung der zwischen dem privaten und dem öffentlich redenden Menschen. Auch sie sind nicht deckungsgleich. Ist aber die Verbindung unterbrochen, fallen sie auseinander. Der privat sprechende Mensch ist im öffentlichen sprechenden Menschen nicht mehr erkennbar.

    Wir sind an diese rhetorische Entfremdung in der Öffentlichkeit und in den Medien gewöhnt, seit öffentliche Rede allein einer sogenannten Medienkompetenz zugerechnet wird. Sie hat verschiedene Stereotypen ausgebildet.

    Da ist zum Beispiel der/die Sprechpuppe. Eine öffentlich auf Medien trainierte sprechende Person tritt auf wie eine Kleiderpuppe mit Wink-Elementen: Gelegentliche abgehackte Hand- bzw. Armbewegungen begleiten eine Sprechweise, die ihrerseits von grammatisch sinnlosen, aber Bedeutung und Wichtigkeit suggerierenden Pausen im Sprachfluss ständig unterbrochen wird.

    Oder die/der Sprechautomat: Mnemotechnisch hochgerüstet werden immer gleiche Sprachhülsen mit minimalen Verschiebungen in verschiedenen Kombinationen aneinandergeklebt, so dass man nicht dazwischenkommt. Dabei ist der Redefluss in Stimme, Emotion, Mimik und Gestik gleichmäßig auf ein niedriges Temperaturniveau gedimmt bzw. in einer Pose erstarrt.

    Derartig Redenden will man nicht recht Glauben schenken. Hinter ihnen ist der Mensch als Referenz, als Zeugin verschwunden. Sie bzw. er ist nicht mehr erkennbar. Die Verbindung zum Menschen ist unterbrochen.

    Übrig bleiben medial getrimmte Sprechmaschinen. Der Protodadaist Alfred Jarry wusste, dass, wenn zwei elektrodynamische Maschinen miteinander in Kontakt sind, die mit der höheren Spannung die andere auflädt; wenn nun eine Maschine wirklich Liebe produzieren könnte, dann würde sich die Maschine in den Menschen verlieben2 …

    Wer bin ich also, wenn ich auf dem Bildschirm bin? Agiere ich so, wie es die jeweilige sogenannte Professionalität am Bildschirm über seine erfolgreichsten presenter, influencer verlangt? Unterwerfe ich mich ästhetisch dem Diktat der Klickzahlen?  Womit bin ich dann verbunden?

    Mit dem verwendeten Medium bzw. seiner Plattform. Mit ihnen bin ich umso mehr verbunden, je weniger ich Übersetzungen für entsprechende analoge Verbindungen erfinde. Denn nur auf diese Weise kann versucht werden, die tendenzielle Geschlossenheit dieser Medien und ihrer Plattformen offen zu halten.3

    Diese Fragen erhalten ihren eigentlichen Horizont vor der Geschichte und Funktionsweise von medialen Plattformen. Was wir heute – etwas „ratlos“, wie der Berliner Literatur- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl in seiner kurzen Theorie der Gegenwart4  beschreibt – was wir also im allgemeinen Sprachgebrach „Digitalisierung“ nennen, „ist nicht einfach durch die Umwandlung analoger Werte in digitale Formate und die Diffusion solcher Technologien in alle möglichen sozialen, politischen und ökonomischen Bereiche charakterisiert“.5

    Digitalisierung basiert auf „einer wechselseitigen Verschränkung bzw. Verstärkung von Finanz- und Informationsökonomie“. „Informatisierung der Finanzbranche und Finanzialisierung der Informationsökonomie“ bilden schließlich „die Voraussetzung für die Einrichtung und Durchsetzung von Geschäftsmodellen“, die seit einiger Zeit unter dem „Titel einer ‚Internet-‘ oder ‚Plattformökonomie‘“ zusammengefasst werden.6

    In seiner Genealogie geht das Internet also nicht nur auf „eine militärisch-industrielle Einrichtung im Zeichen des Kalten Krieg zurück“.7  Zu dieser Vorgeschichte kommen Entwicklungen hinzu, „die von Finanzmärkten und Börsengeschäften über shadow banking und over-the-counter-Handel, über elektronische und computergestützte Handelssysteme bis zur Privatisierung informationstechnischer Infrastrukturen reich[en]“.8

    Diese hier nur skizzierten Verbindungen funktionieren qua Benutzung dieser Plattformen sowieso und zwar einschließlich ihrer „Kontrollmacht“9, ihrer „Spiele der Wahrheit“10, ihren „Fabel[n]“11  und der „List [ihr]er ressentimentalen Vernunft“12.

    Dabei reklamiert „der kapitalistische Geschäftsverkehr die Rechte des Irrationalen“ für sich. An der Verwendung von Vokabeln die trust – Treu und Glauben – z.B. als Titel für „monopolartige Konzernstrukturen“ wird exemplarisch deutlich, wie „die Rede von Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Überzeugung und Gewissheit von einer Macht des Falschen heimgesucht [wird], die die messianischen und diabolischen Aspekte des Geschehens verwechselbar macht“.13

    Nicht, dass man bei Benutzung der Plattformen und ihrer Möglichkeiten nicht in sie verstrickt wäre, das ist unausweichlich. Aber man muss ihnen als Nutzerin und Nutzer nicht vollkommen ausgeliefert sein. Das geschieht dadurch, dass man seine ureigentlichen Verbindungen nicht aufgibt, sondern sie auf den sozialen Plattformen rekonstruiert oder um sie herum erfindet.14

    Geeignete Gesten erfinden, wie beispielsweise oben die Segensgeste als einer wie zum Gruß bzw. zum Abschied erhobenen Hand15 , stellt sich also als eine zentrale Herausforderung für die liturgisch-homiletische Arbeit auf online Plattformen heraus. Doch wie macht man das, ohne sich Gesten irgendwie auszudenken? Wie entstehen sie?

    Der isländische Tenor Benedikt Kristiánsson hat unter dem Eindruck der ersten pandemiebedingten Schließungen am Karfreitag 2020 in der leeren Leipziger Thomaskirche die Johannespassion aufgeführt und dabei alle Rollen allein gesungen. Die Aufführung wurde live übertragen, die Chöre live über andere Plattformen dazu geschaltet.16

    Neben allem anderen, was man dazu sagen kann, stellt diese Aufführung eine außergewöhnliche Laborsituation dar. Man kann Benedik Kristiánsson bei der Erfindung von Gesten zusehen. Von sich selbst sagt er: „Genetisch gesehen bin ich der geborene Evangelist. Meine Mutter war Sängerin, mein Vater Theologe. Deshalb ist diese Partie mir ganz natürlich zugewachsen.“ Auf die Frage danach, ob ihm die Sprache der Lutherbibel in Bachs Werk fremd sei, antwortet er: „Nein, darüber denke ich gar nicht viel nach. Ich finde diese Sprache auch in ihrem Klang sehr schön. Irgendwie romantisch sogar.“17

    Für unseren Zusammenhang kommt hinzu: Benedikt Kristiánsson sang auswendig! Er hat sich also automatisch von einer Auftrittskonvention herkömmlicher Evangelisten-Sänger befreit und die Noten weggelegt. So hatte er die Hände frei. Man kann dabei zusehen, wie die Hände beginnen, mitzusingen. Und dies nicht im Sinne einer pathetischen Doppelung des Gesungen, wie man es aus der Oper vielfach kennt, sondern in kleinen Bewegungen, behutsam, diskret und frei.

    Man kann Benedikt Kristiánsson bei der Erfindung einer gestischen Praxis zusehen. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass er alle Rollen der Passion selbst singt. Und es gelingt ihm, die verschiedenen Rollen unprätentiös und einfach, nicht illustrierend gestisch agierend zu singen. So entstehen Gesten, die aus Sprache und Musik geboren sind. Das ist nicht nur atemberaubend zu verfolgen, es lässt sich als ein Gestenarchiv ansehen und zitieren.

    Sehen wir als Beispiel die (eigentlich Sopran-) Arie Nr. 35 „Zerfließe mein Herze“ aus der Johannespassion in einer Einzelaufnahme im Rahmen des Podium Festival Esslingen 2019 genauer an.18

    Benedikt Kristiánsson nimmt seine Haltung während des Vorspiels der Arie langsam ein und verharrt den gesamten ersten Teil der Arie in ihr: Die Augen geschlossen, die Arme vorn um den Oberkörper gelegt, sogar leicht nach vorn geneigt, also ganz nach innen gekehrt: „Zerfließe, mein Herze, in Fluten der Zähren dem Höchste zu Ehren.“19

    Erst zu den Worten: „Erzähle der Welt und dem Himmel die Not. Dein Jesus ist tot.“20 öffnet er die Augen und mit ihnen die Arme und Hände behutsam zu einer Art kleinen Orantenhaltung, die Hände vorm Oberkörper belassend. Sie erstarrt niemals zur Pose und changiert atmend vom willkommen heißen der Welt zu Beginn bis hin zu erzählenden, fast rhetorischen und schließlich fast betenden leichten Akzentuierungen.

    Könnte die erste Haltung des Sängers eine angemessene Haltung für Beten vor der Kamera sein, etwa bei Zoom Übertragungen: Die Augen geschlossen, die Arme vorn um den Oberkörper gelegt, die eine Hand unter dem gegenüberliegenden Oberarm, die andere auf dem anderen ruhend?


  • Grab und Bildschirm – ein Experiment

    Einer Antwort auf die Frage danach, ob ein Bildschirm – österlich gedacht – schließlich ein leeres Grab ist, kann nur in Form eines Experimentes nachgegangen werden. Dies führt allerdings zu überraschenden praktischen Fragen.

    Zunächst folgen wir der Bildspur, die Georges Didi-Huberman in seinem Text über die Metapsychologie des Bildes legt1  und gehen von der dazugehörigen Schilderung des zuletzt beschriebenen spezifisch christlichen Zusammenhanges zwischen Sehen und Glauben2  aus. In diesem Falle ist das die Darstellung der Frauen am Grabe auf dem Auferstehungsfresko des Fra Angelico.

    In Zelle 8 des Klosters San Marco in Florenz ist folgende Szene zu sehen: „Die heiligen Frauen kommen am Grab an, sehen aber nichts, es ist leer; ein Engel sitzt da, weist mit einer Hand in das leere Grab und mit einem Finger der anderen auf die Erscheinung des auferstandenen Christus, der die Märtyrerpalme und das Heilsbanner trägt – aber diese Erscheinung können die Frauen nicht sehen, weil sie ihr den Rücken zukehren. ‚Er ist nicht mehr hier‘, sagt der Engel auf dem Spruchband.“3

    In der Lektüre des französischen Soziologen Bruno Latour ist das entscheidende dieses Freskos nicht die Erscheinung des Auferstandenen. Keiner der Dargestellten kann sie sehen, sie ist hinter ihren Rücken. Für den Betrachter des Bildes, der sie sehen kann, ist sie eben keine Erscheinung, sondern Malerei. Das Entscheidende zeigt der Finger des Engels: „Er ist nicht mehr hier, er ist nicht mehr in diesem toten Fresko, in dieser Zelle, die so kühl ist, wie ein Grab.“4

    Der Fingerzeig des Engels weist aus dem Bild heraus, auf etwas, was von keiner der beteiligten Frauen gesehen werden kann, auch nicht von dem am unteren linken Bildrand eingefügten Mönch, der wie ein imaginärer Betrachter auf der Türschwelle versunken nach innen blickt. Der Engel weist nicht in eine Vergangenheit, sondern in die Gegenwart, nicht in eine Ferne, sondern in die Nähe.

    Um diese bildliche Konstruktion in einen Zusammenhang zwischen dem Fresko und einem Bildschirm als Grab zu stellen, müssen wir eine Technik anwenden, die Jean-Luc Godard5 in seinen Filmen verwendet. Wir müssen das Bild um 90 Grad drehen und somit das Grab zugleich aufrichten.

    Die Bewegung des Aufrichtens entspricht übrigens der, die Georges Didi-Huberman in seiner Untersuchung „Was wir sehen blickt uns an“ als kunstgeschichtliche Entwicklung vom Grab zur Tür nachgezeichnet hat.6

    In dieser Position sieht der Betrachter das Grab wie einen aufgestellten Bildschirm. Auch jetzt ist, wie in der Ausgangsposition, im Grab-Bildschirm nichts zu sehen. Die Hand des Engels aber weist nun direkt auf die betrachtende Person, d.h. auf die menschliche Anwesenheit vor dem Grab-Bildschirm.

    Wie es der Engel zeigt, geschieht in dieser Versuchsanordnung das Entscheidende nicht im Bildschirm, sondern davor, also in der menschlichen Realität. Dies wird vor allem dann besonders bedeutsam und überraschend konkret, wenn Bildschirm und Kamera als ein Gerät arbeiten, wie z.B. bei einem Loptop und dem Programm Zoom.

    Auf der Suche nach gottesdienstlichen Formen wird hier zum Beispiel gern versucht, bildlich eine segnende Nähe herzustellen, indem man die Hände so positioniert, dass sie im Bildschirm, also dem von der Kamera aufgezeichneten Bild, am rechten und linken Bild-(schirm-)rand die Handfläche eines anderen Bildschirmbildes „berühren“ sollen.

    Nach unserer Versuchsanordnung wäre nicht die auf dem Bildschirm erscheinende, also abgebildete Geste die reale, sondern die Geste, die zur Herstellung der aufgenommenen Geste vollzogen werden muss. Um im Bild des Grabes als Bildschirm zu bleiben, ist die für den Bildschirm produzierte Geste leer. Die menschlich reale Geste, die vor dem Bildschirm vollzogen wird, ist in Bezug auf einen Segen sogar völlig absurd. Sie ist aber physisch wirklich, im Unterschied zum Bild.

    In diesem Vorgang hat das Bild seine Körperspur verloren. Seine Verbindung zum Körper ist unterbrochen und zeigt die Entfremdung von einer körperlichen Praxis, mit der sie nichts mehr zu tun hat. Das Bild hat eine körperliche Praxis durch einen Effekt ersetzt. Es wird zu einem Simulacrum, das die Wirklichkeit – und im liturgischen Sinne muss man im Falle des Segens Wirksamkeit ergänzen – nur simuliert, also vortäuscht.7

    Aber sollte es nicht – zumindest im liturgischen Zusammenhang – auf die reale Geste, die körperliche Praxis ankommen? Diese Frage zu bejahen, heißt jedenfalls dem Zeichen des Engels in unserem Experiment zu folgen. Er zeigt auf die menschliche Anwesenheit vor dem Bildschirm bzw. vor der Kamera.


  • Wo bin ich, wenn ich vor einem Bildschirm bin?

    „Wo bin ich, wenn ich nicht in der Wirklichkeit bin und nicht in meiner Phantasie“?1 In unserer heutigen, von elektronisch-digitalen Medien dominierten Welt bin ich dann wahrscheinlich vor einem Bildschirm. Aber wo bin ich, wenn ich vor einem Bildschirm bin? Was sich wie die simple Frage nach einer Ortsbeschreibung anhört, stellt sich als Frage nach einer Situation heraus, nämlich nach der Situation zwischen einem Projektor und einer Kamera.

    Es ist ein Zwischenraum. Das ist selbst dann der Fall, wenn die technischen Geräte im Zuge ihrer Digitalisierung räumlich so flach (flat-screen) und die Geräte so kombiniert (camcoder, laptop) gebaut sind, dass man sie kaum noch unterscheiden kann. Doch die Situation vor einem Bildschirm ist ihrerseits von einem relativ komplexen, zusammengesetzten Vorgang gekennzeichnet, in dessen technischem Herzen ein „[P]rojektor gezwungen [ist], sich an die Kamera zu erinnern“2.

    Das, was man auf einem Bildschirm sieht und hört, ist die Projektion von etwas, was vorher oder zeitgleich aufgenommen wird, bzw. wurde, bzw. worden ist. Da ist also eine Situation in der Wirklichkeit. Das kann die gebaute Realität auf einer Bühne sein, die Realität in einer Kirche, auch die Realität in der Natur, oder anderswo. Alles, was dort sichtbar, hörbar, riechbar, atmosphärisch geschieht, ist Teil dieser Realität, einschließlich der sie räumlich strukturierenden Nähen und Distanzen.

    Wird eine solche Realität von einer Kamera genannten Apparatur aufgenommen, so trifft die Kamera zu allererst eine optische Auswahl dieser Realität, in dem die Bildgröße der Kamera einen Teil der Realität ausschneidet und in einen Rahmen stellt. Damit stellt sie optisch Dinge, Personen oder Teile von Personen, wie Gesichter, in den Fokus eines Bildes. Zugleich schließt sie den Rest aus. Innerhalb des Ausschnittes kann sie Distanzen und Nähen verändern. Dinge oder Gesichter erscheinen dann z.B. vergrößert bzw. verkleinert und damit detailreicher oder detailärmer als in der Realität.3

    Im ausgeschnittenen Teil der Realität „außerhalb der Kamera“ kann etwas geschehen, was real anwesenden Personen sichtbar ist, Zuschauern der Kameraaufnahme allerdings unsichtbar. Schon durch diese zwei grundlegenden Operationen einer Kamera wird die Realität von der Aufnahme unterschieden. Beide sind nicht deckungsgleich wenngleich sich auch Rücksichten der einen auf die andere ermöglichen.

    Das Aufgenommene wird meist zugleich (manchmal nur vorübergehend) gespeichert. Das Gespeicherte wird wieder auf einen Bildschirm projiziert. Durch eine Speicherung kann die Projektion wiederholt werden. In Wiederholungen können komplexe Bearbeitungen hineingemischt werden. Sie vergrößern den Unterschied zwischen einer Wirklichkeit und ihrer Projektion immer mehr. Die Wirklichkeit wird in ihrer Aufzeichnung schließlich durch die Projektion ersetzt.

    Wenn ich vor einem Bildschirm bin, bin ich also in einer Projektion. Das ist, wie skizziert, zunächst technisch zu verstehen und schließt je nach Komplexität die Mitarbeit von mehreren Personen wie Regisseurin, Bildregisseur, Kamerafrau, Cutter und komplizierter Technik in Bild und Ton ein. Selbst in einer Livesituation von Aufnahme und Projektion bzw. Ausstrahlung z.B. im Fernsehen, spielen diese technischen Mittel und die sie bedienenden Personen eine gestaltende Rolle. Im Glücksfall wie auf manchen Theaterbühnen, können sie sogar zu Mitspielern werden und unterschiedliche Verhaltensweisen hervorrufen bzw. auf sie reagieren.4

    In jedem Falle ist das, was wir als Projektion sehen, ein gestaltetes Kompositum. Es ist metaphorisch und technisch aus mehreren verschiedenen Schichten und Arbeitsvorgängen zusammengesetzt. Sie wirken vorwärts auf die Projektion hin. In ihrer Wahrnehmung wirken sie jedoch auch zurück. In einem Vorführraum oder einem Kino ist das noch sinnlich nachvollziehbar. Räumlich digital komprimiert sitze ich jedoch als Zuschauerin oder Zuschauer direkt vor einem Bildschirm.

    Doch was ist ein Bildschirm? Die Antwort auf diese wiederum banal erscheinende Frage, zielt zunächst auf eine beliebige Projektionsfläche, etwa eine weiße Wand, und dann auf ein technisches Gerät, wie einen Computermonitor oder ein Smartphone. Doch nimmt die Frage – und mit ihr auch die Projektion – noch etwas über einen Gegenstand und damit dessen technischer Begrenzung hinaus ins Visier, nämlich den Zuschauer bzw. die Zuschauerin und ihre Innenwelt direkt: „Das Gehirn ist der Bildschirm“5.

    Damit wird eine Wahrnehmungsform aktiviert und organisch lokalisiert, die wir bis in die Alltagssprache hinein von der Psychologie her Projektion zu nennen die Gewohnheit haben. Je nach psychologischer Lehrmeinung lässt sich diese Wahrnehmungsform mit unterschiedlichen Akzentsetzungen beschreiben.

    Allgemein skizziert ist eine Projektion das „Übertragen und Verlagern innerpsychischer Inhalte oder eines innerpsychischen Konfliktes“ nach außen. Etwas weiter zugespitzt werden „Emotionen, Affekte, Wünsche, Impulse oder Eigenschaften“, die im Widerspruch zum eigenen Selbstbild oder auch zu gesellschaftlichen Normen stehen, „auf andere Personen, Menschengruppen, Lebewesen oder Objekte der Außenwelt“ projiziert. Mit unterschiedlicher Stärke wird also etwas von innen nach außen projiziert.

    Derartige, auch „Übertragung“ genannte Vorgänge haben häufig die Funktion einer „Abwehr“. Auf diese Art und Weise wird es vermieden, „sich mit Inhalten bei sich selbst auseinanderzusetzen, die man beim anderen sieht“. Es wird etwas „in eine Person oder Situation“ hineinprojiziert, „was dort nicht oder nicht im vorgeworfenen Ausmaß vorhanden ist“.

    Es können aber auch Wünsche und Emotionen von innen nach außen projiziert werden als etwas, was dort nicht im gewünschten Ausmaß vorhanden ist. Eine solche Projektion setzt eine Wechselwirkung von innen und außen in Gang und zielt auf ein Beziehungsgeschehen. Etwas subjektiv Inneres kann einem objektiv Äußeren geradezu „einverleibt“ und dann „das eigene im anderen gesehen“ werden. Dies ist zunächst ein „natürliche[r] und immer unbewusste[r] Vorgang“6  und als solcher eine Form unserer Wahrnehmung.

    Wenn wir vor einem Bildschirm sind, sind wir also in einem mehrfachen Sinne innerhalb einer Projektion: „Was wir sehen, schaut uns an“7  betitelt der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman seine metapsychologischen Untersuchungen des Bildes. Gegen Ende wird dort diese Situation des Was-wir-sehen-schaut-uns-an als Situation „zwischen einem Davor und einem Darin“8 charakterisiert, wie vor einer Tür.

    Die Tür ist eine uralte „Figur der Öffnung“, namentlich in der biblischen Tradition (Joh 10,9). Sie ist die Figur „einer bedrohten oder bedrohlichen Öffnung, die in der Lage ist, alles zu geben oder aber alles zu nehmen“.9 Auch heute in unserer konkreten Lebenssituation (und ihren medialen Äußerungen) nimmt „die menschliche Verlassenheit, die verzweifelte Suche nach dem ‚Sinn des Sinne‘ oder der ‚realen Gegenwart‘, […] oftmals die Gestalt von Türen an, die zu passieren oder zu öffnen sind“10.

    So sitzen oder stehen wir vor dem Bildschirm „wie vor einer offenen Tür, in deren Rahmen man nicht gelangen, nicht eintreten kann: Der Mensch des Glaubens möchte etwas dort jenseits sehen; der Mensch der Tautologie dreht sich in die andere Richtung, mit dem Rücken zur Tür, und behauptet, dort nichts suchen zu brauchen, da er glaubt, sie aus dem einfachen Grunde zu repräsentieren und zu kennen, dass er neben ihr steht“11.

    In einen Bildschirm sehen heißt, zugleich davor und darin zu sein, sich in eine visuelle Nähe zu begeben und zugleich unzugänglich auf Distanz gehalten zu sein, in „einer unmöglichen Beziehung von Körper zu Körper“12.

    Im Osterevangelium wird der spezifisch christliche Zusammenhang zwischen Sehen und Glauben als et vidit et credidit (Joh 20,8) beschrieben. Johannes sieht in das Grab, in das Jesus gelegt worden war, und glaubte. „Was aber hat jener gesehen? Schlicht und einfach nichts. Und gerade dieses Nichts – oder dieses dreifache Nichts: einige weiße Leinenbinden im Halbdunkel einer Felshöhle –, gerade dieses Fehlen des Körpers sollte in alle Ewigkeit die ganze Dialektik des Glaubens in Gang setzen.“13

    Sollte ein Bildschirm schließlich ein leeres Grab sein?


  • bodyb(u)ilding

    Was tun Frau oder Mann, wenn ihnen ihr Körper kurzzeitig abhandenkommt? Sie sehen in einen Spiegel. Sobald sie Mühe haben, sich im Spiegelbild selbst zu erkennen, korrigieren sie mit einer flinken unauffälligen Bewegung das Detail, das ihr Wiedererkennen fraglich erscheinen lässt und: Glück gehabt, der Körper ist wieder da.

    Was tun Frau oder Mann, wenn ihnen der Körper eines anderen abhanden zu kommen droht, wie etwa bei einer Reise, oder wirklich abhandengekommen ist, wie bei einer/m Toten? Sie stellen ein Foto auf, tragen es in einer Brieftasche bei sich oder lassen es auf dem entsprechenden Grabstein anbringen. Ein solches Lichtbild wird sogar dazu benutzt, um einem anderen zu beweisen, dass man der oder diejenige ist, die körperlich zu sein man vorgibt, nämlich bei einer Ausweis- oder Passkontrolle.

    Diese Bildpraxis der Menschen ist uralt. Sie reicht in unserem Falle „weit vor die gräkorömische Kultur“1 zurück und vermischte sich mit der Zeit mit christlichen Bildpraktiken. Meist unterlaufen sie das Radar offizieller Bilddoktrin (Ikone, Lehrbild). Diese Bilder waren “personale[] Bilder“2, häufig sogenannte Tafelbilder. Man verwendete sie bei Prozessionen oder Wallfahrten. „Sie waren uralt oder himmlischen Ursprungs, wirkten Wunder, orakelten und siegten.“3

    Derartige Bilder erhielten ihre Authentizität aus einem „Traditionsbeweis“, wie z.B. aus einer Offenbarungsschrift, oder aus einer „Entstehungslegende“ oder häufig auch aus einer Visionslegende, wie z.B. aus einem Traum. Auch Kult- bzw. Wunderlegenden begründeten ihre Authentizität und damit „übernatürliche Wirkkraft“. Solche Bilder gaben Toten, Kaisern oder Heiligen Sitz und Stimme. Sie hatten charismatische Eigenschaften, konnten in einer Schlacht zum Sieg verhelfen, Minderheiten oder Gebäude beschützen. Sie galten als Nothelfer u.v.a.m.4

    Das Besondere dieser Bilder ergibt sich allerdings nicht nur aus ihrer Wirkkraft (dynamis) und der ihnen eigenen authentischen Bildlichkeit, sondern dadurch, dass man sie „wie Personen behandelt“5. Das heißt, es gibt um die Bilder herum bzw. mit den Bildern so etwas wie ein liturgisch-theatralisches Zeremoniell, das mit der Anwesenheit des Bildes so umgeht wie mit der dargestellten, aber abwesenden Person.

    Besonders deutlich wird dies bei Kaiserbildern, die vor Schlachten die Anwesenheit des abwesenden Kaisers beglaubigt zeigten. Man erwies ihnen Ehrenbezeugungen, zog in ihrem Namen in die Schlacht, deren Sieg durch die bildliche Anwesenheit garantiert und deren Niederlage konsequenterweise auch durch die Verletzung bzw. Zerstörung des Bildes zum Ausdruck gebracht wurde.

    Seit Konstantin hat sich dieses Beispiel direkt mit christlicher Verbildlichungspraxis vermischt. Das Kreuz wurde als Zeichen in diese Zusammenhänge eingeführt und das sowohl als Christuszeichen, als auch als „Bildständer“6  für ein Kaiserbild. Damit wurde eine Verbindung zwischen Bild und Institution hergestellt, die deutlich macht, dass es dabei nicht auf eine quasi magische Bildpraxis ankam. Im Gegenteil, wenn beispielweise Bilder konsekriert wurden, dann galt dies nicht den Bildern (nebenbei bemerkt auch nicht den Malern) selbst, sondern diese „gaben ihre Macht an die Institution ab“7.

    In der Folge konnte die Praxis um derartige Bilder auch mittels technischer Verfahren wie Kopie8  oder Lichtbild9  verlängert werden. Nicht zuletzt diese Tatsache lässt die hier skizzierte Bildpraxis als Vorläufer der aktuellen Bildpraxis der Kirchen erkennbar werden, wie sie sich technisch online per Zoom und ähnliche Plattformen realisiert, die durch die Covid-19-Pandemie und darauffolgende hygienische Beschränkungen eine zentrale Stellung erlangt hat.10

    Entscheidend für diese Deutung ist die Kombination von authentischen Bildern, wie sie heute als Lichtbilder bzw. Bewegtbilder mit Kameras erzeugt werden, und liturgische-theatralische Verabredungen, deren noch so einfacher Vollzug reale Abwesenheit in bildliche bzw. online Anwesenheit überbrückt.
    Der markanteste Unterschied zwischen der alten Bildpraxis und der aktuellen besteht im Unterschied zwischen analoger und digitaler Übertragung.11

    Die Authentifizierung der Bilder, die vormals durch Visionen, Wunder, Texte, Legenden geleistet werden musste, ist nun allein der technischen Reproduzierbarkeit durch eine Kamera überantwortet. Sie könnte im Härtefall, wie bei einem Pass, durch biometrische Daten gestützt werden.

    Lässt man die Authentizität technisch (re)produzierter Bilder gelten, fällt jedoch auf, dass die liturgisch-theatralische Verabredung, das Bild der Person wie eine Person zu behandeln, entfallen bzw. ganz auf das Betrachten des technisch reproduzierten Bildes reduziert ist. Auf dieser Seite des Bildprozedere ist damit aber zugleich jeglicher körperliche Vollzug abhandengekommen.

    Zur o.g. Überbrückung der Abwesenheit der bildlich dargestellten Person und ihrer Wirksamkeit fehlt also ein wesentlicher Teil. Es fehlen die Körper. Sie sind verschwunden. Um eine Anwesenheit von bildlich dargestellten abwesenden Personen zu erreichen, müssten liturgisch-theatralische Verabredungen erfunden und vollzogen werden. Mit anderen Worten, es müssten Körper dem technisch (re)produzierten Bildgeschehen entsprechend hergestellt, rekonstruiert oder aktiviert werden.

    In seinem „Buch über Körperpolitik“ (A Book of the Body Politic12) kommt der französischen Soziologe Bruno Latour auf das 12. Kapitel des 1. Korintherbriefes (1 – 26) des Apostels Paulus zurück. „Hier sind die Teile nicht Seite an Seite einem Rahmen, der sie alle überspannt, untergeordnet“ (Here parts are not side by side under a frame that overarches all of them). Eine solches Prinzip der hierarchischen Unterordnung wäre organisationstheoretisch schlicht überholt (a bad way mode of organisation). „Hier bei Paulus überlappen die Teile einander“ (Here in Saint Paul parts are overlapping with one another).13  Die einzelnen Teile gehen vielfältigste wechselseitige und veränderbare Austauschverhältnisse ein, die sich mit Achtsamkeit umeinander beschreiben lassen (each part takes care of all the others14). In der Lesart von Bruno Latour werden Körper zusammengesetzt (composing) aus „bits and pieces“15 .
    Latour nennt diesen Vorgang „bodybuilding“16.

    Worin könnte ein Bodybuilding in unserem Zusammenhang bestehen? Gehen wir von einer Erfahrung aus, die das Problem noch im analogen Zusammenhang herausstellt und doch ins Zentrum der Fragestellung trifft, die sich online zuspitzt. Während des Abschlussgottesdienstes des Kirchentages im Jahre 2017 auf den Elbwiesen der Lutherstadt Wittenberg fand eine Abendmahlsfeier statt. Auf der Hauptbühne zelebrierte der leitende Liturg die Abendmahlsliturgie. An 250 Tischen, die auf der gesamten Wiese verteilt waren, standen Pfarrerinnen und Pfarrer mit ihren Teams aus allen Teilen des Landes. Sie sollten die Gaben an die jeweils umstehenden Glaubenden verteilen.

    Bei strahlendem Sonnenschein waren die Tische festlich mit Birkenzweigen geschmückt. Die Pfarrerinnen und Pfarrer trugen Talare. Der Liturg auf der Hauptbühne in beträchtlichem räumlichen Abstand zu den anderen Mitfeiernden wurde direkt auf mehreren Videoleinwänden wie auch übers Fernsehen übertragen.17  Als der die Einsetzungsworte sprach, standen die Pfarrerinnen und Pfarrer vor ihren Abendmahlstischen auf der Wiese herum, wussten sichtbar nicht so recht, was sie tun sollten und schlugen häufig leicht verschämt um sich blickend ein Kreuz über den Gaben, bzw. je nach Bekenntnis schlugen sie etwas verschämt kein Kreuz.

    Was geschah? Alle Beteiligten waren körperlich anwesend, Seite an Seite auf der Wiese verteilt, einem sie alle leitenden Rahmen untergeordnet. Aber sie waren im Moment der Einsetzungsworte (von Scham unterstrichen) plötzlich körperpolitisch auseinandergefallen bzw. verschwunden, abwesend. Genau das ist auch bildpolitisch auf den TV-Bildschirmen passiert. (Da wirkt eine Übertragung gnadenlos wie ein Vergrößerungsglas.) Durch die große räumliche Distanz fielen hier analog und da digital die Erfahrung von Abwesenheit zusammen.

    Was würde in so einer konkreten Situation Bodybuilding heißen? Durch welche liturgisch-theatralische Verabredung und Praxis könnte man Abwesenheit und Anwesenheit überbrücken?

    Die einfachste Lösung bestünde darin, dass alle Pfarrerinnen und Pfarrer mit dem leitenden Liturgen gemeinsam die Einsetzungsworte laut sprechen und ihr Kreuz über den Gaben schlagen oder nicht.18

    Ein weiterer Schritt im Sinne des Bodybuilding bestünde darin, dass alle anwesenden Glaubenden die Einsetzungsworte laut mitsprechen. Durch ihr Mitsprechen würden sie einen Körper im Sinne des 1. Korintherbriefes zusammensetzen und dabei zugleich ihre eigene körperliche Anwesenheit zum Ausdruck bringen, aktivieren und somit herstellen.

    Sollten gleichzeitig die Menschen an ihren Fernsehbildschirmen sich nicht nur als Zuschauerinnen und Zuschauer verstehen wollen, sondern als Mitfeiernde, müssten sie dies an ihren jeweiligen Orten ebenfalls tun und auf diese Weise ein die Bildschirme durchschreitendes Bodybuilding aktiv praktizieren. In unserem Falle: Die Einsetzungsworte mitsprechen.

    Auf diese Weise würde auch bei sogenannten online-Gottesdiensten, wie auf der Plattform Zoom u.a., eine körperliche Anwesenheit der Feiernden und somit eine Gemeinschaft hergestellt werden können. Dazu ist die körperlich aktive, aktuelle Mitwirkung aller Glaubenden nötig. Theologisch müsste sie als radikale, weil körperliche Aktualisierung der Taufe verstanden werden, die das virtuelle Bild ergänzt, also erst vervollständigt.

    P.S.
    Was mit Vergrößerungseffekt online signifikant sichtbar und spürbar wird, die Trennung zwischen Körper und abgebildeter Person, deutete sich in unserem Beispiel auf den Elbwiesen Wittenbergs durch eine große räumliche Distanz bereits an.

    Abschließend und aus aktuellem Anlass soll hier diese Trennung überwindende Praxis des Bodybuilding noch einmal ins Analoge zurückgewendet werden.

    Im Zusammenhang des Ökumenischen Kirchentages wird zur Recht über die Gastfreundschaft beim Abendmahl zwischen der katholischen und den evangelischen Kirchen gestritten. Gegen die praktische Erfahrung der Trennung bedeuten diese theologischen Auseinandersetzungen nichts, außer der Erhärtung eines machtpolitischen status quo.

    Was wäre, wenn die Glaubenden aller Konfessionen sich angewöhnten, die Einsetzungsworte einfach mitzusprechen? Und dies nicht als Demonstration, auch nicht als Protest, sondern einfach wie das Vaterunser: sine ire et studio. Und dies sowohl bei den Mahlfeiern der eigenen Konfession als auch in denen der jeweils anderen.

    Vor allem für die Teilnehmenden der jeweils anderen Konfession, aber nicht nur, wäre dies einfache Mitsprechen und das sich daran Genüge sein lassen (müssen) Praxis und Erfahrung eines Bodybuilding nach 1 Kor 12., was den status quo bereits durchschreitet …


  • Worms liegt in Mexiko

    Als Martin, der damals noch Luder hieß, 1483/84 im kursächsischen Mansfeld geboren wurde, unterbreitete Christoph Kolumbus dem portugiesischen König Johann II. seine Schifffahrtspläne. Sie führten wenig später zur Entdeckung Amerikas (1492). Diese Weltentdeckung ließ Martin Luther Zeit seines Lebens „seltsam unberührt“1. Dabei hatte, bizarrer Weise, Kolumbus zur Vorbereitung seiner Weltentdeckungsfahrt die Schriften eines Autors studiert, dessen Sentenzen Luther, einer Äußerung Melanchthons folgend, fast auswendig kannte: Pierre d’Ailly.2

    Aber wenn Luther von den „Grenzen der Zivilisation“ sprach, meinte er Wittenberg. Wenn er überhaupt Bezug auf die sogenannte Neue Welt nahm, dann unter dem Gesichtspunkt der Mission: „die da heiden seint und niemand hat in gepredigt“3, oder unter dem Gesichtspunkt von von dort eingeführten Krankheiten, die er als Zeichen des Endes der Zeiten verstand: „Unum de signis magnis ante diem Extremum“4.

    Als Luther sich 1521 von Wittenberg aus nach Worms aufmachte, ahnte er nicht, in welche Zusammenhänge ihn die Entdeckung der Neuen Welt eigentlich stellen würde. Auch das sollte Zeit seines Lebens so bleiben. Der persönliche Drehpunkt dieser Verwicklungen ist Karl V.

    Im Konflikt mit Rom hatte Martin Luther wenigstens für einen Moment gehofft, Papst Leo X. von seinen Reformen überzeugen zu können. Er hatte seine große reformatorische Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ im Herbst 1520 mit einem persönlichen Sendschreiben an diesen Papst geschickt.5 Aber das Manöver schlug fehl. So blieb Karl V. die einzige universelle Instanz, die Luther anrufen konnte. Es gelang, die causa Lutheri auf die Tagesordnung des Reichstages in Worms zu heben und Luther durfte vor Karl V. erscheinen.

    Der noch nicht zwanzigjährige Habsburger Karl V. war 1520 mit seiner Königskrönung in Aachen nicht nur zum mächtigsten Herrscher der Christenheit aufgestiegen, sondern bereits „Erwählter Römischer Kaiser“6. Er sah sich selbst in der Folge Karls des Großen und somit als Hüter des christlichen Abendlandes. So war er gewillt, „die Reinheit des christlichen Glaubens mit allen Mitteln zu verteidigen“, aber auch bereit für „die notwendige institutionelle wie spirituelle Erneuerung des Christentums, allerdings verbunden mit der Gewissheit, dass dies ohne jenen tiefen Bruch möglich ist, und sein muss, den der deutsche Reformator Martin Luther in eben jenen Jahren provozierte“.7

    Die direkte Begegnung zwischen Martin Luther und Karl V. auf dem Reichstag in Worms im April 1521 ist oft erzählt und stilisiert worden. Der Punkt größtmöglicher Tragik zwischen Martin und Karl wird sichtbar, wenn man sich dessen erinnert, das Karl in Gent auf den Spruch: „Erforsche mit Leidenschaft die Schrift“ getauft und „wo immer er als junger Mann auf ein neues Herrscheramt vereidigt worden war, war er als Erstes auf den Schutz der Kirche und die Verteidigung des reinen Glaubens eingeschworen worden“.8  Vor diesem Hintergrund dürfte Luthers berühmter Schlusssatz „Karls existentielle Betroffenheit ins Schmerzhafte gesteigert haben: ‚So bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte bezwungen9. Und so lange mein Gewissen durch die Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es unsicher ist und die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.‘“10

    „In Worms standen sich zwei Reformmodelle gegenüber, dasjenige Luthers der Erneuerung aus evangelischer Wurzel und dasjenige Karls der Erneuerung der Christianitas aus kaiserlicher Tradition. Damit war ‚ein weltgeschichtlicher Konflikt eröffnet; hatten sich die beiden größten Gegenspieler des Zeitalters gefunden‘. Das war nicht ausschließlich den Unterschieden geschuldet, die schließlich zu unüberbrückbaren Gegensätzen werden sollten. Vielmehr stand dahinter auch eine Nähe des jeweiligen religiösen Auftrags und nicht zuletzt die Verwandtschaft beider Protagonisten in ihrem unbedingten Willen, ihre Vision der christlichen Erneuerung zum Sieg zu bringen.“11

    Schließlich führte die Begegnung von Worms zur Schlacht von Mühlberg im Jahre 1547. Ein Widerschein von Respekt gegenüber Martin Luther von Seiten Karls V. mag man darin erblicken, dass Karl das Grab Luthers in Wittenberg geschont hat.12  Hatte Karl V. in Martin Luther doch einen reformatorischen Mönch erkannt, wie er ihm in einer anderen Sache begegnet ist?

    Unter dem Eindruck des Sieges von Mühlheim verfasste ein spanischer Offizier und Dichter eine Hymne an seinen Feldherrn. Darin ist nicht von Europa allein die Rede, „sondern von el suelo, also der Erde schlechthin. Religionspolitik in Europa und Christianisierungspolitik in Übersee werden verknüpft, die Auseinandersetzung mit den Protestanten in Deutschland ist in eine globale Perspektive gerückt“13.

    Ende 1519 waren Schiffe aus Übersee nach Sevilla zurückgekehrt und als Karl seine Herrschaft über das Königreich Aragon antrat, konnte er, der Goldgeschenke ansichtig, die die Gesandten ihm übergaben, einen Eindruck des Reichtums gewinnen, der ihm aus der Neuen Welt zuwachsen würde. Die glänzendsten Zeugnisse wurden in einer Ausstellung gezeigt, die auch in Brüssel zu sehen war und eindrücklich in Albrecht Dürers „Niederländischen Tagebuch“14  beschrieben ist. Die Schätze aus Übersee steigerten nicht nur die Reputation des jungen Herrschers und ließen seine Aachener Krönung in Goldglanz erstrahlen, sondern sie füllten vor allem die Kriegskassen.

    Im Oktober 1520 unterrichtete der Konquistador Hernàn Cortés „den jungen Kaiser über die voranschreitenden Eroberungen und das Verhältnis zwischen Spaniern und den Indios. Im Vordergrund standen stets die grandiosen Möglichkeiten, die sich dem Kaiser und Kastilien in Übersee eröffneten, bis hin zu dem unerhörten Vorschlag, das traditionelle Römische Kaisertum zu einem Weltkaisertum auszudehnen. Auch die Religion berührte der Bericht immer wieder, den Götzendienst der Heiden ebenso wie die Notwendigkeit, den Indios das Christentum durch gute Prediger und Seelsorger zu verkündigen.“15

    Die realen Geschehnisse sprechen jedoch eine deutlichere Sprache. Insbesondere ein Ereignis, das wenige Monate nach dem Reichstag in Worms stattfand. Es begann bereits im Sommer 1520, besagter Hernàn Cortés erreichte mit seinen Leuten Tenochtitlán, „das politische und religiöse Zentrum des Aztekenreiches. In einem zähen, mit blutiger Brutalität, Verschlagenheit und selbstzerfleischenden Intrigen innerhalb der Konquistadoren ausgetragenen Ringen wurde das Aztekenreich vernichtet und das Land als Neu-Spanien der Krone Kastiliens unterstellt: Auf den freundschaftlichen Empfang des Aztekenkaisers Mantezuma II. folgte die traumatische ‚noche triste‘ vom 30. Juni auf den 1. Juli 1520, als der aufs Blut gereizte Aztekenadel mit unbedingtem Vernichtungswillen über die Eindringlinge kam. Die Spanier mussten ihre auf einer Insel mitten im See der Hauptstadt gelegene Bastion aufgeben, die ihnen zur Falle zu werden drohte. Auf der kopflosen Flucht wurden sie nahezu aufgerieben. In einem kaltblütigen Gegenschlag führte Cortés seine Truppen zurück – eine kleine Schar von Spaniern, vor allem aber ein großes Hilfskontingent von Indios aus den von den Azteken unterworfenen Stämmen, die an der Seite der Europäer wieder Unabhängigkeit erlangen wollten. Nach monatelanger verlustreicher Belagerung eroberte diese europäisch-indigene Streitmacht am 13. August 1521 die glänzende, mit rund 200 000 Einwohnern allen europäischen Städte weit überragende Aztekenresidenz Tenochtitlán und machten sie dem Erdboden gleich. Das war das Ende der bedeutendsten autochthonen Hochkultur der Neuen Welt mit einer ausgefeilten gesellschaftlichen und politischen Organisation, mit einer hohen Kultur und Wirtschaftsblüte. Auch ihre Religion wurde ausgelöscht – mit einem guten Gewissen der Christen, selbst der wenigen, die dem Eroberungswahn kritisch gegenüberstanden. Denn es war der Sieg über blutige Heidengötter, die Menschenopfer verschlangen.
    ‚Goldkastillien‘ nannte der Volksmund die Westindischen Länder.“16

    Zu den wenigen, die dem Eroberungswahn kritisch gegenüberstanden gehört der Dominikanermönch Bartholomé de Las Casas. Bereits 1517 hatte er mit der Verve eines alttestamentarischen Propheten seine Stimme erhoben und „kritisierte unerschrocken die Unmenschlichkeiten und Verbrechen“ der Konquistadoren und mahnte zur Verantwortung für die „leibliche Unversehrtheit“ und das „Seelenheil“ der neuen Untertanen.17

    Konkret kritisierte dieser Reformator die faktische Versklavung der Indios und ihre Zwangschristianisierung. Bereits vor der Krönung Karls V. versuchte Las Casas den jungen Herrscher von seinem Anliegen zu überzeugen: „Aber wäre der König, gerade zum Kaiser gewählt, nicht in Eile gewesen, Spanien aus diesem Grunde zu verlassen, – gewiss, Westindien wäre es gut gegangen“18.

    So musste sich Bartholomé de Las Casas in Geduld üben, für die nächsten Jahrzehnten war Karl ganz mit den dringenden europäischen Fragen befasst: „Auf die Reichtümer aus Übersee konnte er umso weniger verzichten, als sein Engagement in Europa mit den regulären Einkünften aus seinen Ländern nicht zu finanzieren war. Und da es auch hier um die Sicherung des Christentums ging – gegen die protestantische ‚Häresie‘, vor allem aber bei der Türkenabwehr, sah er seinen Seelenfrieden durch die Zustände in Amerika kaum gestört.“19

    Erst bei seinem Spanienaufenthalt 1541-1543 „richtete der Kaiser seine ganze Aufmerksamkeit auf das Schicksal seiner indianischen Untertanen“. Unter intensiver Mitarbeit von Las Casas wurden die Neuen Gesetze, die Leyes Nuevas, verabschiedet, in denen sich Karl „ganz für die christliche Moralposition entschieden“ hatte. Selbst wenn er in der Folge „seine moralischen Ansprüche hintanstellen und zur Realpolitik zurückkehren“, somit die Gesetze entschärfen musste, „wollte er nicht einen Aufstand oder gar den Abfall der Kolonien und damit das Versiegen der Überseeeinkünfte riskieren“.20

    Unablässig kam Bartholomé de Las Casas auf sein Anliegen zurück und appellierte an das Gewissen des Kaisers. „Denn für ihn stand fest: Das Seelenheil eines Menschen zu gefährden, eines Europäers oder Indios, ist eine schwere Sünde.“21  Im Frühjahr 1550, nach dem Reichstag in Augsburg, richtete Karl eine Gelehrtenkommission ein, es begann „der erste freie Disput über Kolonialpolitik“22  und Las Casas war einer der „Fürsprecher der Indios“23.

    Die Gewissensfragen wurden gestellt und diskutiert, wenn auch nicht gelöst. Realpolitisch hatte Europa den Vorrang, genauer gesagt: „Der Traum der Reinigung und der Wiedervereinigung der lateinischen Christenheit hatte für Karl zeitlebens absoluten Vorrang“24. Darin bestand die Tragödie der Indios. Worms liegt in Mexiko.


  • Fernsehen als Fürsprache

    Konsequent wie kaum ein anderer hat sich der französische Philosoph Gilles Deleuze dem Fernsehen verweigert: „Man wird zwangsläufig reingelegt, in Besitz genommen oder vielmehr dessen, was man hat, beraubt.“1

    Keine Interviews. Kein Porträt. Nach zwanzig Jahren beständigen Nachfragens antwortete Deleuze schließlich seinerseits mit einer Frage: „Und wenn wir es versuchten?“2

    Claire Parnet, „eine Freundin von Gilles“3, früher seine Studentin, dann Koautorin der „Dialoge“ (1977), entwickelte die Idee eines ABC: Zu jedem Buchstaben des Alphabets ein Begriff.

    „Das ABÉCÉDAIRE ist kein Interview, keine Unterhaltung, kein Gedankenaustausch. Überlassen wir das dem Fernsehen, das immerzu neue Vermittler oder Zwischenhändler hervorbringt, all diese kleinen Meister der Wahrheit, die diese berühmten Debatten bevölkern, die deshalb auch gar keine sind.“4 Das ABÉCÉDAIRE ist eine „Fürsprache“.

    „Die Fürsprache ist das Einfangen, ein zweiseitiges Einfangen in diesem Fall; das hat nichts mit einer Seelenverwandtschaft zu tun oder sonst etwas. Der erhoffte Effekt, der, wie ich glaube, auch erreicht worden ist, war nicht, dass Gilles als Person auf die Fragen von Claire Parnet, dieser anderen Person antwortet, sondern dass es eine Interferenz gibt zwischen Werk und Leben von Gilles; eine Überlagerung, die für ihn nicht darin bestand, sein Leben zu erzählen.“5

    Im Winter 1988 und im Frühjahr 1989 wurden die Filmaufnahmen gemacht. Mit dem Regisseur Pierre-André Boutang war vereinbart, das ABÉCÉDAIRE erst nach dem Tod von Deleuze, also posthum zu zeigen. Schließlich ergab sich Mitte der 1990er Jahre die Möglichkeit, das ABÉCÉDAIRE in Ausschnitten zweiwöchentlich auf ARTE zu zeigen. Der Gedanke an eine Serie oder einen Fortsetzungsroman gefiel Deleuze und er willigte ein. Erst nach dem Tod von Deleuze konnte das ABÉCÉDAIRE fertiggestellt werden und als Video erscheinen (1996). Eine Fassung mit deutschen Untertiteln und deutschem Voice-over, herausgegeben von Valeska Bertoncini und Martin Weinmann, erschien 2009.6

    Was für eine Art von Fernsehen ist da entstanden? Und wie ist es gebaut?

    „Die Wohnung von Gilles hatte zwei Stockwerke. Wir wählten sein großes Bibliotheksbüro im Erdgeschoss aus und entschieden, ihn in diesen Sessel zu setzen. Es gab da diesen kleinen Spiegel; das war ein gutes Mittel, Claire ins Bild zu bringen, ohne sie zu viel zu zeigen. Hinter Gilles befanden sich zwei oder drei Gegenstände, die stellte ich um. Nur den Hut habe ich hinzugefügt; ich hatte eine Magritte im Kopf… Anfangs hatten wir keine Vorstellung von der Dauer, und die Filmrollen häuften sich. Wir filmten in 16mm, also immer 11 Minuten. Wir mussten uns also jedes Male erinnern, wo wir stehen geblieben waren, nachladen, fortfahren… Einmal angefangen, mussten wir das bis zum Ende durchziehen. Da gab es einen Kameramann, einen Mann für den Ton und einen dritten Mann an der Beleuchtung, einer Art Elektriker. Ich verzog mich in eine Ecke, in der ich mich zugleich mit Claire und dem Kameramann verständigen konnte.“7

    „Wir hatten uns vorher abgesprochen. Rücksicht war das Prinzip. Jeder plötzliche Zoom war absolut zu vermeiden; man musste zurückweichen wie auf Schienen. […] Bei der Wahl der Bildausschnitte haben wir uns schnell auf das Wesentliche beschränkt: Sobald die Beziehung zwischen Claire und Gilles hergestellt war, beschlossen wir auf ihm zu bleiben – sonst wäre dieses ständige Hin und Her zu zwanghaft geworden. Beim Licht mussten wir uns sehr zurückhalten. Zu flach darf es nicht sein, aber es darf den, der spricht auch nicht blenden. […] Ich hatte immer den Wunsch, dass der, den ich filme, möglichst wenig davon merkt.“8

    Zusammenfassend könnte das entscheidende Stichwort einer immer wieder neu zu findenden Antwort auf die Frage nach dem Wie ein solches Fernsehen der Fürsprache zu bauen wäre, lauten: Vereinfachen.

    Im Zweifel Vereinfachen hieße zum Beispiel: Den gegebenen Ort zu respektieren bzw. als solchen zu nutzen. So wenig technische Mittel wie möglich einsetzen, jedenfalls keine technischen Effekte und Tricks um ihrer selbst willen. Keine technisch, ästhetischen bzw. dekorativen Leerläufe (Kamerafahrten etc.). Hinzu kommt der wichtige Entschluss, die Herstellungsbedingungen, wie den Wechsel der Filmrollen, nicht zu verstecken, sondern sichtbar zu lassen. Manipulative Nachbearbeitungen möglichst zu unterlassen bzw. auf ein Minimum zu begrenzen. Manchmal können sogar ein Versprecher o.ä. „Fehler“ Teil eines lebendigen Prozesses sein und mehr erzählen als eine geglättete telegene Oberfläche jemals zeigen kann.

    Auf den entscheidenden Grund für diese skizzierte Zurückhaltung im Umgang mit den technisch geradezu entfesselten Mitteln des modernen Fernsehens kommt Deleuze unter dem Buchstaben c wie culture zu sprechen:

    „Gilles Deleuze: Wer sind eigentlich die Kunden des Fernsehens heute? Es sind nicht mehr die Zuhörer. Die Kunden des Fernsehens sind die Werbekunden. Das ist die wahre Kundschaft. Die Zuhörer kriegen das, was die Werbekunden hören wollen.
    Claire Parnet: Die Fernsehzuschauer.
    Gilles Deleuze: Die Fernsehzuschauer, ja. […] Die Werbekunden sind die wahren Kunden.
    Pierre-André Boutang: Gilles Deleuze. Filmrolle Nummer sieben. […]
    Gilles Deleuze: Die Werbekunden sind die wahren Kunden.“

    Dem Werbefernsehen kann man sich nur verweigern, wie es Deleuze jahrelang tat. Es sei denn man geht anders herum an die Sache heran. Und das war Deleuzes Vorstellung vom ABÉCÉDAIRE: „Von seinem Wissen als Philosoph ausgehen, um Fernsehbilder zu erzeugen – und nicht umgekehrt.“9

    Das heißt auch: Aufgehen, in dem, was man tut und dennoch zugleich ein bisschen Distanz wahren, eine Distanz, von der aus man sich beobachtet, von der aus man ein bisschen darüber lachen muss, dass man gefilmt wird.10

  • Televisualität

    „Fernsehen ist eine überwiegend kommerziell geprägte massenkulturelle und daher notwendig triviale Form. Es ist einerseits primitiv und oft vulgär, andererseits auf eine komplexe, teure und aufwendige Technik gegründet“.1

    Im Unterschied zu Medien wie der Schrift, dem Radio oder dem Film gibt es zum Fernsehen (und seinen medialen Hybriden) „keine Theorie, auch keine Mehrzahl von Theorien“, die darüber hinaus gehen, „mehr als einen isolierten Teilaspekt des Mediums“ zu erfassen oder dieses Medium „auf den Begriff“, auf „ein Modell“ oder auf „einen in der Einheit der Differenzen gefassten Blickwinkel“ festlegen würden.2

    Der Weimarer Film- und Fernsehwissenschaftler Lorenz Engell stellt die verschiedenen theoretischen Ansätze und ihre Kontexte in einer einführenden Fernsehtheorie vor. Wir folgen ihr in unserer Lektüre stichwortartig und zusammenfassend mit der Perspektive, die Fragestellungen herauszuarbeiten, die für eine religiöse Fernsehpraxis zu reflektieren und zu entscheiden wären.

    Ein Grund für einen gewissen „Theoriemangel“ in Bezug auf das Medium Fernsehen liegt darin, dass das Fernsehen in seiner Praxis die gängige „Schrift- und Argumentationskultur“ und damit ihre „Fähigkeit zur Theoriebildung und –diskussion“ massiv untergräbt und „außer Kraft“ setzt. Dies geschieht vor allem dadurch, dass sich im Zentrum des Mediums Fernsehen Bilder befinden. Und zwar Bilder, die weniger logisch als unlogisch mit einander verkettet und angeordnet sind.3

    Zu Beginn der Erfindung des Fernsehens sollte lediglich „ein an einem Ort A befindliches Objekt an einem anderen Orte B“4  sichtbar gemacht werden können. Doch mit zunehmender technischer Entwicklung und Komplexität können nicht nur Bilder direkt (live) gesehen, also gesendet und empfangen werden, sondern sie können in ihrem Fluss auch unterbrochen werden, etwa durch Anrufe von Zuschauern, Werbung oder Programmhinweise. Andere Bilder (Fotographien, Filmbilder u.a.) können eingefügt werden.

    Das Fernsehbild wird zu einem „Schalt-Bild“5. Es hebt somit seine „abbildlichen Ordnungen“6  auf und wird als „Fernsehbild selbst“sichtbar. Im „Programm- und Bilderfluss des Fernsehens“8  können alle eingefügten Bestandteile als solche mitgeführt werden und bilden schließlich eine eigene Realität.

    Sowohl im Hinblick auf seine Form als auch in Bezug auf den selbstreflexiven Gestus des Fernsehens bietet sich die Serie als Denkkategorie dieses Mediums an. Als Fernsehformat legt eine Serie „eine Anzahl von Regeln fest, eine Formel, nach der Episoden zu bilden sind, und zwar so, dass die Varianz, die Anzahl verschiedener möglicher Episoden tendenziell gegen unendlich gehen kann“. Ähnlich wie bei der Improvisationstechnik des Jazz verfahren diese Improvisationen entsprechend der einmal gefundenen Formel so, „dass sich aus ihrer Abfolge dennoch ein zusammenhängendes Ganzes ergibt“.

    „Die einzelnen Episoden entstehen im Nacheinander und werden auch in der linearen Abfolge wahrgenommen, aber sie bauen eigentlich nicht aufeinander auf.“ Dabei variieren sie „ein Prinzip, eben die jeweilige Formel, bis zur Unendlichkeit“. Haben sich die Vorgaben „in ihrer Variabilität und Fruchtbarkeit erschöpft“, endet die Serie. Eine Serie diskutiert ihre Formel nicht, sie entwickelt sie nicht, sondern sie erschöpft sie.9

    Ein solcher „Bilderstrom“10  als unendliche „Variationen des Selben“11 zieht ein entsprechendes „Fernsehverhalten“ nach sich. Es besteht darin, „nicht zu handeln, nicht einzugreifen“.12  Einziger Ausweg: Schalten.

    Einschalten, zuschalten, umschalten, abschalten als Funktionsweisen des Schalt-Bildes lassen eine Serie bei der Produktion und Rezeption der „Sichtbarkeit durch das Fernsehbild“ nicht einfach als „Variation desselben oder die Wiedergabe eines immer schon Vorfindlichen“ – also als Repräsentation – denken.  „[Z]umindest der Möglichkeit nach“ handelt es sich bei einer Serie stets um das Auftauchen eines unbegründeten und unvorhersehbaren Neuen“13  etwa durch einen „Verschiebungseffekt, der sich zwischen zwei oder mehreren inkommensurablen Zeitreihen aufspannt“14.

    Die eigenartige Realität, die das Schalt-Bild erzeugt, unterscheidet sich als „mediengefertigte“ Realität von der Realität draußen. Sie ist nicht mehr unter Rubriken wie Abbild oder Darstellung zu fassen. Vielmehr findet eine „Vermischung von Realität und Illusion“ statt, die durch „raffinierte Spiegelkonstruktionen“ unterstützt „Bildraum und Betrachterraum ineinander verschränken und fiktive Figuren in reale Settings hineinspiegeln“.15

    Diese Vermischung „unterschiedlichster Realitätsbezirke“ und Bildwelten kehren die „Beziehung zwischen äußerer Wirklichkeit und dem Fernsehbild“ nicht einfach um, sondern „paradoxier[en]“ sie. Es entsteht eine „Hyperrealität“, in der sich die Unterscheidbarkeit von (Fernseh-)Bild und Wirklichkeit grundsätzlich infrage gestellt“ findet.16

    Mit der Fernsehkultur entwickelt sich auf diese Weise „eine neue Form des öffentlichen Ereignisses“. Fernsehen berichtete nicht über ein „unabhängig von ihm stattfindendes Ereignis“. „Die Wirkung eines Ereignisses, inszeniert oder nicht, geht nicht mehr von ihm selbst aus, sondern von seiner logisch oder zeitlich eigentlich nachträglichen Überformung und Verbreitung durch das Fernsehen.“ Das Fernsehen ist also „immer schon sein Mitveranstalter“.17

    Schließlich erzeugen die Fernsehbilder „die Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen, und die Bedeutungen, die wir ihnen entnehmen sollen, selbst“18. Sie simulieren Wirklichkeit als einen „Zustand, in dem über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Objektes oder einer kulturellen Formation nicht mehr entschieden werden kann“19.

    Damit löst sich auch das Verhältnis zwischen Sender und Empfänger dahingehend, dass der Sender immer mächtiger gegenüber einem immer ohnmächtigeren Empfänger wird. Diese Tendenz hat Konsequenzen für die Raum- und Zeitverhältnisse, die das Fernsehen herstellt.

    „Im Sinne des Gedankens vom Fernsehen als Schalt-Bild kann man hier auch an das Phänomen des Umschaltens von einem Ort der Übertragung, etwa einem Studio, zu einem anderen, etwa einem Ort des Geschehens denken. Ebenso fungiert hier das Einschalten eines (Bild-)Raumes in den (realen) Umgebungsraum, eines Außenraums also, der durch das Fernsehen in einen Innenraum, klassischerweise das häusliche Wohnzimmer, einzieht.“20

    Einziehen bedeutet in diesem Falle reales Umgestalten wenn man an die Entwicklung der mit dem Fernsehgerät verbundenen Möbel, Einrichtungen und Verhaltensweisen denkt: „Öffentliche und private Bereiche vermischen sich“21.

    In der Folge „bilden Hausgeräte, Wohnformen und Einrichtungen, Fernsehapparate, Rollenbilder, Supermärkte, Konsumpraktiken und –ideologien, Essgewohnheiten, Vorstadtarchitekturen und schließlich auch Fernsehformate und –ästhetiken eine komplexe und verteilte Einheit“22  mit allen sozial und politisch auszudifferenzierenden Implikationen.

    Eine wachsende Vielfalt des Angebotes auf den verschiedenen Ebenen erfordert eine Auswahl. „Erst mit der Einführung der Fernbedienung findet das Fernsehen eine gültige Antwort auf den Selektionsdruck, der durch das Überangebot an verfügbaren Bildern, durch das Immer-schon-Vorhandensein aller Bilder an allen Orten entstanden [ist]. Die Fernbedienung zu betätigen [heißt] nun stets, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen, aus einem vor-ausgewählten Raum der Möglichkeiten durch nachfolgende Selektion tatsächliche Realisierungen vorzunehmen – und auch wieder zu revidieren, im Zurückschalten.“23

    Auf die Spitze getrieben markiert der „Moment des Umschaltens“, insbesondere der eines „Umschaltens, das nicht auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem, sondern einfach nach irgendetwas anderem ist“, einen besonderen Punkt. An ihm scheint „das Fernsehen als Medium universeller Sichtbarmachung“ auf.24

    Nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Strukturen sind durch die Fernbedienung zumindest momenthaft überbrückbar und erzeugen eine „große[] ausgedehnte[] Gegenwart“, die dadurch charakterisiert ist, Gleichzeitigkeit zu sein.25  Diese kann sich durch Um- und Zurückschalten sowohl auf „Zeitpunkte“ als auch auf „Zeitdauern bzw. –abläufe“ beziehen.26  Eine besondere Form der „Herstellung von Gleichzeitigkeit“27, mit der das Fernsehen „etwas vollkommen Neues leistet“28, ist die Direkt- oder Live– Übertragung.

    Das Charakteristikum der Live-Übertragung ist „ein Zusammenfallen von Versuch oder Probe einerseits und Ergebnis oder Werk andererseits“29. Dies geschieht wieder durch Schaltvorgänge und Selektion und dies nicht erst auf der Ebene der Rezeption, sondern bereits auf der Ebene der Produktion: „Einzelne Aspekte und Anblicke eines Geschehens werden ausgewählt, und zwar in einem mehrstufigen Verfahren: Schon die Positionierung der Kameras trifft eine Auswahl, die dann die Kameraleute befähigt, ihrerseits laufend selektiv zu entscheiden, was sie vom Geschehen aufnehmen wollen. Diese Bilder nun findet der Regisseur im Übertragungswagen simultan vor und trifft wiederum eine Auswahl, die dann tatsächlich und in einer Abfolge arrangiert über den Sender geht.“30

    Der „eigentliche Inhalt der Live- Sendung“ ist also nicht „die Fürstenhochzeit oder das Fußballspiel“ als solches. Es besteht vielehr darin „das Werden einer Form, die Entstehung oder Erzeugung einer sinnvollen kohärenten Abfolge aus an sich selbst bedeutungs- und beziehungslosem, ungeformtem Ereignis- oder Bildmaterial mit- und nachzuvollziehen. Formgebung und Mitvollzug ereignen sich ihrerseits zugleich mit dem Strom unverbundener, an sich selbst wenig verknüpfter Ereignisse“.31

    Derartige Medienereignisse erzeugen also Zwischenfelder „zwischen traditionellen öffentlichen Zeremonien und Ritualen einerseits [und] Fernsehfiktionen andererseits“. Sie können als Übergänge „vom übertragenen Ereignis zum Ereignis der Übertragung“ verstanden werden. Das Ereignis der Übertragung ersetzt dabei tendenziell das ursprüngliche Ereignis und erzeugt die „Illusion einer Teilhabe“.32

    Diese fernsehspezifische Teilhabe ist zunächst nicht exklusiv; es werden prinzipiell alle Zuschauer und Zuschauerinnen zugelassen und sie haben „stets die beste Sicht auf das Ereignis“. Andererseits können sie immer nur einen „bestimmten Ausschnitt oder Blickwinkel“ sehen. Das erzeugt eine „nächste Nähe zum Detail“ bei gleichzeitiger „unüberbrückbarer Ferne zum Gesamten“ des Ereignisses.33

    „Was das Fernsehen kann, kann nur das Fernsehen“. Es kann ein „Ereignis aus aberwitzigen und unmöglichen optischen Perspektiven aufnehmen“. Es kann das Ereignis kumulativ ergänzen mit Kommentaren, Hintergrundinformationen. Es kann das „Live– Zentrum“ mit „[p]eriphere[n] Ereignisse[n]“ umlagern und überwuchern… „Dadurch reproduziert das Fernsehen nicht nur das Ereignis selbst, sondern zugleich genau das, wovon es sich abhebt und was es unterbricht, nämlich den Strom alltäglicher Vorkommnisse und damit der alltäglichen Zeit.“34

    Es übernimmt die Kontrolle des Stromes alltäglicher Vorkommnisse und bindet die übertragenen Ereignisse immer stärker in einen Fernsehfluss“ mit seinen „endlose[n] Wiederholungen derselben Bilder“ in Nachrichtensendungen, Sonderberichterstattungen etc.

    Auf diese Weise entscheidet das Fernsehen nicht nur über die Wichtigkeit von Ereignissen, indem sie sie überträgt oder nicht, es verstärkt bei gleichzeitiger „Entgrenzung“ der Bilder immer auch die reale Erfahrung der Zuschauerinnen und Zuschauer, die vor allem darin besteht, „nicht dort gewesen zu sein“.35


  • the dark side

    Weihnachten des Jahres 1883 verbrachte der Student Paul Nipkow allein in seiner Studentenbude in Berlin. Dort saß er vor „einem kleinen Tannenbaum, an dem die Kerzen brannten, einer billigen Petroleumlampe und einem Reichsposttelephon“, was ihm ein Freund geschenkt hatte. „Entweder beim Anblick der Christbaumkerzen, die ja flackern, oder beim Anblick des Telefons, das Alexander Graham Bell eben erste erfunden hatte“, fragte er sich, ob es nicht gelingen könnte, ebenso wie bei der Übertragung von Stimmen, auch Gesichter zu übertragen.1

    Dazu müsste das Bild „zwar in Einzelpunkte zerhackt werden, die über ein Telephonkabel zum Empfänger gelangen und dort wieder zum Flackerbild zusammengesetzt würden; aber als guter Helmholtz-Schüler kannte Nipkow die Trägheit des Auges und seine unbewusste Fähigkeit, das Bildflimmern weg zu filtern, physiologisch durch den schon vom Film eingesetzten Nachbildeffekt, allgemeiner oder mathematisch durch Integration der einzelnen Bildpunkte“2.

    Diesen Gedanken nachgehend erfand Paul Nipkow „die sogenannten Nipkowscheibe, eine um ihre Achse drehbare Metallscheibe, die zwischen der Bildquelle und dem Sendekanal zu stehen kam und nur die Funktion hatte, lauter Löcher zu tragen“3. Nach seiner Patentschrift hat der von ihm erfundene Apparat „den Zweck, ein am Orte A befindliches Objekt an einem beliebigen Orte B sichtbar zu machen“4.

    Mit der Erfindung der Nipkowscheibe und der Überwindung ihrer Schwachstellen, etwa durch den Einsatz von Braun‘schen Röhren bis hin zum Transistor, war der Grundstein dessen gelegt, was wir Fernsehen nennen. Die Entwicklung dieses „vollelektronischen Medium[s]“5  allerdings hat es in sich. Dennoch erscheint es unerlässlich, sich diese Entwicklung vor Augen zu führen, um zu verstehen, was Fernsehen überhaupt ist. Auf den ersten Blick ist seine Entwicklung Teil der Geschichte von Bildern, ihrer Speicherung, ihrer Übertragung und ihres Laufen Lernens. Darüber hinaus ist sie aber vor allem Teil der Entwicklungsgeschichte der Technik.

    Als solche realisierte sie folgende Funktionen auf elektronischem Wege: „erstens ein vollelektronischer Wandler von Bildern in Ströme, also eine Fernsehsignalquelle, zweitens eine vollelektronische Übertragungsstrecke, also ein Fernsehkanal, und drittens ein vollelektronischer Wandler von Strom in Bilder, also ein Fernsehempfänger.“ Als vierte Funktion trat später „ein elektronischer Bildspeicher“ hinzu.6

    Als Voraussetzung konnte die Entwicklung des Fernsehens auf den seit 1840 existierenden einzigen elektrischen Nachrichtenkanal zurückgreifen, auf „die von Morse standardisierte Telegraphie“. Sie bestand in einem Kanal, „der genauso linear war wie Alphabet und Buchdruck, die von ihr abgelösten Medien. Ganz wie Buchstaben beim Lesen wanderten die Punkte und Striche des Morsecodes einer nach dem anderen durchs isolierte Kupferkabel“. In Bezug auf die Übertragung von Bildern mussten also die „zwei Bilddimensionen“ in eine „einzige Kanaldimension“ umgewandelt werden.7

    Analog dem Verfahren von Druckern, die Buchstaben in Punkte auflösen, wurden Bilder in „Rechteckraster“ aufgelöst, die ebenfalls Punkt für Punkt übertragen werden könnten. „Damit wurden Bilder im Prinzip zu diskreten Datenmengen vom Typ des Telegramms. Im strikten Gegensatz zur Photographie, deren Stolz ihre Analogie zur Natur war, und im halben Gegensatz zu Film, der ja eine diskontinuierliche oder diskrete Sequenz vieler analoger Photographien bildete, begann das Fernsehen als radikale Zerhackung: Nicht nur in der Zeit, sondern auch in Höhe und Breite lösten sich Zusammenhänge oder Gestalten in Einzelpunkte auf“. Man nennt sie heute „Pixel“.8

    Die Arbeit der Zerhackung der Bilder erledigte zunächst Nipkows drehende Lochscheibe. Die bei diesem Patent existierenden Schwierigkeiten beim Senden, Übertragen und vor allem beim Empfangen wurden vor allem durch die „Entwicklung der Röhre behoben“. Im Jahre 1908 wurde „die Braun’sche Röhre sowohl auf Senderseite wie auf Empfängerseite eines revolutionären Fernsehsystems“ eingesetzt. „Das aufzunehmende Bild sollte auf den Schirm einer Braun’schen Röhre projiziert werden, die mit einem Mosaik aus trägheitslosen Photozellen bedeckt war. Der Elektronenstrahl der Röhre sollte die beim Lichteinfall entstehenden elektrischen Ladungen auslesen, also in Stromschwankungen umsetzen, aus denen schließlich eine Braun’sche Röhre im inversen Verfahren wieder sichtbare Bilder machte.“ Die weiterhin größte Schwachstelle des Systems bestand in der Kapazität der Übertragung, die auf die Größe des „aus dem Ersten Weltkrieg erwachsenen Mittelwellenhörfunk[s]“ begrenzt war.

    Diese Begrenzung wurde dadurch überwunden, dass „auf Druck der Wehrmacht, die ja 1936 als einzige Armee der Welt mit UKW-Funk ferngesteuerten Panzerdivisionen in den Blitzkrieg zog, ein UKW-Radio entwickelt worden war“10. Mit dem „UKW-Funk als Übertragungskanal“ und verbesserten Röhren bei Aufnahme und Wiedergabe (Ikonoskop und Lochmaskenbildschirm) „war das hochtechnische Informationssystem Fernsehen endlich geschlossen“.11

    Dies geschah allerdings zu dem Preis, dass „nur noch Staaten auf technischem Kriegspfad und Weltkonzerne auf demselben Pfad“ diese „vollelektronische Fernsehsystemkette noch finanzieren“ konnten.12  Und mit der Folge, dass das Fernsehen zum „nationalen und innenpolitischen Medium“ ersten Ranges, namentlich „zum Zwecke der Volksaufklärung und Propaganda“ aufstieg bei gleichzeitiger und besonderer Bedeutung für „die Flugsicherung und den nationalen Luftschutz“.13

    Zieht man die weiteren Entwicklungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Betracht, die Kopplung von Fernseh- und Zieltechnik, die Verbindung von Fernsehen und Radar, rückgekoppelt mit einem Leitradar u.v.a.m. so kann man folgendes feststellen: „Fernsehen aber ist als hochtechnisches Medium dasjenige unter den optischen Medien, das seinem eigenen Prinzip nach als Waffe fungiert.“14

    Auf hochtechnischer Stufe treibt das Fernsehen damit eine optische Verbindung auf die Spitze, die seit der Entdeckung der Zentralperspektive in der Renaissance besteht, nämlich die zwischen optischem Medium und „Schusswaffen und ihrer Ballistik“15.

    Fernsehen kann dabei „ohne jeden Reibungsverlust“ vom „Unterhaltungsmedium auf Kriegstechnik“ umgestellt werden und umgekehrt.16  Hinzu kommt, nicht erst seit dem Einsatz von Transistoren anstelle der Röhren im Jahre 1949 und dem Einsatz von Siliziumtechnologie u.a.17, dass Fernsehen immer auch „weltweite Überwachung durch Spionagesatelliten“18 bleibt.

    Die fortlaufende Verbesserung der Bild- und Tonqualität19 und damit eine daraus resultierende Übertragungsnotwendigkeit führte über Kompressionsverfahren schließlich zur Rückkehr einer Übertragung per Kabel und zwar per Glasfaserkabel.

    „Glasfaserkabel operieren bekanntlich auf der Basis von Laserlicht, das in einem unvorstellbar dünnen Spiegelschlauch unvorstellbar oft von der Signalquelle bis zur Signalsenke weiterreflektiert wird, sie sind also eine erste und wahrscheinlich noch sehr folgenreiche Überschreitung der Elektrizität und ihrer in Leitern wesentlich gebremsten Geschwindigkeit. Glasfaserkabel, mit anderen Worten, verkraften das riesige Frequenzband von HDTV eben deshalb, weil sie optische Signale zum ersten Mal in der gesamten Mediengeschichte als optische Signale und nicht mehr als elektronische übertragen. Diese sensationelle Tautologie, dass Licht zum Transmissionsmedium von Licht wird, schließt aber nicht aus, sondern ein, dass dieselbe Lichtgeschwindigkeit auch allen anderen Signalen zugutekommt. Außer Fernsehsignalen kann die Glasfaser also auch elektronisch umgesetzte Akustiken, Texte oder Computerdaten transportieren“20.

    Auf diese Weise (durch HDTV und ISDN) fällt das Fernsehen „nicht nur mit dem altmodischen Film zusammen, sondern auch und vor allem mit dem Medium aller Medien, also mit Computersystemen“21.

    Computer wurden 1936 von Alan Mathison Turing erfunden und ab 1943 kriegsentscheidend dazu eingesetzt, die Verschlüsselungen des UKW-Funks der Wehrmacht zu knacken. Die Technologie, auf der Computer basieren, treibt das Digitalprinzip aufs höchste Niveau:

    „Was beim Film nur die Schnitte zwischen den Einzelbildern und beim Fernsehen nur die Löcher in Nipkowscheiben oder Lochmaskenbildschirmen sind, ist in der digitalen Signalverarbeitung die erste und letzte Gegebenheit. Damit fallen alle Unterschiede zwischen einzelnen Medien oder Sinnesfeldern flach: Ob Digitalrechner Töne oder Bilder nach außen schicken, also ans sogenannte Mensch-Maschine-Interface senden, oder aber nicht, intern arbeiten sie nur mit endlosen Bitfolgen, die von elektronischen Spannungen repräsentiert werden.“22

    Die Verarbeitungsgeschwindigkeit der Daten unterläuft die menschliche Wahrnehmungs- und Denkgeschwindigkeit derart, dass sie allen Manipulationsmöglichkeiten offenstehen. Um es auf die Spitze zu treiben, reduziert ein Computer „alle Dimensionen auf Null“23, liquidiert noch die „letzten Reste von Imaginärem“24 und unterhält zu guter Letzt einen „Weltkrieg zwischen Algorithmen und Rohstoffen“25.

    Die Lektüre der Analysen des streitbaren Berliner Medientheoretikers Friedrich Kittler aus dem Jahre 199926  kann in unserem Zusammenhang nicht beendet werden, ohne auf einen speziellen Begriff zurück zu kommen, den der Telepräsenz.

    Im Zusammenhang der Entwicklung des Fernsehens zum HDTV (High Definition Television) „heißt Telepräsenz zunächst einmal, das bislang je fast quadratische Bildformat so in die Breite zu ziehen, dass es wie der Breitwandfilm beide Augen füllt oder doch wenigstens beschäftigt, also seinen Guckkastencharakter verliert. Zweitens aber heißt Telepräsenz, die Menge der einzelnen Bildpunkte noch über diesen Bildgrößenzuwachs hinaus zu vermehren“, was schließlich einen „wesentlich größeren Blickwinkel“ ausfüllt. „Telepräsenz ist demnach die Invasion oder Eroberung der Retina durch ein künstliches Paradies.“27  Ästhetisch und technisch bedeutet dies u.a. eine „radikale Vereinheitlichung“28.

    Abschließend und vor diesem Hintergrund hat die Begegnung zwischen Jesus und Paulus in Martin Scorsese’s Film „Die letzte Versuchung Christi (1988)29  eine überraschende medienkritische Pointe:

    Jesus kommt mit einem seiner Kinder auf einen Marktplatz vor einer alten Tempelruine. Dort predigt, zwar folkloristisch gekleidet, aber im Stile eines amerikanischen „Fernsehevangelisten“30  der Apostel Paulus.

    Als Jesus ihn fragt, ob Paulus je den auferstandenen Jesus mit eigenen Augen gesehen hätte und dieser verneint, nennt Jesus Paulus einen Lügner. Der sich anschließende kurze Disput zwischen beiden, in der Paulus wie ein kalter Agitator agiert, konnte Jesus nur in seinem Eindruck bestätigen:

    Er spricht nicht wie einer, der zu einem anderen Menschen spricht.31


  • Nachrichten

    Auf der Weihnachtstafel des sogenannten Isenheimer Altares hat der Maler Matthias Grünewald vorn einen hellen und dahinter einen dunklen Engel gemalt. Beide spielen eine Art Gambe. Sieht man die beiden so an, fällt es einem nicht schwer, sich diese Musiker*innen (Männlich oder weiblich? Gute Frage!)  im großen Orchester Paul Hindemiths vorzustellen.

    Cello spielend würden sie sich dort einfinden. Bei der alte Weise „Es sungen drei Engel ein‘n süßen Gesang“ wären sie vielleicht auch kurz ein wenig überrascht, wenn „ihr“ Gesang wie eine Fanfare erklingt im ersten Satz, dem „Engelskonzert“, von Hindemiths Symphonie „Mathis der Maler“ (1934).

    Eine solche Verwandlung erscheint noch eher naheliegend im Vergleich zu den Wandlungen der Engel, die der französische Philosoph Michel Serres in seiner „Legende der Engel“ (1995) beschreibt. Dort unterhalten sich Pia und Pantope und ihre Unterhaltung beginnt mit der Frage: „Glaubst Du an Engel?“ Die Antwort ist: „Ich habe noch keinen kennengelernt, und ich kenne auch niemanden, der behauptet, einen gesehen zu haben.“1

    Pia ist Ärztin am Flughafenkrankenhaus in Paris. Pantope arbeitet als Inspizient bei Air France. Er ist ständig unterwegs. Sie ist beständig am Ort. „Während Pantope allein um die Welt fliegt, strömt die Welt um Pia herum.“2  Beide freuen sich, sich wieder zusehen, nachdem sie in der Zwischenzeit lediglich Worte und Zeichen voneinander hatten.

    Pia, die die Eingangsfrage stellte, sieht um sich herum ständig Engel am Werke: „die Stewardessen, die Piloten, den Funk, das gesamte fliegende Personal“, die Flugzeuge, die Postautos, „die Briefe, Pakete oder Telegramme ausliefern; die Durchsagen über den Hallenlautsprecher“, das Gepäck, die Passagiere, die Rolltreppen: „Stählerne Engel tragen Engel aus Fleisch und Blut, die auf Wellen-Engeln Signal-Engel aussenden…“3

    Auf verschiedenen Ebenen entwickelt das Buch eine Sammlung von Botschaften-Übermittlern aller Art und setzt sie zueinander ins Verhältnis. Alte tradierte Bilder und Geschichten von Engeln kommen in Beziehung zu technischen Geräten, zu Informationsspeichern und –Transporteuren bis hin zu Mikroprozessoren und Datenströmen. Eine moderne Angelologie, sie ist geordnet nach den Tageszeiten.

    In der Mitte des Buches wie des Tages steht ein kurzes Kapitel mit dem Titel „Angelus“. Pia und Pantope treffen sich zum Mittagessen in einem der Flughafenrestaurants. Ein Fernseher ist dort so laut, dass sie sich nur mit Mühe verstehen können. „Morgens, mittags abends, wenn der Erzengel vorüberging, ertönte früher die Angelusglocke und verkündigte aufs Neue die Verkündigung: Empfängnis, Fleischwerdung und Geburt unserer Hoffnung […] dieses freudige Mysterium des Lebens.“4

    Heute aber empfangen die Menschen ihre Nachrichten aus dem Fernseher. Wir nennen die Nachrichtensprecher zwar nicht Engel, aber sie übernehmen die gleiche Aufgabe: „Botschaften zu übermitteln, zu berichten, was sich zur selben Zeit anderswo ereignet“5. Auf dem Bildschirm kann man sogar die Gesichter und Körper der Sprecherinnen und Sprecher sehen, wogegen die Engel sich nur sehr selten zeigten.

    Die Nachrichten dieser sichtbaren Sprecher allerdings sind anderer Art: „Katastrophen, Brände, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Epidemien, Hungersnöte, Streit, Skandale, Unzufriedenheit, Staatsstreiche, Kriege, Verbrechen, Ungerechtigkeit, Morde, Prozesse, Leichen […] der Tod in tausenderlei Gestalt“6, morgens, mittags und abends.

    Messungen von Einschaltquoten bestimmen darüber, dass sich die Aufmerksamkeit des Fernsehens auf die Nachrichten des Todes konzentriert. Es scheint, als ob die Sprecherinnen und Sprecher der Nachrichten medial zwar sichtbaren, aber gefallenen Engel glichen. In diesem Fall, hätten die Engel ohnehin längst bitterlich weinend das Weite gesucht.7

    Würde eine einzige gute Nachricht ausreichen, uns aus dieser Spirale zu retten? fragt sich Pia. Und sie nimmt sich entschieden vor: „Morgens, mittags und abends werde ich in Zukunft in mir und um mich her das göttliche Fleisch und das Wunder des Lebens besingen.“8

    „Die Legende der Engel“ endet zur Mitternacht. Die Überschrift des Kapitels: Weihnachten.


  • Als ob es keine Menschen mehr gäbe

    Während der Vorbereitungen zu seinem Filmprojekt Il Vangelo secondo Matteo (1964) entschloss sich der italienische Filmregisseur Pier Paolo Pasolini, den Worten des Matthäusevangeliums streng zu folgen. Auf der Suche nach Drehorten kommt Pasolini schließlich davon ab, in Palästina zu drehen. Dort seien kaum Einstellungen möglich, ohne einen Telefonmast oder eine Autostraße im Bild zu haben.

    Wie schon in seinen vorigen Filmen, Accattone (1961), Mamma Roma und La Ricotta (1962/63), suchte Pasolini nach einer „Authentizität, Armut und Würde archaisch gebliebener Menschen und Lebensformen, denen die historische Wahrheit gestisch eingeprägt, ja: eingeschrieben steht. Das Authentische erweist sich als Funktion von Darstellbarkeit, nicht als Moment historischer ‚Eigentlichkeit‘“1. Schließlich dreht Pasolini im armen Süden Italiens.

    Auch in der Besetzung von Pasolinis Matthäusevangelium kann man diese Suche deutlich sehen. Er besetzt fast ausnahmslos Laien, zum Teil buchstäblich Leute von der Straße, arme Teufel, poveri cristi, arme Christs, wie man sie im Italienischen nennt.2

    Und Pasolini feiert seine Spieler. Er stellt sie uns vor, lässt uns in ihre Gesichter blicken, wie in Porträts von Giotto oder Piero della Francesca. Die Soldaten, die Herodes mit dem Befehl zum Kindermord übers Land schickt. Dann später die Jünger, die Jesus bei der Arbeit sieht und zu sich ruft. Und all die Einzelnen natürlich auch: Maria, Joseph, Jesus selbst, die Engelin…

    Pasolinis Interesse am Christentum ist gekennzeichnet von diesem suchenden Blick auf die einfachen, armen Menschen im Matthäusevangelium. Derartige Menschen sind im kommerziell ausgeleuchteten Film und Fernsehen nicht präsentierbar. Sie kommen folglich auch in den kirchlichen Formaten dieser Medien und ihrer Hybridformen nicht vor.

    Deren gängige ästhetisch-religiöse Praxis ist das Gegenteil dessen, wovon in den Evangelien die Rede ist. Denn dort geht es genau um die, die kein Hochglanzlächeln tragen, die nicht frei oder nur andere Sprachen sprechen können, die in Hinsicht auf Kleidung oder anderes einem biederen Konsumstandard nicht entsprechen.

    Damit eine Anwesenheit dieser Menschen nicht automatisch zu einer Denunziation bzw. einem Lächerlichmachen auf offener Bühne gerät – sie würden als namenlose Statisten lediglich benutzt –, müssten andere ästhetische Formen erfunden werden, geleitet von einer Barmherzigkeit des Blicks. Pasolini hat seine Heldinnen und Helden aus dem sogenannten Lumpenproletariat mit einer provokanten, kraftvollen Würde gefilmt, die sie schön werden ließ.

    Durch ihre Blicke, Gesten, Gesichter und Körper scheint eine potentielle Kraft hindurch, die man revolutionär nennen kann. Sie hat ihre Wurzel im erduldeten Elend.

    Pasolinis Blick auf die Menschen verdankt sich keiner moralischen Tugend. In seinem Evangelium stimmt er kein „Lob der Armut“ an. Vielmehr zeigt sich in seiner Suche nach Menschen ein „Nachleben evangelischer Werte“, oder vielleicht präziser ausgedrückt: ein Nachleben der „großen franziskanischen Paradigmen“ christlicher Überlieferung.3

    Der französische Philosoph Philippe Lacoue-Labarthe gebraucht für diese Praxis Pasolinis das Wort „Heiligkeit“4. Und er meint damit die „Erfahrung der Verworfenheit“5. Diese Bedeutung von Heiligkeit müsse man dem Christentum entreißen, wenn sie in ihm denn noch latent vorhanden wäre. In der Moderne hätte eine solche Heiligkeit vielleicht gelegentlich ihr Asyl im künstlerischen Akt gefunden.6

    Im Laufe seines Lebens hat Pasolini diese emphatische Suche nach lebendigen Menschen immer tiefer enttäuscht gesehen. Wie er die von ihm geliebten Glühwürmchen durch die zunehmende Umweltverschmutzung verschwinden sah, entschwand auch der Mensch in der überbelichteten Leere des Konsumkapitalismus. Zurück blieben die Bediensteten des televisuellen Warenglitzers und verelendete Massen.7

    „Die Tragödie besteht darin, dass es keine Menschen mehr gibt; man sieht nur noch seltsame Maschinen, die aneinanderstoßen.“8

    Der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der im Matthäusevangelium einen der zwölf Jünger Jesu gespielt hatte, folgt Pasolini darin, wenn er feststellt, dass „eine der wenigen Gewissheiten“, über die der zeitgenössische Mensch „bezüglich seiner selbst verfügt“, das Unvermögen ist, „Erfahrungen zu machen und mitzuteilen“.9

    Georges Didi-Huberman, ein intensiver Leser von beiden, misstraut dem apokalyptischen Horizont Pasolinis und Agambens vom Verschwinden des Menschen. Jahre nach Pasolinis Tod hatte er während eines Aufenthaltes in Rom wieder Glühwürmchen gefunden. Allerdings in einem anderen Teil der Stadt als da, wo Pasolini sie seinerzeit verschwunden glaubte. Und er erkannte:

    Sie verschwinden nicht, sie ziehen nur weiter, wandern aus, wenn es zu hell wird.
    So sei es auch mit den Menschen. Man dürfe der blendenden Schau von ihnen nicht trauen. Man müsse andere Arten von Blicken und Bildern erfinden, fragilere, gekennzeichnet von einem „unaufhörlichen Wechsel von Erscheinen und Verschwinden, Wiedererscheinen und Wiederverschwinden“10, Bilder, die einen Schimmer des einen für die andere erahnen lassen und Neigung erzeugen können.11 


  • Wie ist es möglich, Sie hier zu sehen?

    In einer traumartigen Filmszene irrt ein Mann durch die Straßen einer Stadt. Die Häuser sind verfallen, Zeitungen, Hausrat liegen herum. Er kommt an einem Schrank mit einer großen Spiegeltür vorbei, zögert, kehrt zum Schrank zurück, beginnt die Spiegeltür zu öffnen und sieht als sein Spiegelbild das Bild des anderen, dem er versprochen hatte, die Welt zu retten, indem er eine Kerze durch ein Wasserbecken trägt.1

    In einer anderen Traumsequenz eines anderen Filmes sieht eine junge Frau in einen Spiegel. Nach einer Weile erkennt sie sich selbst als die alte Frau, die sie später mit ihren beiden kleinen Kindern übers Feld laufen sieht.2

    Hoffmann sitzt in einer Theaterloge und sieht eine Aufführung von Mozarts Don Giovanni. Als er dicht hinter sich einen Atemhauch und das Knistern eines seidenen Gewandes spürt, sieht er in einen kleinen Spiegel an der Logenwand. „Der Spiegel zeigt ihm das Antlitz der Donna Anna. Donna Anna, ganz in dem Kostüm, in welchem er sie auf der Bühne sieht!“3

    Nach qualvollen Minuten starren Wartens, entschließt er sich, sie anzusprechen: „Wie ist es möglich, Sie hier zu sehen?“ „‘Hier? Nichts könnte einfacher sein. Haben Sie denn nie – und sei es im Traum – diese Gewissheit verspürt, dass alles möglich sei: Dass jeglicher Wunsch unzweifelhaft in Erfüllung ginge? Und wirklich, finden Sie alles, was es auch sei, in Erfüllung gegangen, wenn Sie der Wahrhaftigkeit dieser Gewissheit einmal nachgehen.‘“ „‚Aber nur im Traum‘“, schränkt er ein. „‚Ist der Traum denn nicht ebenso wahr wie die Wirklichkeit?‘ lächelt sie…“4

    Spiegel kommen auf die eine oder andere Art in allen Filmen des russischen Regisseurs Andrej Tarkowskij vor. Sie können als sein kinematographisches Programm verstanden werden.5

    Aber eines ist sicher: Tarkowskij interessiert sich nicht für die glatte Oberfläche der Spiegelbilder unserer glitzernden Konsumwelt. Die bespiegeln nur sich selbst. Tarkowskijs Spiegel reflektieren das Leben, sie versiegeln Lebenserfahrung als Zeit. So kann man sie als Zuschauerin oder Zuschauer seiner Filme wieder ansehen und an den Erfahrungen teilhaben. Die Oberfläche dieser Spiegel ist nicht auf Hochglanz poliert, im Gegenteil. Manche Spiegel sind beschlagen, spiegeln nur undeutlich, geradezu durchlässig, offen. Manche Spiegel sehen auch heraus, fahren blicklich auf den Betrachter zu.

    Die filmbildtheoretische Grundlegung Tarkowskijs kann man in seinem großen Film „Andrej Rubljow“ (1966/69) anschauen. Dieser Film erzählt die Geschichte des gleichnamigen russischen Ikonenmalers aus dem 15. Jahrhundert. Der berühmte Malermönch sieht sich nicht in der Lage, eine verabredete große Wandmalerei des Jüngsten Gerichtes zu realisieren. Man dürfe das Volk mit diesen Darstellungen nicht erschrecken. Wie ein jüngstes Gericht bricht der Tartarensturm real über die Russen herein. Andrej erschlägt einen Tartar, der ein taubstummes junges Mädchen bedroht, wird auf diese Weise schuldig und legt ein Schweigegelübde ab. Erst als es einem jungen Glockengießer gelungen war, eine Glocke zu gießen, bricht Andrej sein Schweigen und malt Ikonen. Der gesamte Film ist in Schwarzweiß gedreht, nur zum Ende wird es farbig, wenn die Kamera die berühmten Ikonen Andrej Rubljows ganz nah abtastet, darunter die Dreifaltigkeitsikone und die versehrte Ikone des Heilandes.

    Ikonen werden nicht in der Zentralperspektive, sondern in der umgekehrten Perspektive gemalt. In seinem Buch „Die versiegelte Zeit“ kommt Tarkowskij darauf zu sprechen: „In diesem Zusammenhang erinnere ich mich einer interessanten Ansicht, die Pawel Florenskij in seiner Arbeit ‚Ikonostase‘ (Die Ikonenwand) äußerte, wo er über die ‚umgekehrte Perspektive‘ schrieb. Er widerspricht hier der weitverbreiteten Ansicht, wonach diese Perspektive in der alten russischen Malerei darauf zurückzuführen sei, dass die Russen damals noch nicht die bereits von Leon Battista Alberti erarbeiteten und von der italienischen Renaissance aufgegriffenen optischen Gesetze gekannt hätten. Nicht ohne Grund meint Florenskij, dass man bei einer Beobachtung der Natur zwangsläufig die Perspektive entdecken müsse. Allerdings war es möglich, dass man sie zeitweilig gar nicht nötig hatte und sie daher vernachlässigte, bewusst übersah. Die umgekehrte Perspektive der altrussischen Malerei drücke daher, anders als die Renaissance-Perspektive, das Bedürfnis aus, jene geistigen Probleme besonders zu beleuchten, vor denen die altrussischen Maler im Unterschied zu ihren italienischen Kollegen des Quattrocento standen. (Übrigens besagt eine These, dass Andrej Rubjow sogar selbst in Venedig gewesen sein soll und in diesem Falle darum wissen musste, dass sich die italienische Malerei mit dem Problem der Perspektive auseinandergesetzt hatte).“6

    Nun ist es nicht die umgekehrte Perspektive im direkten Sinne, die Tarkowskij für seine Filmbilder inspirierte, wenngleich er regelmäßig Ikonen zitiert, also zeigt. Es ist die diesen Bildern inhärente Zeitbewegung, wie sie der russische Mathematiker und Theologe Pavel Florenskij herausarbeitet, die Tarkowskij auf seine Arbeit mit gefilmten Bildern überträgt.

    Die Tatsache, dass die umgekehrte Perspektive der Ikonen es z.B. erlaubt, Dinge, Hausansichten, Gesichter, Kleider, Personen in mehreren Ansichten gleichzeitig zu zeigen, was einem als Betrachter sofort auffällt und in Darstellungen der Zentralperspektive regelwidrig ist, erinnert Florenskij an Traumbilder. Im Vergleich zur Wirklichkeit ist es so, dass ein Traumbild „gerade andersherum abläuft, als wir es erwarten könnten, wenn wir von der Vorstellung der Kantschen Zeit ausgehen“7. Im Traum eilt die Zeit dem Moment des Erwachens entgegen und dreht auf diese Weise das gewohnte Verhältnis von Wirkursache und Zielursache um.

    Was im Moment des Erwachens passiert, wird besonders deutlich, wenn man an das Geräusch eines Weckers denkt. Der real klingelnde Wecker entspricht einem anderen schrillen Geräusch im Traum. Auf beiden Ebenen ist das jeweilige Geräusch Teil einer logischen Verknüpfung von Ereignissen und Bildern, die an diesem Punkt zusammenlaufen. Der Schnittpunkt ist markiert von zwei Gleichzeitigkeiten, die in spiegelbildlichem Verhältnis zueinanderstehen.

    „Also eilt im Traum die Zeit – und zwar beschleunigt – der Gegenwart entgegen, gegen die Bewegung der Zeit des Wachbewusstseins. Sie ist umgestülpt, und folglich sind zugleich mit ihr auch alle konkreten Bilder umgestülpt. Das heißt aber, dass wir in das Gebiet des imaginären Raums übergewechselt sind. In dem Moment wird dasselbe Phänomen, das von hier aus – vom Gebiet des wirklichen Raumes – als wirkliches wahrgenommen wird, von dort aus – vom Gebiet des imaginären Raums – selbst als imaginär gesehen.“8

    In diesem Sinne sind Ikonen Fenster.9  Sie zeigen „Kristall[e] der Zeit in einem imaginären Raum“10  oder mit anderen Worten: einen „ontologisch spiegelbildlichen Reflex der Welt“11. Mit Hilfe dieses ästhetischen Konstruktionsprinzips von Ikonen erarbeitet Tarkowskij seine gefilmten Bilder.

    Unmittelbar nach der eingangs geschilderten Begegnung mit dem Spiegelschrank auf der Straße findet sich der Mann in einer riesigen Kirche wieder. Diese Kirchen – es ist die Kirche des ehemaligen Zisterzienserklosters San Galgano in der Toskana – ist eine Ruine, sie hat kein Dach und ist nach allen Seiten offen.

    Der Mann ist allein. Stimmen betender Frauen sind zu hören. Er geht quer von einem Seitenschiff durch das Hauptschiff in das gegenüberliegende Seitenschiff. Man sieht in die leere Kirchenruine.

    Eine Frauenstimme spricht: „Herr, siehst Du, wie er leidet? Warum sprichst du nicht zu ihm?“ „Stell Dir vor, er würde meine Stimme hören“, antwortet eine Männerstimme. „Lass ihn deine Gegenwart spüren!“ bittet die Frauenstimme. „Sollte er sie spüren, würde er ihr nicht vertrauen“, antwortet die Männerstimme.

    Der Mann konnte die Stimmen nicht hören, spürte aber, dass irgendetwas vor sich ging. Er raucht und schaut sich um. Kinderstimmen sind zu hören. Der Mann sieht nach oben. Man hört einen Vogel auffliegen.

    Gegen Ende des Films wird er sein Versprechen einlösen und eine Kerze durch das Wasserbecken in Bagno Vignoni tragen…


  • Fortsetzung folgt

    Wie „auf Taubenfüßen“ kommen die wichtigsten Fragen ganz leise und oft ganz zum Schluss. So ist es für unseren Zusammenhang auch in der zweiten Folge der legendären Histoire(s) du cinéma, Geschichte(n) des Kinos, von Jean-Luc Godard. Die Folge ist überschrieben mit dem Titel Une histoire seul, Eine Geschichte allein.

    Godards Historie(s) du cinéma lassen sich nicht auf einen linearen Diskurs reduzieren. Sie erzählen mehrstimmig, fragmentieren, überblenden, zitieren, montieren. Das geschieht auf mehreren Ebenen zugleich, sich wiederholend, Differenzen schaffend, in Bild und Ton, Kunst, Musik, Dokument und Dichtung, schwarz und weiß, und in Farbe unter Benutzung moderner Videotechnik. Der Rhythmus ist schnell wie bei Videoclips, wenn es auch Dehnungen gibt. Lesen heißt hier Spuren lesen wie man Ähren liest, suchen, sammeln, auch auswählen, wieder verlieren.

    Dennoch kann man behaupten, dass in der Folge 1b1 Une histoire seul eines von mehreren Zentren von einem paraphrasierten Paulus-Zitat markiert ist. Es erscheint als Schriftbild in verschiedenen Zusammenhängen: l’image viendra au temps de la résurrection, das Bild wird zur Zeit der Auferstehung kommen.

    Natürlich muss man diesen Satz nicht nur sehend lesen, sondern auch hörend lesen: L’image viendra oh! temps de la résurrection, das Bild wird, oh! Zeit, [zur] Auferstehung kommen. So ist der Satz zum ersten Mal als Schrift eingeblendet, die Worte langsam zusammengesetzt über dem berühmten Duell des eigenwilligen Liebespaares in der nordamerikanischen Wüste, gespielt von Jennifer Jones und Gregory Peck, das schließlich sterbend einander in den Armen liegt.2

    Mit weniger Mehrdeutigkeit, also als Diskurs, ist dieser Satz bei Godard nicht zu haben. Stets ist er verwoben mit Bildern und Klängen. Hier sind es neben Schüssen und Schreien aus dem Originalton der unterliegenden Filmszene, u.a. Ausschnitte aus dem „Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky, Leonard Cohen singt: There ist nothing to follow, there is nowhere to go

    Wenn Godard auf sein Pauluszitat angesprochen wird, reagiert er betont beiläufig: „Wenn ich beim Heiligen Paulus lese, dass das Bild im Moment der Auferstehung kommen würde, sage ich mir: ‚Da ist mal eine Sache, die ich als Cineast zu verstehen beginnen kann‘.“3

    Oder etwas ausführlicher: „Ich bin kein Christ, aber wenn ich beim Heiligen Paulus lese, dass das Bild zur Zeit der Auferstehung kommen wird…, ja gut, nach dreißig Jahren der Montage beginne ich zu verstehen. Für mich ist die Montage die Auferstehung des Lebens. Das Drehen ist nicht diese Periode der Auferstehung, denn für eine Wiedergeburt muss es Opfer und Tod geben… Glücklicherweise vollzieht sich das Drehen eines Films in einer bestimmten großen Heiterkeit, die der von Gauklern gleicht. Bei der Montage finde ich eher das Gefühl von Utopie, einer möglichen Auferstehung, die es allerdings mit sich bringt, dass ich allein bin. Das ist zwar schade, aber erträglich.“4

    Oder unter einem anderen Blickwinkel: „Der Heilige Paulus hat gesagt: Das Bild wird zur Zeit der Auferstehung kommen. Man darf das Wort ‚Auferstehung‘ nicht in dem Sinne verstehen, dass der gute Mann Christus in den Himmel aufgestiegen ist. Es geht vielmehr um die Auferstehung von etwas, das vergangen ist. Ein Bild eines toten Bruders kann erst kommen, nachdem man die Trauerarbeit geleistet hat, also in dem Moment, wenn das Bild nicht mehr das Bild des Schmerzes ist…“5

    Oder: „Nur das Christentum hat sich derartig mit den Bildern beschäftigt. Der Heilige Paulus hat das ungefähr so gesagt: ‚Das Bild wird zur Zeit der Auferstehung kommen‘.“6

    Wenn Godard an das Christentum erinnert, dann als Geschichte, als bildlicher Ausgangspunkt, denn es kommt bei allen Malern vor. „Wenn ich vom Christentum spreche, dann geschieht das nicht aus Gläubigkeit (croyance), sondern als historisches Phänomen, als Gedankenbewegung (mouvement de pensée).“7

    In der Lektüre der französischen Bildwissenschaftlerin Marie-José Mondzain bringt uns Godard hier dazu, den christlichen Grundton der Bildtheorie des Westens neu zu überdenken. In ihrem Zentrum steht die Passion wie auch in Godards Filmschaffen.

    „Die Passion wurde zu der Erzählung, die davon erzählt, wie das unsichtbare Bild sichtbar wurde, wie das gefallene Bild gerettet wurde, wie das Opfer eines Körpers zur Ankunft des neugestalteten Fleisches beigetragen hat, das uns in der Form der Verheißung die Hoffnung auf die Wiederkehr zu unserem verlorenen Bild anbieten würde. […] Das anthropologische Fundament dieses Verhältnisses von Passion und Bild ist allerdings nicht religiös, sondern existentiell.“8

    Die Geschichte dieses christlichen Denkens erzählt nicht nur den Zusammenhang zwischen dem Bild der Passion und der Leidenschaft der Bilder. Sie erzählt auch – und über lange Zeit vor allem – von der Kontrolle der Bilder und über die Bilder von der Kontrolle der Leidenschaften. In nachchristlicher Zeit lässt sich in der Auseinandersetzung mit dieser Geschichte ein Instrumentarium zur Kritik bestimmter zeitgenössischer Fragen der Praxis und Kontrolle von Sichtbarkeiten entdecken.9

    Godard widmet diesen Fragen, die heute von der Filmindustrie und kommerziellen Fernsehanstalten dominiert werden, ein ganzes Kapitel seiner Histoire(s) du cinéma: Die Kontrolle über das Universum (4a). Dennoch geriet Godard mit seinem Bezug auf Paulus und dessen zeittheologische Implikationen von Auferstehung und Jüngstem Gericht in eine heftige Auseinandersetzung um die Theologisierung der Bilder des Kinos.10

    Und als ob es ihm doch um Glauben (croyance) ginge, kommt Godard im Teil 1b seiner Histoire(s) du cinéma mit eigener Stimme (in der französischen Fassung) auf das Christentum zu sprechen: „Das Kino wie das Christentum / ist nicht auf einer historischen Wahrheit gegründet / es liefert uns eine Erzählung / eine Geschichte / und sagt uns jetzt: glaube / miss dieser Erzählung, dieser Geschichte / nicht die Glaubwürdigkeit zu / die der Geschichte zukommt / sondern glaube was auch geschieht / und dies kann nur das Ergebnis eines ganzen Lebens sein / du hast hier eine Erzählung / verhalte dich zu ihr nicht / wie zu einer anderen historischen Nachricht / lass sie eine ganz andere Stelle / in deinem Leben einnehmen.“11

    Unmittelbar nach dieser Passage, ungefähr in der Mitte des Filmkapitels, erscheinen die Paulus-Worte erneut als Schrift eingeblendet. Nun sind als Bilder verschiedene Hände zu sehen, dann Filmbilder aus dem Film „Ordet“ (Das Wort) von Carl Theodor Dreyer aus dem Jahre 1955. Schließlich wird der Satz in seiner vollständigen Form l’image viendra au temps de la résurrection eingeblendet, unterbrochen von der Szene, in der das Auge einer Frau mit einem Rasiermesser durchschnitten wird aus dem Film „Ein andalusischer Hund“ von Luis Bunuel und Salvador Dali von 1929. Dazu erklingt eine dramatische Passage aus dem dritten Satz – Die Versuchung des Heiligen Antonius – der Symphonie „Mathis der Maler“ von Paul Hindemith…

    Gegen Ende dieses Kapitels der „Geschichte(n) des Kinos“ ist die Rede davon, dass die Götter geflohen sind und die Dichter singend ihre Spuren verfolgen.12  Dazu erklingt ein Orgelvorspiel von Johann Sebastian Bach, verschiedenste Bilder von Liebespaaren aus Film und Malerei erscheinen und verschwinden wieder, ein Saxophon brüllt dazwischen, ein Engel von Giotto blinkt mehrfach auf, Leonard Cohen singt: if it be your will, when I speak no more, and my voice is still, as it was before…, jemand schreit …

    Wir folgen hier nur einigen Spuren im polyphonen Geflecht der Histoire(s) du cinéma und auch das nur unvollständig; doch gerade aufmerksam genug, um zum Ende des Kapitels, im Abspann, kurz von dem obligatorischen „Fortsetzung folgt“, à suivre, unter einem Bild-Klangteppich fast unhörbar, einige Sätze zu erhaschen.

    Diese Fragesätze des Philosophen und Filmtheoretikers Jean-Louis Schefer lassen sich wie eine verborgene Botschaft an die real existierende westliche Christenheit hören, die heute mehr denn je mit gefilmten Bildern umzugehen versucht:

    „Ist Christus ein Mensch, oder das Bild eines Menschen?
    Ist Christus in der Eucharistie real oder symbolisch?
    Ist ein gefilmter Mensch ein realer Mensch oder schon die Fiktion eines Menschen?“


  • Am Satellitenhimmel sein Fenster haben

    Wenn ein Autor auch Filme macht und sogar Fernsehen, kann das missverstanden werden. Es kann zu Auseinandersetzungen führen. Es kann aber auch zu Unterscheidungen führen, auf die es ankommt. Das ist der Fall bei Alexander Kluge. Er übt seine Tätigkeit in Film und Fernsehen dezidiert als Autor aus, und dies als literarischer Autor. Das, was für Kluge die Tätigkeit eines literarischen Autors ausmacht, hängt damit zusammen, dass er in seiner Kindheit Geschichten gehört hat.

    „Dieses unmittelbare Erzählen, das Hinhören, der Schwung der lebhaften Erwachsenenrede – das ist die Modulation, die Beleuchtung, nach der zwischen wichtig und unwichtig, kurz oder lang, zustimmend oder mit Widerstand innerlich entschieden wird. Und dieser Erzählstrom der gesprochenen Sprache der Kinderzeit, also der unmittelbaren Erfahrung (unabhängig davon, ob der Inhalt der Gespräche vom Kind verstanden wird), ist für den Autor die Verständigung wiederum mit dem Leser, der auf seiner Seite ebenfalls ein Autor ist, der seine Autorschaft nur nicht berufsmäßig ausübt.“1

    Als der Autor Alexander Kluge zu Zeiten des Aufkommens des privaten Fernsehens beschloss, im Fernsehen tätig zu werden, ging es ihm um die Verteidigung bzw. Fortsetzung des von ihm beschriebenen Autorenzusammenhanges mit seinen Leserinnen und Lesern im Sinne einer unabhängigen Öffentlichkeit.

    Denn im Unterschied dazu funktioniert das Fernsehen anders. Die Medien und die „großen Kommunikationsapparate“ gehen nämlich genau umgekehrt vor. „Sie schaffen ein universal verständliches Esperanto des gesunden Menschenverstandes. In ihm kommt das einzige Kriterium, das für alle Menschen gilt, ob der Ton stimmt, als Prüfstein nicht mehr vor.“2

    Vor diesem Hintergrund wollte Kluge, „dass Film, Buch und Musiktheater, die auf Erden eine Geltung haben, auch am Satellitenhimmel ein Fenster haben sollten. Von diesem Gedanken ausgehend, dass es Mächte und ein Können gibt, dass dem TV voranging, wollten wir ein unabhängiges Fenster etablieren.“3

    Dabei kämpft Kluge zum einen um die „Organisation und Verteidigung unabhängiger Öffentlichkeit, wie sie zum historischen Selbstbewusstsein freier Autoren gehört“. Zum anderen setzt er seine Autorentätigkeit fort „so, als ginge es um Bücher“, also im Bewusstsein dessen, dass „das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt“. Praktisch gesehen bedeutet das, beständig der Frage nachzugehen, „ob man die Geduld, die Gründlichkeit und das Wartenkönnen der Texte in die neuen Medien einbringen kann“.4

    Ein Autor, eine Autorin ist also jemand, die bzw. der ihre oder „seine Erfahrungen zum Ausdruck bringt, öffentlich, und abreibt an den Erfahrungen anderer“5. In diesem Sinne ist „jeder Mensch ein solcher Autor seiner eigenen Erfahrung“6.

    „Jeder Mensch trägt seine Erfahrungen mit sich herum. Und wenn diese Erfahrungen nicht in der Öffentlichkeit mit anderen ausgetauscht werden können, dann trägt er Erfahrungen mit sich, ohne ein Selbstbewusstsein, Selbstachtung daraus zu ziehen. Er wird diese Erfahrung unterschätzen. Er wird fremde Erfahrungen für eigene halten. Er wird auch fremde Sprachen annehmen.“7

    Es kommt also entscheidend darauf an, „wie wir die Verschiedenartigkeit“ von „Erfahrungsfragmente[n] bei uns zusammenbekommen, ob wir Autoren unserer Lebenserfahrung sind, Produzenten unserer Lebensläufe oder nur Zuschauer unserer Lebensläufe“.8  Diese Autorschaft benötigt eine unabhängige Öffentlichkeit.

    Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen erzählt Alexander Kluge von einer Reise nach Kanada, auf der er den damaligen Bundeskanzler Schmidt begleitet hatte. Schmidt hatte folgendes beobachtet: „Diese Kanadier verkaufen ihre wertvollen Rohstoffe meist in der ersten Generation ohne Verarbeitung, weil sie die ganze Zeit entweder auf französische Fernseher gucken, auf das, was ihnen Paris erzählt, wenn sie französischsprachig sind, oder als Englischsprachige blicken sie auf die New Yorker Fernseher. Weil sie keine eigene Öffentlichkeit haben, haben sie das Selbstbewusstsein, ihre eigene Erfahrung einzusetzen und die reichhaltigen Rohstoffe ihres Landes selbst zu verarbeiten, in ungenügendem Maße.“9

    Für die praktische Arbeit im Fernsehen bedeutet eine derartige Autorschaft einen Unterschied zu Kategorien wie Dienstleistung, Quote und Gewinnmaximierung. Kluge gibt einige Beispiele seiner Fernsehpraxis, die diesen Unterschied markieren und somit sein Ziel verfolgen, „das Fernsehen offen zu halten für das, was außerhalb des Fernsehens stattfindet“10.

    Ein erstes Beispiel betrifft die Schrift und ist für eine wie auch immer kirchliche, theologische Praxis in den Medien direkt virulent: „Auch im Fernsehen, das als Bildmedium gilt, muss es irgendwo Schrift geben. Geschriebener Text, der in einigen Einzelfällen stärker als jedes Bild sein kann. Das weiß man von Moses und Aaron. Was Aaron sagt und nicht schreibt, ist populär und gewinnt die Menschen schnell. Und dennoch gibt es etwas, sagt Moses, was nicht ins Bild gesetzt werden und nicht durch Worte übertönt werden darf. Es muss Schrift bleiben.“11

    Das immer wiederkehrende Argument der Einschaltquote, der man sich inhaltlich und ästhetisch beugen müsse, widerspricht Kluge in diesem Zusammenhang deutlich: „Und es ist nicht wahr, dass man erst ab drei oder vier Millionen Menschen überhaupt von einer Fernsehquote sprechen kann. Hierin sind diese Medien hysterisch geworden. Und sie entwickeln dadurch in dieser Hysterie eine Geschwindigkeit, die über die Möglichkeiten unmittelbarer menschlicher Erfahrung hinweggeht. Die Schrift ist eine unserer primären Erfahrungsmöglichkeiten über 6000 Jahre hin.“12

    Sein zweites Beispiel ist der Originalton. Kluge versteht ihn als einen Gegenpol zur Schrift. Nur was ein Mensch im Originalton sagt, drückt seine unmittelbare Erfahrung aus. Und das bedeutet konkret: „Es gibt keine unmittelbare Erfahrung, die sich fehlerfrei äußert, die nur Hauptpunkte berücksichtigt, die vorsortiert reden kann.“ Deshalb ist es notwendig, auf Menschen einzugehen. Und das „erfordert mehr Zeit, mehr Aufmerksamkeit und Verzicht auf die Homogenisierung, die dem gesamten Fernsehen zugrunde liegt.“13

    Das dritte Beispiel behandelt die „Autonomie von Bild und Musik“ und betrifft einen besonders wunden Punkt. Denn diese Autonomie ist im Fernsehen besonders schwer zu realisieren. „Wenn ein Text nicht kommentiert, dem Zuschauer nicht alle eineinhalb Minuten gesagt wird, worum es sich handelt, meinen die Fernsehoberen, dass die Zuschauer irritiert werden, dass sie die Führung bräuchten durch einen homogenisierten mittleren Sinn.“ Dabei müsste das Gegenteil gemacht werden: „Irgendwann müssen Bilder so freigelassen werden, dass sie ohne Text, auch ohne Sinnzwang, ihr eigenes Leben haben.“ Ebenso der Ton, und das meint insbesondere Musik. Es geht darum, die Dinge für sich sprechen zu lassen.14

    Das vierte Beispiel, das Kluge bringt und als Arbeitsanleitung im Umgang mit den Medien des Fernsehens und ihren Hybriden empfiehlt, heißt lapidar: Zeit. Eine allgemeine Beschleunigung, in der unsere Welt sich befindet, führt dazu, dass der Mensch seine eigene Zeit verliert. Er lebt ständig in einer fremden Zeit, einem Aktualitätswahn. Dies gilt insbesondere für die homogenisierte Zeit, die das Fernsehen erzeugt, aber auch für die übrigen Formen der Öffentlichkeit. Es ist diese Enteignung der eigenen Zeit, die eine Lähmung hervorbringt, einen Mangel an Selbstachtung.

    „Nicht nur werden die Vergangenheiten und Zukünfte durch den Angriff der Aktualität beschädigt werden, sondern auch die Möglichkeitsformen, die Konjunktive, die Wunschformen, die ganze Fülle der Grammatik. Erfahrungen ohne Grammatik der Zeit gibt es nicht. Zeit als Thema, Zeit, um etwas zu bauen und zu entwickeln, Zeit, um etwas auszudrücken, Zeit, um etwas wahrzunehmen.“15

    Im kämpferischen Gegensatz zur beschleunigten homogenisierten Zeit des Fernsehens und der neuen Medien plädiert ein Autor seiner eigenen Erfahrungen wie Alexander Kluge für eine „Vielfalt der Zeiten: Zeit zu sterben, Zeit zu leben, Zeit geboren zu werden. Von Luther kennen wir die lange Liste mit den Aggregatzuständen der Zeit. Und diese Aggregatzustände der Zeit, die eine naturgesetzliche Härte haben (auch wenn man meint, man könne sie mit Programm, mit Planung zerteilen), sind der eigentliche Arbeitsgegenstand der Autoren und von allen, die mit den Mitteln Bild und Musik arbeiten.“16


  • Offene Bücher lesen

    Die Entstehungsgeschichte von Hölderlins Roman „Hyperion“ gibt einen Blick auf die Einschätzung vermehrter Lesepraxis gegen Ende des 18ten Jahrhunderts frei, der uns Heutige erstaunt. Er lässt uns eher an Fragen des Umgangs mit Computerspielen und sozialen Medien denken.

    „Tatsächlich wurden gegen Ende des Jahrhunderts in bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kreisen so viele Romane gelesen, dass Pädagogen, Kulturkritiker und Kirchenleute über den befürchteten Kontrollverlust zu klagen begannen. Was geht nicht alles im Lesenden vor! Da gibt es Erregungen, Phantasien im Verborgenen. Das lesende Frauenzimmer auf dem Sofa, Romane verschlingend, überantwortet es sich nicht verhüllten Exzessen? Und die lesenden Gymnasiasten, nehmen sie nicht teil an Abenteuern, von denen ihre Erziehungsberechtigten sich nichts träumen lassen?
    Zwischen 1750 und 1800 verdoppelte sich die Zahl derer, die lesen konnten. Ein knappes Viertel der Bevölkerung gehörte am Ende des Jahrhunderts zum potentiellen Lesepublikum. Es vollzog sich auch ein Wandel im Leseverhallten: Man las nicht mehr ein Buch mehrmals, sondern viele Bücher ein einziges Mal. Die Autorität der großen, wichtigen Bücher – die Bibel, Erbauungsschriften, Kalender –, die mehrfach gelesen und studiert wurden, schwand, man verlangte nach einer größeren Masse von Lesestoff, nach Büchern zum Verschlingen.“1

    Die Zahl der erschienenen Bücher stieg rasant und rief neben den Vielschreibern auch Vielleser auf den Plan. Dies geschah nicht nur zum Verdruss von Autoren wie Goethe, die durchaus auf der Erfolgsseite dieser Entwicklung standen, sondern auch von Kritikern wie Friedrich Schlegel. Ein Erfolgsautor wie Jean Paul parodierte die Situation in seinem „Schulmeisterlein Wutz“, der die Bücherkataloge studiert und von den Ankündigungen ausgehend im Handumdrehen selbst die Romane verfasst.2

    Auch Hölderlin wollte durchaus von dieser Welle profitieren, schon um sein fragiles Dichterleben finanziell zu grundieren. So griff er die populäre Form des Romans auf, um sie zugleich entscheidend zu öffnen und zu überschreiten. Nach Hölderlin gibt es „zwei Ideale unseres Daseyns“. Der eine ist der „Zustand der höchsten Einfalt, wo unsere Bedürfnisse mit sich selbst, und mit unsern Kräften, und mit allem, womit wir in Verbindung stehen, durch die bloße Organisation der Natur, ohne unser Zutun, gegenseitig zusammenstimmen“3.

    Dieser Zustand der Einfalt ist der Zustand der „Nicht-Entfremdung“ weder von sich selbst noch von der Natur. Es ist ein Zustand der „unmittelbaren Natürlichkeit ohne störendes Bewusstsein“.4

    Der andere ist der „Zustand der höchsten Bildung, wo dasselbe stattfinden würde bei unendlich vervielfältigten und verstärkten Bedürfnissen und Kräften, durch die Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind“. Hölderlin nennt diesen Zustand „die exzentrische Bahn“.5

    Dieser Zustand führt vom Zentrum der Einfalt als “vollkommener Übereinstimmung“ weg. Er ist eine Art „exzentrischer Selbstentfremdung“, eine „Dissonanz“, eine „Nichtübereinstimmung unserer Kräfte“, von „Zerrissenheit und innere[r] Gegensätzlichkeit“ bestimmt.6

    In diesem Sinne beschreibt Hölderlins Roman „Hyperion“ den Menschen als ein „exzentrisches Wesen“ (Helmut Plessen) und damit als ein modernes Wesen, „das ohne hinreichende Instinktsteuerung seine Mitte und damit seine Selbstzentrierung immer aufs Neue erringen muss“.7

    Dieses Konzept eines Romans als „Geschichte eines exzentrischen Lebensversuches“ entsprach und entspricht bis heute weder der Vielschreiberei noch der Vielleserei, in deren historischen Kontext er entstand. Entsprechend schwer hatte es Hölderlins „Hyperion“. Am ehesten fordert es eine Lesart, wie sie der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman in einem anderen Zusammenhang beschrieben hat, nämlich anlässlich seiner Rede zur Eröffnung der neuen Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts, Institut National d’Histoire de l’Art (INHA), in Paris.

    Darin beschreibt er die Bibliothek als „ein Dispositiv, um Ideen hervorzubringen“ (un dispositiv d‘engendrement d‘idées) oder als „eine Maschine, um Wissen zu erfinden“ (une machine à inventer des savoirs). Will heißen: „eine Bibliothek ist viel mehr als die Summe ihrer Bücher“. Sie ist ein offener Raum für tausende Artikel, Thesen, Bücher verschiedenster Disziplinen, die noch kommen werden (à venir).8

    Die Lektüre gleicht dann eher einem Komponieren. Zum empfangenen, im Lesen vorgefundenen Wissen kommt das Herstellen von Konfigurationen und neuen Ideen, das Erfinden von neuen Inhalten und neuen Formen des Wissens hinzu.9

    Die philologische Identifikation und das Studium der Quellen ist nur der Ausgangspunkt für eine wichtigere, riskantere Forschung. Es geht nicht nur darum, die Quellen zu scheiden und abzugrenzen, sondern sie ins Fließen (fluer) zu bringen, sie sich einander beeinflussen (influer) zu lassen.

    Georges Didi-Hubermans Entwurf einer Bibliothek und des ihr folgenden Lesens ist von Aby Warburgs berühmter „Kulturwissenschaftlichen Bibliothek“ geprägt. Darin hat Warburg die Grenzen zwischen den Disziplinen geöffnet und dem Phänomen der stilistischen, ikonographischen und gedanklichen Wanderungen (migrations) besondere Aufmerksamkeit geschenkt.10

    Was Hölderlin in Bezug auf seinen Roman exzentrisch nannte, nennt Didi-Huberman in Bezug auf Bibliotheken zentrifugal (centrifuge).11

    „Von einem Buch zum anderen gehen auf eine vielleicht sogar desorientierte Art und Weise, zentrifugal; und mehr noch, die Bücher sich gegenseitig begegnen lassen in einem Arbeitszusammenhang: das nennt man Montage, eine experimentelle heuristische Praxis, die darauf gerichtet ist, bei geöffneten Büchern zu arbeiten und zu sehen, was sich daraus ergibt, sie in Bewegung gebracht zu haben; sie von ihren angestammten Plätzen zu lösen, so dass sie einander Antworten geben.“12

    Auf die Spitze getrieben – und mit den Worten Walter Benjamins – heißt Lesen bei geöffneten Büchern: „Lesen, was nie geschrieben wurde“ (Lire, ce qui n’a jamais été écrit)13.  Und man müsste hinzufügen: und was doch im zu lesenden bzw. gelesenen Text steht.

    Der Witz dieser zugespitzten Formulierung findet sich in Walter Benjamins Pauluslektüre. Paulus lesend entdeckt Benjamin ein „hermeneutisches Prinzip“ des Lesens, „das das genaue Gegenteil des gängigen Prinzips ist, wonach jedes Werk zu jedem Augenblick einer unendlichen Interpretation unterzogen werden kann (unendlich in doppelten Sinn als Interpretation, die sich nie erschöpft und die unabhängig von ihrer zeitlich-historischen Situation möglich ist)“.14

    Nach Benjamins Prinzip trägt zwar jeder Text einen „historischen Index“ in sich, der seine „Zugehörigkeit zu einer bestimmten Epoche anzeigt“. Dieser historische Index besagt aber auch, dass jeder Text „an einem bestimmten historischen Augenblick“, seine „Lesbarkeit“ erlangt. Walter Benjamin nennt diesen Augenblick das „Jetzt der Lesbarkeit“ eines Textes.“15

    Das Jetzt der Lesbarkeit ist zugleich das Jetzt der „bestimmten Erkennbarkeit“ eines Textes: In einem solchen Jetzt, „ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen. (Dies Zerspringen, nichts anderes, ist der Tod der Intentio, der also mit der Geburt der echten historischen Zeit, der Zeit der Wahrheit zusammenfällt.) Nicht so ist es, dass das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft“, sondern […] „das Gewesene“ tritt „mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation“ zusammen. Darin besteht der kritische[], gefährliche[] Moment[], welcher allem Lesen zugrunde liegt“.16

    Führt Lesen über ein solches Jetzt „ins Offene“, in das Hölderlin seine Leserinnen und Leser ruft?17


  • Tönendes Mondlicht

    Bis heute am bekanntesten geblieben ist Franz Fühmann – vielleicht der bedeutendste Schriftsteller der DDR1 – durch seine Nacherzählungen für Kinder. Immer wieder sind sie mit verschiedenen Bildarbeiten aufgelegt worden. Den Anstoß dazu soll seine Tochter gegeben haben.

    Stellt man aber die kulturpolitische Lage der 60er, 70er und frühen 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der DDR in Rechnung, so kann man sich des Gedankens einer gewissen Tarnung nicht erwehren. Sie hätte darin bestanden, offiziell unliebsames Kulturgut unter die Leute zu bringen. Das war zukunftsträchtig für Kinder und junge Leute am besten zu machen. So erzählte Franz Fühmann die alten griechischen Mythen nach: Prometheus, die Titanenschlacht, die Sagen um Troja, aber auch die Nibelungen. Ein groß angelegtes Projekt von Nacherzählungen alttestamentlicher Geschichten blieb ein lang gehegter Wunsch.2

    Fühmann näherte sich den unterschiedlichen Quellen unter dem Aspekt der großen „Menschheitserzählungen“3. Er will die Originale nicht ersetzen, sondern zu ihnen „hinführen“4 und bleibt dabei empfindlich für „Trübungen“5, die die Stoffe im Laufe ihrer Überlieferung erfuhren, sei es durch Ideologie oder auch durch Konfession.

    Seine Nacherzählung des Marsyas etwa beginnt Fühmann wie ein Chronist: „Marsyas war einer, der sich vermaß, mit Apollon in einen Wettkampf zu treten, und mit einem Instrument, das Athene verflucht hatte. – Er war ein Silen. […] Das Instrument war die Doppelflöte, und Athene hatte sie erfunden, es gehört ja zu ihrem Wesen, einen Blick für das Hilfreiche zu haben, das in den nahesten Dingen steckt. Ein daumenstarker Erlenzweig; sie klopfte ihn aus und erkannte dabei, dass diese Höhlung erst vollkommen war, wenn ihr Klang von der Tiefe des Nachtigallenschlages bis zur Helle des Lerchengeschmetters reichte. Dazu bedurfte es zweier Rohre; sie vereinigte sie in einem Mundstück.“6

    Und schon ist man drin, sieht und hört eine Welt: Athene und die Flöte, wegen der sie im Olymp ausgelacht worden war. Sie warf sie weg und wusch ihr Gesicht im Meer. „Marsyas, den Strand durchstreifend, fand die Flöte.“7  Er nahm sie an sich und brachte es zu so vergnüglichem Spiel, dass Kybele, „die schwarzäugige Göttin des phrygischen Ida“8, dieses Spiel ein „[t]önendes Mondlicht“ nannte und Marsyas einflüsterte, es sei schöner als das des Gottes Apollon. Selig forderte er den Gott zu einem Wettkampf heraus und ließ sich auch durch Vorahnungen davon nicht abbringen.

    Der Kampfpreis sei „nichts Drittes“ erklärte schließlich der Gott: „der Besiegte gebe sich in die Hand des Siegers, auf dass der mit ihm beliebig verfahre.“10  Was denn der Gott im Falle seines Gewinnens mit ihm, Marsyas, zu tun gedenke? Er werde „ihn ergründen“. „Wie das geschehe? Durch Ergründen, erwiderte der Gott: Er werde den Ort seiner Seele suchen und, fügte er hinzu, und Marsyas verstand nicht: den Sitz ihrer Überhebungskraft. Seine Seele töne ja aus diesem Rohr! Lachte der Silen. Dunkles Wort: Ob man Leere denn reinigen könne?“11

    Der Wettstreit ging seinen Gang. Die Musen, „ins Unsagbare überwältigt, sprachen Apollon den Sieg zu […] Marsyas, arglos, unterwarf sich […] aus der Waldtiefe traten zwei Skyten, Männer des Nordens, […] Darmsaiten und Messer in den Händen […] Marsyas sah ihnen neugierig zu, wie sie herankamen, mit unhörbaren Tritten, und er verstand selbst dann noch nicht, als sie ihn, Arme und Beine in die Schräge zerrend, packten und, Kopf nach unten, als zottiges Xi, an zwei schwarzstämmige Fichten banden […] Erst als die Skyten seinen Balg von den Leisten her aufzuschlitzen begannen, begann Marsyas zu begreifen und sogleich ging alles in Heulen unter […] Ins heulende Warum tropfte Blut“.12

    Franz Fühmann scheut sich nicht die Schindung zu schildern, dem Grauen Worte zu geben: „In der Konsequenz des Willens zur Wahrheit liegt übrigens auch ein Wesensunterschied von Mythos und Märchen. Der Mythos kennt kein Happy-End und kein Wunschdenken, und manche Mythen, etwa die des geschundenen Marsyas oder des rasenden Ajax, sind von einer solchen Härte, dass sie uns abweisend machen könnten, spürten wir nicht, auch noch im Krassest- und Grässlichsten jene tapfre Wahrhaftigkeit, die uns die eigne Erfahrung bestätigt und am Beispiel ihres Gestaltetwerdens die Möglichkeit ihrer Bewältigung zeigt.“13

    Marsyas wimmert um Gnade. Apollon sah zu, bewegte dabei die Saiten der Lyra und sang. „Doch keiner bekundete, das der Sieger sich weidete“14. „Ach, Gnade dem Fleisch, dem arglos armen, seine Lust sei so flüchtig wie seine Süße, und wenn man es prüfe, sei es nur Schmerz!“15  Hier keine Gnade.

    Dann geschieht „das Unglaubliche“: „Apollon, der Reinste der Reinen, rührte die Haut an, mit einem Tupfen des Fingers“. Aber „[d]er Herr des Delphischen Orakels spricht nicht und schweigt nicht, er bedeutet.“ … „[U]nd die Flöte schluchzte“.16

    „Dann wurde Phrygien erobert […] Und Marsyas, die unverwüstliche Haut? Man erzählt, dass aufständische Soldaten sie entführten und als Banner der Freiheit auf‘ s Forum ihrer Stadt pflanzten, zwischen Königsburg und Ältestenhaus, und dass sie dem Ausgeweideten opferten, als Ihresgleichen und ihrem Schutzherrn, mit Flötenspiel, an offenen Feuern, und Einfalt, und hilfegewährenden Frauen“…17

    Der Bühnenbildner und Theaterregisseur Horst Sagert schweigt in seinem Sartyrspiel „Marsyas“ von der Schindung. Er hat die Linearität der Erzählung in chorische Rundtänze verwandelt. Der abgelöste Balg des Marsyas erscheint schließlich als Flughaut im Mondlicht. Was als Anrufung kreisend besungen wird, nimmt güldene Gestalt an. Eine Serie handgroßer Plastiken: „Die Flughaut des Marsyas im Mondlicht (Auferstehung)“, Silber vergoldet, 2000.

    Dieser vergoldeten Flughaut ansichtig, kann Apollon nur ein Befremden konstatieren:

    Apollon:
    Umnachtet, geflügelt, abgestürzt ins Mondlicht,
    geht der höchsten Höhe deines Himmel-Hirns
    kein Ikarus verloren.
    Die Fußspur der Unsterblichkeit
    Verließ die angezogene Haut
    Im Mittagsschatten.
    Sichtbar ist der Ton erlitten,
    in der Gestalt, im Wahn der Wunder.
    Das Ende der Welt hat sich verkehrt,
    der Anfang ist zurückgekehrt!
    Will mit dir im Mond-Licht wehen,
    deinen Himmel sehen.
    […]
    Das Licht, das Licht!
    Selbstvernichtete, befreite Dunkelheit.
    […]
    Das Unverschmähte-Ungetane
    Im Wunsche nach Verschiedenheit,
    es ist zu jung in der Gestalt,
    um in meinem Hirn zu überleben.18

    Und die Chöre um Apollon herum besingen – noch befremdlicher – die Flughaut des Marsyas im Mondlicht und nicht ihn, den alten Gott.

    Fortan ist das Mondlicht kein Idyll allein, sondern zumindest auch befremdend. Der Theaterregisseur Einar Schleef hat das gewusst und für seine letzte Theaterarbeit, der der Text „Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes“ von Elfriede Jelinek zugrunde lag, eine besondere Fassung des Abendliedes „Der Mond ist aufgegangen“ vorbereitet. Dazu hat der das Abendlied mit dem Mittelteil des Liedes „Der Wanderer“ von Franz Schubert (D. 493) – Die Sonne dünkt mich hier so kalt, / Die Blüte welk, das Leben alt, / Und was sie reden, leerer Schall, / Ich bin ein Fremdling überall. – in Text und Musik übereinandergelegt.

    Der Mond ist aufge-gang–en
    Die Son————ne dünkt michDie goldnen Sternlein prangen
           hier         so            ka——lt,

    am Himmel hell und klar.
    die Blü————-te    welk,

    Der Wald steht schwarz und schweiget
    das Le————————ben alt,

    und aus den Wiesen steiget
    und was                 sie reden

    Ein weißer Nebel wunderbar.
           lee———-rer Schall;

    So legt euch denn, ihr Brüder
    Ich bin                  ein Fremd-

    in    Gottes Namen nieder,
    ling ü————-ber-all.19


  • Ein lebendiges Buch, vom Mond umgeblättert

    Im Zusammenhang seiner Arbeiten zum mythischen Element in der Literatur und den damit verbundenen Nacherzählungen mythischer Stoffe, entwickelte Franz Fühmann den Plan, die Bibel für junge Leute zu adaptieren. Bereits 1972 erstellte er ein detailliertes Exposé, das sich in mehreren Überarbeitungsstufen in seinem Nachlass findet.

    Im Mittelpunkt dieses Projektes stehen für Fühmann demnach die Geschichte der zwölf Stämme Israels: „Von der großen Wanderung ihres Erzvaters und dessen Siedlung in Kanaan über Urpatriarchentum, ägyptische Fron, Befreiung, Exodus, Treck und Landnahme bis zur Herausbildung, Blüte, Teilung und Zerstörung ihres ersten Staates.“1  Zu den Büchern der Geschichtsschreibung sollten „besonders prominente Texte wie z.B. die Schöpfungsgeschichte und einige Passagen aus dem Psalter hinzu kommen“2.

    „Es sollen ausschließlich Geschichten erzählt werden, und zwar jeweils in sich abgeschlossene, bestimmten Personen zugeordnete, vorwiegend short-story-haft, nur ausnahmsweise novellistisch gebaute Geschichten, und zwar auch dann, wenn, was zwei- oder dreimal unumgänglich ist, überwiegend geschichts- oder religionsphilosophische Probleme behandelt werden. Nach Möglichkeit soll jeder zu einer Hauptperson gehörende Stoff in einer Geschichte zusammengefasst werden, eventuell mehrere Einzelgeschichten unter einem Obertitel. Das Wort ’Geschichte‘ soll unbedingt in jedem Titel vorkommen, also etwas: ‚Die Geschichte von Jona’s wunderbarer Meerfahrt‘.“3

    Eine derartige Geschichte plante Fühmann auch als Vorwort mit dem Arbeitstitel „Die Geschichte von der Bibelschreibung“. „Er plante dabei eine Abhandlung zum Verständnis der Bibelmythologie über die Figur des mutmaßlichen Erzählers des Pentateuchs, dem ‚Jahvisten‘.“4

    Das Nicht-Zustandekommen dieses immensen Erzählprojektes von Franz Fühmann kann man heute nur in einem Höchstmaß bedauern.

    Als er zehn Jahre nach dem Erstellen des Exposés für den Neudruck der Erstausgabe von Luthers Bibelübersetzung im Reclam Verlag Leipzig einen Essay mit dem Titel: „Meine Bibel; Erfahrungen“ verfasste, gewährt Fühmann nochmals wertvolle Einblicke in seine Lektüren der Bibel. Parallel zum Essay entstanden zwei Nacherzählungen, die im Nachlassband: „Das Ohr des Dionysios“6  veröffentlicht wurden.

    Eine der beiden Erzählungen trägt den Titel: „Der Mund des Propheten“ und greift damit eines der für Franz Fühmann wichtigsten Themen der Bibel auf: „Diese Propheten, das ist was Grandioses! Die werden mich nicht mehr loslassen…“7

    Die Propheten, die es wagten „gegen den Strom zu schwimmen“8, die nicht anders konnten, als in einem „Allegorieschaffen durch personalen Einsatz (in einem niederen Bereich würde man es heute ‚Performance‘ nennen)“9 sich ein- und zugleich auszusetzen.

    „Was mich an den Propheten so fasziniert“, berichtete Fühmann in seinem Essay, „ist ihr grandioses Geschichtsphilosophem vom Sinngehalt der Niederlage als Möglichkeit, einer Wendung zum Andern, als radikales Neubeginnen, und zwar zuerst mit der eignen Person, als die Chance Lehren zu ziehen, als Selbstbesinnung auf ethische Werte, als Bruch mit verderblichen Traditionen, als beispielgebendes Menschentum.“10

    Der Prophet, von dem Fühmann in seiner (Nach-) Erzählung „Der Mund des Propheten“ genauer berichtet, ist „Einer“, ein Mund. „Wir nennen ihn Micha. – Man kennt drei Propheten, die Micha hießen; der eine war als Zeder, der zweite als Dornstrauch, der dritte als schmaler Schatten gewachsen, und dennoch sind sie eine Person; Man kann sie auch Elias oder Jesaja nennen.“11

    Und die Umstände, unter denen dieser Prophet Micha lebt und wirkt, könnten William Shakespeare inspiriert haben: „König Achab begehrte drei Dinge und wusste nicht, wie er sie erwürbe: den Weinberg in der Hauptstadt, der noch nicht sein war; den Thron des Südreichs, und den Mund des Propheten. […] Das Weib, das Achab freite, hieß Jezebel. […] Eines Tages, als der König am Fenster seines Palastes stand und auf den nahen Weinberg schaute, den einzigen in der Stadt, der ihm nicht gehörte, trat Jezebel an den König heran.“12

    Und man ahnt es, die Furcht vor dem Mund des Propheten, die einzig Achab zurückhielt, sich seine Begehren zu erfüllen, wird von Jezebel durch gezielte Intrigen zerstreut. Dabei nutzt sie des Propheten Worte und versteht es doch gründlich miss. Als schließlich der Gang der Dinge anders verläuft, als sie geplant hatte, steht sie kurz vor ihrem eigenen Ende dem Propheten direkt gegenüber:

    „‘Nun denn, du böser Mann‘, sagt sie, ‘so ist es gekommen, wie du es ersehnt hast. Jetzt koste Deine Genugtuung aus!‘ – Der Prophet sprach: ‘Ich habe es nicht ersehnt. Ich habe das Kommende verkündet und habe es mit Furcht getan. Nun ist es gekommen und geschieht.‘“13

    Als glücklicher Zukunftswahrsager wiederum verwechselt fragt ihn sein Henker schließlich bei gezogenem Schwert: „‘Was nützt nun Dein Mund, du törichter Mann? Wem nützt deine Wahrheit? Nicht einmal für Dich konntest du sie nutzen. […] Was nutzt dein Wort?‘ ‚Das Wort wird bewahrt‘, sprach der Prophet […] – Der Henker schlug zu. – „14

    Und Fühmann beschließt seine Erzählung: „Es gab ihrer drei, die Micha hießen, und drei Henker, die ihnen die Köpfe abschlugen, und es kamen andere nach den Geköpften, und andere werden nach denen kommen und sie sind immer der eine Mund. Und so lautet das Wort, das bewahrt worden ist […]: ‚Und es wird geschehen am Ende der Tage, und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Spieße zu Winzermessern. Kein Volk wird wieder das andre ein Schwert aufheben, und keiner wird mehr die Kriegskunst lernen, und ein jeglicher wird ungestört unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen. Denn so hat‘s geredet der Mund des Herrn Zebaoth.“15

    Die Lektorin von Franz Fühmann beim Rostocker Hinstorff Verlag, Ingrid Prignitz, bemerkt, dass die Idee zu dieser Nacherzählung bei Fühmann direkt nach der sogenannten „Berliner Begegnung zur Friedensförderung im Dezember 1981“ in der DDR entstand, zu der Schriftsteller aus Ost und West offiziell eingeladen wurden. In der Erzählung klingt somit die Debatte zu Friedensinitiativen in der DDR nach. Mehr noch: Mit seiner Erzählung „Der Mund des Propheten“ schlägt Fühmann „eine Brücke von den alttestamentarischen Propheten zu der staatsunabhängigen Friedensbewegung in der DDR“.

    Der Prophet „als Verfechter der Wahrheit und des Rechts wird für den Dichter im moralischen und politischen Sinne zum Vorbild“. Er erkannte Prophetisches in den Bürgerrechtlern, und man kann es als ein offenes Geheimnis ansehen, „dass er sich selbst und etliche seiner Schriftstellerkollegen in der Rolle des Propheten“ sah.16

    Im konkreten Bewahren dieses besonderen Wortes des Propheten Micha17  mag Franz Fühmann für einen Moment seine kindliche Lektüre der Bibel als „ein lebendiges Buch, vom Mond umgeblättert“18 wiedergefunden haben.


  • Der Mond ist aufgegangen

    In einem Vortrag aus dem Jahre 1975 erläutert der Schriftsteller Franz Fühmann anhand von drei sehr unterschiedlichen Beispielen das, was er „Das mythische Element in der Literatur“ nennt. Eines seiner Beispieltexte ist das „Abendlied“ von Matthias Claudius, das allseits bekannt ist als „Der Mond ist aufgegangen“.

    Fühmanns Ausgangsfrage ist die Frage danach, woher die enorme Wirkung eines solchen Textes kommt. „Was ist es, dass einen da anrührt, bewegt, packt, fesselt, in Bann zwingt, ergreift, verwandelt, aufwühlt, verzaubert – was wirkt da […]?“1

    Die naheliegende Antwort bringt die Aussage derartiger Texte ins Spiel. Das zieht die Frage nach sich, was denn da eigentlich ausgesagt wird. „Nehmen wir das Abendlied Zeile für Zeile, und wir werden zu unserem Erstaunen nichts finden, was wir nicht schon längst gewusst oder gekannt hätten. Da wird unter dem Titelhinweis, dass es sich um den Abend handelt, festgestellt, dass der Mond aufgegangen ist, dass die Sternlein hell und klar am Himmel prangen und dass die Sternlein golden sind, dass da, wo sich dieser Vorgang abspielt ein Wald steht, dass dieser Wald zu dieser Zeit schwarz ist und keine Laute mehr aus ihm dringen und dass aus Wiesen, die wir uns wohl diesem Wald vorgelagert zu denken haben, weißer Nebel steigt – ein Naturbild, wie es allabendlicher wohl nicht sein könnte und das auch heute noch für jeden bereit steht, der eine kleine Fahrt mit der S-Bahn nicht scheut.“2

    Ein originales Erlebnis der im Gedicht geschilderten Szene derart nah gelegt zu bekommen wirkt ernüchternd. Und auch der folgende Gedankengang Fühmanns verbleibt in dieser Richtung. Er schlägt vor, diese Naturschilderung von Matthias Claudius als etwas zu nehmen, als etwas zu lesen, das etwas Geistiges vorbereitet, einen „poetischen Raum“ eröffnet, in dem Reflexionen stattfinden: „Die Welt sei stille geworden, vernehmen wir; sie sei in der Dämmerung auf das Maß einer Kammer geschrumpft; in einer solchen Kammer verspüre man anheimelnde Trautheit, weil man dort des Tages Jammer verschlafen und vergessen könne – das ist, bis hin zur Sorge um den kranken Nachbarn, wiederum durchaus Geläufiges; und wenn als einzige Ausnahme, die in ihrer Naivität heute, von den meisten nicht nachvollziehbare Claudiussche Herzensfrömmigkeit uns merkwürdig anmutet, so ist gerade sie das am wenigsten wirkende Element dieser Strophen, ja man ist sogar versucht, sie milde zu belächeln.“3

    Doch die Frage bleibt: Wodurch wirkt also so ein Text? Fühmanns These zur Antwort auf diese Frage lautet: Durch „das mythische Element in der Literatur“4. Um diese These zu stützen, beginnt Fühmann zunächst, den Mythos von der Wirklichkeit zu unterscheiden: „Der Mythos ist offensichtlich das, was die Wirklichkeit nicht ist und erfahrbares Dasein mit seinen Gesetzen fängt dort an, wo der Mythos aufhört“5. Dennoch verweist der Mythos „nachdrücklich auf die Realität und berichtet doch fortwährend Irreales“6.

    Eine der ältesten Belegstellen für das Wort ‚Mythos‘ findet sich bei Homer. Im 2. Gesang, Vers 413 seiner Odyssee steht es im Akkusativ: mía d’oíe mython akousen, eine allein hat den Mythos vernommen.

    Als der Odysseus, der König von Ithaka, lange Zeit nicht von seinem Kriegszug nach Troja zurückkehrt und eine „Schar von Schmarotzern“ die Insel belagert, beschließt Odysseus‘ Sohn Telemach, den Vater zu suchen. Heimlich in der Nacht macht er sich auf den Weg mit wenigen Gefährten. Niemand weiß Bescheid, auch seine Mutter nicht. Außer einer Sklavin, die ihm das nötige Proviant vorbereitet, sie ist eingeweiht. „Nur eine weiß das Geheimnis“ – „nur eine hat das Wort vernommen“ – „nur eine weiß, wie sich die Sache verhält“ – so lauten berühmte Übersetzungen dieses Satzes und Franz Fühmann bevorzugt: Nur eine hat gehört, „was Sache ist“.7

    Fragt man nach dem Ursprung bzw. der Urform so einer Sache, z.B. in Bezug auf das Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“, so findet man zwar heraus, dass dieses 1774 geschriebene Gedicht „von einem gewissen Matthias Claudius aus Wandsbeck bei Hamburg“ stammt „und dass der kranke Nachbar, der darin vorkomm[t], Ignaz Huber geheißen und an Astma gelitten“ hat, aber man kommt der Sache damit kaum auf die Spur. Man erkennt lediglich, „dass sich ein konkret datierbares Gefühlserlebnis in einen Strom gleicher Empfindungen fügte“. Dieser Strom lässt sich im Zweifel nicht anders zuordnen als „entstanden im Urdunkel der Menschheit“.8

    „Das, was man die Urform eines bestimmten Mythos nennen möchte, das ist weder zu entdecken noch zu rekonstruieren, man kann nur aus den verschiedenen Fassungen die übereinstimmenden Elemente herauspräparieren, die aber dann in ihrer Gesamtheit nicht mehr als eine formlose Bereitstellung bestimmter Gestalten, bestimmter Handlungen und bestimmter Attribute sind, eine Bündelung, die durchaus verschiedene Ausdeutungen zulässt, die erst durch die konkrete Gestaltung werthaltig werden.“9

    „Ein Mythos ist also der Keim und all seine Entfaltung; gerade das Werden in stets neuer Gestaltung ist sein Leben; das Erstarren aber zu einem von nun ab als einzig gültig Bestimmten wäre sein Tod.“10
    Die Frage nach dem Gegenstand des Mythos gestaltet sich für Fühmann ebenso schwierig, wie der nach seiner Urform bzw. seinem Ursprung. Fühmann verwendet das Bild einer Perle11  und lässt sie sich aus Erfahrungen bilden. Zum Beispiel: „Der Urmensch machte milliardenmal die Erfahrung, dass man mit einem Steinsplitter einen Tierbalg zertrennen kann und er hat sie milliardenmal mit jedem Steinsplitter immer wieder neu machen müssen, bis er zu der Erfahrungskonzentration gekommen ist: Mit einem Steinsplitter kann ich einen Tierbalg zertrennen; diese Dinger, die da herumliegen, sind Steinsplitter; also werde ich mit diesen Dingern da auch einen Tierbalg zertrennen können.“12

    Von Alters her haben Menschen also Dinge ausprobiert mit Erfolg und auch ohne. Sie haben Erfahrungen gemacht, die in ihr Denken eingingen, es verändert haben. Diese Erfahrungen haben sich eingeschliffen, Ketten gebildet und sich so über Generationen erhalten. Das gilt für praktische Erfahrungen, wie die mit dem Stein und dem Tierbalg. Das gilt aber auch für den „Prozess des Kommens und Findens zu sich selbst“13, wenn gleich es sich dabei um anders gearteten Erfahrungen handelt. Diese sind Erfahrungen, „bei denen auf eine geheimnisvolle, nie ausschöpfbare und nie bis ins letzte darstellbare Weise das Subjekt des Erfahrenden als Innen wie Außen ebenso untrennbar mit dem Objekt der Erfahrung verschmilzt, wie das Was mit dem Wie des Erfahrens selbst“.

    Zu diesen Erfahrungen tritt folgende Frage hinzu: „Empfinde ich so wie die anderen Menschen, bin ich wie sie, sind sie wie ich? Im Alltagsgeschehen gesellschaftlichen Umgangs, bei der Arbeit, auf dem Markt, im Ritus, beim Fest werden solche Fragen sofort durch gleich- oder ähnlich geartetes gemeinsames Reagieren beantwortet“.14

    Bestimmte weitere Erfahrungen aber „rühren so heftig an das Menschsein, dass sie es erschüttert; ich kann danach nicht wie vordem mehr weiterleben, ich brauche, schon, damit ich sie überstehe, die Hilfe der Nachbarn, doch diese Erfahrungen sind eben von einer solchen Art, dass sie zu beschreiben schwer, ja unmöglich ist, und diese Kommunikationsqual gehört wesentlich mit zu ihrer Wucht. Ein jeder kennt solche Augenblicke, da man es nicht aushielte, allein zu bleiben, weil man im Ich wenn auch nicht das All, so eben doch die Menschheit erfährt.“15

    In extremis meint Fühmann Erfahrungen, von denen Hiob schrie: „Wenn doch mein Gram, mein Leid gewogen würde auf einer Waage, ganz genau, so wäre es schwerer als aller Sand, der an den Küsten der Meere liegt“. Und gerade in der Gleichnishaftigkeit einer solchen Äußerung eröffnet sich die Möglichkeit des Mitteilens der Erfahrung: „Wie ich: Ich bin nicht mehr allein; das Gleichnis ist der dritte Ort, wo sich meine und seine Erfahrung als gemeinsame treffen.“16

    „Der sein Gleichnis formt, um sein Leid zu bewältigen, stellt es zugleich zum Gebrauch für seine Brüder und Schwestern bereit, die der Gabe solchen Artikulierens nicht teilhaftig sind, und er hilft ihnen, in ebendem Maße, in dem er rückhaltlos sagt, ‚was ist‘“.17  Genauer gesagt: „Was Sache ist“18.

    In der Literatur ist das mythische Element also „jenes Ingrediens, das bestimmte Worte und Handlungskompositionen so überwältigend wirken und zugleich das Was und Wie dieses Wirkens begrifflich unerklärbar macht“. Das Außen und das Innen der Erfahrung ist zu einem „So ist es“ verschmolzen. Wollte man es erklären, so könnte man es nur „wortwörtlich noch einmal“ aussprechen.19

    Das Abendlied von Matthias Claudius, „Der Mond ist aufgegangen“ birgt nach Ansicht von Franz Fühmann die „[e]ntsetzliche Ahnung, dass eine Welt, die allen noch heil scheint, einen Riss hat, durch den Kälte strömt. – Es wird kalt in dieser trauten Welt, und die Seele beginnt zu frieren“20. Dies wird offenbar, wenn man, wie Fühmann, die Schlussstrophe von Claudius mit der des Abendliedes „Nun ruhen alle Wälder“ von Paul Gerhard vergleicht, die Claudius als Muster dient.

    Auch euch, ihr meine Lieben,
    Soll heute nicht betrüben
    Kein Unfall noch Gefahr
    Gott lass euch ruhig schlafen,
    Stell euch die güldnen Waffen
    Ums Bett und seiner Engel Schar!

    „Das ist gedichtet im Dreißigjährigen Krieg, aber da ist die Welt noch heil, und die Seele fühlt sich geborgen in Gottes Hand.“21

    So legt euch denn, ihr Brüder,
    In Gottes Namen nieder;
    Kalt ist der Abendhauch.
    Verschon uns Gott mit Strafen,
    Und lass uns ruhig schlafen!
    Und unsern kranken Nachbar auch!

    „Sie merken den Unterschied; es sind zwei Welten. Gerhards Gedicht soll man nicht gering schätzen, es ist schön, hold, ein Juwel in der Schatzkammer unserer Dichtung, allein es fehlt ihm eben das, wodurch wir ein Stück Literatur unsterblich in der Gewissheit nennen, dass sein Wort auch in kommenden Zeiten die Leser überwältigen wird. Ich glaube, es fehlt ihm das mythische Element. Und nun beachten Sie bitte, wie dieses Element – die Ahnung eines Kälteeinbruchs – bei Claudius das ganze Gedicht durchdringt und nicht etwa nur in der viertletzten Zeile als Behauptung gesagt wird. Wäre es nur diese Feststellung, dann spürten wir nicht die Kälte, die so schauerlich – weil kaum wahrnehmbar und doch durchdringend – die Innigkeit dieses Gebildes durchzieht und die in jeder Strophe da ist, als Einheit eines Widerspruchs da ist […]“22

    Der Mond ist aufgegangen,
    die goldnen Sternlein prangen
    Am Himmel hell und klar.
    Der Wald steht schwarz und schweiget,
    und aus den Wiesen steiget
    Der weiße Nebel wunderbar.

    Diese Strophe scheint Franz Fühmann Lügen zu strafen, es beginnt „innig und heil“. Doch ermuntert er dazu, dem Nebel zu zusehen, seinem Steigen und Heranwallen: „sehen Sie’s?“
    „Der Nebel steigt, und nun geht es in die zweite Strophe und da steht die trauliche Kammer in einer Schwärze, durch die langsam ein Brodem herankriecht, und diese holde Kammer Welt ist wie die holde Kammer Seele voll von allem Jammer der Menschheit – draußen ist’s still, aber drinnen stöhnt es, in dieser Kammer, aus der man noch den Mond gesehen hat und die sich jetzt schließt, die dicht wird – und Sie mögen es nicht für ein Hirngespinst halten, wenn mir das Wort GASKAMMER da einfällt, natürlich hat Claudius das nicht gekannt und nicht gewollt und nicht geahnt, aber dass man Auschwitz in sein Gedicht einfügen kann, zwar mit Entsetzen, doch ohne ihm Gewalt anzutun, eben das ist die Quell- und Keimkraft eines mythischen Elements. Es wirkt wie ein Sauerteig, es macht das Gedicht weit auch für unsere Erfahrung; darin besteht die sonst unbegreifliche Wirkung der Kunst über Jahrhunderte[.]“23

    Und Fühmann schlägt vor, das Abendlied wiederholt zu lesen, es mit anderen Gedichten zu vergleichen. Er erinnert an die Widersprüchlichkeit von Worten wie ‚der Wald steht schwarz und schweiget‘, Worte, in denen Jahrhunderte alte Erfahrung von „Anheimelung und Schrecken“ gespeichert ist, „beides zugleich“.24

    Er macht aufmerksam auf Silben und Interpunktion. Er klopft das Gedicht ab, befragt es genau: „[W]ie zum Beispiel die Rufzeichen in der letzten Strophe auf Gott einhämmern – das sind Schreie, die der sanfte Sänger da ausstößt: ‚Verschon uns Gott – Rufzeichen – mit Strafen, und lass uns ruhig Schlafen – Rufzeichen – und unsern kranken Nachbar auch – Rufzeichen – und damit schließt das Abendlied, mit einem Schmerzensschrei, nicht mit einer Bitte, und ist doch geflüstert[.]“25


  • Worte oder Wörter?

    In seinem atemberaubenden Essay über den österreichischen Dichter Georg Trakl, „Vor Feuerschlünden“, hat der DDR-Schriftsteller Franz Fühmann seinen Leserinnen und Lesern „Erfahrungen mit Trakls Gedicht[en] mitzuteilen versucht“. Er hat dabei entdeckt: „dies Mitteilen war wiederum neue Erfahrung“ und zwar die eigene. Fühmann erkannte darin einen Widerspruch im Verstehen. Der besteht darin, dass „je mehr wir von einer Dichtung verstehen, um so strahlender, ein dunkles Feuer, […] ihr unerhellbares Geheimnis hervor[tritt]“.1

    Die deutsche Sprache sei „so hellsichtig gewesen, dem Substantiv ‚Wort‘ zwei Plurale zukommen zu lassen: ‚Worte‘ und ‚Wörter‘“. Dieser Umstand lässt Fühmann allerdings nicht nur auf einen, sondern auf zwei Singulare schließen, nämlich auf den Fall „zweier verschiedener, wenn auch gleichlautender Singulare“. Folglich weist Fühmann „den Begriffsausdruck ‚Wort‘ als Einzahl zu der Mehrzahl ‚Worte‘ dem Bereich der Dichtung“ zu, „streng im Unterschied zu einem Singular ‚Wort‘ mit dem Plural ‚Wörter‘“, den er als „als Instrument des wissenschaftlichen Zugriffs“ versteht.

    „Diese Konsequenz aber bedeutet nichts anderes, als zwei in den Grundelementen gleichlautende und dennoch wesensverschiedene Sprachen anzunehmen, eine Sprache der Wissenschaft und eine der Dichtung, zwei Sprachen, die in den identisch erscheinenden Bausteinen derart verschieden sind, dass etwa die Adjektive ‚rot‘ und ‚gelb‘ in der Wissenschaftssprache als eindeutige Wörter, nämlich als Namen für die Netzhauteindrücke bestimmter elektromagnetischer Welle, in der Sprache der Dichtung hingegen als ambivalente, trotz jeweils klarer Begriffsbestimmung nie ausschöpfbare Worte anzusehen sind: ‚rot‘ – das ist der Name für den Netzhauteindruck einer Frequenz von 4 mal 1014 Hertz; und ‚rot‘ sagt die Einheit von Leben und Tod.“3

    Immer wieder kommt Fühmann bei Analysen von Gedichten Georg Trakls auf die Mehrdeutigkeit, ja Widersprüchlichkeit der Worte zurück und arbeitet sie als verschiedene nebeneinanderliegende Betrachtungsmöglichkeiten heraus. Sie können ineinander umschlagen und eine Bewegung erzeugen „die einen Kosmos in sich birgt“.

    Was Trakl zuweilen als Schwäche ausgelegt wurde, als eine „Not des Sagens“, die sich vor allem in unterschiedlichen Fassungen seiner Gedichte wiederfindet, versteht Fühmann als „seine Stärke“: „der traumsichere Gebrauch des dichterischen Wortes als Elementarbaustein aller Gedichte, des Wortes im Sinnes des Plurals ‚Worte‘, dessen Wesen die widersprüchliche Einheit menschlicher Erfahrung ist. Daher ist jede Interpretation von Dichtung so lange auf einem rechten Weg, als sie mindestens eines der Elemente jener Widerspruchseinheit zu fassen vermag, was zugleich verlangt, sich des Anspruchs zu entheben, allein die richtige zu sein.“ Dichtung lässt sich eben nicht als „Transportmittel“ einer „in Wörtern ausdrückbaren Erkenntnis verstehen“.4

    Denn das hieße „Poesie in Rationalität aufzulösen, das Vieldeutige eindeutig zu fassen, also ein Gebilde aus Worten in eines aus Wörtern zu überführen“. Ein Gedicht zu lesen, bedeutet für Fühmann aber „die Bilder, die seine Worte sagen, als leibhaftige Bilder zu sehen“, was so etwas ist, „wie ein Samenkorn eines Filmes“ zu sehen, „ein in sich geschlossen Vollendetes, und zugleich offen als Freibrief für einen Traum“.5

    „Nun träumen wir aber nicht nur Bilder, wir träumen auch Gefühle und Körpersensationen, und wir träumen auch Begriffe, oder vielmehr das, was dem an ein Wort mit der Mehrzahl ‚Wörter‘ gebundenen Begriff ‚Begriff‘ beim Wort mit der Mehrzahl ‚Worte‘ entspräche, denn wir müssen gestehen, dies Äquivalent nicht zu haben. Wir könnten uns auf ‚Bedeutung‘, vielleicht auch auf ‚Sinn‘ einigen, wenn wir damit die konkrete Vieldeutigkeit, die Beladung eines Wortes mit aller Erfahrung zu verstehen gewillt sind und nicht nur auf eine Einzelbedeutung als einzig richtige Auslegung zielen. Aber eben: die konkrete Vieldeutigkeit, die trotz ihrer Fülle so unverwechselbar genau wie das Wort ist das ihre Fracht auf schmalstem Raum trägt und gefügt in die Ganzheit des Gedichtes zu dieser Gesamtheit beiträgt wie von ihr geprägt wird.“6

    So liest Franz Fühmann übrigens auch die Bibel. Er beschreibt seine Lektüren in einem eindrücklichen Essay: „Meine Bibel; Erfahrungen“, der kurz nach dem Text über Trakl (1982) veröffentlicht wurde.7  Natürlich bleiben ihm auch die biblischen Spuren im Werk Trakls nicht verborgen. Im Gegenteil.

    „Wir sollten uns daran erinnern, dass unsere Kultur im Christen- wie im Heidentum der Antike wurzelt und dass ein Wort mit der Mehrzahl ‚Worte‘ von beider Bedeutung beladen ist, wenngleich meist die historisch spätere vorherrscht: ‚Brot‘; ‚Wein‘; ‚Leib‘; ‚Seele‘; ‚Geist‘; ‚Himmel‘; ‚Hölle‘; ‚Erde‘; ‚Mann‘; ‚Weib‘; ‚Fleisch‘; ‚Engel‘; ‚Teufel‘; ‚Mensch‘; ‚Tier‘; ‚Gott‘.“

    Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt,
    Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen,
    Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt,
    Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen:
    Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld.
    Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl.
    Es wohn in Brot und Wein ein sanftes Schweigen
    Und jene sind versammelt zwölf an Zahl.
    Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen;
    Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal.

    Und Fühmann liest:
    „Jene zwölf sind die Jünger, wer wollte daran zweifeln, aber jene zwölf können auch wir sein, und auch Sankt Thomas ist unter uns.
    Übrigens ist dieses Gedicht nicht, wie so oft geglaubt, im Krieg entstanden, es ist 1912 geschrieben, und weitaus ergiebiger als ein Streiten darüber, wie weit es Trakls christliches Bewusstsein belege, wäre eine Besinnung darauf, wie weit sein Gedicht mit der Schrift differiert, der zufolge das Prüfen der Wundmale nicht am Ölberg, in der Nacht der Gefangennahme Christi, sondern, wie Johannes berichtet, acht Tage nach der Auferstehung geschah; in einem Haus mit verschlossenen Türen, verschlossen aus Furcht vor Spähern und Häschern, und statt der Zwölf waren es ihrer elf; einer, Judas Ischarioth mit Namen, hatte sich erhängt, nach einem Lohn von dreißig Silberlingen für den Verrat an seinem Herrn. – Rotes Geld, auch unter den zwölf. – Die lyrische Gleichzeitigkeit dreier Passionsstationen sagt nicht nur die Gegenwart aller Geschichte zur Zeit des Lesers, sie schmilzt auch die beiden fünfzeiligen Hälften dieses zehnzeiligen Gedichts zu jener Einheit von Gegensätzen zusammen, die keine Montage schroff geschiedener Gegenüber, sondern die Einheit des Widerspruchs ist: ein Gedicht von der einen Menschheit, und ein jeder als ihr Teil sie ganz, wenn auch in verschiedenen Maßverhältnissen. – Der eine der zwölf verriet seinen Meister; der andere verleugnete ihn, ehe der Hahn dreimal krähte, und noch der treueste Jünger schlief.

    Eine christliche Botschaft, gewiss, doch nur dies? – Wir halten es für müßig darüber zu rechten, denn diese Zuordnung erschöpfte den Vers nicht, erschlösse ihn nicht einmal: Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen – hat der Leser dieses ‚wohnt‘ gesehen? – der Zugang zu Trakls Gedicht erfolgt weit besser als durch eine Etikettierung, die nur Geläufiges registrierte und in Aha-Erlebnissen schwelgte, durch ein Schauen der Bilder: Hier wäre seine Botschaft des Schweigens, das wohnt. – Kann der Leser es sehen? – der deutsche Sprachgebrauch kennt das Bild des herrschenden Schweigens, der herrschenden Stille – uns erscheint, da wir derlei hören, immer ein Thronsaal, es kann auch ein Versammlungsraum sein, und auf dem erhöhten Platz eine hagre, mitunter auch aufgedunsene Gestalt im Schwarz spanischer Hoftracht, die soeben mit dem Fuß aufgestampft und geschrien hat, das Maul zu halten, und eine niedergedrückte Menge wagt nicht mehr zu atmen: Das Schweigen herrscht. – So herrschen Zucht und Ordnung. […] Bei Trakl wohnt das Schweigen […] ‚Wohnen‘ ist ein ausnehmend mythisches Wort, es sagt ein Verweilen an einer Stätte, da man sein eigenstes Wesen zu entfalten vermag (dass man gezwungen sein kann, an einer ungeliebten Stelle sein Dasein verbringen zu müssen, ist schon ein Zweites), und es ist ein ausnehmend brüderliches Wort, durchweht vom Atem einer Gemeinschaft, die das Recht auf ein Selbstsein nur als Rücksicht auf das der Andern verwirklichen kann. Im ‚Wohnen‘ wohnt Friede […] Wo das Schweigen wohnt, will es nicht herrschen, es will die andern nicht schweigen machen, es begehrt nur eine Stätte, zu sein. – Wer sein Wesen nicht teilen will, mag es meiden, wer es teilen will, mag sich zu ihm gesellen, und dann wird auch gesprochen, wenn Worte nottun, auch Musik kann da sein, Flüstern, Klänge, sogar Lärm, wenn es sein muss, nur eines nicht: Zwang.

    Eine christliche Botschaft? – Für Eiferer kaum, doch mögen die Christen das unter sich ausmachen, Trakls Vers bleibt, was er ist: vielbedeutende Dichtung, die jedem gehört, der sich um sie müht.
    Auch die schwierigsten Bilder, wenn man sie sehn kann, beginnen sich dadurch zu öffnen, wenngleich sie sich nicht im Anblick erschöpfen: nie ausschreitbarer Innenraum.“8

    Wie gesagt: Franz Fühmann liest die Bibel in dieser Weise. Er liest sie als Buch der ‚Worte‘ wie den „Feuerregen“ eines Gedichts. Ein Verstehen kann dann nur so etwas wie ein „Schauer des Begreifens der eigenen Sachen, des Erfahrens“ sein, eben ein „Verstehen im Sinn des Pfingsten: ‚Wie kommt es, dass wir sie hören, jeder in der eigenen Sprache, in der wir geboren sind?‘“9


  • Umrisse

    Die Frage danach, wie eine Gemeinschaft als neue Schöpfung (création commune) zu umreißen ist, erscheint konkret als ein Komplex von Fragen. Etwa der Frage danach, wie eine Gemeinschaft ohne Herrschaftsregime1 zu beschreiben ist. Was also eine Gemeinschaft anderes ist als etwas, was sich durch Abgrenzung definiert, als etwas, das durch Zusammenschluss stärker sein will als eine andere Gemeinschaft.

    Anders formuliert: Was kann Gemeinschaft anderes sein als eine Seinsgemeinschaft, eine Blutsgemeinschaft oder Volksgemeinschaft? Was kann Gemeinschaft anderes sein als das Aufgehen des Einzelnen in ihr; ein/e Einzelne/r, die/der ihre/seine Freiheit und sich selbst aufgibt, zugunsten einer homogenen, das Individuum in sich auflösenden, totalen und damit tendenziell totalitären Gemeinschaft? Was kann Gemeinschaft anderes sein als eine Mitglieder-, Interessen-  oder Zweckgemeinschaft?

    Den in diesen Fragen skizzierten Konzepten und Realitäten von Gemeinschaft ist gemeinsam, dass sie alle sich selbst ins Werk setzen. Sie haben Substanz und Wert in sich, sind in sich abgeschlossen und funktionieren über Einschluss oder Ausschluss. Beides wird durch sie selbst bestimmt. In diesen Gemeinschaften verwirklicht sich Gemeinschaft “als ihr eigenes Werk“2.

    Was kann eine Gemeinschaft aber anderes sein als eine Gemeinschaft, die sich selbst ins Werk setzt? Eine Gemeinschaft, die nicht auf etwas ausgerichtet ist als auf ihr Werk?

    Eine solche Gemeinschaft müsste als eine werklose oder entwerkte Gemeinschaft beschrieben werden. Hierin der Übersetzung des eigenartigen französischen Wortes désœuvrement3   folgend, das sowohl eine Tätigkeit, eine Entwerkung, und einen Zustand, Werklosigkeit, meint.

    Werke zu schaffen4, Produktionswerte herzustellen, wäre nicht Aufgabe einer solchen Gemeinschaft, ebenso wenig jegliche praktische Bewerkstelligung, die Erfüllung administrativer Zwecke oder die politische Vertretung von Interessen. Eine solche Gemeinschaft müsste sich also beständig selbst entwerken und die Ausbildung von Herrschaftsformen unterwandern, in dieser Hinsicht werklos sein.5

    Für eine solche Gemeinschaft lassen sich zwei Merkmale grundlegen:

    „1) Die Gemeinschaft ist keine beschränkte Form der Gesellschaft, ebensowenig, wie sie nach der kommuniellen Verschmelzung strebt.

    2) Im Unterschied zu einer sozialen Zelle untersagt sie sich, ein Werk zu schaffen, und sie hat keinerlei Produktionswert zum Ziel.

    Wozu dient sie? Zu nichts, wenn nicht dazu, den Dienst am Anderen bis in den Tod hinein gegenwärtig zu halten, damit der Andere nicht einsam zugrunde geht, sondern sich dabei vertreten findet, wie er gleichzeitig einem Anderen diese Stellvertretung gewährt, die ihm zuteilgeworden ist. Die Stellvertretung im Sterben ist das, was die Kommunion ersetzt“.6

    Versuchen wir einmal – Probe halber – die Kirche als werklose Gemeinschaft zu skizzieren:

    Wenn die Kirche keine beschränkte Form der Gesellschaft ist, dann grenzt sie also niemanden aus. Ganz im Sinne der Stellvertretung im Sterben, die jeden Menschen angeht, müsste sie für alle Menschen offen sein. Kirche wäre dann Gemeinschaft, insofern sie gegenüber allen Menschen eine Solidarität im Sterben praktiziert. Ein derart dem Tod eines jeden Menschen gezollter Respekt zielt auf den Respekt vor seinem Leben, als reinigende Umkehrung derer gedacht, die keine Gemeinschaft haben. Kirche wäre als allgemeine, jedem Menschen in seinem Tode solidarische Gemeinschaft, geschenkte Gemeinschaft, umsonst.

    Als eine derartige werklose Gemeinschaft würde sie permanent ihr traditionellen (Be-) Gründungsbegriffe samt den in ihnen eingeschlossene Erfahrungen und Vollzüge entwerken. Gemeinschaft wäre geschenkte Gemeinschaft der Liebe, im Sinne des reformatorischen sola gratia.

    Wenn Gemeinschaft nicht nach kommunieller Verschmelzung strebt, dann müsste sie ein „Zusammen-Sein“, „Gemeinsam-Sein“ oder „Mit-Sein“, als singulär-plural-sein erfinden und gestalten:

    „Fast ununterscheidbar vom ‚co‘ der communauté [Gemeinschaft], trägt es doch mit sich ein deutlicheres Indiz des Abstandes im Herzen der Nähe und der Intimität. Das ‚Mit‘ ist trocken und neutral: weder Kommunion noch Atomisierung, lediglich das Teilen eines Ortes, aller höchstens der Kontakt: ein Zusammen-Sein ohne Zusammenfügen“.7

    Der Einzelne bliebe singulär, einzigartig. Jeder Impuls eine(n) Einzelne(n) als Teil einer Menge oder Masse wahrzunehmen, würde umgangen. Im Gedankenbild von Jean-Luc Nancy besteht die einzige Gemeinsamkeit im Bindestrich. Ontologisch gesprochen “ist” Gemeinschaft nicht anders als im Bindestrich oder in der Präposition “mit” bzw. “co”. Es bleibt immer die Spur eines Abstandes.

    Es bleibt die Spur des Todes. Sie könnte theologisch direkt ins Herz dessen führen, was traditionell Taufe (Röm 6,3) und Abendmahl (1 Kor 5,7) genannt wird, nur eben entwerkt: ohne organisatorischen Eintritt, ohne familiale Verwechslung, ohne bürgerliche Sozialisation, bevormundende Heilsverfügung oder gefühlige Zusammengehörigkeit im Sinne von stärker/mehr/ größer – Sein – als. Also: „Über sich selbst heraus [ge]öffnet“8.

    Wird die kommende Kirche eine werklose Gemeinschaft im Sinne einer neuen Schöpfung sein? Ihre Umrisse sind noch kaum zu erkennen.


  • Wenn Endzeit plötzlich immer ist

    Der erste Clemensbrief an die Korinther ist eines der ältesten kirchlichen Dokumente. Darin wendet sich die „in Rom weilende Kirche Gottes” an die „in Korinth weilende Kirche Gottes”.

    Um dieses am-Ort-Weilen auszudrücken, verwendet der Autor des Briefes nicht das griechische Wort, was einen ständigen, festen Wohnsitz bezeichnet, sondern im Gegenteil. Er schreibt paroikein, das Wort für „den vorübergehenden Aufenthalt des Exilanten, des Kolonisten oder des Fremden”. Es bezeichnet den „Aufenthalt des Christen auf Erden und seine messianische Zeiterfahrung”.1

    Im ersten Petrusbrief (1,17) ist paroikia ein terminus technicus und bezeichnet die Zeit der Kirche. „Das Wort ‘Aufenthalt‘ sagt nichts über dessen Dauer aus; Gleich ob der Aufenthalt der Kirche auf Erden Jahrhunderte oder – wie es tatsächlich der Fall ist – Jahrtausende währt, an der eigentümlichen Natur ihrer messianischen Zeiterfahrung ändert dies nichts“.2

    „Es handelt sich weder um die ununterbrochene, endlose Linie der chronologischen Zeit (die zwar dargestellt, aber nicht erfahren werden kann), noch um den unvorstellbaren Moment des Endes. Ebenso wenig kann man sie als den Zeitabschnitt denken, der sich von der Auferstehung bis zum Ende der Zeit erstreckt.

    Wir haben es vielmehr mit einer Zeit zu tun, die in der chronologischen Zeit wächst und drängt und sie von innen bearbeitet und verwandelt. Einerseits ist sie die Zeit, die die Zeit benötigt, um zu enden, andererseits ist sie die Zeit, die uns bleibt, die Zeit, wie wir benötigen, um die Zeit zu beenden, um mit der gewohnten Zeitvorstellung abzuschließen, uns von ihr zu befreien. Als Zeit, in der wir zu sein glauben, trennt sie uns von dem, was wir sind, und macht uns zu ohnmächtigen Zuschauern unserer selbst.

    Die Zeit des Messias hingegen ist die operative Zeit, in der wir zum ersten Mal die Zeit begreifen, die wir selber sind. Und diese Zeit ist keine andere Zeit, keine in einem unwahrscheinlichen Jenseits oder der Zukunft angesiedelte Zeit, sondern die einzig wirkliche Zeit, die Zeit, die wir haben. Die Erfahrung dieser Zeit verwandelt unsere Lebensweise, uns selbst von Grund auf.“3

    Paulus nennt diese Zeit die „Jetztzeit”: „Jetzt ist der rechte Augenblick, jetzt ist der Tag des Heils” (2 Kor 6,2). „Der Aufenthalt des Fremden und die Anwesenheit des Messias haben dieselbe Struktur […] eine Anwesenheit, die die Zeit dehnt, ein schon, das auch ein noch nicht ist, eine Verzögerung, die kein Verschieben auf später ist, sondern ein Sprung, ein Bruch in der Gegenwart.“4

    Diese „Zeit, die bleibt“5, als messianische Zeiterfahrung setzt eine besondere Art der Tätigkeit in Kraft. Man kann sie werklose6 Tätigkeiten nennen. Was sind werklose Tätigkeiten? Werklose Tätigkeiten sind nicht „Arbeit“, sie sind eher eine besondere Art der „Untätigkeit“.

    Untätigkeit wiederum ist nicht zu verwechseln mit „Trägheit“, sondern im Sinne von „katargesis“ – vom neutestamentlichen Wort katargein zu verstehen. Katargein bedeutet aussaugen, wirkungslos machen, außer Kraft setzen, vernichten, beseitigen, ablegen, aufhören, vergehen, entbunden werden, loskommen. Eine werklose Tätigkeit entbindet eine Tätigkeit von ihrem Werk. Der auf ein Werk orientierte Antrieb einer Tätigkeit wird deaktiviert. Dadurch wird diese Tätigkeit zu einer „Tätigkeit, in der das Wie das Was vollkommen ersetzt“. Sie gestaltet sich zu einer „Lebensform“.7

    Als werklose Tätigkeiten verstehen, praktizieren und leben lassen sich vor allem Tätigkeiten wie glauben, taufen, essen, trinken, beten, lesen, singen, hören, denken, lieben, grüßen oder der Dienst an einer/m Anderen bis in deren Tod hinein. Es sind eben Tätigkeiten, die überhaupt nur in besagter Zeitkonstellation ihren Sinn – ohne Werk – voll entfalten können. Ansonsten haftet ihnen immer auch irgendwie etwas Absurdes an.

    Wenn das Ende plötzlich immer ist, wird dies Absurde jedoch zum Indiz, zum Anzeichen einer anderen Zeiterfahrung, die sich selbst zu unterwandern bereit ist. So könnte sie zu einer Zeit werden, die wir haben.


  • sub longum

    Es gibt eine weit verbreitete liturgische und homiletische Praxis, die derart unscheinbar ist, dass sie nicht wahrgenommen, ja übersehen wird. Dabei könnte sie auch in nichtliturgischen Zusammenhängen eine kirchenweite, aktuell sogar gesamtgesellschaftliche Bedeutung haben.

    Sie könnte nämlich den entscheidenden Unterschied markieren zwischen Selbstreferenz und einer denkerischen Praxis, zwischen Selbstbespiegelung und einer spirituellen Praxis, zwischen Selbstdarstellung und einer homiletisch-liturgischen Praxis.

    In einem gänzlich anderen Zusammenhang hat der französische Kunstwissenschaftler und Philosoph Georges Didi-Huberman diese alte Praxis entdeckt und in den Blick genommen. Sie versteckt sich in einem Wort.

    Vor einigen Jahren begann Georges Didi-Huberman seine Einführung zu einer Gesprächsreihe über den italienischen Filmregisseur Pier Paolo Pasolini im Centre Pompidou in Paris mit einer Alltagsbeobachtung, die ihm mehr und mehr Unwohlsein verursachte.1  Er beobachtete, dass Gesprächsbeiträge unterschiedlichster Art meist beginnen mit „meiner Meinung nach“, oder „nach meiner Überzeugung“; in französischer Sprache noch zugespitzt: selon moi (wörtlich: nach mir).

    Und Didi-Huberman schlägt vor, über das selon, was sich in unserem Zusammenhang im deutschen „nach“ versteckt, nachzudenken und zwar ohne das moi, das Ich hinzuzufügen. Das sei nicht einfach. Denn dazu müsste man zu unterscheiden lernen zwischen „das Wort zu ergreifen“ und „das Wort zu ergreifen“.  Man müsste es also lernen, das Wort zu ergreifen (prendre la parole) ohne es zu ergreifen (sans la prendre), d.h. ohne es zu halten, festzuhalten, zu behalten, ohne es zu besetzen, zu besitzen und daraus Kapital zu schlagen.2

    Sobald man dem selon ein ich hinzufügt, das selon-moi-Spiel beginnt, tritt man sofort in eine Art der Selbstbewerbung (autopromotion) ein. Man präsentiert selfies des eigenen Denkens.3  Man stellt seine eigenen „großen Wahrheiten“ dar als Zentrum der Welt.4

    Jede/r, der/die beginnt, zuerst „alles, was um ihn herum gedacht wurde, als Meinung, Falschheit, Doxa, Illusion zu denunzieren“, dann auf sich kommt und „endlich die Wahrheit, die richtige Meinung“ selon moi / nach mir verkündet, spielt dieses Spiel. „Eine solche Vorgehensweise nennt man Akademismus oder Dogmatismus.“5

    Wie kann man anders vorgehen? Um diese Frage zu beantworten, hat Didi-Huberman im Historischen Wörterbuch der französischen Sprache nachgeschlagen. Dort fand er zunächst heraus, „dass der Ausdruck selon moi, der heute ein weit verbreitetes ideologisches Phänomen beschreibt, keinen Platz findet“. Allerdings findet sich die Präposition selon. Und sie deutet sprachgeschichtlich auf drei Dinge: „die Arbeit, das Risiko und die Bescheidenheit“.6

    „Zuerst schickt das Wort selon an die Arbeit (travail).“ Und zwar im Sinne von etwas, was sich „unterhalb jeder Aktivität aufspannt“, was unterhalb jeder Arbeit immer mitläuft. Das Wort selon, altfranzösisch: soulonque, kommt vom Lateinischen sub longum. Da heißt: „während der Dauer einer Arbeit aber unterhalb. Man arbeitet also gemäß einer Regel. Man verfolgt ein Projekt, einen Stil, einen Wunsch, Begehren (désir)“. Und dieser Wunsch – vielleicht übersetzt man ihn am besten mit Wissensdurst – läuft die ganze Zeit in unserem „psychischen Untergrund“ mit. „Es gibt keine wahrhafte Arbeit ohne dieses Begehren. Allerdings muss es irgendwann seine Form finden, die man dann Methode nennt.“7

    Zweitens „birgt das Wort selon ein Risiko (risque)“. „Umgangssprachlich sagt man: je nachdem, unter den Umständen, es kommt darauf an (c’est selon, selon les circonstances)“ und will damit die „variablen Bedingungen der Realität, die uns umgibt, des Raumes, der Geschichte“ berücksichtigen. „Diesen Umständen entsprechend gibt es Dilemmata, Alternativen und schließlich müssen Entscheidungen getroffen werden.“ Darin besteht das Risiko, eine „Gefahr, die jeder Arbeit inhärent ist“. Diese Gefahr kann man „umwandeln in eine günstige Gelegenheit, das ist der Kairos, eine Chance, die aus der Gefahr entsteht“.8

    Um das Wort kairos genauer zu verstehen, hat Georges Didi-Hubermann in der „Ilias“ nachgelesen. Dort kommt das Wort viermal vor und bezeichnet jedes Mal eine ganz präzise Situation, einen kritischen Punkt, nämlich „den Punkt an dem der Körper am verletzlichsten ist, die Stelle des Körpers, auf den ein Gegner zielt. Das ist der Kairos“.9

    Bis hierhin lässt sich die Praxis des ‚selon-ohne-ich‘ dahingehend zusammenfassen, dass sie uns der Gefahr ausliefert, die jeder Arbeit innewohnt und sie als günstige Gelegenheit erkennen lässt, eine Entscheidung zu fällen. Diese Entscheidung wird allerdings nicht gefällt, um die Gefahr zu vernichten, sondern sie erfindet eine Möglichkeit, mit der Gefahr umzugehen, einen Durchgang zu finden, eine Passage, „la passe wie man im Stierkampf sagt“.10

    Drittens liest Georges Didi-Huberman im Historischen Wörterbuch der französischen Sprache, dass das Wort selon dazu dient, „etwas einzuführen wie Bescheidenheit (modestie), eine essentielle Bescheidenheit“. Denn „das, was selon aufruft, ist ein Zitat“. Wie es zum Beispiel der Filmregisseur Pier Paolo Pasolini tut, wenn er seinen Film Il Vangelo secondo Matteo/ L’Évangile selon St. Matthieu bzw. „Das Evangelium nach Matthäus“ nennt.11

    Und mit seinem Beispiel führt Georges Didi-Huberman, ohne dass er es beabsichtigt hätte, punktgenau zu der unbekannten aber weit verbreiteten liturgischen und homiletischen Praxis, die kirchenweit und darüber hinaus gesellschaftspolitisch in unserer selfi-Welt eine wichtige Rolle zu spielen hätte.

    Jedes Mal, wenn in Gottesdiensten und in Predigten ein Evangelientext gelesen wird, wird dieser Text eingeführt mit einem „nach“ in dem sich ein selon versteckt. Es wird aus dem Evangelium nach (selon) Matthäus, nach (selon) Markus, Lukas oder Johannes gelesen. Mit dieser Praxis wird ein beispielhaftes Geschehen in Gang gesetzt, das „die Zuhörerenden dazu aufruft, nicht nur mich zu hören“, also den- oder diejenige, die spricht. Es bedeutet schon, „mir zuzuhören, aber zugleich aus meinem Diskurs herauszutreten und den kleinsten Verdacht der Selbstbezogenheit oder Abgeschlossenheit in Zweifel zu ziehen, selbst dann, wenn der Gedanke originell klingt, wie man sagt.“12

    Dieser modus des Sprechens „selon“ folgt den Spuren in die ‚Außerhalbs‘ von mir (hors-je)13, die mich öffnen für den, die oder das Andere/n, anderartiges Denken, verändernde Erfahrung. Das macht Arbeit, setzt einem Risiko aus – bringt also in Gefahr – und lehrt Bescheidenheit.


  • Befreiungen

    Am 19. Januar 1944 erhielt Freya von Moltke einen überraschenden Anruf von Peter Yorck von Wartenburg. Yorck teilte mit: „Helmuth ist verreist“1. Freya Moltke verstand. Ihr Mann, Helmuth James von Moltke, war verhaftet worden.

    Er hatte einen Diplomaten per Telefon vor einer drohenden Verhaftung gewarnt. Nach einem kurzen Aufenthalt im Hauptquartier der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin, kam Moltke in „einen Gefängnistrakt des Konzentrationslagers Ravensbrück“.2  Es ging es nicht um Moltkes Aktivitäten im Widerstand. Die waren verborgen geblieben. Sie gerieten erst nach den Ereignissen am 20. Juli 1944 ins Visier der Gestapo. Moltke wurde im September 1944 nach Berlin Tegel verlegt und im Januar 1945 zum Tode verurteilt.

    Im Oktober 1944 schrieb Moltke einen Brief an seine Söhne Caspar und Konrad über die Motive seines Widerstandes:

    „Ich habe mein ganzes Leben lang, schon in der Schule, gegen einen Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit, der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten angekämpft, der in den Deutschen steckt und der seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat. Ich habe mich auch dafür eingesetzt, dass dieser Geist mit seinen schlimmen Folgeerscheinungen wie Nationalismus im Exzess, Rassenverfolgung, Glaubenslosigkeit, Materialismus überwunden werden. Insoweit und von ihrem Standpunkt aus haben die Nationalsozialisten recht, dass sie mich umbringen.“3

    Im Laufe der Verhöre und Verhandlungen des Prozesses hatten sich Reflexionen und Verteidigungsstrategie Helmuth James von Molkes dahingehend weiterentwickelt und nicht zuletzt in der direkten Auseinandersetzung mit dem berüchtigten Nazi-Richter Roland Freisler zugespitzt, dass er und seine Gefährten schließlich „für etwas umgebracht werden, was wir a. getan haben und was b. sich lohnt“4.

    „Das Schöne an dem so aufgezogenen Urteil ist Folgendes: Wir haben keine Gewalt anwenden wollen – ist festgestellt; wir haben keinen einzigen organisatorischen Schritt unternommen, mit keinem einzigen Mann über die Frage gesprochen, ob er einen Posten übernehmen wolle – ist festgestellt; in der Anklage stand es anders. Wir haben nur gedacht, und zwar eigentlich nur Delp, Gerstenmaier & ich, die anderen galten als Mitläufer und Peter & Adam als Verbindungsleute zu Schulenburg etc. Und vor den Gedanken dieser drei einsamen Männer, den bloßen Gedanken, hat der NS eine solche Angst, dass er alles, was damit infiziert ist, ausrotten will. Wenn das nicht ein Kompliment ist. Wir sind nach dieser Verhandlung aus dem Goerdeler-Mist raus, wir sind aus jeder praktischen Handlung raus, wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben. […] und wenn wir schon umkommen müssen, dann bin ich allerdings dafür, dass wir über diese Themen fallen. […] Und dann bleibt übrig ein Gedanke: Womit kann im Chaos das Christentum ein Rettungsanker sein? Dieser eine einzige Gedanke fordert morgen wahrscheinlich fünf Köpfe und später noch die von Steltzer & Haubach und wohl auch Husen. Aber dadurch, dass keiner dabei ist, der etwas anderes vertrat, keiner, der zu den Arbeitern gehörte, keiner, der irgendein weltliches Interesse betreute, dadurch dass festgestellt ist, dass ich großgrundbesitzfeindlich war, keine Standesinteressen, überhaupt keine eigenen Interessen, ja nicht einmal die meines [Landes?] vertrat, sondern menschliche, dadurch hat Freisler uns unbewusst einen ganz großen Dienst getan, sofern es gelingt, diese Geschichte zu verbreiten und auszunutzen. Und zwar m.E. im Inland und draußen. Durch diese Personalzusammenstellung ist dokumentiert, dass nicht Pläne, nicht Vorbereitungen, sondern der Geist als solcher verfolgt werden soll.“5

    Die Erkenntnisfähigkeit und der Umgang mit den Erfahrungen des Lebens, die Moltke zu einem solchen Verständnis hat gelangen lassen, kommt in einem anderen brieflichen Gedankengang Moltkes zum Ausdruck. Zu den Belastungen der Arbeit Moltkes in der Abteilung Völkerrecht beim Oberkommando der Wehrmacht (OKW), den zunehmenden Spannungen in Widerstandskreisen um die Realisierung eines Attentates auf Hitler6  kam hinzu, dass Berlin im Jahre 1943 mehr und mehr bombardiert wurde.

    So hatte Moltke während der Nachtangriffe vom 22. auf den 23. und den 23. auf den 24. November „nicht nur seine Dienststelle verloren, sondern war auch persönlich schwer getroffen durch den Tod seines Vetters Hans Carl von Hülsen und dessen Frau Editha. Ein Flugzeug war auf ihr Haus gestürzt. Erst nach Tagen konnten ihre Leichen geborgen werden.“7

    Zu diesem Ereignis schrieb Moltke an seine Frau Freya: „Du fragtest, ob man das alles aushalten kann. Das ist gar nicht so schwierig. Viel schwieriger ist, dass man dabei nicht sich selbst verhärtet. Ich ertappe mich immerzu dabei. Am auffälligsten war es, als ich Teile von Editha und Hans Carl sah. Ich überwand meine Bewegung und mein Grauen, und dann ging es ganz leicht. Aber es ist eine falsche Reaktion. Man muss die Verteidigung der Gleichgültigkeit überwinden, man darf sich nicht panzern, sondern man muss es ertragen. Um den Tod und das Grauen zu ertragen, neigt man dazu, in sich die Menschlichkeit zu töten, und das ist die viel größere Gefahr, als dass man es nicht ertragen kann.“8

    Zum Ertragen im Unterschied zum Verhärten kommt ein abgründiger Blick Moltkes für die tragische Komik einer Situation: „Gestern sah ich ein eindrucksvolles Bild: In einem der Trümmerhaufen, an denen ich vorbeifuhr, war anscheinen ein Geschäft für Faschingssachen gewesen. Deren hatten sich Kinder im Alter von 4-14 Jahren bemächtigt, hatten sich bunte Mützen angezogen, hielten Fähnchen und Lampions in der Hand, warfen Konfetti und zogen lange Papierschlangen hinter sich her, und in diesem Aufzug über die Trümmer. Ein unheimliches Bild, ein apokalyptisches Bild. – Ähnlich grauenerregend was das Bild der Leute, die aus der Turnhalle der Derfflingerstraße Zwangsweise unter Protest und Schreien in Autobusse verladen wurden, ohne dass sie den Bestimmungsort erfahren durften. Welch ein menschlicher Tiefstand.“9

    – Die Füße der Geisttätigkeit, für die Moltke verurteilt wurde, waren seine tägliche Arbeit. Sie war der versuchte beständige Aufstand gegen den ‚menschlichen Tiefstand‘. Als Jurist war er ab Oktober 1939 „als dienstverpflichteter Zivilist in ein Befehls- und Verwaltungszentrum des ‚Dritten Reiches‘ eingetreten, dem er bis Januar 1944 angehörte“10. Moltke war Kriegsverwaltungsrat im Völkerrechtsreferat, welches zum Amt Ausland/Abwehr der OKW gehörte, das von Admiral Wilhelm Canaris geleitet wurde.

    „Moltke wusste, in welche Szenerie er sich begab, als er sein Büro am Tirpitzufer [in Berlin] bezog. Durch Vorträge in Entscheidungsgremien und Gutachten für übergeordnete Dienststellen konnte er allzu schroffe Verstöße gegen das geltende Völkerrecht aufhalten oder mildern, ganz selten sogar verhindern. Bei allen konkreten Rechtsfällen dachte er in erster Linie an die von einer Aktion betroffenen Menschen. Wenn seine völkerrechtlichen Argumente gegenüber den Sachwaltern eigenen Herrenrechts nicht durchschlagen konnten, entwickelte er eine politisch-strategische Argumentation, die nach den möglichen politischen und militärischen Folgen einer rechtswidrigen Maßnahme fragte. […] So entwickelte er eine ausgeklügelte Doppelstrategie, in der er die Auslegung einer völkerrechtlich verbindlichen Aussage und die Frage der möglichen Folgen einer prinzipiellen Nichtbeachtung der völkerrechtlichen Normen für die deutschen Interessen miteinander verband.“11

    Diese Aktivitäten betrafen konkrete Frage vom Umgang mit der Bevölkerung, Flüchtlingen, Geiseln, Gefangenen, Minderheiten u.v.a.m. in den von deutschen Truppen eroberten und besetzten Gebieten und erforderten eine umfängliche Reisetätigkeit. Mit zunehmender Aktivität des sogenannten Kreisauer Kreises verwandelte Moltke diese Reisen in konspirative Reisen, während denen er insgeheim auch ausländischen Widerstandsgruppen zu kontaktieren und im Ausland für die Interessen des deutschen Widerstandes zu wirken suchte.

    Im Frühjahr 1942 unternahm Moltke eine solche Reise zusammen mit Dietrich Bonhoeffer. Beide reisten nach Norwegen und Schweden. In Norwegen traf Moltke vor allem Vertreter der Wehrmacht und Bonhoeffer Vertreter der Kirchen. Da Kirchenkampf und Widerstand in Norwegen mehr oder weniger ineinander übergingen, trafen sie einige Kirchenleute auch gemeinsam.

    „Moltke und Bonhoeffer habe sich nach ihrer Reise in den Norden nicht wiedergesehen. Trotz großer Übereinstimmungen sind sie nicht zu einem näheren Kontakt in der Widerstandsarbeit gekommen. Es ist viel darüber spekuliert worden, warum diese beiden ‚Lichtgestalten‘ des deutschen Protestantismus sich nicht um gemeinsamen Widerstand verbunden haben. Gegenüber seinem Freund Eberhard Bethge hat Bonhoeffer gesagt: Es war anregend, aber ‚wir sind nicht einer Meinung‘.

    Allgemein vermutet man, dass die Frage eines Attentates auf Hitler der entscheidende kontroverse Punkt war. Moltke, der einen Staatsstreich nicht nur befürwortete, sondern an den Vorbereitungen mitgearbeitet hatte, lehnte ein Attentat in erster Linie aus politischen Gründen ab. Angesichts der großen Treue der Deutschen zu Hitler, befürchtete er eine zweite Dolchstoßlegende. Auch zweifelte er moralisch daran, einen Neuanfang ausgerechnet mit einem Mord zu beginnen. Bonhoeffer dagegen hatte sich dazu durchgerungen, ein Attentat als verantwortliche Tat zu befürworten.

    Wahrscheinlich beschäftigte Moltke und Bonhoeffer aber nicht nur diese Frage. Moltke wird die Gelegenheit genutzt haben, gegenüber Bonhoeffer Fragen einer Neuordnung Deutschlands nach einem Staatsstreich anzusprechen. Er wird die Notwendigkeit eines breiten Bündnisses mit Katholiken, mit Sozialdemokraten und Gewerkschaftern entfaltet haben. Und er wird die Kreisauer Ordnungsvorstellungen in der Wirtschaftsstruktur sowie ihre Vorstellung von einem basisdemokratisch-föderalistischen Staat und einem vereinigten Europa skizziert haben.

    Bonhoeffer hatte zu diesen Themen bis dahin kaum etwas gesagt. Er pflegte keine Kontakte zur links-intellektuellen Szene. Die Produktionsbereiche von Industrie und Landwirtschaft waren ihm relativ fremd, zumindest nicht von größerem Interesse für ihn. Für ökonomische Probleme hatte er sich zwar vor 1933 interessiert, aber dann hatte der Kirchenkampf alle seine Kräfte in Anspruch genommen.

    Hinzu kamen Unterschied in der Lebensführung. Bonhoeffer bewegte sich in erster Linie unter Theologen und kirchlichen Funktionsträgern, in der Familie und unter Wissenschaftlern. Moltke als protestantischer Laie dagegen lebte unter ‚Weltkindern‘ und war verantwortlich für einen landwirtschaftlichen Großbetrieb. Die Fragen von Sozial- und Gesellschaftspolitik beschäftigten ihn von Jugend an. Die Überwindung der Klassengesellschaft durch Begegnungen von Angehörigen verschiedener und weithin getrennter Schichten war ihm seit den Schlesischen Arbeitslagern ein Anliegen. Seine Freunde waren Christen, Juden, Atheisten, Idealisten und Materialisten, Konservative und Sozialisten. Ein weltlicher, geistiger und politischer Pluralismus war seine gewohnte Umgebung. Es dürften primär dieser verschiedenen lebensgeschichtlichen Prägungen, die verschiedenen Praxisfelder und die unterschiedlichen politischen Überzeugungen gewesen sein, die Bonhoeffer und Moltke nicht zusammenkommen ließen.“12

    – Die Wurzeln der Geisttätigkeit, für die Moltke verurteilt wurde, lagen in Kreisau, dem Gut seiner Familie, in seiner Abwesenheit geführt von seiner Frau Freya.

    Helmuth James von Moltke hatte 1934 das Gut in bedrohlich schlechtem Zustand übernommen und erfolgreich saniert. Die unterschiedlichen Facetten von Buchhaltung, Tierhaltung, Pflanzenkunde, Landwirtschaft, Maschinenkunde (u.a.) eines landwirtschaftlichen Betriebes inklusive ihrer menschlichen Verhältnisse, bis hin zur Besetzung des dazu gehörigen Pfarramtes, haben Moltke bis ins seine Haft hinein beschäftigt. Er studierte entsprechende Fachliteratur, besprach die Bilanzen mit seiner Frau, traf Entscheidungen, erfreute sich aber auch an Natur, Landschaft und Landwirtschaft schon durchs Erzählen. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Erfahrungen in seine Schrift über „Die kleinen Gemeinschaften“, die eine Vorbereitung der Arbeit des sogenannten Kreisauer Kreises darstellt, eingeflossen sind. Drei Treffen des sog. Kreisauer Kreises fanden jedenfalls direkt in Kreisau statt.13

    „Kleine Gemeinschaften“, die für eine europäische Ordnung, wie sie Moltke entwickeln wollte unverzichtbar sind, sollen „eine Anzahl von Menschen zu einem ihnen gemeinsamen Zweck in einer solchen Weise zusammenfassen, dass sie die Verfolgung ihres besonderen Zwecks als in den Rahmen der großen Gesamtheit gestellt begreifen und sich für die Entwicklung ihres besonderen Interesses als für einen Teil des Lebens der Gesamtheit verantwortlich fühlen“14.

    Mit ihrem Engagement für ein neues Kreisau/Krzyzowa nach 1989 schließt Freya von Moltke nicht nur in dieser Hinsicht einen Kreis. „Die Begegnungsstätte, deren Aufgabe es ja sein soll, Ideen der Demokratie, der Selbstverwaltung und der friedvollen europäischen Verständigung zu dienen, wäre durch die organische Verbindung mit seiner Umgebung zugleich mit konkreten Lebensproblemen vertraut. Nur so hat man die Chance, an diesem Ort ein Milieu zu entwickeln, wo der Bauer zum Professor hereinkommen kann, ohne sich zu genieren, dass er nach Gülle stinkt. Die beiden o.g. Aspekte, nämlich die Selbstverwaltung in kleinen Gemeinschaften und der Aspekt des Näherkommens von Intellektuellen und der arbeitenden Bevölkerung, entspringen den konzeptionellen Ideen des H. J. v. Moltke und seinem Lehrer Eugen Rosenstock.“15

    Freya sah es „um der deutschen Seele willen“16 als Vermächtnis an, den deutschen Widerstand, insbesondere den sogenannten Kreisauer Kreis nicht dem Vergessen preiszugeben. Sie allerdings zu vereinnahmen, lag ihr in jeder Hinsicht fern.

    Das galt auch für das zunehmende Interesse von kirchlich-theologischer Seite an Moltkes Praxis des Christentums. „‘Sie wollen ihn zum Sohn der lutherischen Kirche machen.‘ Zu Beginn habe der Glaube in seinem Widerstand gegen den Nationalsozialismus noch keine große Rolle gespielt; er habe sich erst ‚unter dem ständigen Druck seiner konspirativen Existenz‘ verstärkt. Zur Tiefe seines Glaubens, die ihn vor Freisler bestehen ließ, kam Helmuth, so Freya, nicht über die Kirche, sondern ‚als zutiefst geforderter Mensch‘.“17

    Als Freya Helmuth zum ersten Mal sah, blieb ihr Herz stehen.18   Was damals in Helmuths Herz zu schlagen begann, beschrieb er in einem seiner letzten Briefe: „Und nun, mein Herz, komme ich zu Dir. Ich habe Dich nirgends aufgezählt, weil Du, mein Herz, an einer ganz anderen Stelle stehst als all die anderen. Du bist nämlich nicht ein Mittel Gottes, um mich zu dem zu machen, der ich bin. Du bist vielmehr ich selbst. Du bist mein 13tes Kapitel des ersten Korintherbriefes. Ohne dieses Kapitel ist kein Mensch ein Mensch. Ohne Dich hätte ich mir Liebe schenken lassen, ich habe sie z.B. von Mami angenommen, dankbar, glücklich, wie man dankbar ist für die Sonne, die einen wärmt. Aber ohne Dich, mein Herz, hätte ich ‚der Liebe nicht‘. Ich sage gar nicht, dass ich Dich liebe; das ist gar nicht richtig. Du bist vielmehr jener Teil von mir, der mir alleine eben fehlen würde. Es ist gut, dass mir das fehlt; denn hätte ich das, so wie Du es hast, diese größte aller Gaben, mein liebes Herz, so hätte ich vieles nicht tun können, so wäre mir so manche Konsequenz unmöglich gewesen, so hätte ich dem Leiden, das ich ja sehen musste, nicht zuschauen können und vieles andere. Nur wir zusammen sind ein Mensch. Wir sind, was ich vor einigen Tagen symbolisch beschrieb, ein Schöpfungsgedanke. Das ist wahr, buchstäblich wahr. Darum, mein Herz, bin ich auch gewiss, dass Du mich auf dieser Erde nicht verlieren wirst, keinen Augenblick. Und diese Tatsache haben wir schließlich auch noch durch unser gemeinsames Abendmahl, das nun mein letztes war, symbolisieren dürfen.“19


  • Der Tod, der Tod

    Beim Hören der nachösterlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs1  fällt auf, wie schnell der Osterjubel, der aus der dramatischen, revolutionären Osterkantate „Christ lag in Todesbanden“ (BWV 4) aufsteigt, getrübt wird durch Worte und Töne der Verzagtheit und Trauer, ja der Todesfurcht.

    Die Kantaten zum Sonntag Jubilate (BWV 12, 103, 146) etwa „befassen sich mit dem Schmerz ob des Abschieds Jesu von seinen Jüngern, mit den Prüfungen, die ihnen nach seinem Fortgang bevorstehen, und mit der Vorfreude, ihn einst wiederzusehen“2.

    Darin erklingt sicher auch etwas aus der Lebenserfahrung Bachs selbst, dessen Leben auf eine Weise vom Tod gezeichnet war, wie wir es uns heute kaum vorstellen können. Zugleich kehren darin alte Überlieferungsstränge des memento mori wieder, wie wir sie in den Kulturen der vanitas, der melancholia, asketischen Praktiken der mortificatio bis hin zur katharischen endura in unterschiedlichen Ausprägungen finden. Schon in den Psalmen kommen sie zum Ausdruck: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (90, 12).

    Doch nicht zuletzt Martin Luthers Übernahme der mittelalterlichen Antiphon media vita in morte sumus (1456) und ihre Erweiterung um zwei Strophen in seinem Lied „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen“ (1524) bringt zumindest auch eine institutionelle Prägung dieser Tradition zum Ausdruck:

    Die Schuld- und Bußpolitik der Kirchen. Ihre organisierte Bedrohung des Lebens durch eine skrupellose Indienstnahme von Vorstellungswelten wie der des Jüngsten Gerichtes und der Höllenpein verstellen die Möglichkeiten einer österlichen Praxis des Todes.

    In Bachs Kantaten klingt sie auf, trotzdem. Zum Beispiel in der dem Sonntag Exaudi zugeordneten Kantate „Sie werden Euch in den Bann tun“ (BWV 183). Mit der Tenorarie „Ich fürchte nicht des Todes Schrecken“ erklingt eine „intime Scena, in der wir Zeugen werden, wie der Gläubige um seine Angst vor Verfolgung und schlussendlicher Auslöschung ringt, während er die ganze Zeit von den beruhigenden Klängen seines Gefährten getragen wird, des ‚Schutzarms‘ Jesu, von dem im Text die Rede ist: des Cello piccolo.“3

    Das kleine vierseitige Cello, das Bach so liebte, zeigt klanglich einen Gestaltungsraum auf, in dem sich eine andere, österliche Praxis des Todes vielleicht skizzieren lässt.

    I) Der französische Schriftsteller Maurice Blanchot berichtet autobiographisch von der Hinrichtung eines Mitgliedes der Résistance durch deutsche Soldaten. Der befehlshabende „Nazi ließ seine Männer in Reih und Glied antreten, um, gemäß den Regeln die menschliche Zielscheibe zu treffen“. Der, „auf den die Deutschen schon zielten, verspürte nun, als er nur noch auf das letzte Kommando wartete, ein Gefühl außergewöhnlicher Leichtigkeit, eine Art Seligkeit (nichts Glückliches jedoch) – souveräne Heiterkeit? Die Begegnung des Todes mit dem Tod“.4

    Von diesem Moment an war der junge Mann „durch eine heimliche Freundschaft mit dem Tod verbunden“. Plötzlich wurde die Erschießung durch den Lärm einer sich nähernden Schlacht unterbrochen. Während der befehlshabende Leutnant sich entfernte, um Meldung zu erstatten, verblieben die Deutschen „in Befehlsstellung, und verharrten in einer Reglosigkeit, die die Zeit anhielt“. Schließlich erschien jemand, sagte, sie seien keine Deutschen, sondern Russen von der Wlassow-Armee“ und machte dem jungen Mann „Zeichen zu verschwinden“.5

    Als der jungen Mann in einem nahen Waldstück wieder zu sich kam, fand er „den Sinn für das Wirkliche wieder“: „Überall Feuersbrünste“. Aber was war dieses Gefühl der Leichtigkeit? „Vom Leben befreit? Das Unendliche, das sich öffnet? Weder Glück noch Unglück, auch nicht die Abwesenheit von Furcht und vielleicht schon der Schritt jenseits“. Jedenfalls veränderte dieses „unanalysierbare Gefühl“ das, „was ihm an Existenz blieb“: „Als ob der Tod außerhalb von ihm von nun an nur auf den Tod in ihm stoßen konnte.“6

    „Was macht’s. Einzig bleibt das Gefühl von Leichtigkeit, das der Tod selbst ist, oder, um es genauer zu sagen, der Augenblick meines Todes fortan stets in der Schwebe.“7

    II) Am 5. November 1995 setzte der französische Philosoph Gilles Deleuze seinem Leben ein Ende. Von Jugend auf war er schwer krank und konnte zuletzt nur noch mit Unterstützung von Sauerstofflaschen atmen. Ein langjähriger Freund, der Philosoph René Schérer, glaubt, „dass man nur philosophisch über den Tod von Gilles Deleuze sprechen kann“8, er wird sein ewiges Geheimnis bleiben. Man könne jedoch mit Sicherheit sagen, dass dieser Tod nicht in einer Hoffnungslosigkeit oder Todessehnsucht begründet sei, welche Deleuze immer für irreführend und falsch gehalten hatte. War doch seine gesamte Philosophie immer „eine Hymne an das Leben“9  und dessen starke Bejahung.

    Der Tod von Gilles Deleuze als Auflösung (dissipé) seines Körpers, seines Individuums, markiere lediglich „das Auslöschen (effacement) des Autors, des Schriftstellers vor seinem Werk“. Und dies ist philosophisch zu verstehen, geradezu ontologisch, denn „allein die Beraubung (dépouillement10 ) der Person, des ‚Ich‘ (je), des ‚Subjekts‘ (sujet), erlaubt den Zugang zur Wahrheit des Seins der Dinge. Die Wahrheit des Philosophen Deleuze ist weder psychologisch noch biographisch, sie ist unpersönlich, kosmisch“.11

    „Der Tod ist zugleich in einem äußersten und endgültigen Verhältnis zu mir und meinem Körper, hat seinen Grund in mir, ist aber auch ohne Beziehung zu mir, das Unkörperliche und Infinitive, das Unpersönliche, etwas das nur in sich selbst begründet ist. Einerseits der Teil des Ereignisses, der sich realisiert und vollendet; andererseits ‚der Teil des Ereignisses, den seine Vollendung nicht realisieren kann‘. Es gibt also zwei Vollendungen, die wie Verwirklichung und Gegen-Verwirklichung sind. Aus diesem Grund sind der Tod und seine Verwundung kein Ereignis unter anderen. Jedes Ereignis ist wie der Tod, doppelt und in seiner Doppeltheit unpersönlich. ‚Er ist der Abgrund der Gegenwart, die gegenwartslose Zeit, zu der ich keine Beziehung habe, auf die ich nicht zustürzen kann, denn in ihr sterbe ich nicht, ich habe die Macht zu sterben verloren, man stirbt in ihr, man stirbt unablässig und hört nicht auf zu sterben‘.“12

    Einem solchen Ereignis gegenüber gelte es, sich als würdig zu erweisen, „dessen würdig zu werden, was uns zustößt“ und „ja zum Tod zu sagen, aus Liebe zum Leben“.13

    Jenseits seiner eigenen Praxis hatte diese Annäherung an ein solches Ereignis wie den Tod Konsequenzen für das Denken von Deleuze. Er wollte nicht urteilen, „lieber Straßenfeger sein als Richter (plutôt être ballayeur que juge)“14  und entdeckte das Geheimnis des Denkens darin, etwas „existieren zu lassen (faire exister)“ und „nicht zu richten (non pas juger)“15.

    Für seine Praxis des Schreibens bedeutete das Folgendes: „Wenn ich über einen Autor schreibe, dann ist es mein Ideal, nichts zu schreiben, was seine Traurigkeit hervorrufen könnte, oder, wenn der Autor tot ist, nichts zu schreiben, was ihn in seinem Grab weinen ließe.“16

    III) In einem Gespräch aus dem Jahre 1990 sieht der deutsche Dramatiker Heiner Müller unsere „gesamte Geschichte und Politik“ auf „die Verdrängung der Sterblichkeit“ reduziert. „Kunst aber stammt aus und wurzelt in der Kommunikation mit dem Tod und den Toten. Es geht darum, dass die Toten einen Platz bekommen. Das ist eigentlich Kultur.“17

    Für diese Diagnose ist „der Umgang mit Zeit“ entscheidend. „Zeit des Lebens, Zeit des Sterbens, Zeit des Todes“. Niemand könne die bewusste Wahrnehmung der Zeit aushalten, weshalb man Zeit mit allen möglichen Aktivitäten totschlage. Das bedeutet nichts anderes, als die Todesangst zu verdrängen18  und den Augenblick aus dem Zeitablauf herauszulösen, der „wesentlich Zerstörung bedeutet“19.

    Für Müller hat dieser Gedanke eine direkte Konsequenz für den der Identität. „wer mit sich identisch ist, der kann sich einsargen lassen, der existiert nicht mehr, ist nicht mehr in Bewegung. Identisch ist ein Denkmal“20.

    „Was man braucht, ist Zukunft und nicht die Ewigkeit des Augenblicks. Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen. Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft. Man muss die Anwesenheit der Toten als Dialogpartner oder Dialogstörer akzeptieren – Zukunft entsteht allein aus dem Dialog mit den Toten. Was Kunst vermag, ist, diese Illusion personaler Identität zu zerstören.“21

    Was zuerst etwas brachial anmutet, wird deutlicher, wenn man Müllers Ausführungen weiter folgt. Hinzu kommt ein sprachliches Thema, das homiletische Fragestellungen eröffnen könnte.

    Also direkt an das obige Zitat anschließend entwickelt Heiner Müller folgenden Gedanken:

    „Das ist der Kern von Becketts Rückzug aus der Sprache als Mitteilung […]. Es geht nicht um Information, sondern um die Mitteilung einer Befindlichkeit. Über seine Art zu formulieren kann der Autor mitteilen, was mit ihm ist. Das ist reicher als eine Information, einen Fremdgegenstand über oder durch den Text zu transportieren. Denn es hilft die eigene Befindlichkeit anders wahrzunehmen. Außerhalb syntaktischer Ordnungen wird etwas mitgeteilt, was nicht mitteilbar ist. Daran muss der Leser arbeiten, um es auf sich zu beziehen, denn er weiß nicht, was ihm da mitgeteilt wird. Dann weiß er aber auch nicht mehr, wer er ist. Wer aber nicht mehr weiß, wer, was und wo er ist, der muss sich bewegen. Das ist das revolutionäre Moment an dieser Art Texte, sie schaffen Veränderung.“22
    Exit: Könnte es ein aus derartigen (und weiteren, anderen) Erfahrungen zusammengesetztes Theorie- und Praxisfeld geben, das ein österliches Einüben in den Tod beschriebe?

    Wenigstens könnten uns derartige Überlegungen aufmerksam werden lassen gegenüber den technischen Unsterblichkeitsillusionen der konsumistischen Welt. Im Unterschied zu deren merkantilen soundscapes wird der Gestaltungsraum eines cello piccolo, wie Bach es liebte, etwas heilsam Atonales in seinem Audrucksspektrum haben.


  • Auszug

    aus: Dietrich Sagert, Lautlesen. Eine unterschätzte Praxis, Leipzig 2020:

    Die hebräischen Texte, die wir Altes Testament zu nennen die Gewohnheit haben, hatten bis ins siebte Jahrhundert hinein die Besonderheit, nur als Konsonanten aufgeschrieben zu sein. So konnten nur diejenigen diese Texte lesen, die die zu den Konsonanten gehörenden und somit bedeutungsstiftenden Vokale kannten.
    Zuerst lernten Kinder diese von ihren Müttern, dann von den Vätern im Lehrhaus.1

    Jesus von Nazareth muss früh ins Lesen dieser Texte eingeführt worden sein. Bereits mit zwölf Jahren wurde seine Kenntnis auffällig (Lk 2.46). Und noch im Todeskampf war Jesus in der Lage, die hebräische Sprache der Bibel korrekt zu rezitieren: Eli, Eli… (Ps 22,2; Mt 27,46 parr).2  Als er zu seinem Umgang mit der Schrift, dem Gesetz, befragt wurde, antwortete er, dass er kein Jota, nicht den kleinsten Konsonanten, nicht einmal ein (hinzugefügtes) Tüpfelchen3  ändern wollte.

    „Und diese Worte stehen der Bergpredigt unmittelbar voran! Sie handelt von einer neuen Lehre (Du sollst nicht töten. Du sollst deinen Bruder nicht einmal zürnen, sondern ihn lieben), also einer Lesung, die sich an Hörer richtet, auf dem Berg statt im Gemeinschaftssaal (Synagoge). Im Offenen (Delos) statt im Gemeinschaftssaal, der keiner ist, weil der (orthodox) nur Männern offensteht. Ein Durcheinander vieler Männerstimmen, die um Vokalisierung streiten. Statt dass der Gott im Abaton verehrt, geschont, belassen und gefeiert würde. Jesus als Rabbi verschärft die Schrift, hebt sie nicht auf. Er bricht das Monopol der Schriftgelehrten und setzt masoretisch-vokalische Zeichen. Für Huren, Samariter, Galiläer, Fischer – all die ‚Armen im Geiste‘, d.h. die Illiteraten“4

    Der Erforscher von Aufschreibe-Systemen, Friedrich Kittler, nimmt dies als Indiz dafür, dass Jesus allen Menschen die Schrift zu lesen ermöglichen wollte. Nicht mehr nur eine eingeführte Elite sollte diese Texte lesen können und damit die Deutungsmacht über sie innehaben. Kittler pointiert und erkennt darin den eigentlichen Grund für die Hinrichtung Jesu.

    „Arme Leute, die nur Aramäisch verstehen, können dank Jesus die Thora selber lesen, fast wie bei Luther. Deshalb hassen ihn die Schriftgelehrten und schlagen Jesus ans Kreuz. Seine Mörder sind nicht ‚die‘ Juden, sondern nur die Rabbiner, sofern sie um Gegensatz zu Jesus das Frauenwissen ausschließen (Lk 3, 27-29). Auf mediengeschichtlichen Taubenfüßen kommen die wahren Revolutionen. Niemand, auch nicht Nietzsche, hat das Christentum so technisch schlicht begriffen. Warum? Wir stecken über beide Ohren drin.“5

    Von hier aus gesehen liest sich so manche Szene im Neuen Testament verblüffend neu. Wenn z.B. Jesus zu den Schriftgelehrten sagt: „Weh euch Gesetzeslehrern! Ihr habt den Schlüssel zur Erkenntnis weggenommen; Ihr selbst seid nicht hineingegangen, und die, die hineingehen wollten, habt ihr abgehalten“ (Lk11,52) und wenn „der Schlüssel zur Tora die Vokale sind, bekommt diese Scheltrede einen ganz konkreten, medientechnischen Hintergrund“.6

    Oder wenn berichtet wird, dass der auferstandene Jesus auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24, 13-31) seinen Jüngern Moses und die Propheten auslegt und ihnen plötzlich aufgeht, wie die Schrift zu verstehen sei, so kommentiert Kittler fragend: „durch Eintragen der Vokale?“

    Oder etwas später, auch nach der Kreuzigung, als die Jünger „meinten, den Geist zu schauen“ (Lk 24,37), dies kein „spukhaftes Phantom“ meint, „sondern die Stimme des Herrn, die sie nun erst in den aufgeschriebenen Stimmlauten alias Vokalen anschauen und als seine Botschaft erkennen, das heißt lesen können“.7

    Und Lesen heißt in diesem Zusammenhang selbst verständlich laut lesen. Lautlesen als Praxis der Auferstehung.

    Hinter diese Praxis zurückgefallen ist spätestens Ambrosius von Mailand im Jahre 384 und Augustinus hat ihn dabei ertappt (Conf. 6,3).8


  • Zu Gast

    Auf ihrer Homepage1  erinnert die Communauté de Taizé unter dem Datum des 15. April 2020 an ein besonderes Ereignis. Ostern vor 50 Jahren, Ende März 1970, wurde in der Versöhnungskirche in Taizé, die durch ein angehängtes Zirkuszelt vergrößert war, eine „Fröhliche Nachricht“ verkündet.

    Diese Ankündigung betraf das sogenannte „Konzil der Jugend“. Eine interkontinental besetzte Gruppe junger Leute hatte mit den Brüdern um frère Roger einen Text vorbereitet, der eine vier Jährige Vorbereitungszeit und die Eröffnung des Konzils der Jugend im Jahre 1974 ankündigte. Dieser Prozess mündete in den „Pilgerweg des Vertrauens auf der ganzen Erde“, der bis heute andauert.

    In der Ausgabe der Schriften von frère Roger2  lassen sich die entsprechenden Zusammenhänge nachlesen. Die zentralen Sätze der Ankündigung sind eingebettet in den folgenden Text, der von der Gruppe junger Menschen verfasst und vorgetragen wurde:

    „Im letzten Jahr haben wir uns vorgenommen, am Ostertag 1970 von Taizé aus eine fröhliche Nachricht für die Jugend anzukündigen: eine Herausforderung an die Hoffnung in diesen Zeiten, in der die Kirche in Unruhe ist; in denen unterdrückende Mächte einen Teil der Menschheit aufgegeben haben; in denen die nicht tolerierbaren Privilegien der einen den anderen alles wegnimmt, bis hin zum Bewusstsein ihres Menschseins.
    Wir haben den Vorschlägen von Jugendlichen der fünf Kontinente zugehört.

    Wir haben herausgehört, dass es bei einer sehr großen Zahl von ihnen einen Durst nach Gott gibt, aber zugleich den Willen eines Fortschritts im Dienst der Menschen. Für sie geht es um alles oder nichts. Wenn sie Christus verstehen, ist er vor allem ein Leben. Wenn sie die Kirche verstehen, wollen sie sie als eine schöpferische Kirche.

    Was wir am deutlichsten verstanden haben, ist ihre Erwartung eines ungewöhnlichen Vorgehens, das sie darin verbindet, für Christus bis zum Äußersten zu gehen; das ihre Energien freisetzt; das in ihnen einen schöpferischen Schwung in Gang setzt, um die Erde bewohnbar zu machen. Auf diese Weise kann sich die Gewalt des Hasses noch umwandeln in eine ‚Gewalt der Friedfertigen‘.

    Um diese so ersehnte Nachricht zu finden, haben wir zugehört, nachgedacht, gebetet. Unsere besondere Sorge galt der Wechselseitigkeit der beiden Hemisphären: die wesentlichen Impulse kamen aus den Kontinenten des Südens. Junge Lateinamerikaner haben die ‚Dringlichkeit einer österlichen Kirche‘ zu Ausdruck gebracht, die ‚alle Machtmittel verweigert und treue Zeugin eines Evangeliums ist, das die Menschen befreit‘. Junge Afrikaner und Asiaten sehen durch die nördliche Hemisphäre die Werte der Gemeinschaft, des Teilens und des Festes verdrängt, die die ihren sind.

    Wir haben danach gesucht, wie wir konkret auf diese Hoffnungen antworten können, obwohl die Kirche durch eine Wüste wandert und die Erde für eine Vielzahl von Menschen unbewohnbar wird. Wir haben uns an die ersten Christen erinnert. Zuerst war ihnen alles gemeinsam, sie waren ein Herz und eine Seele, man konnte ihre brüderliche Einheit sehen. Als ihre Einmütigkeit verschwand und die Spannungen unter ihnen sich in Spaltungen wandelten, haben sie beschlossen, sich zu treffen, um die Gegensätze zu beraten, den Bruch zu vermeiden und die Gemeinschaft zu erhalten (Apg 2, 42-47. Apg 15).

    Die Nachricht, die wir euch heute also ankündigen ist eine österliche Nachricht, hier ist sie:

    Der auferstandene Christus kommt, um im Innersten des Menschen ein Fest zu feiern. Er bereitet einen Frühling der Kirche: eine Kirche, die über keine Machtmittel verfügt und bereit ist, mit allen zu teilen, ein Ort sichtbarer Gemeinschaft für die ganze Menschheit. Er wird uns genügend Phantasie und Mut geben, um einen Weg der Versöhnung zu bahnen. Er wird uns bereitmachen, unser Leben dafür hinzugeben, dass der Mensch nicht mehr Opfer des Menschen sei.

    Um diese fröhliche Nachricht konkret zu leben, drängt sich uns ein Mittel auf, ein Instrument: Wir werden ein Konzil der Jugend vorbereiten.

    Das Konzil der Jugend, das heute angekündigt wurde, wird später eröffnet werden, das ist ein zweiter Schritt. Weil nichts Starkes sich ohne ein Minimum an Zeit entwickeln kann, beginnt heute der erste Schritt. Bevor wir uns zu einem Konzil der Jugend versammeln, gilt es nachzudenken und zu leben: Das Fest, die Gemeinschaft, das Miteinanderteilen und ‚über alle Hoffnung hinaus zu hoffen‘ (Röm 4,18).“3


  • Noli

    Im Konzert der Praktiken des Auferstandenen Christus, wie sie das Neue Testament überliefert, findet sich eine Geste, die bis zur Unkenntlichkeit überdeckt wird von einer staatlichen Hygiene-Vorschrift unserer Tage.

    Sie kulminiert im Satz des Johannesevangeliums: „Rühre mich nicht an“, wie Martin Luther übersetzt (Joh 20, 17).

    In seinem kleinen Buch „Noli me tangere“ ist der französische Philosoph Jean-Luc Nancy dieser Ostergeschichte (Joh 20, 11-18) nachgegangen und hat sie ausgehend von ihren von Malern realisierten bildlichen Darstellungen untersucht.1  Zwei entscheidende Gedanken seien hier herausgehoben: der komplexe Zusammenhang des Nicht-Berührens und der des Fortgehens.

    Nancy analysiert aus der Betrachtung der verschiedenen Gemälde die Geste des Nicht-Berührens „als singuläre Kombination von Distanzierung und Zärtlichkeit, von Segen und Liebkosung“ und somit als ein Berühren, das derart ist, dass es „auf Abstand“ hält.2

    „Berühre mich nicht, halte mich nicht fest, versuche weder zu halten noch zurückzuhalten, sage jeder Anhängerschaft ab, denke an keine Vertrautheit, an keine Sicherheit. Glaube nicht, es gäbe eine Versicherung, so wie sie Thomas wollte. Glaube nicht, auf keine Weise. Aber bleibe in diesem Nicht-Glauben standhaft. Bleibe ihm treu. Bleib meinem Fortgang treu, Bleib dem allein treu, was in meinem Fortgang bleibt: dein Name, den ich aussprechen. In deinem Namen gibt es nichts zu ergreifen, nichts dir anzueignen, sondern es gibt dasjenige, was vom Unvordenklichen her bis hin zum Unerreichbaren an dich gerichtet ist, vom grundlosen Grund, der immer schon im Aufbruch ist.“3

    Das Möchte-nicht des Berührens geht direkt über in den Vorgang des Fortgehens, der ihm unmittelbar folgt, bzw. aus ihm hervorgeht: „Möchte nicht, denk nicht daran. Tue es nicht nur nicht, sondern, auch wenn du es tust (und vielleicht tut es Maria Magdalena, vielleicht liegt ihre Hand bereits auf der Hand dessen, den sie liebt, oder auf seiner Kleidung, oder auf der Haut seines nackten Körpers), vergiss es sofort. Du hältst nichts, du kannst nichts halten noch festhalten, und dies ist, was du lieben und wissen musst. Eben dies ist ein Wissen aus Liebe. Liebe, was dir entkommt, liebe den, der fortgeht. Liebe, dass er fortgeht.“4

    Das Fortgehen selbst ist aber kein einfaches Weggehen, sondern ein beständiges Aufbrechen. Fortgehen eröffnet ein beständiges Spiel zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Es begründet eine Präsenz als „ein[] unendlich erneuerte[s] oder verlängerte[s] Verschwinden[]“5.

    „Berühre mich nicht, halte mich nicht zurück, denke weder mich zu ergreifen noch mich einzuholen, denn ich gehe hin zum Vater, das heißt immer noch und immerdar hin zur Mächtigkeit selbst des Todes und ich entferne mich in ihr, ich schwinde in ihrem nächtlichen Glanz an diesem Frühlingsmorgen dahin. Ich gehe bereits fort, ich bin nur in diesem Aufbruch, ich bin der Aufbrechende des Aufbrechens, darin besteht mein Sein, und mein Wort lautet: ‚Ich, die Wahrheit, gehe fort.‘“6

    Bildlich, medial entspricht dieser Geste – außerhalb der Szene, in der sie sich abspielt und die Jean-Luc Nancy untersucht hat – am ehesten die sogenannte Rückenfigur.

    Sie hat eine lange Tradition in der europäischen Malerei.7  Am bekanntesten ist sie uns von den Bildern Caspar David Friedrichs. Die Rückenfigur in Friedrichs Werk ist die Figur des Erlebens dessen, was das Bild zeigt. Rückenfiguren erscheinen „allein, als symmetrische Paare oder in Gruppen“ und sind „die beinahe obsessiven Signaturen von Friedrichs Erlebniskunst“.8  Quelle und Ziel einer solchen Kunst ist „nicht etwa ein religiöses Dogma oder eine moralische Überzeugung“, sondern „eine Erfahrung“. Sie nimmt nicht Bezug auf eine „konstative Bedeutung, auch nicht Bedeutungsvielfalt“, sondern auf ein menschliches Subjekt und sein Erleben, seine Erfahrung.9

    Dabei lädt die Rückenfigur die Betrachtenden dazu ein, sich mit ihr zu identifizieren, verunmöglicht dies aber zugleich. Rückenfiguren sind Teil der Landschaft, die sie betrachten und bleiben ihr doch fremd. Sie blicken in eine Landschaft wie in eine Vergangenheit, die im Moment des Sehens zu einer Vision von etwas Zukünftigem wird. Rückenfiguren verwickeln uns in ihr Erlebnis des Sehens.

    „Die Rückenfigur intensiviert unser Gefühl für die Vorwärtsrichtung unsers Bilderlebnisses. Sie scheint unseren Blick in die Richtung ihres eigenen zu lenken, ein Blick, den wir in den Bereich des Anderen verlegen. Natürlich ist unser Erleben lediglich die Richtung, die unserer körperlichen Erfahrung entspricht: wir sehen von unserem Gesicht aus.“10

    Auf Caspar David Friedrichs berühmtem Gemälde „Das Kreuz im Gebirge“ von 1807/8 ist Christus als Rückenfigur dargestellt. Der gekreuzigte Christus kehrt uns den Rücken zu und blickt in eine Landschaft, die wir nicht sehen können.11

    Auf das Fortgehen als Auferstandener übertragen, verkörpert Christus die zentrale Signatur der Friedrich‘schen Rückenfiguren, den Wanderer.


  • LABORa – Andacht

    LABORa – Andacht

    Es lässt sich manches zur Rechtfertigung dieser Haltung sagen, ethisch: man will dem Schicksal nicht in die Räder greifen; innere Berufung und Kraft zum Handeln schöpft man erst aus dem eingetretenen Ernstfall; man ist nicht für alles Unrecht und Leiden in der Welt verantwortlich und will sich nicht zum Weltenrichter aufwerfen; psychologisch: der Mangel an Phantasie, an Sensitivität, an innerem Auf-dem-Sprunge-sein wird ausgeglichen durch eine solide Gelassenheit, ungestörte Arbeitskraft und große Leidensfähigkeit.

    Christlich gesehen, können freilich alle diese Rechtfertigungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hier entscheidend an der Weite des Herzens mangelt. Christus entzog sich solange dem Leiden, bis seine Stunde gekommen war: dann aber ging er ihm in Freiheit entgegen, ergriff es und überwand es. Christus – so sagt die Schrift – erfuhr alles Leiden aller Menschen an seinem Leibe als eigenes Leiden – ein unbegreiflich hoher Gedanke! –, er nahm es auf sich in Freiheit.Wir sind gewiss nicht Christus und nicht berufen, durch eigene Tat und eigenes Leiden die Welt zu erlösen, wir sollen uns nicht Unmögliches aufbürden und uns damit quälen, dass wir es nicht tragen können, wir sind nicht Herren, sondern Werkzeuge in der Hand des Herrn der Geschichte, wir können das Leiden anderer Menschen nur in ganz begrenztem Maße wirklich mitleiden.

    Wir sind nicht Christus, aber, wenn wir Christen sein wollen, so bedeutet das, dass wie an der Weite des Herzens Christi teilbekommen sollen in verantwortlicher Tat, die in Freiheit die Stunde ergreift und sich der Gefahr stellt, und in echtem Mitleiden, das nicht aus der Angst, sondern aus der befreiende und erlösenden Liebe Christi zu allen Leidenden quillt.

    Tatenloses Abwarten und stumpfes Zuschauen sind keine christlichen Haltungen. Den Christen rufen nicht erst die Erfahrungen am eigenen Leibe, sondern die Erfahrungen am Leibe der Brüder um derentwillen Christus gelitten hat, zur Tat und zum Mitleiden.

    (Dietrich Bonhoeffer, aus: Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943: Nach zehn Jahren, in: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft.)

  • Passio

    Der estnische Komponist Arvo Pärt hatte nach einem mehrjährigen Schweigen als Komponist seinen Stil der tintinnabuli (Glöckchen) erfunden. Als eines der Hauptwerke dieses Stiles gilt die Johannespassion.

    Sie wird im Allgemeinen nach dem ersten Wort ihres Textes schlicht „Passio“genannt: Passio Domini Nostri Jesu Christi secundum Joannem / Die Passion unseres Herrn Jesus Christus nach Johannes. Dieser erste Satz ist Teil der liturgischen Rahmung der eigentlichen Passion zu Beginn mit einem Exordium und am Schluss mit einer Conclusio (Qui passus es pro nobis, miserere nobis / Der du für uns gelitten hast, erbarme dich unser).

    Musikalisch orientiert sich Pärt an frühen Passionen, wie sie sich von intonierten liturgischen Lesungen ausgehend vom vierten Jahrhundert an ausdifferenziert haben.2  Das kompositorisch streng gearbeitete Werk basiert ausschließlich auf dem lateinischen Text des 18. und 19. Kapitels des Evangeliums nach Johannes (Joh 18, 1– 40; 19, 1– 30).

    Eine Grundkenntnis der Geschichte vorausgesetzt, orientiert Pärt durch die Verwendung des lateinischen Textes die Hörerinnen und Hörer seiner Passion auf etwas Anderes als auf das inhaltliche Verstehen. Damit verwandelt er den Text jedoch nicht in ein unverstehbares Geheimnis (arcanum). Im Gegenteil, Pärt orientiert das Hören auf ein Klangerlebnis, das über bloßes kognitives Verstehen deutlich hinausgeht3. Er öffnet das verstehende Hören selbst für die Ober- und Untertöne jenseits des Sinns.

    Diese Orientierung wird von Arvo Pärt in dreierlei Hinsicht entfaltet:

    Am auffälligsten ist die Aufteilung des Evangelisten Johannes auf acht Stimmen, vier Gesangsstimmen (Sopran, Alt, Tenor, Bass) und vier Instrumentalstimmen (Violine, Violoncello, Oboe, Fagott).

    Dann konzentriert Pärt die dramaturgische Situation auf die Zweierkonstellation Jesus – Pilatus und ordnet ihnen instrumental die Orgel zu.

    In der Folge überträgt Pärt alle weiteren dramatis personae wie Petrus, die Türhüterin, einen Diener des Hohepriesters, den Verwandten des Malchus, auf den Chorus (turba). Dadurch wird das Volk, die anwesenden Menschen, direkt in den Verrat verwickelt und noch schillernder, bedrohlicher unberechenbarer als ohnehin im Johannesevangelium.

    Auf diese Weise überträgt Arvo Pärt die musikalischen Prinzipien der Mehrstimmigkeit auf die Dramaturgie seiner Passio und den Umgang mit der gegebenen Gestalt des Textes. Mit dieser Praxis unterwandert Pärt die überlieferten einstimmigen Lektüreformen dieses Textes und stellt ihn in die Offenheit eines „singulär plural sein[s]“.

    Être singulier pluriel sind drei hintereinander aufgereihte Worte. Zwischen ihnen besteht keine „bestimmte Syntax“. „Être ist Verb oder Hauptwort, singulier und pluriel sind Hauptworte oder Adjektive“. Alle lassen sich in der französischen Sprache kombinieren. Dennoch sind sie von einer absoluten Gleichwertigkeit bestimmt. Ihre derart offene „Artikulation“ lässt sich „unmöglich wieder zu einer Identität verschließen“. Als offene Wortreihung findet sie eine entsprechende Übersetzung in die deutsche Sprache am ehesten in: „singulär plural sein“.4

    Diese offene Artikulation denkt das Sein als „Singular und Plural (bzw. […] singulär und plural) zugleich, ununterschiedener–  und unterschiedenermaßen“. Es denkt das Sein „auf singuläre Weise plural und auf plurale Weise singulär“. Damit ist keine „Prädikation des Seins“ gemeint, „als wäre es oder als habe es eine bestimmte Zahl an Attributen, und darunter jenes doppelte, kontradiktorische oder chiastische Attribut eines singulär-pluralen Seins“. Nein, es bildet „die Wesensverfasstheit des Seins“.5

    „Singulär plural Sein heißt: Das Wesen des Seins ist, und ist nur, als Mit–Wesen (coessence). Aber ein Mit–Wesen oder Mit–sein  –  das Sein–mit–mehreren  –  bezeichnet seinerseits das Wesen des Mit–, oder auch, oder vielmehr, das Mit– (das cum,) selbst in der Position oder Art des Wesens. Eine Mit–Wesentlichkeit kann in der Tat nicht in einer Ansammlung von Wesenheiten bestehen, in der das Wesen der Ansammlung noch zu bestimmen bliebe: Auf sie bezogen würden die versammelten Wesenheiten zu Akzidenzien. Mit–Wesentlichkeit bedeutet wesentliche Teilung der Wesentlichkeit, Teilung als Ansammlung, wenn man so will. Dies könnte man auch auf die folgende Weise ausdrücken: Wenn das Sein Mit–sein ist, dann ist im Mit–sein das ‚Mit‘ das, was das Sein ausmacht, es wird diesem nicht hinzugefügt.“6

    ***

    „Jeder Mensch hat seinen eigenen Weg und sein eigenes Verhältnis mit seinem Schöpfer. Es beruht auf seinen eigenen Erfahrungen. Ihren Schmerz kann man in den Werken der großen Künstler finden. Obwohl es nicht immer Schmerz sein muss. Es kann auch Licht sein.

    Schmerz ist die Abwesenheit von Liebe. Ganz gleich in welcher Richtung, ob die Liebe auf mich gerichtet ist, oder ob es meine eigene Liebe Ist. Dieser Schmerz ist in keiner Hinsicht derjenige, den man mit Depressionen verbindet. Depression ist eine Krankheit. Aber dieser Schmerz ist ein gesunder Schmerz. Er ermöglicht Gesundung.“ (Arvo Pärt)7

    ***

    Die Architektur der Berliner St. Matthäuskirche8  für eine Aufführung9  von Arvo Pärts Passio szenisch ernst zunehmen, bedeutet, diese Passion in einer Arena stattfinden zu lassen. So findet sich das Publikum in mitten einer klanglichen Bewegung wieder. Es muss den Klang des Chors, der von den Galerien herab singt, über sich ergehen lassen, während der Kreuzweg Jesu durch es hindurchführt.  Am Ende bleibt das Kreuz als Kreuzung zurück. Es verwandelt sich zu einem Ort des Übergangs, wenn das Publikum die Kirche wieder verlässt.

    ***

    P.S. Ich habe geträumt, dass im Moment des Blacks am Ende der Passion – es wird davor sehr hell geworden sein – sich direkt vor den acht Evangelisten, die spiegelbildlich vier zu vier im Altarraum angeordnet musiziert haben, die Krypta der Fundamente der Matthäuskirche, (die es nicht gibt,) sich öffnen wie eine archäologische Baustelle und dort die Spuren eines alten Heilbades sichtbar werden. Vom einstigen Wasser kann man nur noch Ablagerungen erkennen und einige verrostete Gegenstände. Ein Mann in einem langen Mantel erscheint. Mit einem Feuerzeug entzündet er eine Kerze und versucht ihre Flamme mit Hand und Mantel schützend durch das Becken zu tragen. Zweimal bläst der Wind sie aus. Jedes Mal von Neuem beginnend gelingt es ihm beim dritten Mal, die Kerze brennend durch das Becken zu bringen. Erschöpft bricht der Mann zusammen.


  • Was du hast ist, Atem zu holen

    Im Jahre 1977 wurde das Berliner Olympiastadion, zum Schauplatz eines legendären Ereignisses: Unter dem Titel „Winterreise. Textfragmente aus Hölderlins Roman ‚Hyperion oder der Eremit in Griechenland‘“1 besetzten es der Theaterregisseur Klaus-Michael Grüber und sein Ensemble der Berliner Schaubühne auf eine besondere Art und Weise und legten es in die Hände (oder besser: unter die Füße) der Wanderer, wie Hölderlin selber einer war, der Gefährdeten, am Abgrund Stehenden.

    Da fand sich die Ruine des Berliner Anhalterbahnhofs nachgebaut (Szenografie: Antonio Recalcati); ein Imbiss, an dem die Spieler wie Herumziehende sich etwas zu essen oder zu trinken holten, wenn sie nicht von Militärjeeps gejagt wurden, oder vom Wind über den Fußballrasen gewehte Textseiten aufsammelten, daraus vorlasen, selbst Fußball zu spielen oder in ihren Zelten Unterschupf suchten; es war sichtbar kalt; da war über den Zuschauerreihen ein Friedhof gebaut mit Grabkreuzen; auf der Laufbahn, der Stabhochsprunganlage und an anderen Orten trainierten Athleten; immer wieder sang eine einsame Frau, unter anderem ein Lied von Gustav Mahler, natürlich ohne Orchesterbegleitung…

    Und unter ihnen ein Fremder, ein Wanderer durch die Nacht, ein rotes Stirnband um den Kopf, im Anzug mit wärmenden Schichten darunter und Turnschuhen. Der sprach Hölderlin-Texte, die über die Stadionanlage hallten.

    Ich ziehe durch die Vergangenheit wie ein Ährenleser über die Stoppeläcker, wenn der Herr des Lands geerntet hat. Da liest man jeden Strohhalm auf. Wie ein heulender Nordwind fährt die Gegenwart über die Blüten unseres Geistes und versenkt sie im Entstehen.“2

    Wie manch anderer Ausschnitt erscheint der letzte Satz an der Anzeigetafel, wo sonst die Sportergebnisse aufleuchten; das olympische Feuer brennt, Fahnen von verschiedenen Ländern wehen im Wind, man hört die Schnüre an die Stangen schlagen; Militärjeeps mit aufgeblendeten Scheinwerfern stehen an der Aschenbahn; die weiße Fahne mit den olympischen Ringen wiegt sich vor dem dunkelblauen Abendhimmel; ein Startschuss fällt – er ist zugleich der Abschuss einer roten Leuchtkugel, die sich rauchend in die Lüfte erhebt – und ein Wettlauf der Clochards hat damit begonnen, auch Frauen mit langen Kleidern laufen mit, einer humpelt, Athleten der anderen Art, der Fremde unter ihnen…

    Der Wanderer spricht, ruft, laufend, agiert die Text Hölderlins, als hätte er sie im Moment ihres Aussprechens gerade erfunden. Alles kommt auf den „Augenblick des Sprechens“ an.

    Was an Hölderlins Theater, insbesondere in Bezug auf sein Trauerspiel „Der Tod des Empedokles“ – das Klaus Michael Grüber unter dem Titel „Empedokles. Hölderlin Lesen“ 1975 an der Schaubühne in Berlin inszeniert hatte – lediglich als Mangel bezeichnet wurde und wird3, erhält im Zusammenhang des „Postdramatischen Theaters“ seinen Sinn4:

    „Nicht die Zeitlinie der Handlung; nicht das Drama, sondern der Augenblick, wenn die menschliche Stimme sich erhebt. Ein Körper exponiert sich, leidet. Der Klagelaut, den er von sich gibt, pflanzt sich fort und trifft den Zuschauer als Klangwelle, tangential, mit köperloser Kraft. Furcht und Mitleid: mehr brauchen sie nicht. An Grübers Inszenierungen zählt der kostbare Augenblick, in dem der Körper, bedroht, in einem Raum der Szene zum Sprechen kommt. Es ist übrigens diese Konstellation, nicht die Narration (die dem Epos zukam), die auch das antike Theater entstehen ließ“.5

    Eben diesen Forschungsweg ist Hölderlin gegangen als er schreibend nach seinem eigenen Theater suchte und sich schließlich auf die Texte des antiken Theaters zurückgeworfen fand, insbesondere auf Sophokles und seine Version der Antigone und des Ödipus, die er übersetzt und kommentiert hat. Bei dieser schreibenden Theaterarbeit6  bildet sein eigenes Wandererleben, sein konkretes Ausgesetzt-Sein jedoch den Hintergrund. Man denke nur an die Schilderungen von Hölderlins Rückkehr aus Bordeaux, als die Wildheit des Erfahrenen ihm nicht nur ins Gesicht geschrieben stand und Schrecken erregte.7

    „Das Wesen des Tragischen beruht für Hölderlin auf dem absoluten Paradox der Theophanie. Die griechische Theophanie ist der Tod […]. Nicht ohne ein fernes Echo der lutherischen Interpretation der kenose wiederklingen zu lassen8, aber als heroischen Modus denkt Hölderlin die heilige hybris der Antigone – den ‚Antitheos‘, wie er ihn nennt – von der Gotteslästerung her.“9

    In Momenten des äußersten Leidens „vergisst der Mensch sich und den Gott und kehret, freilich heiligerweise, wie ein Verräther sich um. – in der äußersten Gränze des Leidens besthet nemlich nichts mehr, als die Bedingungen der Zeit oder des Raums. An dieser vergisst sich der Mensch, weil er ganz im Moment ist; der Gott, weil er nichts als Zeit ist; und beides ist untreu, die Zeit, weil sie in solchen Momenten sich kategorisch wendet, und Anfang und Ende sich in ihr schlechterdings nicht reimen lässt, und der Mensch, weil er in diesem Momente der kategorischen Umkehr folgen muss, hiermit im Folgenden schlechterdings nicht dem Anfänglichen gleichen kann“.10

    „D[ies]er Text Hölderlins ist auch [deswegen] schwierig, weil das, was er darlegt, in der Tat eine Theologie ist und weil diese Theologie ganz und gar einzigartig ist und in der Tradition kein Beispiel hat. Es handelt sich nicht um eine ‚negative Theologie‘ oder eine Theologie des deus absconditus; es ist auch nicht wie – auf unterschiedliche Art – bei Hegel und bei Nietzsche eine nachlutherianische Theologie vom Tod Gottes. Es ist eine ‚andere‘ Theologie. Gleich wohl handelt es sich nicht, wie man vorschnell glauben wollte, um eine völlig ‚bodenlose‘ Theologie, sondern um den Versuch einer Wiederherstellung oder der ‚Erfindung‘ der Theologie der Griechen, welche die Griechen selbst11 niemals als solche explizierten wollten, oder höchstens (gelegentlich) auf fragmentarische oder poetische Art.“12

    Wie schon beim Theater, so ist Hölderlin auch theologisch nicht nach rückwärts zu den Griechen gewandt, sondern nach vorwärts. Gilles Deleuze sieht genau an dieser Stelle Hölderlin als den einzigen, der den „Ausgang aus dem Kantianismus“ gefunden hat, im Unterschied zu Fichte und Hegel. Denn Hölderlin hat „die Leere der reinen Zeit und in dieser Leere die beständige Umkehr des Göttlichen, den fortgesetzten Riss im Ego und die konstitutive Leidenschaft des Ichs entdeckt“13.

    In seiner „Kritik der reinen Vernunft“ hatte sich Kant mit dem Cogito von Descartes auseinandergesetzt. Er hatte festgestellt, dass Descartes berühmtes Dictum cogito ergo sum „mit zwei logischen Werten arbeitet: der Bestimmung und der unbestimmten Existenz. Die Bestimmung (ich denke) impliziert eine unbestimmte Existenz (ich bin, da ich ja ‚sein muss, um denken zu können‘) – und bestimmt sie eben als Existenz eines denkenden Wesens: Ich denke, also bin ich, ich bin ein Ding, das denkt“.14

    In der Lektüre von Gilles Deleuze spitzt sich die Kritik Kants an Descartes auf den Einwand zu, „dass die Bestimmung unmöglich direkt auf das Unbestimmte bezogen werden könne“. „Die Bestimmung ‚ich denke‘ impliziert“ zwar „selbstverständlich etwas Unbestimmtes (‚ich bin‘)“, aber es sagt „uns nichts“ darüber aus, „wie diese Unbestimmte durch das ‚Ich denke‘ bestimmbar ist“15. Mit Kants Worten: „[I]m Bewusstsein meiner selbst beim bloßen Denken bin ich das Wesen selbst, von mir aber freilich noch nichts zum Denken gegeben ist.“16

    Diesem Einwand gegen Descartes entsprechend fügt nun Kant den o.g. zwei logischen Werten, der Bestimmung und dem Unbestimmten, einen dritten logischen Wert hinzu: „das Bestimmbare, oder eher die Form, in der das Unbestimmte (durch die Bestimmung) bestimmbar ist“.17

    Die Einführung dieses dritten logischen Wertes markiert in der Lektüre Kants durch Gille Deleuze nichts geringeres als „die Entdeckung der Differenz“, und zwar einer Differenz nicht mehr in einem empirischen Sinne „zwischen zwei Bestimmungen, sondern als transzendentaler Differenz zwischen DER Bestimmung und dem, was sie bestimmt – nicht mehr als äußerer Differenz, die trennt, sondern als innerer Differenz, die das Sein und das Denken a priori aufeinander bezieht.“18

    Lakonisch fasst Deleuze zusammen: „Kants Antwort ist berühmt: Die Form, in der die unbestimmte Existenz durch das Ich-denke bestimmbar ist, ist die Form der Zeit…“19. Die Konsequenzen dieses Gedankens sind „unabsehbar“. Mit diesem Gedanken „beginnt eine lange unerschöpfliche Geschichte: ICH ist ein anderer“. Das Ich als Ich-denke und Ich-bin erhält einen Riss, (so ist die Bezeichnung von Deleuze, Hölderlin nennt es Zäsur,20) einen Riss durch das Einfügen eines rezeptiven oder auch passiven Ichs, das dem dritten logischen Wert entspricht. Dieses Ich ist in dem Sinne rezeptiv oder passiv, als das es das Bestimmbare (s.o.) ist, also bestimmt wird und als solches in der Zeit erscheint.

    Die große philosophische Neuerung Kants ist demnach die „Einführung der Zeit in das Denken“21 und damit die Auflösung ihrer Unterordnung unter den Raum und die Bewegung, was ihr entweder die Form einer Linie oder die Form eines Kreises verleiht, – Hamlet nennt das the time is out of joint, die Zeit ist aus den Fugen oder aus den Angeln gehoben. Hölderlin sagt, sie reime sich nicht (s.o.).22

    Die theologische Implikation dieses Gedankenganges, welche den eigentlichen Bogen zu Hölderlins ‚anderer‘ Theologie schlägt, beginnt wiederum bei Descartes, der in seinem berühmten Satz: „Ich denke, also bin ich“ die Zeit einfach raus lässt bzw. sie als Augenblick denkt und Gott überlässt, der zum Garanten der Identität des Ichs wird.23

    Kant wird nach der Einführung der Zeit ins Ich feststellen, dass „das gleichzeitige Verschwinden der rationalen Theologie und der rationalen Psychologie, die Art [ist], wie der spekulative Tod Gottes eine Spaltung des Ego nach sich zieht“.24  Die Einführung „der Form der Zeit in das Denken als solches“ meint nun ihrerseits eine „reine und leere Form“, also „den toten Gott, das gespaltene Ego“ bzw. „das passive Ich“ (s.o.), den Riss.25

    Aber Kant selbst verfolgte diesen Gedanken nicht weiter und ersetzte den Riss durch eine neue Form der Identität (Deleuze nennt dies eine „praktische Wiederauferstehung“ Gottes), indem er das passive Ich ganz in seiner Rezeptivität belässt. Damit hält der die Identität und ihre Repräsentation aufrecht.26

    Deutet man die transzendentale Differenz aber dynamisch und erhält „die Form der Zeit, den toten Gott wie das gespaltene Ego“ offen, trifft man auf das Projekt Hölderlins, der darin „die Leere der reinen Zeit und in dieser Leere die beständige Umkehr des Göttlichen, den fortgesetzten Riss im Ego und die konstitutive Leidenschaft des Ichs entdeckt“27:

    In Momenten des äußersten Leidens „vergisst der Mensch sich und den Gott und kehret, freilich heiligerweise, wie ein Verräther sich um. – In der äußersten Gränze des Leidens besthet nemlich nichts mehr, als die Bedingungen der Zeit oder des Raums. An dieser vergisst sich der Mensch, weil er ganz im Moment ist; der Gott, weil er nichts als Zeit ist; und beides ist untreu, die Zeit, weil sie in solchen Momenten sich kategorisch wendet, und Anfang und Ende sich in ihr schlechterdings nicht reimen lässt, und der Mensch, weil er in diesem Momente der kategorischen Umkehr28 folgen muss, hiermit im Folgenden schlechterdings nicht dem Anfänglichen gleichen kann“.29

    Ob der Theaterregisseur Klaus-Michael Grüber seinen Abend „Empedokles – Hölderlin lesen“ auf zwei Bühnen, die im rechten Winkel zueinanderstanden (Bühnenbild Antonio Recalcati), simultan inszeniert hat, um dieser transzendentalen Differenz, die das Denken und das Sein a priori aufeinander bezieht, Ausdruck zu verleihen, ist fraglich. Dennoch hat er zeitgleich der Sprache Hölderlins auf der einen Bühne stumme Szenen auf der anderen Bühne gegenübergestellt.

    Auf der einen Bühne ein Styropor-Gebirge, was an die Eisschollen auf Caspar-David Friedrichs Gemälde „Das Wrack im Eis oder Die im Eismeer zerschellte ‚Hoffnung‘“ erinnert. Über die Proben wird von einem Theaterkritiker berichtet, sie seien von einer so „gesammelten Verfassung“ gewesen, wie er Theaterproben noch nie erlebt habe. „Stille. Meditationsstimmung – Gelassenheit, aus der die Konzentration komme, die einen der Schauspieler plötzlich sprechen lässt.“30  „Immer weniger, immer weniger“ sei ein häufig wiederholter Satz des Regisseurs gewesen.

    Empedokles, von seinem Bruder, dem Tyrannen aus der Stadt Agrigent verbannt, denkt über die Situation nach: „Mein königlicher Bruder. Ach, er wusst es nicht, / Der kluge, welchen Segen er bereitete, / Da er vom Menschenhände los, da er mich frei / Erklärte, frei, wie die Fittiche des Himmels.“31 Der Regisseur unterbricht. „Er spielt nicht, aber spricht vor, wobei der die Pausen mit erklärenden Worten füllt: ‚Vom Menschenhände los‘: das ist die ausgeflippte Dimension. Danach kommt Steigerung zu ‚frei‘, das ist noch Freiheit von…; dann die Erkenntnis, in der Steigerung durch bloße Wiederholung ‚frei, wie die Fittiche des Himmels‘; das ist: Freiheit zu etwas. Ungeheure Systematik ist in dem Satz. ‚Los‘. Was heißt das: Wirst du gleich abgeschossen wie ein toller Hund? Nein: ‚frei‘. Aber wer ist ‚frei‘, wer ist in Wahrheit ausgestoßen: ich oder er, der Bruder? Denn ich bin ‚frei‘, befreit zur Natur, zum Äther.“ Dann spricht der Spieler. „Er spricht nicht nach. In minutenlangen Pausen zwischen einzelnen Wörtern lernt er nicht der Text, den er längst auswendig kann, sondern erforscht eine Inszenierung deren Titelfigur er erst sein wird.“32

    In den Pausen wird oft eine Schallplatte gespielt. Svjatoslav Richter spielt Schuberts nachgelassene Klaviersonate No. 21.33  Ihr Beginn wird in der Aufführung zu hören sein. „Vergesst nicht: Wir spielen diese Musik nicht zur Einstimmung, sondern weil wir eine ähnliche Leichtigkeit suchen. Es ist kein Zufall, dass Schubert hier nicht mehr das ganze Klavier benutzt.“ Und dann kommt es, Grübers: „Immer weniger, immer weniger.“34

    Auf der anderen Bühne ist die zugige Halle eines alten Bahnhofs zu sehen. Es kommen „lauter Einsame, Fremde, mit Koffern.“ Kein Wort wird gesprochen. „Auf der Bank sitzt, barfuß, ein Bauer im dunklen Anzug, den Rucksack neben sich, den Koffer auf den Knien, isst Brot und Käse, trinkt Wein. Mit Maiglöckchen in Händen kommen zwei junge Frauen, in schwarzem Anzug und offenem Haar, in weißem Kleid und Trauerschleier über dem zum Kranz geflochtenen Haar. Sie gehen zur Personenwaage, vergleichen ihr Gewicht, setzen sich dann, weit voneinander weg. […] Eine ältere Frau in Trauerkleidung auf hohem Kothurn: sie zieht sich um, legt die dunklen Gewänder ab, holt aus dem Koffer die Kleider eines jungen Mannes, ein rotes Hemd – aus dem bis zur Premiere die Rote Fahne samt aufgenähtem Hammer und Sichel werden wird. Neben ihr eine junge Frau, die ihren Blumenstrauß nervös an die Gitter von Fahrkartenschaltern schlägt, hektisch mit einer Kette spielt.“35

    Immer wieder ermutigt der Regisseur zu diesem stummen Spiel: „Habt keine Angst“. „Lasst euch führen von den Blumen, von der Geste. Nicht darüber nachdenken. Das sind alles Sternschnuppen vom täglichen Leben. Jeder Halbsatz eine Katastrophe. Das ist Utopie, wie Hölderlin sie meint. Ganz offenbleiben, verletzbar, auch in der Einsamkeit. Nicht diese Pseudokommunikation. Wir haben nichts mehr. Es gibt nichts mehr hinter den Dingen. Kein Mysterium. Daher kommt eure Faszination. Ihr sei nicht mehr, als ihr seid: diese phantastische Oberfläche. Alles ist offen. Das ist Hölderlin. Nichts Geschlossenes.“36

    Zwei Stunden lang agieren die Spielerinnen und Spieler stumm. Dann sprechen sie die Verse, die Hölderlin für einen Schlusschor am Ende des ersten Aktes entworfen hat:

    „Neue Welt… / O wann / schon öffnet sich / die Flut über die Dürre…“ 37  


  • memorandum

    In den Archiven der kleinen Hafenstadt Cagliari Im Süden von Sardinien findet sich folgende Begebenheit überliefert:

    Eines Nachts Ende April oder Anfang Mai des Jahres 1720 hatte der sardische Vizekönig Saint Rémys, dessen Verantwortlichkeiten vom König sehr reduziert gehalten waren, einen bedrückenden Traum. Er sah sich selbst von der Pest infiziert und seinen kleinen Staat von ihr verwüstet. Der Plage fielen nicht nur große Teile der Gesellschaft zum Opfer, die öffentliche Ordnung geriet ins Wanken, die Moral zerfiel. Er hörte in sich die Stimmen von Gerüchten, Schreien und Schmerzen, musste seinem eigenen Verfall zusehen. Doch irgendwo wusste er noch im Traum, dass man an Träumen nicht stirbt. Er erwachte und beschloss, dem alphaften Wahn seines Traums vom vermaledeiten Virus aus dem Orient zu trotzen. Er würde sich als fähig erweisen, den Virus fernzuhalten.

    Einen Monat zuvor war in Beirut ein Schiff mit Namen Grand-Saint-Antoine in See gestochen. Dieses Schiff befindet sich nun gerade vor Cagliari und bittet um Einfahrt und das Recht, an Land zu gehen. Da gibt der Vizekönig einen Befehl, der von den ihn Umgebenden und vom Volk für völlig absurd, dumm und despotisch gehalten wird. Geradewegs entsendet er ein Boot mit dem Befehl für die Grand-Saint-Antoine, sofort zu kreuzen, volle Segel zu setzen und in See zu stechen. Sollte sie dem Befehl nicht nachkommen würde man das Schiff mit Kanonenbeschuss versenken.

    Der französische Theatermann Antonin Artaud, der diese Geschichte berichtet, kommentiert: „Man muss doch die besondere Kraft des Einflusses bemerken, den dieser Traum auf ihn [Saint Rémys] ausübte. Denn dieser Einfluss erlaubte es ihm, trotz des Sarkasmus der Menge und des Skeptizismus seiner Entourage, die Wildheit seiner Befehle durchzusetzen und sich damit nicht nur über die Rechte der Menschen, sondern ganz einfach über den Respekt vor dem menschlichen Leben und aller Art von nationalen und internationale Konventionen hinwegzusetzten.“1

    Ungefähr zwanzig Tage später trifft die Grand-Saint-Antoine ein im Hafen von Marseille, wo man ihr Landeerlaubnis gewährt. Der Zeitpunkt ihres Eintreffens fällt zusammen mit der größten Explosion der Pest, an die man sich in Marseille erinnern kann. Doch in den Aufzeichnungen ihrer Verkehrsbehörden finden die Pesterkrankten der Grand- Saint- Antoine und ihr Schicksal keine Erwähnung, obwohl man der Pest von 1720 die einzigen klinisch verwertbaren Aufzeichnungen der Plage in Marseille verdankt. Einige Matrosen der Besatzung des Schiffes haben überlebt und heuerten später anderswo an. Aber die Grand-Saint-Antoine hatte die Pest nicht nach Marseille gebracht. Sie war bereits da und gerade in starkem Ansteigen begriffen, wenngleich man sie in den Häuser lokalisiert hatte. Die Pest, von der die Besatzung befallen war, war allerdings die orientalische Pest, der ursprüngliche Virus, dessen Ausbreitung in der Stadt besonderes Grauen verbreitete.

    Artaud fügt hinzu, dass diese orientalische Pest allein in der Lage war, Verwüstungen ohnegleichen anzurichten, immerhin war die gesamte Besatzung befallen, außer dem Kapitän. Dennoch können diese neu nach Marseille gekommenen Erkrankten nicht direkt zur Ausbreitung der Epidemie beigetragen habe, denn sie hatten keinen Kontakt mit den anderen Bewohnern der Stadt, die Viertel waren abgeriegelt. Die Grand-Saint-Antoine hatte die Pest auch nicht in Cagliari auf Sardinien abgeladen, wo sie nur in Rufweite vorbeikam, „aber der Vize-König hatte im Traum bestimmte Emanationen empfangen, denn man kann nicht verneinen, dass sich zwischen der Pest und ihm eine ausgeglichene wenn auch subtile Kommunikation hergestellt hatte und es ist zu einfach, die Kommunikation über eine derartige Krankheit einer Übertragung durch einfachen Kontakt zu bezichtigen. Das Verhältnis zwischen Saint Rémys und der Pest war zwar stark genug, um sich in Bildern seines Traums frei zu entladen, doch stark genug, um in ihm als Krankheit zu erscheinen, war es nicht.

    Wie dem auch sein, als der Stadt Cagliari kurze Zeit später zu Ohren kam, dass das von ihren Küsten durch den despotischen Willen des wundersam hellsichtigen Prinzen verjagte Schiff, Ursache der großen Epidemie in Marseille gewesen sei, hat sie die Fakten in ihren Archiven gesammelt, wo sie jeder wiederfinden kann.“2

    Mit dieser Erzählung beginnt der in Marseille geborene Artaud seine Beschreibung der Pest als eine Allegorie des Theaters von 1933/34.3  Wir wollen diesem Text hier nicht weiter folgen, sondern einer seiner Wirkungen: Anfang der 1980er Jahre erhielt der junge Kunsthistoriker und Philosoph, Georges Didi-Huberman als Dramaturg den Auftrag, eine Materialsammlung zum Thema Pest für eine Theaterproduktion in Straßburg zu erstellen, die bei ihrer Aufführung 1983 den Titel Dernières Nouvelles de la Pest / „Letzte Neuigkeiten von der Pest“ getragen haben wird.4

    Während der Proben entstand die Idee, ein Buch zu machen, das nichts Anderes zum Ziel hat, als „die Bruchstücke der Erinnerung zusammenzutragen, die sensibel dazu wären, die Barriere des Vergessens zu überschreiten: Das Vergessen der Pest. Aber im Überschreiten der Barriere des Vergessens sollte nichts Problematisierendes liegen, denn schließlich liegt die Pest doch weit hinter uns (…?). Eher sollte das zu Vorschein kommen, was bis heute in uns bleibt von diesem Schrecken, den die Pest erzeugt hat, die Vorstellungswelt, die sie zum Teil geschaffen hat und deren Träger wir sind: Das Gefühl des Schlimmsten. Welche Wege sucht sich dieses Gefühl? Durch welche Formen? Welche Visionen? Wie kann man sich dagegen verteidigen?“5

    Für die Auswahl, Zusammenstellung und Kommentierung des gesammelten Materials für ein Buch zog sich Didi-Huberman von den Proben zurück. „Ich erinnere mich, dass dieses kleine Buch fieberhaft in weniger als 15 Nächten in den leeren Sälen eines großen Theaters geschrieben wurde. […] Ich isolierte mich vom Theater im Theater. Ich mochte es, dass die Bühne entvölkert war. Und dennoch liebte ich, und wie sehr, die Schauspielerinnen und Schauspieler. Für sie wurde dieser Text geschrieben. Jeden Morgen habe ich ihnen Teile davon laut vorgelesen, ohne zu wissen, wozu das nützlich sein sollte.“6

    Neben vielen klassischen Autoren mit Pest-Erfahrungen unterschiedlicher Art und Intensität wie Lukrez, Thukydides, Boccaccio, historischen Dokumenten, medizinischen Analysen u.v.a.m., sind es vor allem zwei Autoren, die für das „Memorandum der Pest“ von gestaltgebender Bedeutung sind: Daniel Defoe und Antonin Artaud.

    Dabei war Defoe mit seinem Journal de l’année de la peste für Didi-Huberman ein „traumhafter Anführer (guide)“7. Defoe war „ein Mann der Aufklärung in finstersten Zeiten“. Als solcher „will er zu allem eine kritische Distanz wahren. Er ist nicht kontaminiert. Also kann er ironisch sein“, ohne an die Vorstellungskraft (fiction) zu appellieren.

    Das aber will Antonin Artaud. Mit seiner „Sprache der Qual“ (Heiner Müller) will er sich auf der „Höhe des Desasters halten, von dem er erzählt“8. „Artaud liebt die Pest“9 und wahrscheinlich kann er das nur deshalb, weil er selbst nicht von der Epidemie bedroht war. Sein Stil ist ein Stil des „Abgrunds“.

    Damit interessiert sich Artaud vor allem für das, was Aby Warburg die monstra nannte, nämlich „die Bestialität, das Animalische, die physische Brutalität“ einer Epidemie, die „direkt auf das unbewusste Gedächtnis (mémoire)“10 einwirkt und damit im „Akt der Imagination“ seinen Ausdruck sucht. Imaginieren in diesem Sinne „ist kein Luxus, noch weniger ein Trost. Es ist ein psychisches Schicksal, in das das Schlimmste (le pire) eingeschrieben ist“, eine „Plage des Seins“11. Ein „ansteckender Ausbruch der Bilder“12  lässt „die Sprache verrückt“ werden, „die Logik zusammenbrechen“ und erzeugt eine „Epidemie der Worte“13.

    Gegen diese „generelle Paranoia“ kämpft Daniel Defoe entschieden an mit Ironie und „beschreibender Genauigkeit“. Seine Worte sind nicht „verängstigt von sozialer Verrücktheit“, seine Gedanken nicht „versteinert von intimer Angst“. „Daniel Defoe verlässt die monstra, deren lebendiger Zeuge er war, und sucht so die astra der freien Ausübung der Vernunft (raison).“14

    Für Georges Didi-Huberman repräsentieren Defoe und Artaud „ohne Zweifel zwei symmetrische Arten des Kämpfens mit Worten gegen die Tyrannei der Worte – also der Gesetze, also der Akte – die eine betroffene, verarmte, depressive Gesellschaft in eine totalitäre, triumphalistische und manische (das existiert noch in unseren Tagen) Gesellschaft transformiert.

    Der Stil Dafoe ist derjenige der Aufklärung; er hilft uns, zu verstehen und uns frei zu machen. Der Stil Artaud ist derjenige des Abgrundes; er verpflichtet uns, zu verstehen, dass wir betroffen, also verwickelt sind in die Zeit, den Raum und die Materie, in die Verrücktheit (folie) einer großen Krankheit des Seins.“15

    Symmetrisch bedeutet hier so viel wie, dass wir immer zugleich eingetaucht sind in etwas und trotz allem (malgré tout) einen Willen behaupten müssen, einen Ausweg daraus zu finden.


  • Sie denken uns

    Seit den Anfängen Europas erzählt man sich die Geschichte von einer Gruppe von Frauen aus dem mittleren Osten. Sie tauchen an der Grenze von Argos in Griechenland auf und bitten um Schutz. Man heißt sie willkommen nach dem Gesetz der Gastfreundschaft. Doch schon bald entspinnt sich ein Konflikt um den Empfang der Fremden.

    Die Rede ist von der wahrscheinlich ältesten erhaltenen griechischen Tragödie: Die Schutzflehenden von Aischylos. Darin fliehen die fünfzig Töchter des Danaos aus Ägypten. Sie sollen dort ihre eigenen Vettern, die Söhne des Aigyptos, heiraten, was sie vehement ablehnen. Unter Verfolgung ihrer Freier gelangen sie nach Argos, der Heimat ihres Geschlechtes. Dort bitten sie den König Pelasgos um Aufnahme und flehen um seinen Schutz. Die fünfzig jungen Frauen haben eine dunkle Hautfarbe, sind in weiße Gewänder gehüllt und tragen Kopftücher.

    Den Metamorphosen des Ovid folgend, ist Danaos der Urenkel des Epaphos, der seinerseits aus der Verbindung von Zeus mit Io hervorging und nach Aischylos dunkelhäutig war.
    Mit der Aufnahme der fünfzig Frauen gerät Pelasgos von Argos in einen moralisch-politischen Konflikt. Nach seinem Gewissen und dem Willen der Götter, muss er den Frauen nicht zuletzt wegen ihrer argeischen Abstammung Schutz und Aufenthalt gewähren. Politisch hingegen riskiert er einen Krieg mit dem Heimatland ihrer Verfolger, Ägypten. Der Schutz des Eigenen gerät in Widerstreit mit der Verpflichtung, anderen zu helfen.

    In den Augen der griechischen Dichterin Niki Giannari verfolgen die Schutzflehenden dieser Urszene die europäische Geschichte wie Gespenster. Sie erkennt sie nicht nur in den Geflüchteten aus dem syrischen und afghanischen Krieg im griechischen Flüchtlingslager auf Idomeni, nein: Des spectres hantent l’Europe/ „Gespenster gehen um in Europa“. So nennt sie ihr Gedicht, das der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman kommentiert.1

    Hubermann sieht im Aufeinandertreffen der Gespenster und dem Stacheldraht der Grenzbefestigungen den Entstehungsmoment eines politischen Materials, das als Frage auf die Geschichte Europas einwirkt. Und diese Frage ist direkt an den europäischen Gründungsmythos gebunden, wie ihn die Schutzflehenden erzählen. Man könne den Titel der Tragödie des Aischylos auch mit „Die Exilierten“ oder „Die Geflüchteten“ übersetzen.2

    Die Frage der Gastfreundschaft ist die politische Grundfrage, der politische Grundkonflikt Europas. Diese Frage ist von beunruhigender Fremdheit. Und sie ist eben deshalb beunruhigend, weil sie uns allzu vertraut ist. Das Beunruhigende des Fremden besteht vor allem darin, dass es uns als Zeichen eines „ehemals Heimisch[en], Altvertraut[en]“3  entgegentritt, wie Freud es beschreibt.

    „Die Gespenster Europas sind also nicht genau diejenigen ‚säkularen oder heiligen‘ Leute, die in Plastikhüllen gekleidet die Grenze in Idomeni und anderen Orts zu überwinden versuchen: Es sind die Fragen, die sie an unsere Gegenwart stellen, an unsere eigenen Wünsche und an unser politisches Gedächtnis. Sie erscheinen als Gespenster, weil sie in uns den Abgrund des ehemals Heimischen, Altvertrauten aufsteigen lassen. Man kann also gut sagen, dass es Fragen sind, die ‚umgehen in Europa‘; Fragen der Zeit und konsequenterweise Fragen nach dem Sein und der Existenz. Wie kann es uns also erstaunen, dass unsere Fragen, unsere tiefsten und intimsten Fragen, uns so oft von Fremden gestellt werden. Ist es nicht in Gestalt des Fremden, in der zumindest in Europa, in der Geschichte des philosophischen Denkens, begonnen wurde, Fragen zu stellen? Kann man es nicht in den Dialogen des Plato nachlesen?“4

    In seinem Text über die Gastfreundschaft hatte der französische Philosoph Jacques Derrida diese Frage wieder aufgegriffen und auf die Andersartigkeit des Gesetzes der Gastfreundschaft im Verhältnis zu anderen Gesetzen verwiesen. Er hatte die reine Gastfreundschaft als ein Gesetz außerhalb der Gesetze bestimmt, als ein nomos anomos, das sich in Gestalt des Fremden als konkrete Frage uns stellt.5

    Sie sind da.
    Und sie empfangen uns
    Großzügig
    in ihren flüchtigen Blicken,
    uns, die Vergesslichen und Blinden.

    Sie gehen vorüber und sie denken uns.
    (Niki Giannari)

    In einem persönlichen, autobiographischen Zusammenhang schreibt Georges Didi-Huberman diese Überlegungen zu einer „Kritik der Wurzel (racine)“ fort: „…mit Misstrauen betrachte ich eine gewisse Art „radikalen“ zeitgenössischen Denkens, das aus jedem Problem ein Problem „über die Wurzel“ macht. Die offensichtliche Illustration dieses Denkens – oder vielmehr eine ihrer fundamentalen Quellen – besteht in der Art und Weise, in der Heidegger alle Dinge „radikal“ denken wollte, das heißt „an der Wurzel“. Das führt zu einer derartigen Wertschätzung der Wurzel, dass die „entwurzelten“ aller Art – die Obdachlosen, das Lumpenproletariat, die Zigeuner, die Juden, die internationalistischen Bolschewiken, etc. – für ihn nur noch ein nihilistisches Amalgam gefährlicher Bevölkerungsgruppen ohne Tradition, ohne Fundament und also ohne Verankerung in der „Wahrheit des Seins“ bilden.

    Man weiss, dass Walter Benjamin in der gleichen Zeit wie Heidegger ein gänzlich anderes Model des Ursprungs und somit der Wahrheit als solcher vorgeschlagen hat: Nicht die Wurzel, sondern den Strudel (tourbillon). Also nicht die stabile Dauerhaftigkeit einer Sache, die fest in die Erde gepflanzt ist, sondern die instabile Wiederkehr eines Prozesses, der den Lauf der Dinge bestimmt. Nicht die Wahrheit als Fundament, sondern die Wahrheit als Bewegung, als dauerhaftes Exil […] als Wanderung in der Wüste.“6

    Didi-Huberman entwickelte dieses Idee auf dem amerikanischen Kontinent weiter, genauer in Kanada, wo er eine andere Situation beobachtete als im alten Europa mit seinen wurzelhaften Nationalismen.  Auf dem anderen Kontinent „haben Reise und Landschaft, Horizont und Wurzel nicht dieselbe Bedeutung: die historischen ‚Migranten‘ sind dort eher die Kolonisatoren und die ‚Lumpenproletarier‘ sind eher die Indianer, die man plötzlich die Autochtonen nennt“. In diesem Zusammenhang ergibt sich eine völlig neue Komplexität für das Begriffspaar Wurzel/Strudel.7

    Die Aktivität des Weggehens (partir), dessen tragische Variante uns in Gestalt der auf den Straßen umherziehenden Migranten und Exilierten vor Augen steht, hat ihr Gegenbild im „bevorzugten Zeitvertreib der Touristen“. „Sie lieben es ans Ende der Welt zu reisen (partir) und, die Nase in der Luft, alles Mögliche anzusehen, den Turm von Pisa, das Empire State Building, die Pyramide von Gizeh. Und sie tun das alles um schöne ‚Erinnerungen‘“ zu sammeln.“8

    Wenn man hingegen aufbricht (partir) und eher den Boden, die Erde, betrachtet, praktiziert man etwas Anderes. „Den Boden zu betrachten, bedeutet, als Archäologe zu handeln: man beugt sich über den Raum, um die Arbeit der Zeit zu denken“.9  Dann ist man Erinnerungen ganz anderer Art auf der Spur wie sie Georges Didi-Huberman ins Warschauer Getto oder nach Auschwitz dem Schicksal seiner Familie während des Zweiten Weltkrieges folgend führten.

    Sie gehen vorüber und sie denken uns.

    Die Toten, die wir vergessen haben,
    die Engagements, die wir eingegangen sind und die Versprechen,
    die Ideen, die wir liebten,
    die Revolutionen, die wir gemacht haben,
    die Sakramente, die wir verneint haben,
    alles ist mit ihnen zurückgekommen.
    Wohin du auch siehst in den Straßen
    oder den Avenues des Okzidents,
    sie gehen: diese heilige Prozession
    sieht uns an und durchquert uns.

    Jetzt Stille.
    Alles hält an.

    Sie ziehen vorüber.
    (Niki Giannari)


  • Hände

    Der Film „Bildbuch“ des schweizer-französischen Filmregisseurs Jean-Luc Godard aus dem vergangenen Jahr hat eine gerade für seine deutschen Zuschauer auffällige Besonderheit. Godard spricht selbst Texte, was er seit Jahren tut, aber hier spricht er sie zum ersten Mal selbst auf Deutsch!

    Und so beginnt der Film, wie auch der Trailer, (dem noch vorgeschaltet ist, dass er ein Versuch auf Deutsch sei,) mit einem grundlegenden Satz: „Da sind die fünf Finger, die fünf Seher, die fünf Erdenteile, ja, die fünf Feenfinger. Aber alle zusammen formen die Hand. Mit den Händen zu denken, ist die wahre Bestimmung des Menschen.“1

    Dazu sehen wir eine Filmsequenz, auf der zwei Hände an einem Schneidetisch Filmmaterial bearbeiten. Dann sehen wir zwei Hände schreiben. Im nächsten Bild sehen wir die Hand einer Skulptur von Alberto Giacometti aus Metall als stehendes Bild. Dann sehen wir ein stehendes Filmbild, auf dem eine Hand etwas vom Boden aufhebt. Schließlich sehen wir ein weiteres stehendes Bild, auf dem eine dunklere Hand direkt am Armansatz einer hellen Hand der dazu gehörigen Person den Puls fühlt.

    In Godards Filmen spielen Hände eine auffällige Rolle. Godard filmt Hände. Hände von Männern und Frauen, erkennbar unterschiedlich. Hände, die sich vor blauem Himmel suchen. Hände, die sich berühren. Hände, die um Hilfe greifen. Hände, die einen anderen Körper ertasten. Gelegentlich sind es Godards eigene Hände, die lesen, mit einem Stift oder auf einer Schreibmaschine schreiben. Manchmal filmt Godard auch gemalte Hände, wie die nach oben weisende Hand Johannes des Täufers von Leonardo da Vinci.

    Im Unterschied zum Trailer beginnt der Film „Bildbuch“ mit diesem Bild. Dem folgt die Bildsequenz des Trailers auch am Beginn des Films selbst, doch etwas versetzt und verändert. Zu Beginn ohne Ton das Bild von Leonardo in Schwarzweiß. Dann in zwei Teile geteilt folgender Text in weißer Schrift auf schwarzem Grund (auch in der deutschen Fassung in französischer Sprache mit Untertiteln): „Die Herrscher der Welt sollten Bécassine2  fürchten, denn sie ist verschwiegen.“ Darauf folgen einige Sekunden Schwarz und erst darauf die farbigen Hände über dem Schneidetisch. Der gesprochene Text wird hier bis auf den letzten Satz zu dieser Filmszene gesprochen. Der letzte Satz folgt zur Bildsequenz der schreibenden Hände. Es folgen einige Sekunden schwarz. Dann erscheint die Hand der Skulptur, dazu erscheint in Großbuchstaben das Wort: l’image (das Bild), es beginnt Klaviermusik mit Streichern. Das Bild wechselt auf das stehende Bild der Hand, die etwas vom Boden aufhebt, und hinzu kommt ebenfalls in Großbuchstaben das Wort: viendra (wird kommen). Die Musik läuft weiter. Das Bild wechselt auf das stehende Bild der Pulsfühlung. Dazu erscheint in anderer Typografie aber ebenfalls in Großbuchstaben: Oh! Temps (Oh! Zeit). Das Bild steht einige Sekunden, dann geht die Schrift weg, die Musik geht langsam aus.

    Im Vergleich zum Trailer der deutschen Fassung, der sich ganz auf die Sätze über die Hand konzentriert, ändert sich zu Beginn des Films nicht nur der rhythmische Zusammenhang zwischen gezeigtem Bild und gesprochenen Wort, es kommen Musik und weitere eingeblendete Worte hinzu. Da ist zuerst der über die Verschwiegenheit der Bécassine, die die Herrscher fürchten sollten. Und dann ein weiterer Text: Das Bild wir kommen, oh! Zeit.

    Dieser Satz ist eine gekürzte und leicht veränderte Variation eines anderen Satzes, der bei Godard vor allem in den Histoire(s) du cinéma (1989-1998)3  vorkommt und den er direkt auf Paulus bezieht: L’image viendra au temps de la résurrection. Das Bild wird zur Zeit der Auferstehung kommen. ‚Zur Zeit der Auferstehung‘ wird hier ersetzt durch den Anruf, Aufruf, Klage (?): ‚Oh! Zeit‘.

    In einem Gespräch kommt Godard auf diesen Satz zurück: „Warum die Kirche? Das kommt vom Kino: Das Kino (cinéma) ist westlich, die Idee der Kunst ist westlich, die Idee des Bildes auch. Und das ist hauptsächlich über (à travers) die Kirche gekommen. Lange Zeit habe ich versucht zu verstehen, was dieser Satz des heiligen Paulus sagen will: ‚L’image viendra au temps de la résurrection‘ (Das Bild wird zur Zeit der Auferstehung kommen). Also wirklich, das, was der heilige Paulus unter Bild versteht, ist nicht dasselbe wie das, was Anne Sinclair4 darunter versteht, wenn sie 7/75 macht.“6

    Auf diese kulturkritische Bemerkung kommt Godard in „Bildbuch“ direkt zurück, wenn er dem geschilderten letzten stehenden Bild der Pulsfühlung in anderer Typografie aber ebenfalls in Großbuchstaben: Oh! Temps (Oh! Zeit) hinzufügt. Dieses Bild steht einige Sekunden, dann geht die Schrift weg, die Musik langsam aus – scharf, ohne Übergang wird auf das Gesicht einer Frau geschnitten, deren, vom Zuschauenden aus gesehen rechtes Auge von einer Hand aufgehalten wird und ein Seziermesser auf das Auge zugeführt wird. Erneut Schnitt.

    Diese bei Godard mehrfach zitierte Szene aus dem surrealistischen Film „Ein andalusischer Hund“ von Luis Bunuel und Salvador Dali (1929) wird kurz angedeutet und entfaltet bei größter optischer Zurückhaltung dennoch ihren körperlichen Schrecken. Dem wird lediglich eine Richtung gegeben durch den zuletzt eingeblendeten Schriftzug: Archive und Moral. Erst jetzt ist die Eingangssequenz des Films abgeschlossen und „Bildbuch“ beginnt. Man wird anders sehen lernen müssen, wenn das Bild kommen wird, Oh! Zeit.

    Auf diese bildlich wie textlich scharfe kulturkritische Bemerkung Godards werden wir zurückkommen, wenn es um das Verhältnis von Hand und Auf(er)stehung geht. Die verbindende Spur zwischen beiden – Hand und Auferstehung – führt uns zunächst auf einen anderen Weg.

    In seinem Buch „Noli me tangere“ schreibt der französische Philosoph Jean-Luc Nancy Händen im Zusammenhang der Auferstehung und ihrer Praxis eine besondere Bedeutung zu und widmet ihr ein Kapitel.

    „Auf den meisten seiner Darstellungen in der Malerei gibt Noli me tangere einem bemerkenswerten Spiel der Hände statt: Nähe und Bezeichnung des anderen, eine Arabeske langer, schmaler Finger, Gebet und Segen, Skizzierung einer leichten Berührung, eines flüchtigen Streifens, Anzeichen von Vorsicht oder Warnung. Stets zeichnen diese Hände ein Versprechen nach oder ein Begehren, sich zu halten oder sich festzuhalten, sich gegenseitig zu fassen.“7

    Und natürlich gehören die Hände zu Körpern, zu Personen. In der Szene des Noli me tangere sind sie „Zeichen und Anzeichen der Intrige einer Ankunft (von Maria Magdalena) und eines Fortgangs (von Jesus); Hände, die bereit sind, sich zu verbinden, die jedoch bereits getrennt und entfernt sind, ebenso wie der Schatten und das Licht. Hände, die mit Begehren vermischte Grüße austauschen, Hände, die auf Körper zeigen und gen Himmel weisen.“8

    Nancy beschreibt die verschiedenen Konstellationen der Hände, ihre möglichen und unmöglichen Berührungen vor der konkreten Szene des Noli me tangere und auch danach. Die malerische Phantasie ist vieldeutig in ihren Andeutungen. In ihnen wird die Praxis der Hände zu einer Praxis der Körper in der Perspektive der Auferstehung und lässt sich „als singuläre Kombination von Distanzierung und Zärtlichkeit, von Segen und Liebkosung verstehen“9. Hierbei verleiht die lateinischen Fassung des nolo als „verneinte Form“ von volo10  eine eigenartigen twist:

    „Möchte nicht, denk nicht daran. Tue es nicht nur nicht, sondern, auch wenn du es tust (und vielleicht tut es Maria Magdalena, vielleicht liegt ihre Hand bereits auf der Hand dessen, den sie liebt, oder auf seiner Kleidung, oder auf der Haut seines nackten Körpers), vergiss es sofort. Du hältst nichts, du kannst nichts halten noch festhalten, und dies ist, was du lieben und wissen musst. Eben dies ist ein Wissen aus Liebe. Liebe, was dir entkommt, liebe den, der fortgeht. Liebe, dass er fortgeht.“11

    In einem Gespräch12  über seinen Film „Bildbuch“ kommt Godard auch auf die Hände der Eingangsszene zu sprechen. In Bezug auf die erhobene nach oben weisende Hand Leonardos ganz zu Beginn des Films sagt er, dass es sich dabei auch um die Hand handle, die erspürt, aus welcher Richtung der Wind kommt.

    Mit der erhobenen Hand konkretisiert sich der kulturkritische Aspekt der denkerischen Praxis der Hände, die das „Bildbuch“ durchzieht: Hände als Zeichen des Auf(er)stehens, als Geste des Aufstandes.

    Der französische Kunstwissenschaftler und Philosoph hat ihnen eine ganze Ausstellung gewidmet. Noch vor jeder konkreten Aktion ist das Erheben der Arme und Hände eine aus der Tiefe des Körpers kommende Geste. Sie wirft zunächst einfach eine Last von sich, die nicht mehr ertragen werden will. Diese einfache Geste bricht mit der Gegenwart.  Zugleich streckt sie „die Arme einer Zukunft entgegen, die sich öffnet“13. Erhobene Hände erspüren das Kommende.


  • Körperwerden

    There ist nothing in heaven as the suffering of the humans lives (Patti Smith)

    Glaubt man dem Bildgedächtnis der Christenheit, ist Körperwerden die Hölle. Ihre grundlegende Praxis besteht in einer verworrenen Kombination von Lust und Strafe. Sie verherrlicht dabei eine einzige körperliche Praxis, die Qual.

    Wie sehr und auf welche Weisen dies geschieht und kulturprägend wirkt, lässt sich exemplarisch in Dantes „Göttlicher Komödie“ nachlesen und auf den Bildern eines Hieronymus Bosch ansehen, sobald man beide als „Dichter [bzw. Maler] der irdischen Welt“ (Erich Auerbach) betrachtet.

    Zielsicher in seinem blasphemischen Furor hat der französische Theatermann Antonin Artaud den Grund für dieses Körperwerden als höllische Praxis in einer wahnhaft ausgeprägten Vorstellung des Gottesgerichtes ausgemacht. Folgerichtig trägt eine seiner letzten Schriften den Titel: „Schluss mit dem Gottesgericht“1.

    Früh war Artaud – darin Aby Warburg ähnlich – zu Menschen in Weltgegenden gereist, die außerhalb des Bannstrahles dieses Gerichts lebten. Auf der Suche nach einem anderen Menschenbild machte Artaud bei mexikanischen Indianern Erfahrungen, die den Gedanken des Gottesgerichts im Körper selbst festmachten und dort zu überwinden trachteten.

    In der europäischen, also christlich – mit Artaud gottesgerichtlich – geprägten Anthropologie gehört der Körper „der Dimension des Angeborenen oder des Spontanen (der ‚Natur‘) an“. Als solcher ist der Körper das Resultat einer „‘konventionalisierenden‘ Operation der Symbolisierung“.2

    Das Gegenstück des Körpers ist hier die Seele. Sie gehört einer „konstruierten Dimension“ an, insofern sie „die Frucht einer ‚differenzierenden‘ Operation der Symbolisierung“ ist. Die Symbolisierungen der Seele spezifizieren und konkretisieren die konventionelle Welt der Körper, „indem sie radikale Unterscheidungen vornimmt und ihre Individualitäten umreißt“.3

    Man kann diese grundlegende europäische Praxis als ein „Seelenmachen“ bezeichnen und als ein „Differenzieren von Kulturen“ beschreiben, das „von einem gegebenen körperlich-materiellen Grund (der Natur) ausgeht“.4

    In großem Unterschied dazu wird in den indigenen Welten „die Seele ‚als eine Manifestation der allen Dingen implizierten konventionellen Ordnung erfahren‘. Hier ist es die Seele, die die „‚Art und Weisen‘“ zusammenfasst, „‘auf die ihr Besitzer anderen [Dingen] ähnlich ist, und zwar noch vor den Arten und Weisen, auf die er sich von ihnen unterscheidet‘“.5

    In der Folge gehört der Körper „zur Sphäre dessen, was in der Verantwortung der Akteure liegt; er ist eine der fundamentalen Figuren, die es gegen den angeborenen und universellen Grund einer ‚immanenten Menschlichkeit‘ zu konstruieren gilt.“6

    So kann man die grundlegende indigene Praxis als ein „Körpermachen“ bezeichnen und als ein „Differenzieren von Spezies“ beschreiben, das von „einem ‚von jeher‘ gegebenen sozio-spirituellen Kontinuum“ ausgeht.7
    Derartige Erfahrungen des Körpermachens nimmt Antonin Artaud von seinem Aufenthalt bei den mexikanischen Tarahumara mit und in seiner Schrift „Schluss mit dem Gottesgericht“ auf.  Artaud „beginnt damit, den krebsbefallenen Körper Amerikas zu verfluchen, den Körper des Krieges und des Geldes“8, schließlich erklärt er „den Organen den Krieg“ und fordert einen „Körper ohne Organe“, einen organlosen Körper.

    Was meint Artaud mit diesem monströsen Bild des organlosen Körpers? Gilles Deleuze und Félix Guattari greifen das Bild auf:  Der organlose Körper ist „keineswegs das Gegenteil der Organe“, sie „sind nicht seine Feinde“. „Der Feind ist der Organismus. Der organlose Körper widersetzt sich nicht den Organen, sondern jener Organisation der Organe, die man Organismus nennt.“ Der Organismus, also die „Organisation von Organen, die man deshalb Organismus nennt“ ist „ja bereits dieses Gottesgericht“, „das System des Gottesgerichtes, das theologische System“, „die Vorgehensweise Dessen, der einen Organismus schafft“, einen Macht- bzw. einen Unterwerfungsapparat.9

    „Dieser Organismus ist keineswegs der Körper, der organlose Körper“.10  Der organlose Körper „ist im Gange, sobald der Körper genug [hat] von den Organen und sie loswerden will oder gar verliert“.11  Vor allem ist er [der organlose Körper] kein Begriff oder Konzept, er ist vielmehr eine Praktik, ein ganzer Komplex von Praktiken. Den organlosen Körper erreicht man nie, man kann ihn nicht erreichen, man hat ihn immer angestrebt, er ist eine Grenze. Man sagt: was ist ein organloser Körper? Aber man ist bereits auf ihm, man kriecht wie ein Ungeziefer, tastet wie ein Blinder herum oder rennt durch die Gegend wie ein Verrückter, wie ein Reisender in der Wüste oder ein Nomade in der Steppe. Auf ihm schlafen wir, auf ihm wachen wir auf, wir schlagen uns auf ihm, schlagen uns und werden geschlagen. Auf ihm suchen wir unseren Platz, haben ungeahnte Glücksgefühle und erleben ein sagenhaftes Scheitern. Wir dringen in ihn ein und werden von ihm durchdrungen. Auf ihm lieben wir uns.“12

    Die Grenze oder Grenzhaftigkeit des organlosen Körpers gegenüber dem Organismus verdeutlichen Deleuze und Guattari mit vier Körperpraktiken- bzw. Erfahrungen: dem „hypochondrischen Körper, dessen Organe zerstört sind, dessen Zerstörung bereits gelaufen ist, bei dem nichts mehr läuft“, dem „paranoischen Körper, dessen Organe unaufhörlich von äußeren Einflüssen angegriffen werden, die aber auch von äußeren Energien wiederhergestellt werden“, dem „Schizo-Körper, der einen aktiven inneren Kampf anstrebt, den er selber um den Preis der Katatonie gegen die Organe führt“ – der experimentelle Fall eines solchen Körpers ist der „drogensüchtige[] Körper“ – und dem „masochistischen Körper“, den man „vom Schmerz aus nicht richtig verstehen“ kann, sondern eher von seiner sadistischen Seite.13

    „Wozu nun aber diese schaurige Kohorte von […] Körpern, wenn der organlose Körper doch auch voller Fröhlichkeit, Ekstase und Tanz ist? Warum also diese Beispiele?“, fragen Deleuze und Guattari. Und sie beantworten die Frage sogleich mit dem Hinweis darauf, dass der organlose Körper ein Experiment sei, ein Experiment der Grenze, was sich am ehesten von grenzwertigen Erfahrungen her verstehen lasse: „Warum nicht auf dem Kopf gehen, mit den Stirnhöhlen singen, mit der Haut sehen, mit dem Bauch atmen, die einfachste Sache, Entität, voller Körper, auf der Stelle reisen, Anorexie, sehende Haut, Yoga, Krishna, Love, Experimentieren. Wo die Psychoanalyse sagt: Halt! Findet euer Selbst wieder! müsste man sagen: Gehen wir noch viel weiter, wir haben unseren organlosen Körper noch nicht gefunden, unser Selbst noch nicht genügend abgebaut. Ersetzt Anamnese durch Vergessen und Interpretation durch Experimentieren. Findet euren organlosen Körper, findet heraus, wie man ihn macht, das ist eine Frage von Leben und Tod, von Jugend und Alter, von Traurigkeit und Fröhlichkeit. Und eben da spielt sich alles ab.“14

    Vom Organismus muss man sich nur genügend „bewahren, damit er sich bei jeder Morgendämmerung neugestalten kann; und man braucht kleine Vorräte an Signifikanz und Interpretation, man muss auf sie aufpassen, auch um sie ihrem eigenen System entgegenzusetzen, wenn die Umstände es verlangen, wenn Dinge, Personen oder sogar Situationen euch dazu zwingen; und man braucht kleine Rationen von Subjektivität, man muss so viel davon aufheben, dass man auf die herrschende Realität antworten kann.“15 

    Der organlose Körper aber „ist so beschaffen, dass er nur von Intensitäten besetzt und bevölkert werden kann. Nur Intensitäten passieren und zirkulieren“. Trotzdem ist der organlose Körper „kein Schauplatz, kein Ort und nicht einmal ein Träger, auf dem etwas geschehen wird. Er hat nichts mit einem Phantasma zu tun, es gibt nichts zu interpretieren. Der organlose Körper lässt Intensitäten passieren, er produziert sie und verteilt sie in einem spatium, das selber intensiv ist und keine Ausdehnung hat. Er ist weder ein Raum, noch im Raum, er ist Materie, die den Raum bis zu einem bestimmten Grad besetzen wird – der jeweilige Grad entspricht den jeweiligen Intensitäten. Er ist heftige und nicht geformte, nicht stratifzierte Materie, eine intensive Matrix, die Intensität = 0, aber an dieser Null gibt es nichts Negatives. Es gibt weder positive noch negative Intensitäten. Materie gleich Energie. Produktion des Realen als intensive Größe, die bei Null beginnt.“16

    Ein Beispiel für die Erfahrung eines organlosen Körpers und seine Intensitäten sticht bei Deleuze und Guattari heraus. Es ist das Beispiel der „höfischen Liebe“.  „Die höfische Liebe liebt nicht das Ich, ebenso wenig wie sie das gesamte Universum einer himmlischen oder religiösen Liebe liebt. Es geht darum, einen organlosen Körper zu schaffen, auf dem sich Intensitäten bewegen und bewirken, dass es kein ich und keinen anderen mehr gibt, und zwar nicht um Namen einer höheren Allgemeinheit oder einer größeren Ausdehnung, sondern aufgrund von Singularitäten, die man nicht mehr als persönlich bezeichnen kann. Das Immanenzfeld ist dem Ich nicht immanent, und es kommt auch nicht aus einem äußeren Ich oder Nicht-Ich. Es ist vielmehr so etwas wie das absolute Außen, das keine Form von Ich mehr kennt, weil Inneres und Äußeres gleichermaßen Bestandteil der Immanenz sind, in der sie verschmolzen sind. Das ‚Vergnügen‘ der höfischen Liebe, der Austausch der Herzen, ‚assay‚ oder Probe: alles ist erlaubt, was dem Begehren nicht äußerlich ist, seine Ebene nicht transzendiert und über diese auch nicht im Inneren der Person steckt. Die kleinste Zärtlichkeit kann genauso stark wie ein Orgasmus sein; der Orgasmus ist nur ein Faktum; im Verhältnis zum Begehren, das sein Recht fordert, ist er eher langweilig. Alles ist erlaubt: er zählt allein, dass die Lust ein Strömen des Begehrens selber ist.“17

    Im Unterschied zum Begehren des Gottesgerichtes, wie wir es von Augustin kennen und Begierde nennen, ist dies Begehren ein Werden, und zwar ein Werden in zweierlei Hinsicht: ein Werden dessen, „was man begehrt“ und ein Werden dessen „wodurch man es begehrt“. So geht es nicht darum „die falschen Begehren [zu] kritisieren, sondern im Begehren [zu] unterscheiden“, „zu entscheiden, was [auf einer Ebene] zusammensetzbar ist und was nicht“. Das ist eine Frage des „Umgangs im Einklang“18,  eines neuen Gebrauches: Wagnis des Werdens.


  • …ho logos…

    Es ist nicht ungewöhnlich, das Johannesevangelium der literarischen Gattung des antiken Dramas anzunähern.1 Damit hätte der Beginn des Evangeliums die Form eines dramatischen Prologs. Ein Prolog gebe „einen Hinweis auf den folgenden logos“, schreibt Aristoteles in seiner Rhetorik. Ein Prolog zeige an, worum es im Folgenden gehe. Das sei so in Prosagedichten, wie zum Beispiel Heldenliedern. Und auch bei den Tragikern. Sogenannte dramatischen Prologe „geben Aufschluss über [den Stoff] des Dramas und, wenn nicht sogleich am Anfang, wie Euripides, so doch irgendwie im Prolog, wie auch Sophokles es tut“.Logos meint im ersten Falle eine Rede, im zweiten die Tragödie3 selbst.

    Seiner literarischen Form nach steht der Prolog des Johannesevangeliums damit in einer bedeutenden Reihe von Anfängen, nämlich „des Anfangs von Ilias und Odyssee“ von Homer, des Anfangs von Hesiods Theogonie und der Anfänge der sophokleischen und euripideischen Tragödien“.4

    In seinen Notaten zu medientheoretischen Untersuchungen des Johannesevangeliums geht der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler zwar vom Hintergrund dieser literarischen Formen aus, konzentriert sich jedoch auf „das Verhältnis des Wortes zum Fleisch und des Wortes zur Stimme, von logos zu sarx und logos zu phone“.5

    Den dafür entscheidenden Vers 14, ho logos sarx egeneto, kommentiert Kittler folgendermaßen: „Soll das heißen, Jesus sprach zwar aramäisch, dachte aber doch schon griechisch? Einfach weil er logos war?“6

    Oder bezogen auf Joh 5, 25 und damit einen heilsgeschichtlichen Bogen schlagend: „Jesus spricht: Amen, amen, ich sage euch, es wird die Stunde kommen – und sie ist jetzt da – in der die Toten die Stimme des Gottessohnes hören, und die hören, werden leben“7, kommentiert Kittler: „5, 25 Auferstehung als Gottsohnes Stimme (phonä), die die Toten alle hören, Ja, eine Griechenstimme. Deutung, phone = hyle des logos, wie Joh 1,14: logos ward sarx (Arist. / De gen an. V)“8.

    Kittlers griechischer Anknüpfungspunkt für die Untersuchung des Verhältnisses von Wort zu Fleisch und Wort zu Stimme ist (wie in Klammern vermerkt) Aristoteles und sein „letztes, aber völlig neues Buch“9 De generatione animalium. Aristoteles schrieb dieses Buch darüber, „dass die Liebe physiologisch im Vollzug besteht“10, wie Kittler in seinem „überraschende[n] Porträt des Aristoteles“ auf „mythographisch kraftvollste[]“11  Weise ausführt.

    Aristoteles habe von Platon gelernt, „dass es Form und Stoff gibt, Eidos und Hyle. Er hat darüber hinaus gelernt, dass das Eidos wesentlich Idee ist und am Götterhimmel fern von uns erstrahlt. Nur wie soll das Denken damit arbeiten?“12  In seiner Skepsis den Ideen gegenüber blieb Aristoteles „nur eines übrig: hier auf Erden Sachverhalte nachzuweisen, die das Verhältnis Eidos:Hyle an ihnen selber zeigen“13.

    Dafür boten sich ihm drei Möglichkeiten. Er konnte sich an „Kunst-und-Technik“ halten, an die „Physis zwischen Mann-und-Frau“ oder aber „an unser Reden selbst“.14 Mit anderen Worten: „Vielleicht sind Form und Stoff ja in der S(PR)ACHE selbst verborgen und verschlungen“15? Aristoteles habe den logos (Rede) von der S(PR)ACHE im pythagoreischen Sinne „Singen Reden Zählen ineinander“ geschlungen16 abgelöst, nun müsse man „ihm Schritt um Schritt ablernen, wie sich Form und Stoff zur Sammlung namens Logos sammeln“17.

    So hat Aristoteles erst einmal „versucht, alle Redeweisen aufzuzählen“. Dann hat er „erkundet, wie Sprache sich als doppelte Artikulation vollzieht, durch Phoneme und Morpheme, also sowohl in Stoff, wie Form“. Dann grenzt er das Sprechen gegen Lebewesen ab, „die zwar Geräusche senden, sie aber nicht zu Stimmen oder (besser gesagt) Silben verbinden“.18

    „Das gliedert oder ordnet alle Tiere nach Maßgabe der Klänge, die sie empfangen oder senden. Wir würden diese Umwelten wohl Medien nennen. Dass Fische stumm sind (aphona), heißt, dass nur ihr Schwimmen selber ein Geräusch macht. Erst bei Insekten, die anders als die Bienen aufeinander hören, beginnt so etwas wie Musik. Dass aber Sokrates Zikaden Sänger nannte und Platon, der das aufschrieb, selber wie Zikaden zirpte, kann ihr klügster Schüler nur belächeln: Insekten schallen bloße Stummlaute (psophetika) heraus, indem sie Leibesglieder aneinander reiben, doch mehr nicht. Denn erst Tiere, deren ‚breite oder feine Zunge‘, den Luftstrom in Stimmlaute und Stummlaute zu ‚gliedern‘ vermag, kommen unserem Menschenwesen nahe: Sie haben jeweils wie die Griechen eine Mundart, einen ‚Dialekt‘, ‚durch‘ den sie miteinander ‚reden‘. Sokrates leichtfertige Behauptung, nur Menschen hätten Artikulation und von daher Dialekte, fällt dahin. Die Nachtigall singt anders als der Sprosser, anders aber auch als jede andere Nachtigall. Das kommt daher, dass ihre Liebeslieder gar nicht angeboren, wie die Schreie wilder Tiere sind. Sie werden jungen Hähnchen vielmehr, da ja Vögel Ohren haben, von den älteren beigebracht. Jedes Lied, das Nachtigallen oder Sprosser schmettern, besteht aus rhythmisch und melodisch hoch verschiedenen Melismen, sogenannten Strophen, die ihrerseits nur 30 oder 40 Muster wiederholen – ganz wie wir Menschen unsere etwa 60 Silben.“19

    Zusammengefasst: „Es ist vor Liebe, dass wir sprechen, schreiben oder dichten, statt nur brünstig brüllend wie die Säugetiere zu begehren. Es ist vor Ferne, vor ‚Absenz‘, dass sich sogar Aristoteles, der Ontologe dinglicher Präsenz schlechthin, zum Mediendenken wandeln muss. So macht uns Eros, bittersüß, allererst zu Menschen. Nichtlaut, Stummlaut, Mitlaut, Stimmlaut bilden die vier ausgehörten Stufen einer Leiter, die über unser aller Mundart oder Muttersprache zuletzt bis zur Lautschrift namens Logos steigt.“20

    Derart hatte also Aristoteles den „ungezählten Tieren“ zugehört „auf der Suche nach dem Dasein, dass uns ‚Sprechwesen (Parlêtres)‘ (Lacan) obliegt“21 und Kittler hat es ihm „Schritt um Schritt abgelernt“22. Auf die Nachtigall kommt er wiederholt zurück. Beim Lesen der sophokleischen Tragödie „Ödipus auf Kolonos“ zum Beispiel:

    „Zu dieses rosseguten landes
    schönstem ort auf erden
    fremder
    bis du kommen
    dir schimmert kolonos da wo
    am liebsten weilt
    die nachtigall hell schluchzend unter grünen waldtälern
    im weinfarbenen efeu
    dem unbetretbaren laub gottes
    mit tausenfacher frucht.
    (Soph. O. C. 668-676)“

    ist ihm folgendes aufgefallen: „Die Nachtigall im Hain singt, deshalb heisst sie einfach andon, ‚das Singende‘. Sophokles dagegen schreibt und dichtet, dass sie singt. Aus der sophokleisch leisen Vogelstimme entspringt Dionysos mit seinen Nymphen oder Ammen. Der Dichter singt und singt, damit aus Nymphen Musen werden, die wie er selbst um Aphrodites goldene Ankunft bitten“23.

    Auf den Unterschied zwischen „Sang und Schrift“ kommt es ihm an und Aristoteles habe ihn „fast“ geahnt. „Weil Singvögel so wunderbar ‚gegliedert‘ singen, grenzt er [Aristoteles] ihre Mundarten vom ‚schriftlosen‘ Schreien aller Säugetiere außer uns ab. Deren ‚schriftlose Geräusche (agrammatoi psophoi) machen zwar auch etwas kund, sind aber keine Namen‘.“  Und Aristoteles nennt denn dieses gegliederte Schallen der Vogelzungen sogar einmal „Buchstaben (grammata)“.24

    Erneut zusammengefasst verhalten sich also „die Einzellaute zur Einheit namens Silbe“ so wie „Stoffe oder Elemente zum Ganzen“. Aus „Silben als sinnlosen Stoffen“ zusammengesetzt, gelangt „jedes Wort zu einem Sinn“. Und schließlich: Die „Menschenstimme (phone)“ verhält sich „zum Logos ganz so analog“, wie die „Materie zur Form“.

    Im „fünften, letzten und schönsten“ Kapitel seines Buches De generatione animalium bringt es Aristoteles dann auf den Punkt: Der Rede (logou) Stoff (hyle) ist die Stimme (phonen). Und Kittler wiederum formuliert: „Der Logos ist die Form der Stimme“.25

    Was bedeutet diese Exkursion für die Lektüre des Johannesevangeliums?

    „Wenn nun also in einer aristotelischen Lektüre des Johannes das Fleisch des logos seine hyle wäre, könnte mit Aristoteles dieses Fleisch als die Stimme oder die Stimmwerdung des logos angesprochen werden.“26

    Dann müsste man Johannes 1, 4 auch als ‚Und das Wort ward Stimme‘ übersetzen können. In Kittlers Lektüre liegt die Pointe dieser Übersetzung in ihrem Hintergrund des Hebräischen. Denn Jesus gilt ihm als der, der allen Menschen die Schrift zu lesen ermöglichen wollte. Nicht mehr nur eine eingeführte Elite sollte die in Konsonanten geschriebenen Texte lesen können, d.h. die Vokale kennen und damit die Deutungsmacht über sie innehaben. Jesus machte die Vokale öffentlich und markiert den Wandel vom Konsonanten- zum Vokalalphabet.

    In „Johannes 5, 37ff etwa wirft Jesus jenen, die ihm mangelnde Gesetzestreue und seine direkte Berufung auf Gott als seinen Vater vorwerfen, selbst vor, dass sie die Stimme (phone) des Vaters nicht gehört, noch die Gestalt (eidos) erkannt haben, in der er sich offenbart hat. ‚Ihr durchforscht das Geschriebene (tas graphas), weil euch scheint, in diesen hättet ihr ewiges Leben.‘ Die erkennen und vernehmen aber die stimmlich lautende Gestalt des Vaters in der Lehre des Sohnes nicht, weil sie nur auf die Konsonantenschrift starren.“27

    Es finden sich weitere Beispiele. So geht Jesus in Joh 7, 1 während des Laubhüttenfestes in den Tempel und lehrt. Und die anwesenden Juden sind verwundert: „Wie kennt Jesus die Schrift (grammata, d.h. Hebräisch), da er sie doch nicht gelernt hat (memathakohs)?“28

    „Schließlich aber ist, Johannes 17, 26, im Zusammenhang mit der Verkennung des Vaters die Rede davon, dass Jesus der Welt dessen Namen kundgetan habe ‚…  – worauf die Todesstrafe steht‘, wie Kittler lapidar bemerkt.“

    Die Inschrift des Pontius Pilatus (Joh 19, 19-22) macht den Zusammenhang noch einmal klar: „Da haben wir die Sprachen des Imperiums: Armee latein, Kultur klar griechisch, und unlesbares Hebräisch (wie sie ja bloß Aramäisch sprechen) für diese ärmliche Provinz.“29

    Und wenn wir nun Johannes 5, 25 noch einmal lesen: „Amen, amen ich sage euch, es wird die Stunde kommen – und sie ist jetzt da – in der die Toten die Stimme des Gottessohnes hören, und die hören werden leben.“30  – dann verstehen wir „die Auferstehung als Aufgehen von Gottsohnes Stimme“, die alle hören, „weil es Vokale gibt“.31 „Diese Stimme – und der Text als im griechischen Vokalalphabet geschriebener Text bezeugt es ja selbst – ist eine Griechenstimme. Sie erklingt jetzt, das heißt in dem Moment des Lesens.“32  Des lauten Lesens.


  • Ein Theater der Stimme – Exsultet

    Ein Philosoph erkannte im Stottern der Sprache an der Grenze zum Schweigen eine Zone, in der die Sprache sich selbst schöpferisch wird und erfinderisch. Die legendäre Inszenierung der euripideischen Bakchen von Klaus Michael Grüber 1974 an der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer beginnt mit Dionysos, der, stammelnd sich sprachlich zusammensetzt:

    Ich, ich, ich, ich bin, bin, bin, ich bin, ich bin, ich bin (lacht), ich bin Dionysos, der Sohn des Zeus, hier vor Theben; Verehrt als Bakchios und als Bromios, der Rauschgott; Des Kadmos‘ Tochter Semele hat mich geboren… Ich, der Gott, kam heute, sterbliche Gestalt an Gottes statt annehmend…1

    Diese Aufführung ist mancher/m als die wichtigste ihre/seines Lebens in Erinnerung geblieben. So ging es dem Theaterintendanten und Kunstwissenschaftler Ivan Nagel. Er beschreibt Grüber als einen „Sprachfinder der Seele“2 und seine Arbeit als „das Entfernen von allen Klebemitteln, Lücken-Verklebe-Mitteln, die je an dem Stück (durch Konventionen der Lektüre), die je im Schauspieler (durch Konvention der Schulung) angebracht sind“. Sei es doch die Aufgabe der Kunst, „Lücken zu erzeugen, Löcher zu reißen in die Routinen des Denkens und Lebens, in jene komplette Welt der Erklärungen und Gemeinplätze, die wir uns kreieren, um die wahre Welt zu verfälschen, erträglich und benutzbar zu machen“. Der Sinn von Grübers „Probenarbeit, die nicht Taktik, sondern Befragen ist“, reiche „über die Kunst, über das Theater hinaus“. Denn sei nicht Erkenntnis überhaupt „der Blick durch eine Bresche, ohne vorauszuwissen, auf welches Ungeahnte er fällt?“ Grübers Kunst sei „Widerstand gegen alle zeitgemäßen Reduktionen des Menschen auf seine Oberfläche“.3 In diesem Sinne überliefert Nagel folgende Probenbemerkung Grübers: „Die Hauptgefahr: in etwas hinein zu stolpern, das alles verbindet. Bleibt in der Trennung.“4 

    Für den Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann lässt Klaus Michael Grüber damit das „neuzeitliche Drama“ als eine „Welt der Diskussion“ hinter sich. „Das Drama als exemplarische Form der Diskussion, setzt auf Tempo, Dialektik, Debatte und Lösung. Aber schon lange lügt das Drama. Sein Geist, besser: sein Gespenst, ist aus dem Theater ins Kino, zunehmend ins Fernsehen gewandert. Da sind die Möglichkeiten der Simulation von Wirklichem viel größer, das zählt die Story, schon deshalb, weil nichts zweimal betrachtet, sondern ein zweites Produkt konsumiert werden soll. Da die Unterhaltungsindustrie nichts in seinem Widerspruch, nichts in seiner Spaltung und Verdopplung, nichts in seiner Fremdheit wahrzunehmen erlaubt, kommt man vom V-Effekt zum TV-Effekt.“5

    Klaus Michael Grüber schlüge den „Bogen zurück zu jener essentiellen Wirklichkeit der Bühne“, für die „der Augenblick des Sprechens alles ist“. „Nicht die Zeitlinie der Handlung; nicht das Drama, sondern der Augenblick, wenn die menschliche Stimme sich erhebt. Ein Körper exponiert sich, leidet. Der Klagelaut, den er von sich gibt, pflanzt sich fort und trifft den Zuschauer als Klangwelle, tangential, mit körperloser Kraft. Furcht und Mitleid: mehr brauchen sie nicht. An Grübers Inszenierungen zählt der kostbare Augenblick, in dem der Körper, bedroht, in einem Raum der Szene zum Sprechen kommt. Es ist übrigens diese Konstellation, nicht die Narration (die dem Epos zukam), die auch das antike Theater entstehen ließ“.6 Lehmann sieht hier ein „Theater der Stimme“ am Werk. Die Stimme als „Nach-Klang“ des Geschehens.7

    Ich, ich, ich, ich bin, bin, bin, ich bin, ich bin, ich bin (lacht), ich bin Dionysos, der Sohn des Zeus, hier vor Theben; Verehrt als Bakchios und als Bromios, der Rauschgott; Des Kadmos‘ Tochter Semele hat mich geboren… Ich, der Gott, kam heute, sterbliche Gestalt an Gottes statt annehmend…8 

    In seinen Studien zum alten Griechenland kommt der streitbare Medienwissenschaftler Friedrich Kittler auf den Autor der Bakchen, Euripides, zurück und nennt ihn den „Urchristen“9. Diese Pointe ist durchaus verächtlich gemeint. Die Veränderungen, die Euripides als Tragödiendichter an der Tragödie im Vergleich zu Aischylos und Sophokles vollzog, erscheinen ihm nicht als eine „theatrale Aufklärung“10, sondern als Zeichen von Gottlosigkeit und Niedergang. Euripides verspiele „die rituelle Ekstase der Tragödie in Thesen-Dramen“11.

    „Mit Euripides vollzieht sich der kulturelle Bruch. Er erfindet zum Beispiel das Wort ‚Gewissen‘. Es fällt wirklich zuerst bei ihm. Vorher gibt es das einfach nicht. Man macht sich keine Vorstellung, wie populär Euripides in hellenistischer Zeit ist, während Aischylos inzwischen unlesbar geworden war. Seine Sprache ist viel zu archaisch für die späten Griechen. Sophokles ist viel zu anspruchsvoll, als dass ihn noch jemand versteht. Wenn Paulus, der Apostel, irgendwas gelesen hat, dann ist es Euripides. Und Kallimachos. Kallimachos kann man nachweisen. Aber Euripides steckt in seinem Begriff ‚Auferstehung‘. Das Wort ‚anastasis‘ ist nicht zufällig das christliche Wort für Auferstehung. Ich denke, das Skript des Urchristentums, zumindest des paulinischen, hat Euripides geschrieben. Paulus hat das entsprechend übertragen. Man darf nicht vergessen, das Paulus erst mit zwanzig Jahren Hebräisch gelernt hat, aber mit einem Jahr griechisch.“12

    Ich, ich, ich, ich bin, bin, bin, ich bin, ich bin, ich bin (lacht), ich bin Dionysos, der Sohn des Zeus, hier vor Theben; Verehrt als Bakchios und als Bromios, der Rauschgott; Des Kadmos‘ Tochter Semele hat mich geboren… Ich, der Gott, kam heute, sterbliche Gestalt an Gottes statt annehmend…13

    In seinem Buch „Gott – essen“ hat der polnische Theaterwissenschaftler Jan Kott die griechischen Tragödien untersucht und stellt in Bezug auf die Überlieferungslage des Dionysos-Mythos fest, dass die unterschiedlichen Quellen unabhängig von „Charakter und Zeit der Niederschrift“, sich ändernden Namen der Beteiligten und ihren Schauplätzen, eine verblüffende Ähnlichkeit zeigen, „wie wenn in ihnen stets ein und dasselbe Ereignis erzählt worden wäre“.14

    Zur Probe hat er „gemäß der synchronistischen Methode“, die verschiedenen Überlieferungen übereinander gelegt und folgende „gemeinsame[] Elemente aller dieser Versionen“ zusammengestellt: „Es sind: a) Wahnsinn, göttlicher, zumeist von Dionysos geschickter Wahnsinn; b) ein Kindesmord, meist der am eigenen Sohn; c) der Mord geht zusammen mit der Zerreißung des Körpers (sparagmos); d) mit dem Verzehr des rohen Fleisches, der ‚roh verzehrenden Lust‘, die der Bakchen-Chor rühmt; e) der Sohn wird in Stücke gerissen und von der eigenen Mutter aufgegessen [omophagia].“15

    Diese „entblößte Struktur“ zeigt, dass es sich hierbei weder um „ein Mythos“, noch um eine „Gruppe von Legenden“ handelt, sondern um „ein Bild jenes selben Ritus, der anfangs als blutiges Opfer und dann als Ritus der symbolischen Zeichen wiederholt wurde.“ Der Mythos ist demnach „eine Rechtfertigung und Interpretation des Ritus“.16

    Die Bakchen des Euripides ist nun so stark wie keine andere „der erhaltenen griechischen Tragödie […] mit religiösen Vorstellungen durchsetzt“. Sie wurden schon als „dionysisches Passionsspiel“17 bezeichnet.

    Einen fernen Wiederhall findet es in christlichen Passionen, stammen doch deren Grundbegriffe Liturgie und Chor aus der alten Welt der Tragödie.18 Besonders hörbar wird dieses Erbe in den klassischen liturgischen Formen des Karfreitags und der Osternacht vor allem in katholischem19  und orthodoxem20 Zusammenhang. Doch auch in evangelischer Praxis findet sich das Exsultet. In diesem „wohl dramatischsten lateinischen Kirchenhymnus aus dem 7. oder 8. Jahrhundert, der bis heute während der Ostermatutin gesungen wird, tritt das Symbol des Christus-Lammes von sparagmos und omophpagia unverhüllt deutlich hervor:

    ‚Jenes Osterfest ist ja heute, an dem das wahre Lamm geschlachtet wird, dessen Blut die Türpfosten des Gläubigen heiligt. Haec sunt enim festa paschalia, in quibus verus ille Agnus occiditur, cujus sanguine postes fidelium consecrantur.’“21

    Dies archaische Echo klingt auch in den folgenden Worten dessen mit, der sieben Mal sagte: Ich bin: Hoc est enim Corpus meum. Hic est enim Calix Sanguinis mei. Und wie zu Beginn der ignatianischen Exerzitien kann man beten, dass das Blut Christi berausche…22

    In der konkreten Arbeit eines „Theater der Stimme“ als einem Befragen vom „Nach-Klang des Geschehens“ im „Augenblick des Sprechens“ (s.o.) ergab das etwa folgende Probenbemerkungen des Regisseurs Klaus Michael Grüber: „Wenn es hell ist, ist es hell. Wenn es dunkel ist, ist es dunkel.“ Oder: „Kein Kitsch! Die Sprache muss rissig bleiben, körnig. Punkte machen.“ Oder: „Spielt Theater, als würdet ihr über Eis gehen und könntet jederzeit einbrechen.“ Und: „ Die Worte Perle an Perle reihen“.23

    Exsultet chorisch
    Ein/e Sänger/in steht an der Osterkerze (I)
    Ein/e Sänger/in steht am Altar (II)
    Eine Schola steht hinter der Gemeinde (je nach Architektur) (C)
    Als Gemeinde singen alle anwesenden zusammen (A)

    (I)
    Frohlocket nun, ihr Engel und himmlischen Heere; frohlocket, ihr Wunderwerke Gottes; hell töne, Posaune des Heiles, und preise den Sieg des ewigen Königs. Es freue sich auch die Erde, erhellt vom strahlenden Lichte, und, vom Glanze des ewigen Königs erleuchtet, erkenne sie, wie aller Enden die Finsternis von ihr gewichen.
    (II)
    Es freue sich auch die Kirche im herrlichen Glanze solchen Lichtes, und der Lobgesang ihrer Kinder erfülle das Haus unseres Gottes. Darum, meine Lieben, die ihr beim Scheine des Osterlichtes zugegen seid, rufet mit mir an die Barmherzigkeit des allmächtigen Gottes, dass er, der uns zu der Schar seiner Kinder hinzugezählet hat, uns mit der Klarheit seines Lichtes erfülle und unser Loblied gnädig annehme.
    (C)
    Durch Jesum Christum, seinen Sohn unseren Herren, der mit ihm und dem Heiligen Geiste lebet und regieret von Ewigkeit zu Ewigkeit.
    (A)
    Amen.
    (II)
    Der Herr sei mit euch.
    (A)
    Und mit deinem Geiste.
    (II)
    Erhebet die Herzen.
    (A)
    Wir erheben sie zum Herrn.
    (II)
    Lasset uns danken dem Herrn, unserm Gott.
    (A)
    Das ist würdig und recht.
    (I)
    Wahrhaft würdig ist es und recht, den unsichtbaren Gott, den allmächtigen Vater und seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn Jesus Christus, mit aller Glut des Herzens und Geistes zu rühmen und mit jubelnder Stimme zu preisen.
    (II)
    Es hat für uns beim ewigen Vater die Schuld getilgt, die seit Adam auf uns liegt, und hat die alte Schuldschrift gelöscht mit seinem heiligen Blut.
    (C)
    Dies ist das Fest der Ostern:
    (II)
    Christus ist geopfert als wahres Passahlamm, dessen Blut die Türen zeichnet zum Schutz der Gläubigen.
    (C)
    Dies ist die Nacht,
    (II)
    In der du unsere Väter im Glauben, dein Volk Israel aus Ägypten geführt und trockenen Fußes durch das Rote Meer geleitet hast.
    (C)
    Dies ist die Nacht,
    (I)
    in der uns die Feuersäule Gottes aus dem Dunkel der Welt herausführt.
    (C)
    Dies ist die Nacht,
    (I)
    die heute ringsum auf Erden alle, die an Christus glauben, scheidet von den Lastern der Welt und dem Elend der Sünde, die heimführt zur Gnade und einfügt in die Gemeinschaft der Heiligen.
    (C)
    Dies ist die Nacht,
    (II)
    in der Christus die Fessel des Todes zerriss und aus der Tiefe als Sieger emporstieg. Was nützte es uns, geboren zu werden, wären wir nicht erlöst! Wie wunderbar ist das Geschenk deiner Treue, wie unbegreiflich deine Liebe: Um den Knecht zu befreien, gabst du den Sohn dahin. Selbst Adams Sünde wurde zum Segen, Christi Tod hat sie vernichtet. O glückselige Schuld, die einen solchen Erlöser gefunden hat!
    (C)
    O wahrhaft selige Nacht,
    (I)
    der allein es vergönnt war, Zeit und Stunde zu erleben, in der Christus von den Toten erstanden ist.
    (C)
    Die ist die Nacht, von der geschrieben steht:
    (I)
    Die Nacht wird hell wie der Tag, als strahlendes Licht wird die Nacht mich erfreuen.
    (II)
    Diese heilige Nacht vertreibt den Frevel, sie wischt ab die Schuld. Den Sündern gibt sie zurück die Unschuld und den Trauernden Freude. Sie vertreibt den Hass, schafft Frieden und Eintracht, und beugt die Gewalten.
    (C)
    In dieser gnadenvollen Nacht nimm an, himmlischer Vater, diesen festlichen Gesang, der dir dargebracht wird im Lobpreis dieser Kerze!
    (II)
    So haben wir nun das Lob dieses österlichen Lichtes vernommen, das entflammt wurde durch das lodernde Feuer zur Ehre Gottes. Wenn es auch vielfach geteilt ist, wurde dabei seine Leuchtkraft nicht gemindert, wird sie doch ständig genährt vom schmelzenden Wachs, das die mütterliche Biene für diese kostbare Kerze bereitet hat.
    (C)
    O wahrhaft selige Nacht, die einst die Ägypter arm und die Hebräer reich machte, in der irdisches Wesen mit himmlischem und menschliches mit göttlichem Wesen verbunden wird.
    (I)
    So bitten wir dich nun, Herr, lass diese Kerze ungemindert weiter brennen, die wir dir gewidmet haben zur Ehre deines Namens. Sie verbanne das Dunkel dieser Nacht, werde aufgenommen als lieblicher Opferduft und mische sich unter die Lichter am Himmel. Sie leuchte noch, wenn der Morgenstern kommt, jener Morgenstern, der keinen Untergang mehr kennt:
    (C)
    Christus, dein Sohn der zurückgekehrt ist aus dem Reich des Todes und mit hellem Licht die Menschen erleuchtet: er, der lebt und regiert in alle Ewigkeit.
    (A)
    Amen.

    Text: VELKD (Hg.), Passion und Ostern, Leipzig 2011; dort finden sich auch die Noten.


  • Auf einer schwankenden Spitze kreisend

    Die Erkenntnis Bruno Latours, dass die religiöse Rede, also die Predigt, eine invention fidèle, eine wahrheitsgetreue Erfindung ist, hat eine ausgesprochen theatrale Seite. Sie führt in der Praxis von der stillen Lektüre über das laute Lesen in die Erfindung szenischen Spiels.

    Dieser schöpferische Prozess lässt sich erzählpraktisch bis in die Evangelien zurückverfolgen. Wie Bruno Latour bemerkt, war die Botschaft der Auferstehung Jesu – vergleiche die frühesten paulinischen Formulierungen – derartig neu, befremdend mitzuteilen bzw. schwer zu erklären, dass man einen sichtbaren Anknüpfungspunkt dazu benötigte: das leere Grab.1

    Dieses „Theaterzeichen der Auferstehung“2  musste wahrgenommen, also gesehen werden können, um als theatralisches Zeichen zu wirken. Und es musste etwas dabei gesagt bzw. zum Hören gebracht werden, um die Erfahrung des Sehens bzw. Nichtsehens zu kommunizieren. So kam die engste Vertraute Jesu als erste zum Grab – wie im wirklichen Leben – und sah, hörte und wurde sagen geschickt. Theatralischer wird es, wenn mehrere zum Grab kommen und fragen bzw. sich gegenseitig antworten.

    Und so kommt es zur sogenannten „Quem-quaeritis-Trope“3 :
     Quem quaeritis in sepulchro, o Christicolae?
    Jesum Nazarenum crucifixum, o caelicolae.
    Non est hic. Surrexit, sicut praedixerat. Ite et nunciate quia surrexit de sepulchro.

    „Aus dem Verbund von Zeremonie und Trope entstand die visitatio sepulchri, die erste Osterfeier, mit der das gesamte Theater des Mittelalters begann und die bis zum Schluss seine allgemeine Form und sein Muster blieb. Die Zelebranten haben nicht nur verteilte Rollen, erstmalig sind es Personen des Dramas.“4

    Die älteste erhaltene Handschrift datiert aus dem beginnenden 9. Jahrhundert und nennt die drei Marien bereits Christusverehrerinnen. In der Handschrift aus Aquileia, zweihundert Jahre später, sind daraus zugleich profanisierend und psychologisch motivierend „tremule mulieres, in hoc tumole plorantes, furchtsame Frauen, die am Grab weinen“5  geworden. Später kam der Wettlauf der beiden Jünger Petrus und Johannes zum Grabe hinzu und schließlich eine Erscheinungsszene, in der der Auferstandene von einem Schauspieler dargestellt wurde.

    In einer Handschrift aus dem 12. Jahrhundert aus Ripoll findet sich eine weitere Episode. Sie bezeichnet bisher am deutlichsten eine „Umfunktionierung des Ritus zum Theater“. Es ist das sogenannte „Krämerspiel, der Besuch der drei Marien bei dem Salbenkrämer“. In der mittelalterlichen Buchmalerei wird diese Szene noch gesteigert. Hinter einem Marktstand wiegt dort ein Krämer seine Gewürze. „In den wenig späteren Osterspielen feilschen die drei Marien erbittert mit dem Krämer um Myrrhe, Aloe und Salben. Das Heilige wird endgültig mit dem Profanen vermischt.“6

    Bis hierhin bleibt das „dramatisch-dialogische Moment“ im Allgemeinen der „heiligen Narration untergeordnet“. „Interessant als formale Momente der Vorbereitung des dramatischen Theaters sind die oft vorkommende Prozessform und die Gestalt des Teufels. Überraschenderweise erscheint der Teufel immer wieder als Person“, als „Hinkefuß, old iniquity“. Er blieb in der Folge „in der Verkleidung als Intrigant eine wichtige Figur des Dramas“7  und führt direkt ins bürgerliche Trauerspiel und seine kirchlichen Verwaltungsformen: „noch in „Kabale und Liebe“ wird der Intrigant am Ende ausdrücklich als ‚Satan‘ verdammt“.8

    Wenn Bertold Brecht in seinem „Kleinen Organon“ bemerkt: „das Theater sei aus dem Kultischen gekommen, so sagt man nur, dass es durch den Auszug zum Theater wurde“9, dann steckt darin auch eine radikale Kritik10 . Man muss sich nur einen seiner Choräle vor Ohren führen:

    Wach auf, Du verrotteter Christ!
    Mach dich an dein sündiges Leben,
    zeig, was für ein Schurke Du bist,
    der Herr wird es Dir dann schon geben.
    Verkauf Deinen Bruder, Du Schuft!
    Verschacher Dein Eh‘weib, Du Wicht!
    Der Herrgott, für Dich ist er Luft?
    Er zeigt Dir‘s beim Jüngsten Gericht11.

    ***

    Die visitatio sepulchri jedenfalls bildet das Muster für verschieden gestaltete, dialogisierte Spielformen im Laufe des Kirchenjahres. Dieses Theater behält die „Tiefenstruktur des Ritus“ bei.12 „Die historische Zeit, in die das Mysterium von Leben und Auferstehung des Gottessohnes projiziert wurde, ist gleichzeitig die anachronistische Zeit der Gegenwart, in der es gespielt wurde. Diese anachronistische Zeit ist Geste, Kostüm, Requisit und Bühnenbild.“13

    Die christliche Liturgie selbst „ist eine symbolische Wiederholung von Geburt, Leben, Passion, Tod und Auferstehung des Gottessohnes. In ihr koexistieren und überschneiden sich drei Zeiten, von denen zwei ‚irdische Zeiten‘ sind, nämlich die zirkuläre Zeit des Jahreskalenders und die lineare Zeit der ‚Geschichtlichen Ereignisse‘. Die dritte Zeit ist kosmisch oder ‚göttlich‘.“14

    Liturgie und ihre Dramatisierungen lassen sich demnach nicht nur als Phänomene der Geschichte, also in der Kontinuität historischer Einflüsse, Epochen und Kulturen, „in ihrer Zeit“ beschreiben, sondern auch „gegen ihre Zeit“ als ein „Ensemble verschiedener Zeiten“, die „voneinander entfernt“ sind, „diskontinuierlich und dennoch benachbart“. Ihr sogenannter Anachronismus bedeutet also eine Montage heterogener Zeiten. In diesem Sinne ist Anachronismus eine Art und Weise, zugleich eine „lange Dauer der Erinnerung“ bzw. eines Nachlebens und eine „Diskontinuität der historischen Zeit“ auszudrücken.15

    In einer genaueren Analyse der anachronistischen Zeiten sind diese nun nicht mechanisch in linearer oder kreisförmiger Vermittlung zu verstehen, sondern in sich wechselseitig verändernden und damit öffnenden, exzentrischen Bewegungen. Gilles Deleuze nennt sie Wiederholungen und bestimmt diesen Begriff durch den der Differenz.

    In Bezug auf die Zeit bedeutet das, dass Zeit nicht gebildet wird durch eine schlichte mechanische Abfolge von Augenblicken, die man auf der Uhr ablesen kann, sondern durch eine Kontraktion, eine Synthese. „Die Zeit bildet sich nur in der ursprünglichen Synthese, die sich auf die Wiederholung der Augenblicke bezieht. Diese Synthese zieht die unabhängigen sukzessiven Augenblicke jeweils ineinander zusammen. Sie bildet damit die gelebte Gegenwart, die lebendige Gegenwart. Und diese Gegenwart ist es, die sich in der Zeit entfaltet. Sie ist es, der Vergangenheit und Zukunft zukommen: Die Vergangenheit in dem Maße, wie die vorangehenden Augenblicke in der Kontraktion festgehalten werden; die Zukunft, weil die Erwartung Antizipation in ebendieser Kontraktion ist. Vergangenheit und Zukunft bezeichnen keine Augenblicke, die von einem der Annahme nach gegenwärtigen Augenblick geschieden wären, sondern die Dimensionen der Gegenwart selbst, sofern sie die Augenblicke kontrahiert.“16

    Deleuze bringt zur Verdeutlichung folgendes Beispiel des französischen Philosophen Henri Bergson: „Es schlägt vier Uhr… Jeder Schlag, jede Erschütterung oder jeder Reiz ist vom anderen logisch unabhängig, mens momentanea. Aber wir ziehen sie zu einem inneren qualitativen Eindruck zusammen, außerhalb jeder Erinnerung oder gesonderten Berechnung, in jener lebendigen Gegenwart, in jener passiven Synthese, die die Dauer ist.“17

    Diese sogenannte erste Synthese konstituiert die Zeit als Gegenwart, die vorübergeht.  Deleuze bezeichnet die Synthese als passiv, die beruht auf Gewohnheit, wie das Beispiel der Glockenschläge verdeutlicht.

    Im Moment des Vorübergehens der Gegenwart geht auch die auf die Zukunft geöffnete Vergangenheit vorüber. Das Sein der Vergangenheit, als „das Sein dessen, was die Gegenwart vorübergehen lässt“18, beruht auf dem Gedächtnis und synthetisiert die „reine Vergangenheit in der Zeit“ die sich aus der „früheren“ und der „aktuellen Gegenwart“ zusammensetzt.19

    Im Unterschied zur ersten Synthese, die die Zeit als Kontraktion konstituiert, konstituiert die zweite Synthese, die Zeit als „Schachtelung der Gegenwarten selbst“20, die sie zugleich vorübergehen lassen und wieder zusammensetzen und so fort.

    Daraus folgt als erstes das „Paradox der Gleichzeitigkeit der Vergangenheit mit der Gegenwart, die sie gewesen ist“. Dies Paradox „gibt uns den Grund für die vorübergehende Gegenwart an. Darum nämlich, weil die Vergangenheit zu sich selbst als Gegenwart gleichzeitig ist, geht jede Gegenwart vorüber und vergeht zu Gunsten einer neuen Gegenwart.“21

    Als zweites Paradox folgt daraus „das Paradox der Koexistenz“: „Wenn nämlich jede Vergangenheit gleichzeitig zu der Gegenwart ist, die sie gewesen ist, so koexistiert die gesamte Vergangenheit mit der neuen Gegenwart, bezüglich welcher sie nun vergangen ist. Die Vergangenheit ist ebenso wenig ‚in‘ dieser zweiten Gegenwart, wie sie ‚nach‘ der ersten folgt.“22

    Ein drittes Paradox ergänzt die beiden vorangegangenen: „Jede Vergangenheit ist gleichzeitig zur Gegenwart, die sie gewesen ist, jede Vergangenheit koexistiert mit der Gegenwart, bezüglich welcher sie vergangen ist, aber das reine Element der Vergangenheit allgemein ist gegenüber der Gegenwart, die vergeht präexistent. Es gibt also ein substantielles Element der Zeit (Vergangenheit, die niemals gegenwärtig war), das die Rolle des Grundes übernimmt. Es selbst wird nicht repräsentiert. Repräsentiert wird immer nur die Gegenwart als frühere oder aktuelle Gegenwart.“23

    Die dritte Synthese der Zeit beschreibt ihren exzentrischen Charakter, ihre leere Form eines „dezentrierten Kreises der Differenz“ bzw. die Zeit als „Zu-Kommende [à-venir]“.24

    „In dieser dritten Synthese der Zeit sind nun also Gegenwart und Vergangenheit ihrerseits bloß Dimensionen der Zukunft: die Vergangenheit als Bedingung, die Gegenwart als Handelndes. […] In der dritten Synthese aber ist die Gegenwart nur mehr ein Akteur, ein Autor, ein zur Selbstauslöschung bestimmtes Handelndes; und die Vergangenheit ist nur mehr eine Bedingung, die aus Mangel wirkt. Die Synthese der Zeit bildet eine Zukunft […]“25

    Diese Zukunft als Wiederholung macht nun wiederholend aus sich selbst die „Hervorbringung des absolut Verschiedenen“, sie bewerkstelligt, „die Wiederholung für sich selbst“ als „Differenz an sich selbst“.26

    „‘Alles kehrt wieder‘ kann nur dort gesagt werden, wo die äußerste Spitze der Differenz erreicht ist. Ein und dieselbe Stimme für all das Viele, das tausend Wege kennt, ein und derselbe Ozean für alle Tropfen, ein einziges Gebrüll des Seins für alle Seienden. Wenn man nur für jedes Seiende, für jeden Tropfen und jeden Weg den Zustand des Exzesses erlangt hat, d.h. die Differenz, die sie verschiebt und verkleidet und wiederkehren lässt, auf ihrer schwankenden Spitze kreisend.“27

    ***

    Man kann und sollte sich fragen, ob die liturgische (und homiletische) Praxis der entsprechenden Kirchen der Christenheit, dieser denkerischen Herausforderung entsprechend agiert und man wird Milde walten lassen müssen, um sich überhaupt in der Intensität dieses Diskurses wiedererkennen zu können.

    In einem Laboratorium der kommenden (à venir) Kirche lässt sich eine Praxis in aller Vorläufigkeit (provisoire) skizzieren. Sie lässt sich auf der Folie der zeitsynthetischen Aktualisierung liturgischer Praxis lesen:

    Frère Roger von Taizé verbrachte 1978 vier Wochen in Mathare Valley, „dem ausgedehntesten Slum der kenianischen Hauptstadt Nairobi. In den Hütten aus Wellblech und Pappe, unter den erbärmlichsten Verhältnissen erfuhr er die Gastfreundschaft der Armen so eindringlich, dass einige Brüder dort eine Fraternität begannen. Sieben Jahre bewohnten sie eine Hütte und wuchsen als einzige weiße Bewohner in den Alltag des Slums hinein. Die Fraternität besteht noch, ist aber in einen anderen armen Stadtteil gezogen. Der in Afrika verfasste Brief beginnt mit einer Feststellung: ‚Je mehr wir in der Kontemplation Christi zu den Quellen des christlichen Lebens vorstoßen, desto wichtiger wird es für uns, nach Aktionslinien, nach Taten zu suchen, die wir im konkreten Alltag verwirklichen können.‘ Er enthält Vorschläge, wie sich die ‚Kirchgemeinden in Orte der Versöhnung verwandeln‘ können: ‚In einer Gemeinde, die Familie der Familien, Gemeinschaft der Gemeinschaften geworden ist, wird die Begegnung zwischen den Generationen möglich, können die besonderen Gaben jedes Lebensalters zur Geltung kommen.‘ […] Zunehmend deutlicher wurde den Jugendlichen empfohlen, sich nach Möglichkeit der örtlichen Kirchengemeinde anzuschließen und dort ein Ferment der Gemeinschaft zu sein.

    Im selben Text aus Afrika wird auch die regelmäßige Feier eines wöchentlichen Osterfestes vorgeschlagen, als eine Möglichkeit auf der Suche nach Formen ‚eines meditativen und allen zugänglichen Gebets‘. Jugendliche in Osteuropa hatten sich verabredet, freitagabends in unsichtbarer Gemeinschaft vor einem Kreuz zu beten, um auf diese Weise ‚mit dem Auferstandenen zu wachen und zu beten, der überall auf der Erde mit allen leidet, die Schweres durchzumachen haben‘. Von einem Besuch aus Moskau brachte Frère Roger eine dieses Gebet begleitende Geste mit: ‚Freitagabend allein oder mit anderen um das Kreuz herum beten, mit der Stirn das Holz eines Kreuzes zu berühren, das auf dem Boden liegt, und so die eigenen Lasten und die der anderen Christus zu überlassen, der bis zum Ende der Zeiten zusammen mit den Menschen im Todeskampf liegt.‘
    Weiterhin wird in diesem Brief empfohlen, den Samstagabend mit einer Auferstehungsfeier zu beginnen, ‚bei der im Schein vieler Kerzen ein Osterevangelium vorgelesen wird und an das sich ein Gebet durch die Nacht anschließen kann; am Sonntagmorgen wird dann Christus gefeiert, der sich in den Schriften und im Brotbrechen der Eucharistie zu erkennen gibt.‘ Viele Jugendliche und Erwachsene in Europa griffen den Vorschlag auf, solche ‚wöchentlichen Osterfeiern‘ zu feiern“.28

    ***

    Auf einer schwankenden Spitze kreisend.


  • théâtre pauvre: Krippenspiel II

    „Für ein armes Theater“ heißt ein Artikel des polnischen Theaterregisseurs und –Theoretikers Jerzy Grotowski aus dem Jahre 1967. In diesem Artikel geht es nicht um Krippenspiele. Aber er kann in mancherlei Hinsicht wie eine Anleitung für Krippenspiele gelesen werden. Armes Theater, théâtre pauvre, bedeutet für Grotowski, schrittweise zu eliminieren, „was sich als überflüssig erwies, wir fanden heraus, dass Theater ohne Schminke, ohne eigenständige Kostüme und Bühnenbild, ohne abgetrennte Aufführungsbereiche (Bühne), ohne Beleuchtungs- und Toneffekte usw. existieren kann.“1

    Das, was Grotowski in der Arbeit seines Theaterlaboratoriums in Opole, im Südwesten Polens, entdeckte, ist allermeist die Grundvoraussetzung von Krippenspielen. Aus Geldmangel und auch aus Mangel an Fachpersonal entsteht diese Situation. Und sie sollte im Sinne Grotowskis eben nicht als Mangel, den man also mit Behelfslösungen vertuschen sollte, sondern als schöpferische Herausforderung genommen werden.

    In diesem Sinne gilt: Lieber armes Theater, als dilettantisches Theater. Zumal das Krippenspiel seiner Herkunft nach in einem franziskanischen Zusammenhang von Armut steht, was in unserem Falle, die bewusste Einfachheit der Darstellungsmittel bedeutet.

    Die einfachste Form eines Krippenspieles ist die abschnittsweise gelesene Lesung der Weihnachtsgeschichte nach Lukas und die jeweils gesungene Antwort der Gemeinde und /oder Chor mit den entsprechenden Kirchenliedern von „Vom Himmel hoch da komm ich her“ über „Kommet ihr Hirten, ihr Männer und Frau‘n“, „Ihr Kinderlein kommet“, „Ich steh an deiner Krippen hier“ bis zu „Stille Nacht“ und schließlich „O du Fröhliche“.

    Und schon bei dieser szenisch noch nicht ausgearbeiteten Form des Krippenspiels deutet sich aus dem liturgischen Zusammenhang eines Gottesdienstes, der immer responsiv oder antiphonisch gebaut ist, an, worauf man theatralisch nicht verzichten kann. Mit Grotowski gesagt und das oben begonnene Zitat weiterführend: „Es [Theater] kann nicht existieren, ohne die Schauspieler-Zuschauer-Beziehung: eine perzeptuelle, direkte, ‚lebendige‘ Gemeinschaft.“2

    Im nächsten Entwicklungsschritt eines Krippenspiels wird dies sichtbar. Dieser Schritt besteht darin, die zu den Lesungen gehörigen Situationen als Tableaus, also Bildern aus Menschen, zu bauen. Mit einfachen zeichenhaften „Kostümen“ bekleidet, vervollständigt sich Lesung für Lesung das Bild. Die Krippe steht schon da. Maria, Joseph ziehen ein oder treten einfach auf und bleiben stehen. Mit einem schlichten Umhang, Hut oder Stab kommen die Hirten hinzu, ihre Zahl ist sehr variable, viele Leute können mitmachen; schon vorher der/die Engel…

    Ähnlich funktionieren die Passions- bzw. Osterspiele in ihrer einfachsten Form, dort sind die Kreuzwegstationen bzw. die entsprechenden liturgischen Teile der Osternacht mit der gesungenen Lesung des Evangeliums in verteilten Rollen der Ausgangspunkt. Sogar das Abendmahl und die Taufe können als performative Wiederholung der entsprechenden laut gelesenen Lesungen verstanden, entwickelt und gefeiert werden.3

    Sobald aber derartige szenische Formen, die mit dem amerikanischen Regisseur Peter Sellars eher Ritualisierungen als Inszenierungen sind, sich weiterentwickeln und damit Schauspielerinnen und Schauspieler ins Spiel kommen, gelangt unsere Grotowski-Lektüre an ihren neuralgischen Punkt.

    Denn die Subtraktion theatralischer Zeichen bedeutet zugleich eine Konzentration: „[W]ir betrachten die persönliche und szenische Technik des Schauspielers als den Kern der Theaterkunst“.4

    Dieser für Grotowski zentrale Satz bedeutet aber in seiner Anwendung auf die Praxis des Krippenspieles eine deutliche Grenze. Denn so gut wie nie werden Krippenspiele von Schauspielern und Schauspielerinnen gespielt. Soll aber die Praxis des Krippenspiels als Laientheater nicht zu einer Karikatur von Theater werden, bei der alle so tun, als ob sie Theater spielen könnten, gebührt diesem Punkt erhöhte Aufmerksamkeit.
    Denn natürlich kann mit darstellerischen Laien nicht gearbeitet werden, wie mit Schauspielerinnen und Schauspielern, die ihr Leben lang an ihrer Technik feilen. Also muss auch an dieser Stelle mit einer äußersten Einfachheit der darstellerischen Mittel gearbeitet werden, sozusagen zum Schutz der Spielerinnen und Spieler.

    Kurz gesagt können Laien auf einer wie auch immer gearteten Bühne, oder allgemeiner gesagt, in der Öffentlichkeit, nichts Anderes darstellen, als das, was sie im Alltag tun. Selbst das muss geübt werden, um es zu stabilisieren, sonst zerfällt es in der Aufregung.

    Diese Feststellung trifft sich mit der Kritik des englische Theaterregisseurs Peter Brook an Grotowski: „Grotowskis Arbeit und unsere haben Parallelen und Berührungspunkte. Darüber und über Sympathie und Respekt kamen wir zusammen. Aber das Leben unseres Theaters unterscheidet sich in jeder Hinsicht von dem Grotowskis. Er leitet ein Laboratorium. Er braucht Publikum nur gelegentlich, in kleiner Zahl. Er steht in einer katholischen Tradition – oder in einer antikatholischen; in diesem Falle treffen sich die beiden Extreme. Er schafft eine Form des Gottesdienstes. Wir arbeiten in verschiedenen Ländern, verschiedenen Sprachen, verschiedenen Traditionen. Unser Ziel ist nicht eine neue Messe, sondern eine Verbindung im elisabethanischen Sinne – wir wollen das Private und das Öffentliche verknüpfen, den Bereich des Intimen mit dem der Masse, das Verborgene und das Offenkundige, das Gewöhnliche und das Magische. Dazu bedürfen wir einer Menge auf der Bühne und einer Menge, die zuschaut – und mitten auf dieser Bühne voll von Menschen bieten einzelne ihre intimsten Wahrheiten einzelnen im Zuschauerraum voll von Menschen dar und teilen so mit ihnen eine gemeinsame Erfahrung.“5

    Man kann aber eben nur Erfahrungen teilen, die man selbst gemacht hat. Erfahrungen herstellen ist ein eigener Beruf, der eines Schauspielers oder der einer Schauspielerin. Erfahrungen „als ob“, sind nur für Insider, gern Familienangehörige, berührend. Für Außenstehende oder Zuschauer sind sie peinlich bzw. liefern diejenigen, die so tun als ob, schutzlos der Öffentlichkeit aus. Praktisch sollten Leute auf der Bühne also nichts tun, was sie nicht können, denn das verwandelt sich zu einem so-Tun-als-ob und wirkt unfreiwillig komisch.

    In der Konsequenz dieser Haltung steckt bei Grotowski etwas Theaterkritisches, etwas, das „die meisten unserer gewöhnlichen Vorstellungen vom Theater“ untergräbt.6

    Dieser Gedanke des Untergrabens sowie der einer Subtraktion der Theatermittel rücken den Entwurf des armen Theaters in die Nähe der Gedanken zu einem kleinen Theater, wie sie der französische Philosoph Gilles Deleuze im Gespräch mit den italienischen Theaterregisseurs Carmelo Bene entwickelt.

    Darin wird der Vorgang der Subtraktion ausgeweitet auf die „Subtraktion der starren Machtelemente, die eine neue Potentialität des Theaters freisetzt, eine nicht-repräsentative Kraft, die immer im Ungleichgewicht sein wird“.7 „Alle Machtelemente zu subtrahieren, zu streichen, in der Sprache und den Gebärden, in der Repräsentation und im Repräsentierten“macht aus dem armen Theater, théâtre pauvre, ein kleines oder minderheitliches Theater, théâtre mineur, das die Machtelemente des Theaters selbst subtrahiert.

    Im Zusammenhang des Krippenspiels bedeutet dies, nicht so zu tun, als ob es Theater wäre, und im theologisch-kirchlichen Sinne, nicht repräsentativ zu agieren. Das „Theaterzeichen“9  eines solchen nicht repräsentativen Theaters ist die leere Krippe.

    Was dies konkret bedeutet, kann man gut zeigen an der „Messe des pauvres“, der Armenmesse des französischen Komponisten Erik Satie. Die Messe des pauvres ist das einzige liturgische Werk des Komponisten. Es wurde zwischen 1893 und 1895 komponiert und erst 1929, also nach dem Tod Saties im Jahre 1925, veröffentlicht.10

    Anlass und Grund dieser Komposition sind unklar: Liebeskummer, eine mystische Krise… Die Messe ist zu Saties Lebzeiten nicht aufgeführt worden. Es stellt sich sogar die Frage, ob sie überhaupt für Aufführungen gedacht ist. Darauf deuten Spielvorschriften wie die Folgende über dem 3. Satz: Avec un grand oubli (Mit großem Vergessen) oder die Spielvorschrift über Satz 4: Même affirmation mais plus intérieur (dieselbe Behauptung aber mehr innen), oder der Titel des letzten Satzes: Prière pour le salut de mon âme (Gebet für mein Seelenheil).11

    Wie immer hat Satie „keine der traditionellen Formen wie Sonate, Variation, Fuge, Rondo oder was es sonst sei, verwendet. Es gibt keine Durchführungstechnik, keine Verarbeitung, also auch keine Entwicklungsform. Von Anfang an herrscht das Prinzip der Wiederholung, der Reihung.“12 Satie arbeitete eher mit einer „Baukastenmethode“13. Hinzu kommt die Entwicklung von „Klangmusik“, einer „Selbstständigkeit von Klang“. Dabei geht es „um unstrukturiertes Klingen in Form von Klangketten, Klangkontinuen, die oft in Kontrast zu Passagen treten, die melodisch oder rhythmisch strukturiert sind“14.

    „In der Messe des Pauvres verwendet Satie die gleichen Kompositionsprinzipien, die er in den vorhergehenden Stücken benutzt hat. Das neue an diesem Stück ist jedoch die Fixierung auf die Orgel sowie in den beiden ersten Sätzen das Einfügen von Text. Im ersten Satz sind die Worte Kyrie eleison und Christe eleison in einem gesonderten System und mit einer eigenen Melodielinie für Bässe oder höhere Stimmen notiert. Im zweiten Satz, der nur eine einzige Zeile lang ist, hat die Melodie zu Dixit meo Sede ad dexteris meis keine eigene Linie, sie ist die Oberstimme der Orgelakkorde und damit nicht solistisch hervorgehoben. Es ist die Frage, ob Satie die Worte überhaupt zum Singen dazu schreibt. Möglicherweise genügt es auch, sie einfach beim Spielen oder Hören hinzuzudenken, so wie bei den späteren Klavierstücken die Texte auch nicht gesprochen werden dürfen. Da Satie keine Besetzungsvorschriften für die gesamte Messe – etwa in der Überschrift – gibt, da die Besetzung auch im Verlauf der Sätze wechselt (zu Anfang Orgel mit Text, dann nur Orgel, zum Schluss Klaviersatz, d.h. ohne Orgelpedal), tut man wohl gut daran, die Frage nach der Art der Aufführung oder der Aufführbarkeit der Messe nicht so wichtig zu nehmen.“15

    So ist sie auch nicht zu Lebzeiten Saties aufgeführt worden. Teile der Messe wurden 1929 auf einem Konzert in Brüssel gespielt. Die gesamte Messe wurde erst am 14. März 1939 in der Église de la Sainte Trinité in Paris unter der Leitung von Olivier Messiaen aufgeführt.16

    Die Messe des pauvres von Erik Satie entspricht keinem traditionellen liturgischen Formular. Ein Gloria als dritten Satz, das Saties Bruder Conrad erwähnt, gilt als verschollen; es würde die Messe zu einer Missa brevis gemacht haben.17

    Aber so finden wir folgende Satzfolge der Messe des pauvres vor:
    1 ohne Überschrift18
    2 Dixit domine19
    3 Prière des Orgues20
    4 Commune qui mundi nefas21
    5 Chant Ecclésiastique22
    6 Prière pour les voyageurs et les marins en danger de mort, à la très auguste Vierge Marie, mère de Jésus23 
    7 Prière pour le Salut de mon âme24 .

    Ob es nun aus biographischen Gründen oder wegen eines nichtauffindbaren Manuskriptes (Gloria), ob in kompositorischer Absicht oder nur dem unvollendet Sein geschuldet, oder, was wahrscheinlich ist, einer Gemengelage aus alldiesem plus einer Prise (früh)dadistischen Ulks, dessen Satie durchaus fähig war25 : Diese Messe des pauvres unterwandert jedes Modell, sei es strukturell, historisch, institutionell26  oder musikalisch.

    So fand sie auch keinen Eingang in die kirchenmusikalische Praxis. Doch unerwartet erklingt sie zuweilen auf Theaterbühnen. Der Schweizer Theaterregisseur Christoph Marthaler erarbeitete mit seinem Ensemble in der Spielzeit 2016/17 an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz einen Abend mit dem Titel „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“27.

    Ein leerer Museumsraum mit Oberlicht. Transportkisten werden hereingerollt. Darin sind Puppen, die sich als Menschen erweisen, die beginnen sich zu erinnern, sich zu verselbstständigen. Sie singen, tanzen, machen merkwürdige Kunststücke, werden verschämt wieder herausgerollt, umrangiert… Schließlich bevölkern sie die Szene.

    In einer Situation im letzten Drittel der Aufführung stehen die Spielerinnen und Spieler vereinzelt den kahlen Wänden zugewandt und kichern vor sich hin. Ein Klavier auf dem vom Zuschauerraum aus rechten vorderen Bühnenrand beginnt, Akkorde zu spielen. Die Spielerinnen und Spieler drehen sich um, verharren in leicht bizarren Posen und starren schalkhaft ins Publikum. Einer setzt sich an ein Klavier auf der linken Bühnenseite. Beide Klavierspieler wechseln sich ab, wenn sie zugleich spielen ergibt sich oft ein kleines Echo. Dann beginnen die Spielerinnen und Spieler leise zu singen: Kyrie eleison, Christe eleison

    Da erklingt auf der Bühne zart, was sonst keinen Ort hat:

    Messe des pauvres


  • théâtre pauvre: Krippenspiel

    Der erste Biograph des Franz von Assisi, Thomas von Celano, unterteilte seine vita prima in zwei Abschnitte. Der zweite, kürzere Teil umfasste gerade die beiden letzten Lebensjahre des Gründers der fratres minores, die Jahre 1224 bis 1226.

    Celano lässt das Jahr 1224 bereits mit dem Weihnachtsfest 1223 beginnen. Der Adlige Giovanni Velita und Herr von Grecchio war ein Bewunderer des Franziskus und lud ihn ein, die Geburt Christi mit ihm zu feiern in einer Landschaft voll Höhlen und Einsiedeleien und einem steilen Berghang. Franziskus willigte ein und bat seinen Freund, aus diesem Anlass die Krippe von Bethlehem darzustellen. „Ich möchte mich gern an das Kind erinnern, das in Bethlehem geboren wurde, und mit meinen Menschenaugen die Schwierigkeiten seiner ärmlichen Kindheit sehen, wie es in der Krippe liegt und zwischen Ochs und Esel ins Heu gebettet wurde.“ So wird Franziskus‘ Ansinnen von Celano wiedergegeben.

    „In der Heiligen Nacht kletterten Männer und Frauen aus der gesamten Umgebung mit so vielen Kerzen und Fackeln den Berg hinauf, dass die Finsternis taghell erleuchtet war. Sie sangen, der Wald trug ihre Stimmen weiter, und von den Felsen kam das Echo zurück. Die Messe wurde gefeiert, und der Heilige psalmodierte nahe der Krippe den Text aus dem Evangelium und predigte ‚mit seiner leidenschaftlichen, schmelzenden, klaren und sonoren Stimme‘. Er verkündete ewigen Dank und Lohn. Ein Zuschauer hatte eine Vision: Er sah plötzlich das Kind in der Krippe und Franziskus darüber gebeugt, um es zu wecken. Greccio, das war das neue Bethlehem.“1

    Diese berühmte Szene an der Krippe von Greccio gilt als das erste Krippenspiel in der Geschichte der Christenheit und Franziskus als der Erfinder dieses Theaters. Was für die griechische Tragödie nach Aristoteles als mimesis beschrieben wurde, verwandelte Franziskus in eine imitatio der biblischen Geschichte und stellt sie in einen liturgischen Zusammenhang. Worum es dabei ging, wird biographisch klar und deutlich.
    Eines Tages im September 1224 las Franziskus in dem einzigen Buch, was er bei sich hatte, dem Evangelium, die Leidensgeschichte Jesu. „Am nächsten Tag – wahrscheinlich am 14. September 1224 – hatte er seine letzte Vision: Er sah über sich einen Mann mit sechs Flügeln wie ein Erzengel, dessen ausgebreiteten Arme und eng aneinander liegenden Beine an ein Kreuz genagelt waren. Als er über diese Vision voll Freude und Trauer meditierte, öffneten sich an seinen Händen und Füßen blutende Löcher, und an seiner Seite klaffte eine Wunde. Der Heilige hatte seinen Weg in der Nachfolge Christi vollendet. Er war der erste Stigmatisierte aller Christen, der ‚gekreuzigte Diener des gekreuzigten Herrn‘. Dieser Vorgang verwirrte und erschütterte ihn. Er versuchte, seine Wundmale zu verbergen und bandagierte sich Hände und Füße.“2

    Der Fluchtpunkt des imitatorischen Theaters ist die imitatio Christi, die sich am eigenen Körper bzw. im eigenen Leben realisiert, vor anderen, für anderen, unter anderen, verborgen vor anderen. Hier verwandelt sich die Theatralität selbst.

    Diesen Impuls des franziskanischen Krippenspieles am deutlichsten aufgenommen haben die Kleinen Schwestern Jesu. Sie leben das „Geheimnis von Nazareth“, was konkret heißt, „das Kind von Bethlehem, das in Einfachheit und ohne Macht zu uns kommt, als Herzmitte zu betrachten“.3

    „Wie Jesus 30 Jahre lang in Nazareth gelebt hat, verborgen, unbeachtet, mitten unter den Menschen, so sind unsere Gemeinschaften dort, wo die Ärmeren, die ‚kleinen Leute‘ sind. Mit ihnen teilen wir Schmerz, Trauer, aber auch das Schöne und die Hoffnung. Der einfache Alltag verbindet uns und die Freundschaft wird zu einem Geschenk.“4

    ***

    Der Dramaturg und Dichter Hugo Ball experimentierte während des Ersten Weltkrieges im schweizerischen Zürich mit Lauten und Worten. Er tat dies nicht auf Kanzeln oder in Kirchen. Im Cabaret Voltaire und in der Galerie Dada machte er sich auf die Suche nach einer Sprache, die einer von den Kanzeln geflohenen Antikriegspredigt hätte angemessen sein können.

    Hugo Ball verstand seine dadaistischen Experimente als Geste des Protestes gegen den Kriegund wollte der Sprache seiner Zeit entkommen, „dieser vermaledeite[n] Sprache, an der Schmutz klebt wie von Maklerhänden, die die Münzen abgegriffen haben“6.

    Er erfand Lautgedichte, testete sie auf der Bühne des Cabaret Voltaire, entdeckte, dass er beim Vortrag in einen liturgischen Singsang verfiel7 ]und erkannte, dass seine Experimente D.A.D.A. eine doppelte Anrufung Dionysios des Areopagiten8  waren. Dieser Spur ging er später in seiner Studie über das Byzantinische Christentum9  genauer nach.

    Ein in mehrfacher Hinsicht überraschendes Experiment unternahm Hugo Ball im Juni, also im Sommer des Jahres 1916. Er nahm die franziskanische Tradition von 1223 wieder auf.

    „Das ‚Krippenspiel‘ (Concert bruitiste, den Evangelientext begleitend) wirkte in seiner leisen Schlichtheit überraschend und zart. Die Ironien hatten die Luft gereinigt. Niemand wagte zu lachen. In einem Kabarett und gerade in diesem hätte man das kaum erwartet. Wir begrüßten das Kind, in der Kunst und im Leben.“10

    In sieben Szenen
    I. Stille Nacht: die Hirten auf dem Felde
    II. Der Stall: Ochs, Esel, Lamm, Maria und Joseph
    III. Die Erscheinung des Engels und des Sterns
    IV. Die Verkündigung: der Engel
    V. Die heiligen drei Könige: die Könige und ihre Karawane
    VI. Ankunft im Stalle: Maria und Joseph, die Könige, das Jesuskind
    VII. Die Prophezeiung: Hinweise auf die Kreuzigung, Nageln, Klagelaute“11 –,
    die teilweise wörtlich dem Lukas- bzw. dem Matthäusevangelium entnommen, paraphrasiert oder um Einschübe erweitert wurden, entwickelt sich „ein kontrapunktisches Rezitativ, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen oder dergleichen, so zwar, dass ihre Begegnungen den elegischen, lustigen oder bizarren Gehalt der Sache ausmachen.“12

    Um die Worte des Evangeliums herum erklingen „Klänge und Geräusche, die durch verschiedene Instrumente und Stimmen erzeugt wurden, darunter die Laute der beteiligten Tiere, das ‚muh‘ und ‚ia‘ von Ochs und Esel, das ‚bäh‘ des Schafs, aber auch das Geräusch der Windes (‚f f f […] f ffff t t‘), des Sterns (‚Zcke, zcke, […] zcke ptsch, zcke ptsch‘) oder der ‚Ton der heiligen Nacht‘ (‚hmmmmmmmm […]‘), Klanggebete von Joseph und Maria (‚ramba ramba ramba […] b-vara, m-bara, …‘) und das ‚Geräusch der Litanei‘, das an lateinische Klänge erinnert (‚do da do da […] dorum darum […]‘“13

    In die zart und vertraut wirkende Zwiesprache von Evangelientext, Klang und Geräusch der Weihnachtsgeschichte tritt in der letzten Szene „die Gewalt wie ein Blitz“14 , indem die Worte Mariens, sie bewege all diese Worte in ihrem Herzen, direkt auf die Kreuzigung bezogen werden: „Und sie sah einen Berg und drei Kreuze aufgerichtet. Und sie sah ihren Sohn verspottet und mit einer Dornenkrone gekrönt. Und sie kreuzigten ihn. Aber sie wussten, dass er am dritten Tage wieder auferstehen werde, verklärt“.15

    Schon der Zeitpunkt – 3. Juni 1916 – dieses Krippenspiels im Sommer durchkreuzt seinen imitatorischen Charakter wider den ersten Anschein: „Trotz des für ein Weihnachtspiel ungewöhnlichen dramaturgischen Kunstgriffs, Maria den Tod und die Auferstehung Christi bereits bei der Geburt vorhersehen zu lassen, weicht Balls Text inhaltlich nicht von der überlieferten Geschichte ab.“16

    Der Zeitpunkt könnte erklärt werden mit der realen Ankunft der damals neunjährigen Tochter von Emmy Hennigs, Hugo Balls Frau, die er wie seine eigene Tochter annahm. Diese Ankunft legt die Spur zu der Absicht Hugo Balls mit dem Krippenspiel in seiner dadaistischen Form „das Kind an sich“ zu feiern, „aber zumindest ebenso das Kindliche in Dada“.17

    „Im Krippenspiel werden zwei wesentliche Stilelemente des Dadaismus miteinander verbunden: das von Tzara, Huelsenbeck und Janco am 30. März 1916 durch den Vortrag eines Poème simultane im Cabaret Voltaire eingeführtes Simultanistische und das Bruitistische, die von den italienischen Futuristen erfundene Geräuschmusik. Im Krippenspiel hat sich Ball an Experimenten Luigi Russolos orientiert, da er neben konventionellen Musikinstrumenten wie dieser auch selbstgefertigte Instrumente zur Geräuscherzeugung benutzte. Bei Ball sind alle Geräusche an konkrete Vorstellungen geknüpft, letztlich ist es eine Lautmalerei und keine abstrakte Tonkunst. Die Abstraktion hat Ball dann erst in seinen Lautgedichten vollzogen.“18

    Diese Analyse verschiebt den Charakter dieses Krippenspiels vom dramatischen Ausgangspunkt hin zu einem musikalischen. Ball nennt es ja auch ein concert bruitiste.

    Die Theatralität des Krippenspiels verwandelt sich in Richtung „Schattenspiel, denn die Mitwirkenden befanden sich hinter einem großen weißen Tuch und saßen zudem mit schwarzen Tüchern verhängt mit dem Rücken zum Publikum“. Hinzu kommt, dass „der Raum abgedunkelt war und nur hin und wieder Licht aufleuchtete“.19

    Doch Balls gedanklicher Fluchtpunkt in Bezug auf seine Krippenspielaufführung findet sich in einer Tagebuchaufzeichnung zehn Tage später, in der er von einer gnostischen Sekte schreibt, „deren Adepten vom Bilde der Kindheit Jesu derart benommen waren, dass sie sich quäkend in eine Wiege legten“. Er beschließt dies Notat mit der Feststellung: „Die Dadaisten sind ähnliche Wickelkinder einer neuen Zeit“.20

    Im August des Jahres 1916 nahm Hugo Ball ein wenig Abstand zu den Züricher Dada-Aktivitäten; er kommt während eines Aufenthaltes am südöstlichen Ufer des Lago Maggiore in seinen Notizen auf den Gedanken der Kindheit zurück:

    „Die Kindheit als eine neue Welt, und alles kindlich Phantastische, alles kindlich Direkte, kindlich Figürliche gegen die Senilitäten, gegen die Welt der Erwachsenen. Das Kind wird der Ankläger sein beim jüngsten Gericht, der Gekreuzigte wird richten, der Auferstandene verzeihen. Das Misstrauen der Kinder, ihre Verschlossenheit, ihre Ausflüchte aus der Erkenntnis, doch nicht verstanden zu werden.
    Die Kindheit ist keineswegs so selbstverständlich, wie an gemeinhin glaubt. Sie ist eine kaum beachtete Welt mit eigenen Gesetzen, ohne deren Erhebung es keine Kunst gibt und ohne deren religiöse und philosophische Anerkennung keine Kunst bestehen und aufgenommen werden kann.
    Die gläubige Phantasie der Kinder ist indessen auch aller Verderbnis und aller Verkehrtheit ausgesetzt. Sich überbieten in Einfalt und Kindsköpfigkeit –: das ist noch die beste Gegenwehr.“21

    ***

    Als der Bühnenbildner und Theaterregisseur Einar Schleef 1963 während seines Studiums zum ersten Mal eine Aufführung im Berliner Ensemble sah, erinnerte ihn der Aufbau des Theaters – die „Reste des Epischen Darstellungsstiles“ – an etwas Unerwartetes.

    „Bühne und Zuschauer sind durch eine ‚Glaswand‘ getrennt, durch die die Zuschauer die künstliche, höchst künstlerische Anordnung eines Schaukastens mit bewegten Figuren erblicken, eines Schaukastens, der von einem krönenden, goldenen Portal und Logen umgeben ist, ähnlich einer barocken Krippe. Im Gegensatz zu der meist üppigen Ausstattung der Stallräumlichkeiten, lässt Brecht seine Bühne, ihren Mittelpunkt leer. In jeder Krippe manifestiert sich dort die Heilsbotschaft.“22

    Brechts Theater sei ein „leerer Raum, der nur von der ‚Idee‘ gefüllt wird“. Er „betont den Kontrast der protzig maroden Farbigkeit, betont das Gold und Rot des Zuschauerraums gegen das Grau seiner Ausstattung.“ Denn der Zuschauer „erblickt Staub, den Staub der Geschichte, den Staub seiner Biografie, den zurückgelassenen Staub seiner Entwicklung“. Es sitzt also nicht der Zuschauer selbst „in Sack und Asche, sondern die Figuren der Bühne“, die er sieht.23

    Brecht hatte sich sehr darum bemüht, den „Formenkanon der Frühphase des Berliner Ensembles“ durch modellhafte Aufzeichnungen der Inszenierungen in sogenannten Modellbüchern vor dem Verschleiß zu bewahren. Die Hauptfrage und damit zugleich das Hauptproblem bestand für Brecht darin – so Einar Schleef in seiner Analyse – „dass er das Problem der Gottesabwesenheit begriffen, und durch Gottesanwesenheit, hier Ideologie, ersetzt hat“. Diese Veränderung sei in seinen Arbeiten vom Stück „Die Mutter“ an deutlich nachzuweisen. „Modellinszenierungen und Gottanwesenheit lassen Rückschlüsse auf Herkunft seiner Theatervorstellungen zu, die sich deutlich aus dem Krippenspiel herleiten, in dem die Verbindung von Gottanwesenheit und Modellinszenierung ihren Höhepunkt feiert. Vorbild des ‚Armeleutetheaters‘, das immer Waffe der Avantgarde bleibt, bei ihrem Sieg jedoch langsam in Puppenstubigkeit erstickt.“24

    Schleef meint mit „Puppenstubigkeit ihrer Umsetzung“ das, was bei Brecht „den Nachweis der sieghaften Ideologie und ihrer vorzuführenden Helden“ bedeutet und damit keinen Einblick in „die inneren Probleme der Figuren“ mehr erlaubt. Dazu bedürfte es nämlich Darstellungen, die den „Brecht-Kanon“ in Frage stellen. Denn die „Existenz eines Gottes sichert nicht dessen Anwesenheit“.25 

    Das musste auch Richard Wagner erfahren, in dieser Hinsicht in Schleefs Analyse Brecht durchaus nahe. Wagner hatte die Gottabwesenheit mit handelnden Göttern und monumentalen ästhetischen Lösungen zu ersetzen versucht, was ihn in seine eigene Art von „Puppenstubigkeit“ führte.

    Brecht jedenfalls gerät mit seinem Bühnengrau der Anfangszeit zunehmend „in Konflikt mit der aufbauorientierten Polit-Bürokratie“. Er greift „zum Farbtopf und koloriert nachträglich“, gibt seine Grau-Definition unter politischem Druck mehr und mehr auf. „Was er theoretisch noch ablehnt, sieht auf seiner Bühne praktisch schon ‚bunt‘ aus. Seine Umsetzungen verlieren an Stabilität. Immer mehr Kunstgewerbe bevölkert die Bühne, der angestrebte Darstellungsstil verkommt.“ Schließlich wird „das visuelle Armeleute-Theater, das sich um das Kind in der Krippe vollzieht“, aufgegeben.“26

    Die Herausforderung besteht in der Gottabwesenheit. Sie verwandelt Theatralität, ermöglicht Erfahrung von Alterität, Erfahrung eben von etwas, was man nicht schon weiß, kennt, gesehen der gehört hat, Erfahrung von etwas, was sich dem Zugriff entzieht.

    Im Zweifel knüpft sie an einfachste frühere Erfahrungen an: Einar Schleef hatte als Kind selbst in Krippenspielen mitgespielt. Es waren seine ersten Theatererfahrungen überhaupt. „Ich hatte noch nie Theater gesehen, außer Krippenspiele, in denen ich mitspielte. Ich stand als Hirt neben dem Altar, in den Dielen der Sangerhäuser Stifte, dem Armenhaus, den zugigen Durchgängen […]. Verschreckte Muttchen öffneten einen Spalt ihre Tür oder schlugen mit einem Stock um sich.“27

    Wenn Krippenspiele ihre Verbindung zum Armeleute-Theater verlieren, ersticken sie in Puppenstubigkeit…


  • minderheitlich werden IV

    Wie kommt einer der bedeutendsten Anthropologen dazu, von seiner Wissenschaft „als mindere Wissenschaft“ zu sprechen? Die Spur der Antwort auf diese Frage findet sich im Haupttitel des Veröffentlichungsprojektes, deren Untertitel die „Anthropologie als mindere Wissenschaft“bezeichnet. Der Haupttitel heißt: „Anti-Narziss“ und die Antwort wie folgt:

    „Das Hauptanliegen des „Anti-Narziss“ ist es – ich sollte wohl eher schreiben: ‚wäre es‘, aber entlehnen wir meiner Disziplin doch hier einmal das ethnologische Präsens –, auf folgende Frage zu antworten: Was ist die Anthropologie den Völkern, die sie erforscht, in begrifflicher Hinsicht schuldig?

    Die Implikationen dieser Frage werden zweifelsohne viel deutlicher hervortreten, wenn wir uns dem Problem von der anderen Seite aus nähern. Die Frage lautet dann: Lassen sich die Differenzen und die Veränderungen der anthropologischen Theorie vor allem – und aus historisch-kritischer Sicht sogar ausschließlich – anhand der Strukturen und Konjunkturen der Machtgefüge, der ideologischen Debatten, der intellektuellen Felder und der akademischen Kontexte erklären, denen die Anthropologen jeweils entstammen?
    Sollte das etwa die einzige theoretisch relevante These sein?

    Oder können wir nicht vielmehr eine Umkehrung der Perspektive vornehmen, die zeigen würde, dass die interessantesten Begriffe, Probleme, Entitäten und Akteure, die von anthropologischen Theorien hervorgebracht werden, in der Vorstellungskraft gerade jener Gesellschaften selbst wurzeln, die durch sie erklärt werden sollen? Läge nicht gerade hier die Originalität der Anthropologie: in dieser stets doppeldeutigen, oft aber eben auch furchtbaren Allianz zwischen Vorstellungen und Praktiken aus den Weiten von ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘?

    Die axiale Frage des ‚Anti-Narziss‘ ist also eine epistemologische, das heißt: eine politische. Wenn wir uns alle mehr oder weniger einig sind, dass sich die Anthropologie – obwohl der Kolonialismus eines ihrer historischen Apriori darstellt – heute auf die Schließung ihres karmischen Zyklus zubewegt, müssen wir auch akzeptieren, dass es an der Zeit ist, den Rekonstruktionsprozess der Disziplin zu radikalisieren und ihn bis zu seinem Ende zu führen. Die Anthropologie ist dazu bereit, sich nun vollständig ihrer wahrhaften Mission zu widmen: Theorie und Praxis der permanenten Dekolonialisierung des Denkens zu sein.“2

    Und das bedeutet eben konkret, im Anderen nicht immer nur die Maske zu entdecken, hinter der wir selbst stecken, sondern in ihr/ihm ein Bild zu sehen, in dem wir uns nicht erkennen. Somit bietet „jede Erfahrung einer anderen Kultur die Gelegenheit zum Experiment mit unserer eigenen Kultur“.3

    Neben zahlreichen weiteren Implikationen spielt für den brasilianischen Anthropologen Eduardo Viveiros de Castro in Bezug auf sein spezielles Forschungsgebiet eine Veränderung der anthropologischen Vorgehensweise im Zentrum, für die er gemeinsam mit anderen den Begriff des „amerindianischen Perspektivismus“ vorschlug.4 Aus der Perspektive der amerikanischen Indigenen würden sich auch die Perspektive unseres eigenen Denkens verändern können.

    Für unseren Zusammenhang verbirgt sich in diesem Perspektivwechsel die antinarzisstische Kritik eines der zentralen christlichen Sakramente und trifft dabei ausgerechnet auf eines der übelsten Vorurteile, das diesem Sakrament je entgegengebracht wurde.

    Doch zunächst bereiten wir diese Kritik vor und folgen den Lektüreschneisen des Philosophen und Biologen Cord Riechelmanndurch das Buch Viveiros de Castros in zwei Schritten. Der erste betrifft den Körper.

    Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss erzählte zweimal in seinen Werken eine Geschichte aus den Zeiten der Entdeckung Amerikas. Zur Zeit der Reformation also schickten die Spanier eine Untersuchungskommission auf die Antillen, die herausfinden sollte, ob die sogenannten Eingeborenen eine Seele besäßen. Unter anderem kam dabei heraus, dass die Europäer nie daran gezweifelt hatten, dass die Indigenen einen Körper besaßen, denn Tiere hatten ja auch einen, wogegen die Indios nie einen Zweifel daran hatten, dass die Europäer eine Seele besaßen, denn die Tiere und die Totengeister bzw. die Götter hatten ja auch eine.6

    Lévi-Strauss schlussfolgerte daraus unter anderem, dass „bei gleicher Unkenntnis auf beiden Seiten, das letztere Verhalten gewiss menschwürdiger“ war.7

    Viveiros de Castro wechselt die Perspektive, wenn er zu denken vorschlägt, dass „in diesen indigenen Welten die Beziehung zwischen diesen beiden Anderen der Menschlichkeit, zwischen Animalität und Göttlichkeit“ eben „eine völlig andere wäre als die, die wir vom Christentum geerbt haben“.8

    „Der große Unterschied betrifft den Körper.“9 In der europäischen Anthropologie gehört der Körper „der Dimension des Angeborenen oder des Spontanen (der ‚Natur‘) an, jeder Dimension, die das gegenerfundene Resultat einer ‚konventionalisierenden‘ Operation der Symbolisierung ist, während andererseits die Seele der konstruierten Dimension angehört, insofern sie die Frucht einer ‚differenzierenden‘ Symbolisierung ist, die ‚die konventionelle Welt spezifiziert und konkretisiert, indem sie radikale Unterscheidungen vornimmt und ihre Individualitäten umreißt‘. In den indigenen Welten hingegen wird die Seele ‚als eine Manifestation der allen Dingen implizierten konventionellen Ordnung erfahren‘, sie ‚fasst die Arten und Weisen zusammen, auf die ihr Besitzer anderen [Dingen] ähnlich ist, und zwar noch vor den Arten und Weisen, auf die er sich von ihnen unterscheidet‘. Der Körper hingegen gehört zur Sphäre dessen, was in der Verantwortung der Akteure liegt; er ist eine der fundamentalen Figuren, die es gegen den angeborenen und universellen Grund einer ‚immanenten Menschlichkeit‘ zu konstruieren gilt. Kurzum kann man sagen, dass die europäische Praxis im ‚Seelenmachen‘ (und Differenzieren von Kulturen) ausgehend von einem gegebenen körperlich-materiellen Grund (der Natur) besteht; die indigene Praxis hingegen besteht im „Körpermachen“ (und Differenzieren von Spezies) ausgehend von einem ‚von jeher‘ gegebenen sozio-spirituellen Kontinuum“.10

    „Und genau an diesem Punkt“, so beschreibt Cord Riechelmann unseren zweiten vorbereitenden Schritt, „kommt die Praxis der Kannibalen ins Spiel: […] Es handelte sich im Kannibalismus im ein elaboriertes System aus Gefangennahme, Hinrichtung und zeremoniellem Verschlingen von Feinden. Die Kriegsgefangenen durften dabei bis zu ihrem Tod noch lange auf dem Dorfplatz mit ihren Feinden zusammenleben. Sie wurden gut behandelt, es war üblich, ihnen Frauen aus der Gruppe als Gattinnen zu geben. Die Gefangenen wurden also in Schwäger transformiert – Feind und Schwager wird in allen Tupi11 -Sprachen durch dasselbe Wort bezeichnet.

    Für Viveiros zeigte sich im Kannibalismus und in der damit verbundenen indigenen Art der Kriegsführung ‚eine paradoxale Bewegung der wechselseitigen Selbstbestimmung vom Standpunkt des Feindes‘. Der Standpunkt des Feindes wurde durch die Einverleibung eine vitale Bedingung der Selbstbeschreibung.

    Und aus dieser Bewegung entwickelte Viveiros die Idee, dass das Innen des gesellschaftlichen Körpers vollständig durch die Vereinnahmung symbolischer Ressourcen von außerhalb – Namen und Seelen, Personen und Trophäen, Wörter und Erinnerungen – konstituiert wird.12

    Mit den Worten Viveiro de Castros: „Indem er als Prinzip die Einverleibung feindlicher Attribute wählt, gelangt der armerindianische Sozius dahin, sich eben nach diesen Attributen zu ‚definieren‘, zu bestimmen.13
    Im Sinne eines „Experimentierens mit der eigenen Kultur“ setzt hier die antinarzisstische Kritik eines der zentralen christlichen Sakramente, nämlich des Abendmahles, ein und trifft dabei ausgerechnet auf eines der übelsten Vorurteile, das diesem Sakrament je entgegengebracht wurde, den Kannibalismus.

    Wird die Praxis des hoc est corpus meum und des hoc est sanguis meum auf der Folie der amerindianischen Praxis des Kannibalismus gelesen, so müssen der corpus meum und das saguis meum als symbolische Ressourcen eines Außerhalb verstanden bzw. gegessen und getrunken werden. Die antinarzisstische Pointe dieses Gedankens besteht in einer doppelten Herausforderung, im corpus meum und im sanguis meum nicht nur nicht uns selbst, sondern einen Anderen, einen Fremden zu erkennen und uns über diese selbst zu bestimmen.

    Die aktuelle politische Brisanz dieser Perspektive wir deutlich, wenn man Viveiro de Castros Konsequenzen dieses Gedankens sieht: „[D]ie primitive Gesellschaft als eine Gesellschaft ohne Innen, die allein außerhalb ihrer selbst ist. Ihre Immanenz koinzidiert mit ihrer Transzendenz.“14

    Damit betrifft eine antinarzisstische Kritik des Abendmahles nicht nur die persönliche Praxis der Christinnen und Christen, sondern auch die daraus folgenden, bzw. unmittelbar damit verbundenen Gemeinschaften, die Kirchen.

    „Für Viveiros liegt in diesem Verhältnis der Indigenen Südamerikas zum Anderen ein nichttotales Verständnis ihrer Gesellschaften begründet. Gegen Émile Durkheims Vorstellung, dass der Glaube des Stammes zugleich der Glaube an den Stamm, das Sein und die Erhaltung des Seins des Stammes in seiner ausschließenden Totalität sei, erkennt Viveiros im Selbstverständnis der ‚Wilden‘ Südamerikas eine grundlegende Unzulänglichkeit in ihrem Selbstverständnis als Stamm.

    Zu bezweifeln, dass die Wilden dieses Götzenbild der Totalität ihres Stammes verehrten, bedeutet zugleich, die Vorstellung von der Gesellschaft als einer reflexiven und identitären Totalität, die sich durch die grundlegende Geste des Ausschlusses eines Äußeren begründe, in Zweifel zu ziehen, schreibt Viveiros.“15

    Cord Riechelmann resümiert seine Lektüre des Buches „Kannibalische Metaphysiken“ von Eduardo Viveiros de Castro wie folgt:

    „Aus der Konzeption der indigenen Gesellschaften als vor allem unvollständige und damit auch unabgeschlossenen Gebilde folgt aber wesentlich mehr als nur ein an den Rändern durchlässiges Modell von Stamm oder Gesellschaft. Ihre Gesellschaftsform kannte keine Totalität, sie setzte keine identitäre Monade oder Blase voraus, die obsessiv ihre Grenzen festlegt und das Äußere nur als Spiegel für eine Bewegung mit sich selbst benutzt.“16

    Das europäische Christentum zog mit der Geste der Unterwerfung in die Welt. Vielleicht liegen dort nun die Schlüssel zu seinem heutigen Überleben, zu seinem minderheitlich-Werden.

  • Körper

    Ausgehend von den Schilderungen des Körpers des Auferstandenen in den Evangelien stellt sich immer wieder die Frage danach, wie der auferstandene, verherrlichte Körper vorzustellen sei und was sich daraus für eine körperliche Praxis der Auferstehung folgern lässt.

    Die mehrfach geschilderte erste Erfahrung mit dem Körper des Auferstandenen muss bestürzend, ja gespenstisch gewesen sein. Der Körper des Auferstandenen glich seinem irdischen Körper zu verwechseln auch in seinen Vollzügen: Gehen, Essen, Trinken, Sprechen…

    In der Folge wurden sie identisch gedacht. Die auferstandenen Körper seien dieselben wie die irdischen Körper, nur eben unvergleichlich besser. Und dieses Besser – also der Unterschied – ließe sich geradezu ornamental beschreiben mit den Begriffen: „Leidensunfähigkeit (impassibilitas), Behändigkeit (agilitas), Feinheit (sublimitas) und Glanz (claritas)“1.

    In seinen Forschungen zum Gebrauch der Körper bedeutet es für den italienischen Philosophen Giorgio Agamben keine besondere Schwierigkeit, diese „Ornamente des verherrlichen Körpers“ aus der theologischen Tradition heraus zu beschreiben. Im Blick auf eine körperliche Praxis der Auferstehung müsse es aber vielmehr um die Frage gehen, „wie dieser Körper seine vitalen Funktionen ausübt, das heißt, ob man eine Physiologie des verherrlichten Körpers formulieren kann. Denn der Körper steht unversehrt wieder auf, mit allen Organen, die er während seines irdischen Daseins hatte.“2

    Wie ist es also mit der Verdauung nach der Auferstehung, wie mit dem Wachstum, wie mit der Zeugung? Diese Fragen lösen bizarre Vorstellungen aus und wurden auch entsprechend behandelt. Aber es erscheint als „unmöglich, dass die entsprechenden Organe völlig nutzlos und leer sind, denn in der vollkommenden Natur gibt es nichts Nutzloses“.

    Von hieraus gedacht, erhalten die Überlegungen eine neue Richtung. „Es geht darum, das Organ von seiner speziellen physiologischen Funktion zu trennen. Der Zweck der Organe, wie der jedes Werkzeugs, ist der ihrer Wirksamkeit; doch das bedeutet nicht, dass, wenn die Wirksamkeit schwindet, das Werkzeug nichtig wird. Das Organ oder das Werkzeug, das von seiner Wirksamkeit getrennt und sozusagen aufgehoben ist, erwirbt ebendeshalb eine ostensive Funktion, stellt die der aufgehobenen Wirksamkeit entsprechende Kraft zur Schau.“3

    Dieser ausgestellte Leerlauf ad maiorem Dei gloriam ermöglicht einen neuen Gebrauch. „Einen Körper zu gebrauchen und sich seiner als eines Werkzeugs zu bedienen ist nämlich nicht dasselbe.« Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine nichtssagende Zweckfreiheit, sondern es geht darum, »eine zielgerichtete Tätigkeit außer Kraft zu setzen, um sie auf einen neuen Gebrauch einzurichten, der den alten nicht abschafft, sondern auf ihm beharrt und ihn zur Schau stellt«. Wie bei einem Tänzer, »der die Ökonomie der Körperbewegung desorganisiert und zerstört, um sie intakt und zugleich transfiguriert in seiner Choreographie wiederzufinden.“4

    Eine solche körperliche Praxis, versetzt den Körper eines Menschen „nicht in eine höhere, edlere Realität“, sondern entdeckt erstmals seine eigene körperliche Wahrheit.  Beispielsweise wird „der Mund – wenn er sich zum Kuss öffnet – wahrhaft Mund, die intimsten und geheimsten Teile zum Ort eines geteilten Gebrauchs und Genusses“, und auf diese Weise die alltäglichsten Gesten zu einer unlesbaren Schrift, deren verborgene Bedeutung der Tänzer für alle entziffert“.5

    Doch die „Menschen in der christlich-abendländischen Kultur“ sind „keine tanzenden Menschen“.6 Körper werden einzig als Objekte von Herrschaft und Eigentum behandelt und entsprechend zugerichtet. Der französische Rechtshistoriker und Kulturwissenschaftler Pierre Legendre sieht dafür die christliche Morallehre und ihrem notorischen Ausfall gegen das Begehren in der Verantwortung. Der gesetzgebende Text „bemächtigte“ sich der vor allem als sündig wahrgenommenen Körper, „zerstückelte“ sie und „regelte“, reglementierte ihre öffentlichen Bewegungsabläufe für Liturgie, Exerzierplatz und klassisches Ballett.7

    Erst der moderne Tanz wendet sich gegen die Spaltungen dieses Gesetzes, befreit die Körper und erforscht sie seither grundlegend neu.8  Auf diese Weise führen Choreografinnen und Choreographen mit ihren Tanzensembles auf ihre eigene Art die oben skizzierten Ansätze über den Gebrauch und die Praxis der Körper als ein „Denken in Bewegung“9 konkret fort; weit außerhalb von Theologie und kirchlicher Praxis.

    Die Choreographin Sasha Waltz begann mit ihrer Trilogie „Körper“, „S“ und „noBody“ im Jahre 2000 an der Berliner Schaubühne eine „Recherche, die nach den Bedingungen des menschlichen Lebens und des menschlichen Körpers fahndete.“10

    „Der Körper ist immer das Material und das Darstellungsmittel des Tänzers: Was ihn ausmacht, was er bedeutet, bevor er mit Geschichten und Identitäten besetzt wird, was von ihm überhaupt denkbar und vorstellbar ist, außerhalb von sozialen Beziehungen, war eine der Fragen, den die Choreographin in der Trilogie verfolgte und damit eine anthropologische Perspektive anlegte.“11

    Der materiale Blick auf den Körper abstrahiert zunächst von der Sexualität und dem Begehren, um den „bloßen Menschen“ ins Zentrum zu stellen. Der erste Teil der Trilogie „Körper“ stellt diesen zunächst „sachlich aus und nach. Die Organe werden bezeichnet und mit Preisen versehen, von vielen Händen übereinander gehaltene Teller zeichnen die Wirbelsäule nach, Wasser läuft in und aus den Körpern der Tänzer, in die Haut wird gegriffen und Tänzer daran gepackt, als wären sie ein Sack…“12

    Ein solches „Theater der Bilder“ weckt nicht nur vielfach Assoziationen, es stellt auch Fragen. Sie sind in unserem Zusammenhang überraschend konkret und aktuell:
    „Warum man zum Beispiel mit dem eigenen Körper so wenig vertraut ist; wo die Grenzen der Sprache liegen, die ihn zwar benennen kann, aber nur wie ein Ding von außen; warum Krankheiten so unbegreiflich sind; warum vieles von dem, was dem Körper Genuss und Entspannung verspricht, was seine Leistung erhöhen oder seinen Zustand verbessern soll, so oft ins Gegenteil umschlägt und sich aggressiv gegen ihn richtet?“13
    Auch „Bilder von Sport und Konsum“ werden „aufgerufen“. Sie spitzen die Fragen zu: „Warum eigentlich tun wir uns das an? Wäre ein anderes Leben möglich, ein anderes Verhältnis zum Körper, das weniger materialistisch und mehr von einer spirituellen Energie geprägt ist?“ „Gigantische Märkte“ sind entstanden, um den Körper zu pflegen „in der Pharmazie, in der Medizin, im Wellnessbereich und im Sport, in der Mode und in der Pornoindustrie. Aber macht uns das glücklich oder auch nur zufriedener mit den Körpern, die wir haben?“14

    Vor diesem Hintergrund erscheint der zweite Teil der Trilogie, „S“, wie „ein utopisches Stück, weil es die Fragen nach einem anderen Leben stellt: Was möglich wäre jenseits der festgefügten Rollenmuster, zum Beispiel von Mann und Frau, aber auch jenseits aller anderen Zuordnungen und sozialen Hierarchien, wie sie sich unter anderem über die Codes der Kleidung definieren.“

    „S“ geht von der Oberfläche des Körpers aus, „der Kommunikation der Haut, der Bedeutung von Berührung und Nähe“, so dass dieses Stück „neben dem Augensinn auch im Zuschauer ganz neue Rezeptoren anspricht und mit ganz großer Sanftheit sprichwörtlich unter die Haut geht“: „Nackt liegen die Tänzer auf der Bühne, in großer Langsamkeit entfaltet sich über die Berührung eine Erkundung ihrer Körper. Ihre Nacktheit ist so weit entfernt vom sexualisierten Blick der Massenmedien, so anders als die gewohnte Nacktheit in Fotografie und Film, mit der Erotik und Sexualität fast immer zur Ware werden.“15 Hier erscheint Nacktheit mit paradiesischer Unschuld verbunden.

    Im dritten Teil „noBody“ tritt ein weiterer Fragenhorizont hinzu: „Denn oft glaubt man, weniger einzelnen Figuren, als vielmehr der Gesellschaft einer Stadt zuzusehen, wie sie sich in Ritualen der Gemeinschaften formt. Etwas geschieht, etwas unerklärliches, nicht Verstehbares, etwas Bedrohliches bricht herein, Sündenböcke werden gesucht, Opfer werden gefunden. Einzelne werden ausgestoßen. […] Manchmal ist das Muster, nach dem sich die Vielheit der Tänzer zum Bild einer Einheit zusammenfügt, auch viel sanfter und der Naturpoesie abgeschaut, wenn Bewegungen und Energie durch die dichtgedrängt stehenden Körper läuft, wie der Wind durch ein Feld.“16

    Einzelne Szenen handeln von der „Unbegreifbarkeit des Todes“. Ein Tänzer zwängt sich in das Kostüm eines anderen Tänzers, der leblos erscheint, hinein. Ersterer schleudert den Leblosen wie eine Puppe herum, „wie einen siamesischen Zwilling“ und bringt doch „kein Leben mehr in ihn“ zurück…17

    Tanzen ist die Art der Körper, in der Welt zu sein, so könnte man einen Ausspruch der belgischen Tänzerin und Choreographin, Anne Teresa De Keersmaekers, abwandeln. Das ist ganz direkt gemeint: „Tanzen ist immer noch das Einfachste, Natürlichste, was der Körper kann.“18 Und: „Sich zu drehen war für mich die natürlichste Art zu tanzen“.19

    My walking is my dancing ist De Keersmaekers berühmter Ausgangspunkt: Gehen „ist die Basis der menschlichen Bewegung, wir haben eine vertikale Aufrichtung des Skeletts und zwei Füße. (Steht auf und geht durch den Raum.) Es ist die Verbindung zur Erde. Gehen hat mit der Schwerkraft zutun. Man kann tanzen auch sehen als den Versuch, die Schwerkraft herauszufordern. Gehen organisiert auch meine Zeit. Es ist die einfachste Weise, mein Verhältnis zur Welt und zu den Menschen zu organisieren.“20

    Der Übergang vom Gehen ins Tanzen ist fließend: „Ich betrachte das Gehen als den Tanz im Reinzustand. Das Gehen ist die einfachste Bewegung, jeder kann es, man kann es zusammen machen. Es ist immer der Ausgangspunkt eines möglichen Tanzes. Es organisiert den Raum und die Zeit. Gehen regiert auch unseren sozialen Raum. Zum Beispiel kann ich mich von Ihnen entfernen. Und ich kann es sehr schnell oder langsam tun. Ich habe ein parametrisches Denken: wenn ich eine Choreographie entwerfe, bringe ich einen der Parameter in Bewegung um die Schönheit dieser oder jener Bewegung zu steigern, indem ich sie lebendiger oder befremdlicher mache. Zum Beispiel wenn ich mit dem Parameter „Zeit“ arbeite, spiele mit extremer Beschleunigung oder mit extremer Verlangsamung.“21

    Eine besondere Rolle im Verhältnis zur Bewegung der Körper, die man Tanz nennt, spielt die Musik, wenngleich der Tanz der „Musik ein autonomer Partner bleiben“ muss und „sich niemals von ihr versklaven oder in ihren Bann schlagen lassen“ darf.22

    Insbesondere in der Musik Bachs lassen sich nach Anne Teresa De Keersmaekers „Erfahrungen erkennen, die ins Gedächtnis jedes einzelnen menschlichen Körpers eingeschrieben sind: Freude, Wut, Trost, Verachtung, Rache, Mitleid, Vergnügen, Schmerz, Melancholie, Ekstase… […] Seine Musik bewegt aber nicht nur emotional, sie berührt einen auch körperlich.“23 „Bach unterschrieb seine Partituren immer mit Soli Deo Gloria. Seine Musik strebt ganz klar danach, die göttliche Ordnung, die im Universum sichtbar wird, widerzuspiegeln – sie drückt ein unbändiges Verlangen nach Harmonie aus. […] Ich empfinde sie als Architektur in Bewegung, die einerseits an der horizontalen Achse des Kontrapunkts und der vertikalen Achse der Harmonie ausgerichtet ist.“24

    Von hier aus wird deutlich, inwiefern im modernen zeitgenössischen Tanz die Spuren für die Erforschung einer Praxis auferstandener Körper gesehen werden können. Die Dringlichkeit, eine neue Theorie und Praxis der Körper innerhalb des Christentums zu erfinden und zu leben wird umso deutlicher, seit in den letzten Jahren immer mehr geschundene, missbrauchte und vergewaltigte Körper laut des Wort ergreifen und ihren Schmerz herausschreien, der unzweifelhaft dem Schrei am Kreuze gleicht. Dies ist der Horizont des berühmten Satzes von Pina Bausch:

    „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren!“


     
  • Ein Gastspiel

    Hauptsatz liturgisch-homiletischer Theorie und Praxis.1

    http://vimeo.com/319431054


  • Paris. Ostern 1294

    Der junge Dominikanermönch Eckhart ist Magister an der Universität in Paris.1 Zu Beginn des Semesters 1293/94 hatte er einen Vortrag zur Einleitung seines Kommentars über die berühmten Sentenzen des Petrus Lombardus gehalten und sich darin nicht lange bei den üblichen Schulweisheiten aufgehalten, sondern direkt zu Beginn Bibelauslegung mit Naturforschung kombiniert und überragende Wissenschaftler anderer Religion zu Worte kommen lassen: den arabischen Astronomen Alfraganus und den jüdischen Gelehrten Moses Maimonides.

    Ostern beginnt Eckhart seine Predigt über den ersten Korintherbrief des Paulus: »Christus ist als Osterlamm geschlachtet. So lasst uns denn ein Mahl halten« (5,7) ähnlich spektakulär. Nachdem er erklärt hatte, dass mit dem Mahl in Paulus‘ Text das Abendmahl dieses Ostergottesdienstes gemeint sei, zitiert er Cicero als den Rhetoriker, den Augustinus immer empfohlen habe.

    Cicero hält unter den Kriterien einer guten Rede fest, »dass Unerwartetes, Unglaubliches und Ungewohntes die Hörer am meisten fasziniere«. 2 Eine Rede müsse »den Hörer direkt betreffen – tua res agitur –; sie muss Unglaubliches, also Wunderbares enthalten; sie muss Neues, also Ungewohntes sagen«. Sie muss etwas Großes ansprechen, was über die Natur hinaus geht.3

    Und eben dies geschehe jetzt in der »österliche[n] Aufforderung, ein Freudenmahl zu halten. Denn hier werde uns Gott, die ›unbegreifliche intelligible Kugel‹, sphaera intelligibilis et incomprehensibilis, deren Zentrum überall und deren Peripherie nirgends ist, in der Form des Brotes als Speise angeboten«.4

    Mit seiner Gottesbeschreibung griff Eckhart auf die zweite Definition der vierundzwanzig Philosophen zurück, auf jenen geheimnisvollen Text, der wahrscheinlich aus dem 12. Jahrhundert stammt und einer der wirkungsvollsten philosophischen Texte des Mittelalters ist.

    »Deus est sphaera infinita cuius centrum est ubique, circumferencia nusquam.

    Gott ist die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist.«5

    Ohne sich in den spekulativen Interpretationsmöglichkeiten dieses Satzes zu verlieren, stellt Eckart in seiner Osterpredigt »das Abendmahl dar als die ideale Erfüllung der rhetorischen Regeln Ciceros wegen der staunenerregenden unbegreiflichen Präsenz der unendlichen Einheit in einem Stück Brot«.6

    Dieser älteste erhaltene Text von Meister Eckhart ist ein brillantes Zeugnis experimenteller Homiletik, die rhetorische Theorie und gottesdienstliche Praxis für einen Moment zusammenfallen lässt.

    – Als der amerikanische Komponist John Cage im Jahre 1982 von jungen Komponisten nach einer Empfehlung gefragt wurde, antwortete er ihnen: »Meister Eckhart lesen!«. Für junge Predigende heute sollte man ergänzend hinzufügen: John Cage hören.


  • „So wie es bleibt, ist es nicht“ (III)

    Der Dada-Erfinder Hugo Ball hatte Anfang der 1920er Jahre in seiner Schrift „Die Folgen der Reformation“ (1919/24)1 überdeutlich die aus der Reformation hervorgegangene deutsche Verbindung von Thron und Altar für das Grauen des Ersten Weltkrieges verantwortlich gemacht. Um die Radikalität seiner Analyse ins rechte Verhältnis zu setzen, zeichnete er drei Heiligenleben des „Byzantinische[n] Christentum[s]“ (1923)2.

    Im Orient, den Luther negiert hatte3, – bei Ball ist „die Zeit der Kirchenväter, des Urchristentums und der frühbyzantinischen Kirche“4 gemeint – würden sich die Quellen eines erneuerten Christentums finden lassen, wollte es nicht in noch schlimmere Verheerungen verwickelt werden.

    Der prophetischen Klarsicht dieser These in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg steht eine tragische historische Realität gegenüber, die Hugo Ball nicht kannte. Die orientalischen Christen, namentlich die armenischen und assyrisch genannten, aramäisch sprechenden Christen, wurden im Schatten des Ersten Weltkrieges zielgerichtet und systematisch vertrieben und vernichtet. Und zwar unter wissender Billigung der deutschen Kriegsmacht in aller Grausamkeit ausgeführt vom damaligen verbündeten Osmanischen Reich.5

    Eine erschütternde Folge dieser bis heute politisch geleugneten Vernichtung war ihre Vorbildrolle für die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg, eben der noch schlimmeren Verheerung. Kaum weniger erschütternd erscheint die grausame Fortsetzung der Minderheitenvernichtung unter islamistischem Vorzeichen einhundert Jahre später: heute.6

    „Auch, wenn die Orientchristen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Christen weltweit nur einen kleinen Teil ausmachen, wäre ihr Verschwinden schwerwiegend, weil sie die noch lebenden Zeugen des christlichen Ursprungs sind.
    Im Westen vergessen wir oft, dass es diese Gemeinschaften gibt und wir erinnern uns auch nur ungern an sie. Paradoxerweise werden sie in ihren eigenen Ländern oft verfolgt, weil sie vermeintlich den Westen repräsentieren. Während sie in der laizistischen Politik des Westens oft übersehen werden, weil sie Christen sind. […]
    Wir müssen verstehen, dass die Christen nur abwandern, weil sie sich zum ersten Mal nach 14 – 15 Jahrhunderten des Widerstands nicht mehr wehren können. Den Christen bleibt nur noch eins: in den Westen zu gehen, den sie sich christlich erträumen und dann völlig säkularisiert vorfinden. Dort können sie zwar materiell überleben, aber nicht spirituell, weil ihnen das Umfeld für ihre Identität fehlt. Wirklich eine Katastrophe der Zivilisation. Es scheint sich abzuzeichnen, was kommen wird, nämlich, dass Identität entweder mörderisch ist, oder reine Folklore. Und das wofür die Orientchristen historisch standen, war ihre Mittlerrolle. Das Christentum ist bei ihnen entstanden, dann der Islam. Sie waren immer ein Teil davon. Aber unsere Welt will keine Vermittler mehr, kein sowohl als auch. Das signalisieren uns die Orientchristen. Deshalb ist ihr Drama von universeller Bedeutung.  Es zeichnet ein tragisches Bild der Welt von morgen. Umso unentschuldbarer ist unsere Gleichgültigkeit. […] Wenn sie sterben, sterben auch wir.“7

                                                               ***

    Irgendwann zwischen dem 9. und den 12. Jahrhundert lebte ein Mann, irgendwo zwischen Konstantinopel, Damaskus oder Alexandrien. Dieser Mann wurde „in ein großes Becken aus rotem Marmor getaucht“. Das „Untertauchen im kalten Wasser“, das „reinigende Taufbad“ ließ ihn eine Atemlosigkeit als „glühenden Exzess seines Atems“ erleben. Der Art, dass er „für sein ganzes Leben auf jede sinnliche Flüssigkeit, jeden Wasserguss [verzichtete], als wolle er sich die Erinnerung an jenes Taufbad, in dem er neu geboren war, absolut rein, unverfälscht und einzigartig bewahren. Nie mehr wollte er trinken, nachdem er den Rausch dieses einzigen Eintauchens erlebt hatte“.8

    Philotheos Sinaita ist der Name dieses Mannes und wir wissen wenig von ihm. Es ist nicht ganz einfach seine Spur aufzunehmen. Der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman stieß auf ihn in einem Dictionnaire de spiritualité aus dem Jahre 1854 und folgte dessen Verweis auf die Philokalie.

    Diese in der Ostkirche weitverbreitete Schriftensammlung von etwa 36 Autoren, die zwischen dem 4. und dem 15. Jahrhundert lebten, wurde 1782 in Venedig zum ersten Mal herausgegeben von Nikodemus Hagiorita und Makarios von Korinth. Die Herausgeber selbst waren vermutlich erst wenige Jahre zuvor in einer Bibliothek auf dem Berg Athos auf diese Schriften gestoßen.9

    In dieser Philokalie finden sich die nur wenige Seiten umfassenden vierzig Kapitel bzw. Absätze des Philotheos über die nepsis, die Nüchternheit oder die Wachheit. Weitere Schriften dieses Autors sind aller Wahrscheinlichkeit nach bei einem Brand im Jahre 1868 zerstört worden.10

    Philotheos lebte nicht lange nach Johannes Klimakos11 und hatte seinen Namen – und damit das, was er in seinem innersten Wesen war: Ein Freund Gottes – in jenem Taufbad empfangen. Diese Erfahrung der Taufe hatte er in eine Praxis umgewandelt und dafür ein Wort erfunden, welches die Aufmerksamkeit des Philosophen Georges Didi-Huberman auf sich gezogen hatte. Philotheos war der „Erfinder des Wortes ‚photographieren‘“12.

    Er lebte in der Wüste, dort, wo der brennende Dornbusch gestanden haben soll in der Nähe eines Ortes namens Batos.  „In der ockerfarbenen Wüste am Hang des Horeb vollendete er unablässig das reinigende Taufbad durch ein Bad im Feuer, wiederholte er die Atemlosigkeit während des einstigen Untertauchens im kalten Wasser durch die glühenden Exzesse seines Atems. Er versuchte von nun an, seine Augen in der gleißenden Flut des Sonnenlichtes zu ertränken. Stellte sich vor, ein Bild zu werden, indem er sich dem Licht aussetzte. Der einzige Weg, so dachte er, um zu sehen und selbst gesehen zu werden von dem, was er ‚Gott‘ nannte“.13

    So erfand er eines Tages das Wort „photographieren“. „Er spürte seinen Körper und das Innere seines Körpers, als wäre es ein Tropfen blutroten Wachses, in den sich ein Siegel eindruckte. Dort in mir, dachte er, schreibt Gott durch das Licht sich ein, phôteinographeistai, ‚photographiert‘ sich. Und es ist dort, dachte er zugleich, dass ich ihn sehe. Und er öffnete seine Augen so weit, dass er sich vorstellte, alle Schleier für immer durchbrochen zu haben – die Augenlider, die Schleier der Sinne, die Trugspiegelungen, die Nacht selbst. In diesem Moment schien ihm, unter der Gewalt des Lichts Rauch aus seinem Körper auszuströmen, weil er von diesem Licht ‚photographiert‘ war, das Siegel des Lichts sich in seinem tiefsten Inneres eingedrückt hatte, und er selbst das Licht wurde, das er von Angesicht zu Angesicht geschaut hatte.“14

    Die Erfindung des Wortes „photographieren“ bezog sich bei Philoteos also keineswegs auf die Herstellung visueller Gegenstände oder gar ihre technische Reproduktion, sondern auf eine Erfahrung, auf eine „einzigartige, nichtreproduzierbare Erfahrung“15. Diese Erfahrung entspricht nicht einem „Vergnügen der Bilder oder der Formen der Realität“, sondern der Erfahrung einer „reinen taktilen Intensität“16. Im Falle des Philoteos ist es die Intensität des Lichtes, „bei dessen Anblick zu sehen gleichbedeutend ist mit nichts mehr zu sehen“.

    Philotheos war kein „Gelehrter der Wüste“, der uns mit „Tausenden von tiefgründigen Wahrheiten und Maßregeln überschüttet“ hat. „Er suchte keine Moral und keine Erkenntnis. Er begnügte sich damit zu sein“17, im Licht zu sein. Doch dieses Sein ist kein stillgestelltes, besitzendes, herrschendes oder repräsentatives Sein. Es ist ein Sein, das sich sinnlichen Erfahrungen von Intensitäten aussetzt, ein Werden.
    Schon die Taufe des Philoteos war „kein Symbol der Aufnahme in die Kirche“, also ein Verwaltungsakt, „sondern ein Rausch, eine Erleuchtung und Überwältigung“.18 Nur Erfahrungen dieser Intensität lassen sich fortführen und bleiben im Werden.

                                                              ***

    Die Geschichte des Begriffes Werden (devenir) geht zurück auf Heraklit und die griechische Tragödie. Im alten Griechenland ist die Verwendung dieses Begriffes kein Privileg der Philosophen, es ist Teil des städtischen Lebens. Dort sind sowohl die sogenannten phallophorischen Prozessionen als auch die Rolle der Pythia Ausdruck der Suche nach einer Positivität des Werdens. Was also die Tragödien auf der Theaterbühne zeigen, ist das Werden in Aktion (des devenirs à l’œuvre).

    „Das, was Heraklit dem Konzept des Werdens hinzugefügt hat, und was aus ihm wahrscheinlich einen singulären Denker seiner Zeit gemacht hat, ist eine Bejahung (affirmation). Mit ihm ist das Werden nicht mehr die Quelle von Furcht und Unsicherheit, sondern von Zustimmung. Diese Bejahung macht aus dem Werden die Textur des Lebens selbst und damit wird das Sein (être) zum Sein des Werdens (l’être du devenir). Durch Heraklit ist das Sein zugleich nicht: es ist ganz und gar Werden und nur parallel ist es Sein: Sein des Werdens. Das bedeutet, dass das Werden weder irgendetwas außerhalb des Seins – transzendent – ist, noch das es irgendeine Bedingung des Seins gäbe – wie ein a priori, das außerhalb des Werdens existiert.“19

    Der Heraklitleser Friedrich Nietzsche hat mit seiner sogenannten Ewigen Wiederkehr dem Werden den Aspekt von Bewegung hinzugefügt. „Das was wiederkommt und dem Sein unaufhörlich als Wiederkehr erscheint, ist Werden (des devenirs). Nietzsche fügt dem heraklitischen Konzept eine unzeitgemäße bzw. gegenzeitliche (intempestif) Bewegung hinzu, die das Sein in allen Teilen durchquert, in der Art einer Ewigen Wiederkehr.
    Die Ewige Wiederkehr ist die Bewegung (mouvement) des Werdens über das Sein hin, das sich seiner Erscheinung nach wie ein Spiel, ein Würfelspiel, organisiert. Die Wiederkehr ist das Sein des Werdens, wie das Sein sich nur als sein Werden behauptet (s’affirme).

    Bei Nietzsche ist das Werden (les devenirs) eine Bewegung der behauptenden Bejahung (affirmation) und der Schöpfung (création). Werden setzt im Verhältnis zum Sein ein Bewegungsspiel in Gang, das gegen jegliche unveränderliche und ewige Wahrheit (vérité immuable et éternelle) spielt […]  Spiel des Seins und des Lebens in überschwänglicher Bejahung des Werdens“20.

    Von Heraklit über Nietzsche wird das Werden als „reine Bewegung“ beschrieben, die das Sein durchkreuzt und bedingt“21. Gilles Deleuze geht noch einen Schritt weiter und verschmilzt nun Sein und Werden. Werden durchquert und modifiziert nicht mehr nur das Sein, sondern das Werden wird jetzt zur Bedingung des Seins selbst.

    Damit verschiebt sich die ontologische Grundvoraussetzung von einem mehr oder weniger statischen Sein in Richtung Bewegung, Differenz, Werden. „Das Sein ist eine Summe von Werden (devenirs). Diese immer offene Summe unterwirft das Sein heterogenen und chaotischen Variationen […] Es ist konstituiert durch ein Ensemble des Anders-Werdens (devenirs-autres), dessen Intensität eine beständige (perpetuelle) Metamorphose autorisiert.“22

    Diese ständige Veränderung wird von Deleuze ganz konkret beschrieben: „Der Counter-Tenor lebt [singend] ein Frau-Werden, während der Tischler in Ausübung seines Handwerks ein Holz-Werden lebt“23.
    Oder berühmt geworden: „Die Wespe und die Orchidee geben das Beispiel. Die Orchidee erweckt den Anschein, ein Bild der Wespe zu formen, aber in Wirklichkeit ist es ein Wespe-Werden der Orchidee und ein Orchidee-Werden der Wespe, zweifach: das, was jede wird, verändert nicht weniger die, die wird. Die Wespe wird in dem Moment Teil des Reproduktionsapparates der Orchidee, in dem die Orchidee zum Geschlechtsorgan der Wespe wird.“24

    Es ist die öffnende oder aufschließende Kraft (puissance) eines Werdens zu einem anderen, sein eigenes Anders-Werden, das es von jeglicher Herrschaft (pouvoir)25 absetzt, die ein Sein lediglich repräsentiert. Deleuze beschreibt diese Unterwanderungsbewegung als Selbst-Befremdung (rendre étranger à soi-même) bzw. ein Abziehen von allem, was mit Herrschaft zu tun hat (soustraire tout ce qui relève du pouvoir) und nennt dieses Vorgehen minderheitlich (mineur).26

    Man wird also minderheitlich, um im Werden zu bleiben.


     
  • Lautlesen

    Bei seinen Untersuchungen der Quellentexte des alten Griechenland beobachtete Friedrich Nietzsche, dass Literatur zunächst gar nichts mit „litterae oder Lettern“ zu tun hatte. Zumindest bis Euripides, von dem überliefert ist, dass er zu den wenigen Athenern zählte, die eine Bibliothek besaßen, waren nämlich griechische Denker keine Schreiber. Denn ihre Verse fanden als „rhapsodischer Vortrag, lyrischer Tanzgesang oder dramatische Inszenierung grundsätzlich mündlich“ statt.

    In der Folge bestand auch das Publikum nicht aus Leserinnen und Lesern, sondern aus Hörerinnen und Hörern. Und selbst das Lesen war ein lautes Lesen, das „den ganzen Körper und eine laute Stimme brauchte. Die fälschlich so genannte Literatur der Griechen war also eine wesentlich mündliche Körpertechnik“1.

    Erst mit Sokrates und Euripides werden „all diese Sprechhandlungen in ein sogenanntes Denken überführt“, das „Nietzsche jedoch medienhistorisch als Schreiben entziffert“2. Von da an beruhen auch Rezeption und Interpretation nicht mehr auf einem Erlebnis, einer Erfahrung, sondern auf Lektüre.3

    Diese Erkenntnis hat weitreichende Konsequenzen für das Sprechen, die Sprache und das Denken. Sie schlägt sich konsequenterweise in Nietzsches eigenen Schriften nieder. Der Theaterregisseur Einar Schleef war ein leidenschaftlicher Leser und auch Sprecher von Nietzsches Texten. Seine Erfahrungen insbesondere mit „Zarathustra“ (1883/84) und „Ecce homo“ (1888) haben homiletische Implikationen, ja sie rütteln an der landläufigen homiletischen Praxis.

    Obgleich beide Schriften jeweils aus vier Teilen bestünden, ließe sich jedoch keine durchgängige Art der Konstruktion erkennen, dafür aber der Einsatz von zwei Sprachen. Einer „Sprech-Sprache“ und einer „Schrift-Sprache“. Die Sprech-Sprache sei eine prophetische Sprache, die Schrift-Sprache beschreibende oder erzählende Prosa.

    Der Schlüssel zur Unterscheidung beider Sprachen ist für Einar Schleef das laute Lesen:

    „Beim Lautlesen fallen Abweichungen und Vernachlässigung in den 2 verwendeten Sprachen deutlich auf, da sie sich einer schnellen Artikulation, somit einer schnellen Interpretation verwehren, den Lese- und Verständnisfluss dämmen und verlangsamen. Nur das Lautlesen eröffnet den Zugang zu beiden Sprachen, da für Nietzsche die laut gesprochene Formulierung und Verfolgbarkeit eines geordneten Denkvorgangs eng beieinanderliegen, seine Vorbilder sind nicht nach der Antike ausgerichtete theoretische Schrift-Texte, sondern der mündliche akademische Vortrag, die protestantische Predigt, wie sehr er sich auf dagegen wehrt, der pastorale Ton ist die Rettung der vertracktesten Argumente, erst durch dieses Pathos, den erhobenen Zeigefinger, nicht lehrerhaft dümmlich, sondern alttestamentarisch, wird jede Fehlinterpretation abgeriegelt, werden widersinnigste Formulierungen geradegerückt.“4

    Der Frankfurter Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann kommentiert Einar Schleef: „Es ist deutlich: hier ist die Sprache radikal als das Medium der Anrede, der Überwältigung, der überfließenden Geste des Berührens gefasst, als An-Sprache, Zu-Sprache – und zwar durchaus im Sinne seine Vorbilds Nietzsche zur Rhetorik der alten Griechen bzw. im Sinne von Nietzsches eigener Sprachauffassung. Ihr zufolge ist ‚die Sprache ursprünglich nicht gemacht, die Wahrheit zu sagen‘, sie ‚will nicht belehren, sondern eine subjektive Erregung und Annahme auf andere übertragen‘“.5

    Zur Schrift-Sprache wird eine solche Sprech-Sprache durch „Harmonisierung“, einer „Streckung“ als „Erziehungsprozess mit bösartigen Folgen“. „Sprachstreckung heißt hier das Einbringen von Füllworten, das künstliche Aufbereiten der Verstehbarkeit des Textes, die Herausarbeitung seiner gedanklichen Klarheit, die sich schließlich als Inhaltsleere herausstellt.“6

    Sprachstreckung ordnet die Sprech-Sprache dem „Diktat einer urban herrschenden Schrift-Sprache“ unter. In Nietzsches Texten könne man den „Widerstand“ gegen diese Schrift-Sprache genau beobachten: „Selbst beim Lautlesen können häufig Inhaltssprünge nicht mitvollzogen werden, so dass man sich mit künstlichen Pausen behelfen muss, bis die jeweilige Wendung inhaltlich durchdacht und von den Sprechwerkzeugen formuliert werden kann. Feststeht, dass sich Inhalt nur über die laute Formulierung, sowohl für den Sprechenden als auch für den Zuhörer, aufschließt.“7

    Was für die Sprechenden und für die Hörenden gilt, betrifft auch den Autor selbst, denn Schleef fährt fort: „[D]er eigene Text [wird] auch für den Autor [erst] verstehbar, indem er hörbar wird“, als würde „das laute Sprechen“ dem Autor, der Autorin „den eigentlichen Gedanken, der ihnen beim Schreiben nicht gegenwärtig war, zurückführen“ und so erst „handhabbar“, als „Wunsch nach dem Echo der eigenen Gedanken in der anderen Stimme […] erst nachträglich verständlich“.8

    Nietzsche rückte die Sprache, das laute Sprechen, und in der Folge Rhetorik und Homiletik, wieder in die Nähe der Tragödie, jenem „Theater der Grausamkeit“ (Antonin Artaud), das aus der Notwendigkeit kommt, erfahrenen Schmerz umzuwandeln, um nicht an ihm zugrunde zu gehen.

    Konsequenter Weise müsste auch das Ziel des Sprechens, der Rhetorik oder Homiletik, etwas anderes sein als Überzeugung persuasio. Das klingt zu sehr nach Belehrung, vermeintlicher Wahrheit, nach Sprachstreckung und Abschließen.

    Die Erkenntnis der Tragödie ist denn auch weniger Belehrung oder Überzeugung, sondern anagnorisis, Wiedererkennung. Sie ist überraschender Weise in der aristotelischen Poetik eine „eigentümlich vernachlässigte Kategorie“9.

    Aristoteles bezeichnet mit anagnorisis einen „Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis mit der Folge, dass Freundschaft oder Feindschaft eintritt, je nachdem die Beteiligten zu Glück oder Unglück bestimmt sind“.10 Dabei lassen sich mehrere Arten der Wiedererkennung unterscheiden, etwa ob diese an einen Gegenstand oder eine Person gebunden ist. Sie ist allerdings ein Erkennen, das „nicht allein ein neues Wissen, sondern zugleich eine affektive Reaktion beim Zuschauer“ auslöst.11  Hier spielt das „Miterleben, die Raumzeit des Theaters entscheidend mit, meine ‚Zeugenschaft‘, die mich im Theater in der identifizierenden Übernahme der Erkenntnis mit dem Helden verbindet“.12

    Als Beispiel bringt der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehman folgende Stelle aus Sophokles‘ „König Ödipus“: „Ja, Du bist es Orest! Gott, ich selbst bin es, Ödipus, der den König tötete!“13 Diese Stelle erinnert sehr an den Erkenntnismodus von Stellen aus den Evangelien, wo z.B. Petrus sagt: Du bist Christus!14

    Anagnorisis bedeutet also: „Ein plötzlicher Umschlag, eine Umwendung, die wie ein radikaler Beleuchtungswechsel funktioniert. Mit einem Mal ist nicht nur eine Identifizierung vorgenommen, sondern die gesamte dramatische Situation offenbart sich neu. Das vorher nur bewusstlos Registrierte, nicht im Zusammenhang erkannte erweist sich als Zusammenhang, als bislang verborgene, nun offenbar gewordene Logik der Geschehnisse, zeigt sich dadurch erst als Gestalt, als Szene. Er ist als ob bei der Ausarbeitung dieser Kategorie der theaterferne Logiker Aristoteles bauchrednerisch doch aus einer Erfahrung des Theaters heraus gesprochen hätte. Oder diese aus ihm.“15

    Nun arbeitet die anagnorisis auf dem Theater in sehr unterschiedlicher Weise. Die Wiedererkennung kann schon zu einer „Wiederverkennung“ werden: „Zwei Fremde stehen einander gegenüber und reden aneinander vorbei“.16 Über der Wiedersehensfreude kann die Handlung regelrecht ins Stocken geraten und sich zu einem „Konflikt zwischen Handeln und Nichthandeln“17 auswachsen. Oder einer der beiden Personen „gibt sich nicht zu erkennen, weil er sich nicht zu erkennen geben will“18, er traut der sich dadurch eröffnenden Handlungsmöglichkeit nicht. In anderem Zusammenhang ist die anagnorisis ein Prozess, der sich aus verschiedenen Erkenntnismomenten zusammensetzt und einer „realen Vergegenwärtigung“19 gleichkommt.

    In jedem Falle meint anagnorisis nicht ein „ein für allemal erworbenes Wissen“. Sie weist auf „einen Moment“ der Erkenntnis hin, „eine Art affektgeladener Erleuchtung, die blitzartig geschieht“. Der nicht identifizierte und Pseudo-Longinos genannte Autor, dessen Schrift „Über die Erhabenheit“ im Allgemeinen auf die erste Hälfte des ersten Jahrhunderts datiert wird, macht auf diesen „performativen Kern“ der antiken Rhetorik aufmerksam. Der Redner überzeuge seine Zuhörer weniger, als dass er sie überwältige, sie wie ein Blitz träfe und etwas mit ihnen tue.20

    Das Lautlesen zeigt die Sprechsprache in der Schriftsprache an. Es öffnet Texte für ihre impliziten Erfahrungen, ihre fortwährenden Möglichkeitsräume. Es geht um das „Spiel der Plötzlichkeit von Einsichten, die im nächsten Moment schon wieder dahin sein können“21, die Hörenden aber verändert zurücklassen.

     

  • Jesus died for somebody’s sins

    Lange bevor Patti Smith bekannt und mit dem popkulturellen Prophetinnen-Titel Godmother of punk1 geehrt wurde, begann sie als Dichterin auf den Spuren des von ihr bis heute verehrten Arthur Rimbaud. Das Singen war für sie zunächst vor allem eine Möglichkeit, ihre Gedichte vorzutragen.

    1970 schrieb Patty Smith ein Gedicht mit dem Titel Oath und las es bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt im Februar 1971 in der St. Marks Church in New York City. Dort fand das renommierte Poetry Project statt. Im Publikum saßen Andy Warhol, Allen Ginsberg, Jim Carroll, Sam Shepard und andere Dichter der New Yorker Downtown Szene.

    Vor allem der Beginn von Oath sollte berühmt werden:
    Christ died for someone’s sin, but not mine

    Patty Smith rechnete in diesem Gedicht mit ihrer rigoristischen religiösen Erziehung ab. Sie lässt Sätze folgen wie:
    Christ, I’m giving you the goodbye,
    firing you tonight
    oder:
    Adam placed no hex on me.

    Diese Zeilen schockierten. Doch immer wieder trug Smith ihr Gedicht vor, allein, wie beim ersten Mal, später in musikalischer Begleitung (Gitarrenrückkoppelungen u.ä.). Doch sie schien gefühlt zu haben, dass dieses Gedicht noch etwas vor sich hatte. Sie nahm es weder in ihren ersten noch in ihren zweiten Gedichtband auf.

    In einem spontanen Moment während eines Konzertes in einem kleinen Club in Kansas City – Patty Smith hatte bereits zwei Musiker um sich geschart. Sie praktizierten, was sie fieldwork nannten, d.h. sie „spielten sehr einfache Songs“, die „im Prinzip auf drei Akkorden [basierten], so dass ich darüber improvisieren konnte“ – tauchte auf einmal ein einfacher Song von Van Morrison auf, fast wie ein Kinderlied: Gloria. Sie spielten es immer wieder.

    Etwas später, als sie nach einem zweiten Gitarristen suchten, dehnten sie Gloria beim Probespiel auf 40 Minuten und mehr aus, um zu sehen, wer als erster aussteigen würde… Als dann eine Bassgitarre gekauft wurde, Patti Smith sie in einem Proberaum spielen wollte und die tiefe E-Saite zupfte, begann sie dazu nach einer Weile spontan zu rezitieren:

    Jesus died for sombody’s sins
    But not mine
    Melting in a pot of thieves
    Wild card up my sleeve
    Thick, heart of stone
    My sins my own, they belong to me
    Me
    […]

    Ohne es im Voraus überlegt zu haben, mündete ihre Rezitation ins Gloria.

    Ein Song war entstanden und er entwickelte sich weiter. Schließlich blieben nur sechs Zeilen des originalen Gedichtes Oath übrig. Ende 1974 wurde es ins Live-Programm aufgenommen. Für ein Radio Konzert kam ein Schlagzeuger zur Gruppe. Mit ihm war der Übergang von Dichterlesung zur Rock ’n‘ Roll Band vollzogen.

    Im August 1975 ging Patti Smith mit ihrer Band ins Studio, um das erste Album aufzunehmen. Sie wollte dafür cover -Versionen von anderen Songs auf ein Minimum reduzieren: „Auf meiner Platte versuchte ich so viel von mir selbst zu offenbaren, wie ich konnte“. Trotzdem war allen klar, dass Gloria auf dem Album seinen Platz erhalten sollte.

    Horses erschien am 13. Dezember 1975 mit Gloria (In Excelsis Deo) als erstem Titel. Einen Monat später kam er auf einer Single heraus. Beide wurde von der Presse gefeiert. Doch die Reaktionen auf Gloria waren differenziert und oft auf die erste Zeile bezogen: Jesus died for somebody’s sins, but not mine. War das ein atheistischer Aufruf? Eine Fortschreibung von Nietzsches Gott-ist-tot? Oder einfach eine punk Provokation?

    Immer wieder wurde Patti Smith dazu befragt und sie antwortete immer wieder. Bereits in einem Interview von 1973 erzählte sie von ihrer Rebellion gegen ihre strenge Erziehung bei den Zeugen Jehovas: „Mein Vater lehrte uns, nicht einfach ein Bauer in Gottes Schachspiel zu sein. Er fluchte oft gegen Gott und schwang blasphemische Reden. Diese Seite habe ich von ihm. Der religiöse Teil kommt von meiner Mutter, vermute ich. Sie war eine religiöse Fanatikerin.“

    In ihrem ersten Interview anlässlich einer Lesung des Gedichtes Oath waren aber auch andere Töne zu hören, humorvolle, ironisch, spielerische: „Wenn ich diese schlechten Dinge über Gott oder Christus sage, meine ich das nicht so. Ich weiß nicht, was ich meine. Es zeigt nur eine neue Sicht auf die Dinge, eine neue Art hinzuschauen. Ich liebe es, etwas von zehn oder fünfzehn unterschiedlichen Blickwinkeln her zu betrachten. So gibt es Leuten die Möglichkeit, blasphemisch zu sein durch mich.“

    Ungefähr dreißig Jahre später resümierte Patti Smith die Tatsache, dass andauernd Leute zu ihr kamen und sagten: „Du bist eine Atheistin und glaubst nicht an Jesus!“. Sie antwortete, dass sie „sehr wohl an das Konzept Jesu“ glaube, aber Freiheit wolle: „Ich wollte frei von ihm sein, ich war 20 Jahre alt als ich das schrieb, es war eine Art jugendliches Manifest“. Mit anderen Worten: „Ich wollte nicht gut sein, aber ich wollte auch nicht, dass er sich um mich zu sorgen hatte. Ich wollte nicht, dass er Verantwortung für mein Falschtun oder meine jugendlichen Erkundungen übernimmt. Ich wollte frei sein. So ist dies wirklich ein Statement für Freiheit“.

    Ein weiterer Diskussionspunkt, den Gloria auslöste, hatte eine Art gender twist. Die wiederholenden Sequenzen des gloria steigerten sich zu einer party-Ekstase, während der alles erlaubt ist. Das Ich der Sängerin verlässt gelangweilt eine location nachdem sie eine „süße junge Frau“ bei einem Blick durchs Fenster entdeckt, ihr folgt, „sie zu der ihren macht“, schließlich nach ihrem Namen fragt und zur Antwort einen Gloria Refrain als vervielfachten Namen erhält, der wie „Marie“ und „Ruth“ klingt und sich ins „Ding Dong“ des nahen Glockenturms mischt wie ein klangliches und zugleich sexuelles made her mine. Zum Ende singen die Glocken das Gloria und die Gedichtzeilen: Jesus died for somebody’s sins/ But not mine. Gloria (repeat to end).

    Zu dieser „ungewöhnlichen gender Dynamik“ befragt, sagt Patti Smith im Jahre 2005, dass sie es immer geliebt habe, „transgender songs“ zu singen. Dies sei etwas, was sie von Joan Baez gelernt habe, nämlich Songs zu singen, die aus einer männlichen Perspektive geschrieben wurden. „Meine Arbeit reflektiert nicht meine eigenen sexuellen Vorlieben, sie reflektiert das Faktum, das ich mich als Künstlerin vollkommen frei fühle.“

    Jahre lang beendete Patti Smith ihre Konzerte mit Gloria. Es wurde eine Hymne. Doch im Jahre 1977 sollte sich ihr Verhältnis zu diesem Song für immer ändern, ohne dass sie ihn gespielt hätte. Nach dem sechsten Lied ihres Konzertes in Tampa im Januar 1977 fiel Patti Smith 15 Fuß tief von der Bühne und brach sich mehrere Nackenwirbel. Nach diesem Ereignis, das ihren Tod hätte bedeuten können, dachte sie von Neuem über Gloria nach und beschuldigte sich, „das Göttliche beleidigt zu haben“. Sie habe „Gottes Finger gefühlt“. Sie fühlte, dass dieser Sturz und ihr Überleben Gottes Art gewesen sei zu sagen: „Du lässt nicht nach, an meine Tür zu klopfen. Ich werde die Tür öffnen und Du wirst hineinfallen“.

    „Ich sagte: Jesus died for somebody’s sins but not mine, und ich glaube immer noch daran. […] Ich habe nicht gesagt, dass ich Christus nicht liebte oder nicht an ihn glaubte. Ich wollte lediglich die Verantwortung für die Dinge, die ich tue, selbst übernehmen. Ich bin ein one-to-one-girl und ich habe immer gedacht, mit Gott über mich selbst zu kommunizieren. Und ich fühlte, dass das einer der Gründe war, warum ich von der Bühne gefallen bin.“

    Als Patti Smith auf die Bühne zurückkehrte, spielte sie den Song nicht mehr, bis sie am 10. September 1979 in Florenz ihr letztes Konzert vor einem 16-jähringen Rückzug von der Bühne spielte und sie dieses größte ihrer Konzerte mit dem einstigen Abschlusssong „Gloria“ eröffnete. Allerdings sang sie anstelle des gewohnten but not mine : Jesus died for somebody’s sins, why not mine.

    Diese “kleine Veränderung bahnte sich über lange Zeit an“, sagte Patti Smith nach ihrer Rückkehr auf die Bühne im Jahre 1995. „Ich war sehr in das Christentum verstrickt seit meiner Jugend und bin skeptisch gegenüber dem kirchlichen Dogma groß geworden… Als ich älter wurde, habe ich das Neue Testament genauer studiert, besonders über Pasolini. Seine Worte, die Christus als einen Revolutionär porträtierten, erleuchteten mich. Ich verstand, dass Jesus Christus uns die einfachsten und größten Ideen gab: einander zu lieben, Gott zugänglich für alle Menschen zu machen und den Menschen einen Sinn von Gemeinschaft zu geben, damit sie niemals allein sein würden.“

    Gloria in excelsis Deo.

    Bei ihrem ersten Konzert nach 16 Jahren sang Smith Gloria nicht. Aber in den folgenden Jahren erschien der Song wieder auf der setlist – original line intact.2

    Als Patti Smith 2014 im Vatikan auftrat, antwortete sie „auf die Frage, warum eine Sängerin, die ihre erste Platte mit Jesus died for someone’s sins, but not mine (Jesus ist nicht für meine Sünden gestorben) beginnen ließ, vor dem Papst singt: I had a strong religious upbringing, and the first word on my first LP is Jesus. I did a lot of thinking. I’m not against Jesus, but I was 20 and I wanted to make my own mistakes and I didn’t want anyone dying for me. I stand behind that 20-year-old girl, but I have evolved. I’ll sing to my enemy! I don’t like being pinned down and I’ll do what the fuck I want, especially at my age … oh, I hope there’s no small children here! 3 Ich bin nicht gegen Jesus, aber ich war 20 und wollte meine eigenen Fehler machen und nicht, dass irgendjemand für mich stirbt. Ich stehe hinter diesem 20-jährigen Mädchen, aber ich habe mich weiterentwickelt […].“5

    In seiner Zuspitzung und dichterischen Hellsichtigkeit lässt sich der Song Gloria als das Gegenstück von Augustins Konstruktion der Erbsünde und ihre Folgen6 lesen.

    Augustin hat seine Lebenserfahrungen in ihrem Verhältnis zur Sünde in seinen Confessiones beschrieben.7 Auch er geht besonders auf die Erfahrungen seiner Jugend ein, die youthful explorations, wie Patti Smith sie nennt. Bei beiden spielt sexuelle Praxis eine zentrale Rolle und beide stellen einen Bezug zu Jesus als Sündenerlöser und zu Adams Fall her.

    Die Reflexion und Bewertung ihrer Erfahrungen verläuft jedoch in entgegengesetzten Richtungen: Augustin schließt seine in den Confessiones geschilderten Erfahrungen theologisch immer mehr ab, verfolgt schließlich eine kirchliche Machtstrategie und erhebt einen objektiven Anspruch auf die persönliche Wahrheit seiner Erfahrung.

    Patti Smith hingegen schließt immer weiter auf, stellt sich ständiger Nachfrage und neuer Erfahrung. Ihre Wahrheit bewegt sich zwischen but not mine und why not mine dynamisch hin und her. So kann sie sich bis hin zum Gegenteil ihrer ersten Zuspitzung öffnen.

    Der Prozess des Denkens und der Erkenntnis von der eigenen Erfahrung aus ist bei Augustin eingebettet in eine spirituelle Praxis. Seine Confessiones lassen sich als Gebet lesen. Bei Patti Smith ist dieser Prozess die künstlerische Praxis eines ekstatisch wilden, rebellischen Lobgesangs: Gloria in excelsis Deo. Ihr Gloria lässt sich als eine garage-rock liturgische Praxis hören, denen gegenüber die popularmusikalischen Versuche kirchlicher Art wie Kaufhauspop klingen.

    Patti Smith‘s harte Attacke auf die Sünde und ihr Plädoyer für eine Praxis der eigenen Verantwortung schlägt eine Lichtspur in Augustins Schatten. Es gibt weitere zu entdecken:

    In seinem 1968 erschienenen Buch „Die Gewalt der Friedfertigen. Auf der Suche nach einem dritten Weg“, verbindet Frère Roger erstmals Tagebuchaufzeichnungen und Reflexionen. Gerahmt von zwei Tagebuchnotizen, in denen er von seinen eigenen Kämpfen spricht, findet sich folgender Gedankengang:

    „Was man früher als geistliche Führung bezeichnete, setzt ebenfalls ein vollkommenes Sich-Aufschließen voraus, aber in Anwesenheit eines Menschen.
    Wer könnte von sich selber sagen: In mir ist nicht, was nicht ausgesprochen wäre, sei es in der Beichte, sei es einem zuverlässigen Menschen gegenüber? Wer kann sagen, alles ist aufgedeckt; mir ist diese Eigenschaft der Transparenz bekannt? Nur sehr wenige. Hier kommt es darauf an, dass man in die Schule Christi geht, und lange Jahre sind notwendig, um zu dieser Klarheit zu kommen. Wenn das Auge licht ist, ist es der ganze Leib auch.
    Die Helligkeit unseres Blickes, die Durchsichtigkeit unseres inneren Lebens werden zum beherrschenden Prinzip unseres ganzen Wesens, ja selbst des Leibes. Dieser Leib, mit dem wir sehr wohl jeden Tag rechnen müssen, dieser Leib, den man bisweilen mitschleppen muss, ist der Träger unseres inneren Lebens. Er ist der Träger Christi. Das Licht Christi dringt ein, wenn wir ehrlich und aufrichtig sind, entschlossen, uns beharrlich geöffnet zu halten.
    Für den, der Tag um Tag diese Transparenz in sich erneuert, kommen Stunden des Friedens und mit ihnen eine Freude.
    Diese Existenzscham (honte d’exister) vergeht, wenn sie auch trotz allem sehr hartnäckig ist. Sie zeigt, je nach dem konkreten Augenblick, sehr wandelbare Aspekte. Sie hemmt die gesamte Kommunikationsfähigkeit und zerstört lebendige Kräfte. Sie ist ein Leiden ohne Nutzen. Im christlichen Raum erhält sie bisweilen Nahrung durch den Widerspruch der dort gefällten Urteile. Mehr denn jeder andere neigt dieser Raum recht oft dazu, alles unter dem Aspekt der Schuld zu sehen.
    Auf dem Weg über die Transparenz gewinnen Misserfolge, Hemmungen und Unfähigkeiten eine andere Klärung.
    Selbst die Angst, die eine Quelle heftigster Impulse ist, wird aufgehoben. Oft entspringen aus ihr Zorn oder Liebe, Härte oder Weichheit. Mit der Angst ist es wie mit einem Nebelvorhang, durch den man hindurch muss: Sie verlangt, dass man sie entschlossen durchsteht und ihr nicht ausweicht. Sie trägt ihre Lösung in sich selbst. Und je mehr diese Transparenz in uns wohnt, desto mehr breitet sich in unserer Umgebung Friede und Besänftigung aus.“8

    Mit Existenzscham, la honte d’exister, nimmt Frère Roger einen Begriff auf, der durch eine ähnliche Formulierung von Primo Levi historisch-politisch konkretisiert werden und damit seine psychologische und mögliche theologische Verkettung9 aufschließen kann: die Scham, ein Mensch zu sein, la honte d’être un homme.

    In seinem Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“10 beschreibt Primo Levi mit der Scham, ein Mensch zu sein das „gemischte Gefühl“, was nach der Erfahrung der Vernichtungslager der Nazis bleibt, ohne dabei die Opfer für die Henker zu halten: „Scham, dass Menschen derartiges tun konnten, Scham, dass wir es nicht haben verhindern können, Scham, dies überlebt zu haben, Scham, erniedrigt oder herabgewürdigt worden zu sein.“11

    Der französische Philosoph Gilles Deleuze kommt darauf in seinem Buch „Was ist Philosophie?“ zurück: „Und die Scham, ein Mensch zu sein überkommt uns nicht nur in den von Primo Levi geschilderten Extremsituationen, sondern auch unter minder bedeutsamen Umständen, angesichts der Niedertracht und Vulgarität der Existenz, die die Demokratien heimsucht, angesichts dieser Existenzweisen und dieses marktgerechten Denkens, angesichts der Werte, Ideale und Ansichten unserer Epoche. Die Schmach der uns gebotenen Lebensmöglichkeiten kommt von innen zum Vorschein. Wir fühlen uns nicht außerhalb unserer Epoche, im Gegenteil: wir schließen unaufhörlich schändliche Kompromisse mit ihr. Dieses Schamgefühl ist eines der mächtigsten Motive der Philosophie. Wir sind nicht für die Opfer verantwortlich, vielmehr vor den Opfern.“12

    In diesem Sinne ist Philosophie „Widerstand gegenüber der Gegenwart“. Die Schöpfung von Begriffen – Deleuze’s Definition von Philosophie – unterwandert nicht nur die Dummheit13, sie „verweist in sich selbst auf eine zukünftige Form, sie verweist auf eine neue Erde und auf ein Volk, das es noch nicht gibt.“14

    Jesus died for sombody’s sins, but…


     
  • Römerbrief

    Unter der Überschrift „Vatertränen, nur zu denkende“1 beginnt der Philosoph Hans Blumenberg einen Gedankengang mit folgender Feststellung:  Im Unterschied zu den natürlicherweise mit dem Tod des Vaters endenden Vater-Sohn-Konflikten, endet der „im Garten Gethsemane ausgetragene“ Vater-Sohn-Konflikt mit dem Tod des Sohnes. Der Schrei Jesu am Kreuz Eli, Eli… sei „der denkbar größte aller Vorwürfe gegen einen Vater“.2

    Es sei „merkwürdig, dass niemals Anstoß daran genommen wurde, wie hier ein Vater von seinem Sohn verlangt, sich ihm und vor ihm der Passion preiszugeben“ und diese “fühllos entgegenzunehmen scheint, nachdem er bei der Jordantaufe dem Sohn zugesprochen hatte, er sei der Vielgeliebte seines Wohlgefallens.“3

    Und Blumenbergs Überlegung kulminiert in der Frage: „Mussten die Menschensöhne seit je danach gefragt werden oder sich fragen, wie sie mit der Vaterlast leben konnten und können, ist hier der Gottvater zu fragen, wie er mit der Passionslast des Sohnes hat weiter ein Gott sein können. Ist es möglich zu denken, dass dies es war, was ihn tötete? Wir setzen uns in Tränen nieder . . .  – über jeden Tod. Auch über diesen?“4

    Mit dem Anruf Eli bei Matthäus (Mt 27, 46) und Markus (Mk 15,34) wird Gott nach Blumenberg „fast wie ein Fremder“benannt. Der Ruf „hat die Wahrheit eines Schreis, der noch an den ‚toten Gott‘ gerichtet sein könnte. Wenn nicht sogar erst recht an diesen“6. Dem konnte nur ein letzter, wortloser, wilder Schrei noch folgen7  (Mt 27, 50, Mk 15, 37).

    Ein Echo in extremis findet dieser Schrei in einem nachgelassenen Gedicht des Dramatikers Heiner Müller. Es trägt den Titel „Römerbrief“ und setzt bei Paulus ein:

    Seit er vom Pferd fiel weiss er wo Gott wohnt
    Dem alle gleich sind und der keinen schont
    Der nicht das Leben lebt nach seiner Schnur
    Denn Gott ist der Erfinder der Natur
    Wenn Mann mit Mann sich paart und Frau mit Frau
    Zum Beispiel zürnt er denn er zählt genau
    Mit Blitzen sagt er dir was sich gehört
    Sein Brot der Sünder der den Weltlauf stört
    Sein Hunger braucht dass Menschen Sünder sind
    Vom Priester bis zum ungebornen Kind
    Sohn tötet Vater was bei Heiden Brauch
    Seis mit der Keule seis mit Opferrauch
    ER schlachtet seine Nachgeburt den Sohn
    Der Tod am Querholz unserer Sünden Lohn
    Die seine Nahrung sind und seine Lust
    Der Racheengel wohnt in seiner Brust
    Der uns am Kreuz vertrat als Sündenbock
    Die Novität aus Gottes Wunderblock
    Als er aus unsrer Schuld die Wurzel zog
    Mit allen Vieren weil die Hoffnung trog
    Auf Leben ohne Tod Vater warum
    Sei letzter Schrei Der Adressat blieb stumm
    Erhob er unsre Sünden ins Quadrat
    […]8

    „Der Text ist eine theologische Zumutung.“9  So beginnt der Münchener Literaturwissenschaftler Clemens Pornschlegel seine Analyse des Gedichtes. Heiner Müller schrieb es im Bewusstsein seiner schweren Erkrankung etwa ein Jahr vor seinem Tode im Dezember 1995.

    Im Herzen des Christentums sieht dieser Text nicht „Vergebung, Annahme und Erlösung der Welt“, sondern „eine gigantische Schuld- und Sündenvermehrung“ am Werk. „Er straft die Vorstellung eines liebenden, verzeihenden Gottes Lügen“.10

    „Wenn das Gedicht eine aufmerksame Lektüre verdient hat, dann, weil der aus fünfzehn paarreimenden Vierzeilern bestehende Text – dessen Form mithin auf die ambrosianische Kirchenliedstrophe zurückgreift – dennoch keine einfache Verwerfung des Christentums darstellt; auch keine blasphemische Parodie, sondern eine ebenso empörte wie verstört-verstörende Auseinandersetzung mit den Unglaublichkeiten der christlichen Dogmatik, wobei zwei Fragen im thematischen Zentrum stehen: die Frage nach der Schuld und die Frage nach der Erlösung.“11

    Heiner Müllers „Römerbrief“ ist markiert von drei Perspektivwechseln. Es beginnt mit der der Bekehrung des Paulus (Strophe 1) – wobei Müller auf seine „eigene Gottes- und Todesbegegnung anspielt“12 – und geht dann sofort über in die „kritisch distanzierte Darstellung der christlichen Mythologie“. Dabei formuliert er „in der neutralen dritten Person“ (Strophe 2-13) und folgt den Motiven des Römerbriefes (Kapitel 1, 2 und 7) und „Einwänden aus der Religionskritik“.13

    „Überraschend mündet das Gedicht zuletzt dann (Strophe 14 bis 15) in eine direkte Anrede des Vater-Gottes und schließt mit einer harschen Anklage, die das Ich an den Vater-Gott des Jüngsten Tages adressiert, in einer Art von invertiertem Gebet, das aus der Erfahrung der irdischen Nacht – „Nichts war nichts ist und nichts wird jemals gut“ – ins göttliche ewige Licht gesprochen ist. Unklar bleibt, wer genau hier die Position des Sprechers einnimmt: ob es sich um die Stimme Jesu oder die des lyrischen Ich handelt, oder ob das lyrische Ich die Position Jesu hier für sich übernimmt und sie neu interpretiert, in der Geste einer radikalen Korrektur der imitatio Christi.“14

    […]
    Der Sohn hat Stimmrecht Vater schluck dein Schwert
    Es ist die Wunden die e schlägt nicht wert
    Du bist es nicht der hier das Urteil fällt
    Denn du hast nicht gelebt in deiner Welt
    Ich hab dir Vater etwas mitgebracht
    In deinen ewigen Tag aus meiner Nacht
    Nicht war nichts ist und nichts wird jemals gut
    Siehst du das Kreuz es wartet auf dein Blut

    Mit diesem Schluss stimmt Heiner Müller in den letzten Schrei Jesu ein und eröffnet auf diese Weise einen zweiten Blick auf das Gedicht. Es geht ihm nicht „um die Denunziation dogmatischer Figuren des Christentums“, sondern um die „spezifisch jüdisch-christliche Modellierung dessen, was Sigmund Freud in seiner Abhandlung über das ‚Unbehagen in der Kultur‘ einmal das ‚Schuldgefühl in der Menschheit‘ genannt hat“.15

    Es ist das, was Paulus im Römerbrief die harmatia nennt, dass „niemand je ohne Schuld bleibt“, einer Schuld, deren „Urheber und tatsächlicher Verursacher“ niemand anderer ist, als der Vater-Gott selbst.16
    „Wie aber soll man sich einen allmächtigen Schöpfer-Gott denken, der zuerst ein Wesen nach seinem Bilde schafft, dessen Natur dann aus dekadent wider-göttlicher und schuldhafter Wider-Natur besteht? […] Was soll man von einem Gott halten, der nicht einmal den stellvertretenden Tod seines Erlöser-Sohnes, der sein Leben – als agnus Dei – hingegeben hat für die Sünden der Welt, zuletzt gelten lässt und die Schuld dadurch nur unendlich ausdehnt?“17

    Die entscheidende Pointe erfährt Heiner Müllers Gedicht in seiner apokalyptischen Zuspitzung:

    Auch seine Endlösung heißt Selektion
    Mit seinen Malen der geschundne Sohn
    Darf auf der Bank des Richters sitzen der
    Sein Mörder ist […]

    „Entscheidend ist hier der Begriff der Selektion. Für Heiner Müller benennt er zum einen das ungerechtfertigte kapitalistische Übel des verurteilenden Ausschlusses von Millionen von Menschen zugunsten weniger Auserwählter, das Wegstoßen der Armen von den Fleischtöpfen der Reichen, zum anderen – symmetrisch dazu – die Vernichtungspraktiken der politischen Erlösungsreligionen des 20. Jahrhunderts, welche die gnadenlose Selektion offen bejaht und sie als irdische Apokalypse realisiert haben, als säkulare, technische Imitation des apokalyptischen Gottesgerichts und der mit ihm versprochenen Einrichtung der phantastischen Neuen Welt – ‚und der Tod wird nicht mehr sein, nicht Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein (Offb 21.4).“18

    Die einzige Antwort auf den Schrei Jesu findet Heiner Müller bei Dostojewskij. Sie heißt: Gnade. „Gnade – als Geschenk der Liebe – lässt sich politisch allerdings nicht organisieren, sofern keine politische Ordnung sich auf etwas stützen kann, was die Ordnung des Gesetzes prinzipiell unterläuft.“19  Man könnte auch sagen: unterwandert.

    Von hier aus lässt sich die letzte Strophe des Gedichtes:

    Ich hab dir Vater etwas mitgebracht
    In deinen ewigen Tag aus meiner Nacht
    Nichts war nichts ist und nichts wird jemals gut
    Siehst du das Kreuz es wartet auf dein Blut

    auch anders lesen: „Als Appell für die radikale Immanentisierung der göttlichen Erlösung durch die Erfahrung des Kreuzes, durch die der Menschensohn, nicht aber der transzendente Vater-Gott gegangen ist. Erst die Erfahrung des Leidens setzt jene Gnade frei, die ultimative Verurteilungen aufheben kann.“

    Hans Blumenberg liest und denkt noch anders über den „wilden Schrei“ hinaus: Lukas hatte diesen ans Unerträgliche grenzenden Abgrund seinen Lesern offenbar nicht zumuten wollen. Er verdeckte ihn mit einer Anspielung auf den einunddreißigsten Psalm und legte Jesus ein anderes Wort in den Mund: Vater (Lk 23. 46).20

    Deutet Lukas damit darauf hin, dass Gott von der Passion seines Sohnes nicht unberührt geblieben sein konnte, dass er durch die Passion seines Sohnes selbst ein anderer geworden wäre?

    Der ‚Vater danach‘ – „wenn sich dem Menschen die Verlassenheit einer Passion nicht soll wiederholen können“21  – wäre nur noch mit jenem anderen Wort der lingua aramaica anzusprechen, auf den Lukas anspielt: Abba  (Mk 14.36). Sollte Jesus „der Lehrer des Vatersagens zu Gott“22  gewesen sein? Eli  wäre die Anrede des ‚Vaters davor‘ gewesen.

    Den Zeitgenossen Jesu „soll, Philologen zufolge, die Anrede Abba zu respektlos vertraulich geklungen haben, als wenn heute einer übersetzte ‚Papa Gott‘ oder das ‚Herrengebet‘ beginnen ließe mit ‚Papa unser‘. […] Die Polarität zwischen Eli und Abba muss stark empfunden worden sein, bevor die Urgemeinde das von Jesus sakralisierte Abba in ihre Gebetssprache übernahm.“23

    Johannes kennt diesen Abgrund nicht. Er ist nach seinem Bezeugen der Einzige, der die Prophetie Jesu, dass die Jünger zerstreut würden, jeder in das Seine, und ihn verlassen, nicht erfüllt. Johannes stand unter dem Kreuz „und weiß vom letzten Aufschrei nichts“24.

    Oder: er hat ihn in die Erhabenheit einer innergöttlichen Kommunion erhoben. Von ihr gewinnt man einen visuell echohaften Eindruck, wenn man die Dreifaltigkeitsikone des Andrej Rubljow (1425) betrachtet. Sie zeigt Stabilität, heitere Erhabenheit. Wie im Text des Johannes fallen hier Davor und Danach ineinander. Aber zugleich ist alles in Bewegung:

    „Die Bewegung geht vom linken Fuß des rechten Engels aus, setzt sich in der Neigung seines Kopfes fort, geht auf den mittleren Engel über und zieht unwiderstehlich den Kosmos in sich hinein: den Fels, den Baum, und löst sich in der aufrechten Position des linken Engels auf, wo sie Ruhe findet […].25  

    Der russischen Filmregisseur Andrej Tarkowskij hat dieser Bewegung einen ganzen Film gewidmet: Andrej Rubljow (1966/69).

    Im letzten Teil des Films behauptet dort ein Sohn, Boriska, das Geheimnis seines Vaters – das Geheimnis des Glockengießens – anvertraut bekommen zu haben. Alle anderen Glockengießer der ärmlichen Gegend sind an der Pest gestorben. So soll er denn die Glocke für den Großfürsten gießen. Eine Grube wird ausgehoben, Lehm für die Form gesucht… bei jedem Detail ist der Junge wählerisch und präzise. Schließlich wird die Glocke gegossen. Viel Volks kommt herbei, um dem Ereignis beizuwohnen.

    Vorsichtig und ängstlich wird schließlich die Erdform abgeklopft. Die Glocke kommt zum Vorschein. Allem Ansehen nach ist sie gelungen. Doch wird sie klingen? Über Holzgestänge und Seile wird die große Glocke langsam erhoben. Schließlich hängt sie frei über der Grube. Man sieht den großen Klöppel.

    Als der Großfürst zu Pferd eintrifft mit geladenen Gästen, wird der junge Glockengießer vorgestellt, er soll das Zeichen zum Läuten der Glocke geben. Scheu erhebt er seine Hände. Ein stämmiger Alter steigt zum Klöppel hinab und beginnt ihn langsam hin und her zu schieben. Schließlich ertönt der tiefe Klang der neuen Glocke. Erst vereinzelte Schläge, dann regelmäßig. Nach einer Weile stimmen die Glocken vom gegenüberliegenden Kloster ein in ein großes festliches Geläute.

    Das gesamte Geschehen wurde immer wieder stumm beobachtet von einem Mönch. Es ist Andrej Rubljow, der Ikonenmaler. Er hatte sich geweigert eine große Wandmalerei des Jüngsten Gerichtes zu malen. Er wolle das Volk nicht mehr verängstigen mit solchen Schreckensbildern und rezitierte an ihrer Stelle das Hohe Lied der Liebe in der weißen Kathedrale.

    Die gnadenlose Grausamkeit des Tartarensturms bricht über das Volk herein wie das Gericht, das er hätte malen sollen. Andrej selbst wird verwickelt als er ein schwachsinniges Mädchen vor ihrem tartarischen Vergewaltiger rettet und ihn erschlägt. Zur Buße malt er nicht nur nicht mehr, sondern spricht nicht mehr mit den Menschen. Er schweigt…

    Noch während des Läutens der Glocke bricht Boriska erschöpft zusammen und weint einsam im Schlamm. Andrej geht zu ihm, legt seinen Kopf auf seine Knie und sucht ihn zu trösten. Doch der Junge ist untröstlich:

    Boriska: Mein Vater, das alte Vieh, hat mir das Geheimnis doch nicht anvertraut. Er ist gestorben und hat es nicht weitergegeben! Er hat es mit ins Grab genommen, der alte Gauner.
    Andrej: Du siehst, wie es geht. Nun weine doch nicht! (Er schluchzt selbst). Lass uns zusammen fortgehen. Du wirst Glocken gießen, ich werde Ikonen malen. Lass uns zum Dreifaltigkeitskloster gehen. Zusammen. Was für ein Festtag für die Leute! So eine Freude hat er geschaffen, und jetzt weint er? Nun gut, jetzt ist es gut, nun es wird schon werden.26

    Der gesamte Film Tarkowskijs ist in bräunlichem Sepia gedreht. Doch nun erscheinen in Farbe Ausschnitte von verschiedenen Ikonen Andrej Rubljows…

    die berühmte Dreifaltigkeitsikone, Farben, Falten, die Köpfe der Engel…

    die geschundene Ikone mit dem Kopf des Erlösers…

    der untere nicht mehr bemalte Teil der Tafel.

    Es beginnt zu regnen, Wasser läuft das Holz hinab.
    Es erscheint eine Regenlandschaft.
    Ein Fluss.
    Am Ufer stehen Pferde.


     
  • …und sie gingen auf einem anderen Weg

    Im Laufe der 70er Jahren des letzten Jahrhunderts arbeitete der kanadische Philosoph Constantin Boundas aus Ontario an seiner Doktorarbeit über Paul Ricœur. Bei einem Aufenthalt in Paris fielen ihm in einer Buchhandlung Schriften von Gilles Deleuze in die Hände. Er kaufte das Buch „Differenz und Wiederholung“ und ging in sein Hotelzimmer. Fünf Tage später hatte er es durchgelesen, „ohne sonderlich viel verstanden zu haben. Aber nichtsdestotrotz war ich fasziniert und überzeugt, dass es das richtige war“1. Er wechselte das Thema seiner Doktorarbeit.

    Ende der 80er Jahre erhielt er den Auftrag des Verlages der Columbia University, „einen Band mit ausgewählten Arbeiten von Deleuze zusammenzustellen“. Während eines erneuten Aufenthaltes in Paris im Jahre 1989 trifft er den Philosophen aus diesem Anlass. Als Deleuze seine Arbeit an einem neuen Buch erwähnt, bemerkt Boundas, „dass Ricœur an einem ähnlichen Thema sitze, und bekommt zur Antwort: ‚Ja, aber Ricœur ist Christ‘“.2

    Was macht diese Aussage des französischen Philosophen über seinen Kollegen erwähnenswert?

    Deleuze zitiert Ricœur wiederholt sehr wertschätzend und an wichtiger Stelle.3 Aber sein Verhältnis zum Christentum ist ein anderes. Deleuze ist kein Christ. Und nicht nur in seinem Falle lohnt es sich, dies genauer zu beschreiben und zu bedenken. Deleuze lässt sich diesbezüglich als ein Philosoph verstehen, für den die Kritik der Religion noch nicht abgeschlossen ist. Und dies in doppelter Hinsicht und auf besondere Art:

    Zum einen richtet sich diese Kritik „gegen die etablierten Kirchen, die sich einmal mehr befragen lassen müssen, ob ihre dogmatischen Kodifikationen der Befreiungsbotschaft gerecht werden, auf die sie sich berufen, und ob sie es sich theologisch leisten können, die hyperchristliche Kultur der Moderne aus ihrem Denk- und Fragehorizont auszuschließen“4.

    Zum anderen richtet sie sich „gegen die säkulare Gesellschaft, die glaubt, das Religiöse den Kirchen überlassen zu können, und sich damit jeder Befreiungsdynamik beraubt“5.

    „Die avantgardistische Moderne revoltiert gegen beides: gegen die kirchlichen Institutionen in ihrer Machtverliebtheit ebenso sehr wie gegen die säkulare Gesellschaft und ihre ‚Kultur‘, die jeden Gegenentwurf zur herrschenden Ordnung in Spektakel und Entertainment verwandelt.“6

    Der Münchener Literaturwissenschaftler Clemens Pornschlegel nennt diese Religionskritiker „Hyperchristen“, übernimmt den Begriff aus der „A-theologischen Summe“ von Georges Bataille und beschreibt mit ihm Autoren wie Deleuze. Diese Autoren beziehen „sich in ihren Texten immer wieder auf Denkfiguren, Begriffe, Schriften und Praktiken des Christentums“. In ihren Texten „ist wiederholt – und alles andere als beiläufig – die Rede von Engeln und Heiligen, vom Paradies, von Todsünden, von der Inkarnation, vom Glauben, von der Präsenz des Göttlichen, vom Opfer, der Eucharistie, von der Versuchung durch das Böse, von der Auferstehung, vom Versprechen des Heils, von Erlösung, von Gnade, von der Ankunft einer neuen Brüderlichkeit“. Das Christentum bleibt „ein zentraler Bezugspunkt“ ihre Denkens.7

    Gleichzeitig lehnen diese Autoren „jede Spielart eines institutionellen (Kirchen-) Christentums entschieden“ ab und verabschieden es.

    „Die griechische Präposition ‚hyper‘ (‚oberhalb von, über etwas hinaus‘) verweist auf genau diese Ablösungs- oder Überwindungsbewegung von der alten ‚Religion‘. ‚Hyper-Christentum‘ beschreibt also zunächst einmal den doppelten Sachverhalt des fortwährenden Bezugs auf christliche Bilder, Texte, Vorstellungen und Denkfiguren bei gleichzeitiger Ablehnung oder Überwindung jeder Form von ‚religiösem Glauben‘ und der entsprechenden moralischen Lebenspraxis.“8

    Diese „freie Benutzung der christlichen Mythen“ bei gleichzeitiger „Zurückweisung religiöser Institutionen“ beschreibt den Vorgang einer „sukzessive fortschreitenden Ablösung von der Religion“, der einem „Auszug aus der Entfremdung“ gleichkommt, bzw. „eine[m] Erwachsenwerden[]“.9

    Der Begriff des ‚Hyperchristentums‘ zieht allerdings in Zweifel, dass „die mit dem Narrativ verbundene Vorstellung einer pfeilartigen einsinnig linearen Fort-Entwicklung von der christlichen Religion radikal weg- und in ein absolut Unbekanntes hinausführte“.10

    Stattdessen geht der Begriff des ‚Hyperchristentums‘ von „der strukturalen Zusammengehörigkeit von christlicher Religion und emanzipatorischer Ablösungsbewegung von ihr aus, das heißt, er versucht die historische und systematische Korrelation zwischen Christentum und Überwindung der Religion zu benennen, zwischen Christentum und Atheismus“.11 „Die christliche Referenz bleibt für die emanzipatorische Bewegung aus der Religion notwendig, und zwar deswegen, weil es sie legitimiert, das heißt, weil es nach wie vor die legitimatorische Referenz auch jedes Anti-Dogmatismus und jeder Befreiung bildet: das, worauf man sich unweigerlich beziehen muss, wenn man gegebene Normen und Vorschriften für null und nichtig erklärt, wenn man sich die Freiheit der Transgression nimmt, gegebene Normen radikal in Frage stellt, die Ungerechtigkeit der Verhältnisse anprangert, das System der sozialen Knechtschaft bekämpft.“12

    Der direkte hyperchristliche Bezugspunkt bei Gilles Deleuze ist eine seiner ersten Veröffentlichungen, der Aufsatz “Du Christ à la bourgeoisie13 von 1946. Der Text ist Mademoiselle Davy gewidmet14 und bringt damit die Umstände seiner Entstehung ins Spiel.

    Marie-Magdelaine Davy (1903-1999) ist eine Philosophin und Theologin. Deleuze traf sie in im Salon eines katholischen Schriftstellers, in dem sich die großen intellektuellen Figuren seiner Zeit trafen, so merkt es die Fußnote des Herausgebers der „Briefe und andere Texte“, David Lapoujade, an.15

    Sie war „eine erstaunliche Persönlichkeit“, ein „verkappter Junge“, der bereits 1908 „ausschließlich Shorts und Hosen“ trug, gegen den Willen ihrer Familie mit achtzehn Jahren an der Sorbonne Philosophie und Geschichte studierte, am Institut Catholique de Paris ihren Abschluss in Theologie machte und 1941 dort ihren theologischen Doktor verteidigte. Daraufhin arbeitete Marie Magdelaine Davy als „Spezialistin für das 12. Jahrhundert und übersetzte die Werke von Wilhelm von Saint-Thierry, Pierre von Blois und Bernhard von Clairvaux“.16

    Davy hatte das Schloss ihrer Großeltern im Umland von Paris „zu einem Ort gemacht, an dem sich Juden, Widerstandskämpfer, Arbeitsverweigerer und britische oder amerikanische Piloten sicher verstecken konnten“.17 Ebendort organisierte sie „zahlreiche kulturelle Veranstaltungen“, zu denen der Noch-Gymnasiast Gilles Deleuze zusammen mit einigen Freunden von ihrem Philosophielehrer Maurice de Gandillac eingeladen wurde.18

    Schon hier fällt der junge Deleuze mit seiner Fähigkeit auf, „die philosophische Tradition zu entstauben und ihr neue Aktualität zu verleihen“. In der „finsteren Atmosphäre der Okkupationszeit“ schließt sich Deleuze nicht der Résistance an, obgleich er „in derselben Klasse wie der kommunistische Aktivist Guy Môquet ist, der von den Nazis erschossen wird“ und er sich mit „Entsetzen“ an die „Nachricht vom Massaker im dem Dorf Oradour-sur-Glane am 10. Juni 1944“ erinnert. „Statt sich im Widerstand zu engagieren“, bildet Deleuze zusammen mit einer Gruppe befreundeter junger Leute die Zeitschrift für Philosophie Espace.19 Dort erscheint sein Aufsatz „Von Christus zum Bürgertum“.

    „Der gesamte Artikel zielt auf die die Entfaltung einer Dialektik von Innerlichkeit und Äußerlichkeit zur Aufwertung der letzteren ab. Deleuze stellt die Verinnerlichung, zu der Marschall Pétain die Franzosen aufgerufen hatte, dem Akt der Veräußerlichung eines in den Widerstand gehenden de Gaulle entgegen. Im modernen Erfolg des Bürgertums sieht Deleuze indes eine Fortführung sowie eine Akzentuierung des Verinnerlichungsprozesses. […]  Auf höchst paradoxe Weise gelingt es so dem Bürgertum, die mit Christus anhebende Bewegung zu vollenden, indem es all das verinnerlicht, was jener einst von sich stieß: ‚Grundbesitz, Geld, Eigentum – alles, was zu bekämpfen er gekommen war, um es durch Werte des Seins zu ersetzen‘.“20

    Deleuze hält die Verbindung von Christentum und Bürgertum dennoch nicht für zufällig (contingent).21 Das rückt seine Analyse in die Nähe zu Walter Benjamins Beobachtung zu einer „Kultreligion der unendlichen Schuld“, in die sich das Christentum verwandelt habe: „Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus umgewandelt“. Es verwandelte sich umso mehr in die „religiöse Struktur des Kapitalismus“22, als es „auf jeden prophetischen Gegenentwurf zur herrschenden Ordnung und auf jede revolutionäre, weltöffnende Perspektive verzichtete“23.

    Gilles Deleuze hat die hyperchristliche Grundierung seines Werkes versteckt, indem er seine Schriften erst vom Jahre 1953 an zur Veröffentlichung frei gab. Dennoch ziehen sich hyperchristliche Motive durch sein Werk.
    Besonders auffällig ist dabei, dass Deleuze auf der Figur Christus nicht nur besteht, sondern sie in Anspruch nimmt.

    „Noch inmitten ihres Scheiterns hört die amerikanische Revolution nicht auf, ihre Fragmente weiter zu schleudern und auf der Linie des Horizontes etwas fliehen zu lassen; sie hört nicht auf, sich ins All zu katapultieren, die Mauer zu durchbrechen, das Experiment fortzusetzen, eine Brüderlichkeit in diesem Unternehmen zu finden, eine Schwester in diesem Werden, eine Musik in der stotternden Sprache, einen reinen Ton und unbekannte Akkorde zu sprechen. Was Kafka von den ‚kleinen Nationen‘ sagt, sagt Mellville bereits von der großen amerikanischen Nation, insofern sie das Patchwork aller kleinen Nationen sein soll. Was Kafka von den kleinen (mineures) Literaturen sagt, sagt Melville schon von der amerikanischen Literatur seiner Zeit: Weil es in Amerika nur wenige Autoren gibt und weil das Volk sie kaum beachtet, fehlen dem Schriftsteller alle Bedingungen dafür, es zum anerkannten Meister zu bringen. Umso mehr bleibt es, noch im Scheitern, der Träger eines kollektiven Sprechens, das nicht mehr zur Literaturgeschichte gehört, und umso mehr bewahrt er die Rechte eines kommenden Volkes oder eines menschlichen Werdens. Schizophrene Berufung: Selbst in seiner Katatonie oder Anorexie ist Bartleby nicht der Kranke. Er ist vielmehr der Arzt eines kranken Amerika, der Medicine-man, der neue Christus oder unser aller Bruder.“24

    Was auf den ersten Blick überraschend wirkt, wirft Fragen auf: „Wie ist das Syntagma vom ‚neuen Christus‘ im Kontext des Deleuz’schen Denkens zu lesen? Welcher Sinn kommt dem Namen ‚Christus‘ zu? Was besagt das Attribut ‚neu‘? Und wieso Christus?“25

    Diese Fragen führen in einen zentralen Motivzusammenhang des Denkens von Gilles Deleuze, den des Urteils (jugement) oder der Lehre vom Gericht (système du jugement), mit dem es unbedingt aufzuhören gilt (pour en finir avec le jugement):

    „Das Urteil verhindert die Ankunft jeder neuen Existenzweise. Denn die neue Existenzweise erschafft (crée) sich durch die eigenen Kräfte, das heißt, durch die Kräfte, die sie zu ‚fangen‘ versteht, und sie steht als Wert für sich selbst, sofern sie die neue Verbindung zur Existenz bringt. Vielleicht ist dies das Geheimnis: zur Existenz bringen, nicht richten (faire exister, non pas juger). Wenn es so widerwärtig ist, zu richten und zu urteilen, dann nicht, weil alles gleich gültig wäre und alles aufs Gleiche hinausliefe, sondern – ganz im Gegenteil – weil alles, was etwas wert ist, nur dadurch entstehen, sich auszeichnen und von anderen unterscheiden kann, dass es dem Urteil trotzt. Welches Expertenurteil könnte in der Kunst über ein kommendes Werk urteilen? Wir haben die anderen Existierenden nicht zu verurteilen, sondern zu fühlen, ob sie uns bereichern oder nicht, das heißt, ob sie uns Kräfte geben oder uns zurückfallen lassen ins Elend des Krieges, in die kleinen Bilder des Traums oder die rigiden Zwänge der Organisation.“26

    Deleuze unterscheidet zwischen der Figur Christus und dem Christentum. Für Christus und seine „elegante Immanenz“ bewies sich „die Ewigkeit zu aller erst im Leben“.27

    Das bedeutet ein „stets erneuerte[s], decodierende[s] Christentum[]“, „das nicht Vorschriften und Gesetze unterwürfig befolgt, sondern freie Lebens-Praxis der freien Brüderlichkeit, ist, die auf jedes egoistische Ich zu verzichten weiß“. Diese Praxis widerspricht „der Tradition der imitatio Christi nicht, sondern schreibt sie auf radikale, decodierende Weise fort“28. Es „mobilisiert […] immer wieder den Imperativ der Bergpredigt: ‚Richtet nicht‘ (Lk 6, 34; Mt 7,1).“

    „Der historische Christus wird von Deleuze der Endlichkeit und Immanenz zurückgegeben, während das Unternehmen der Befreiung und ’Erlösung‘, die Bewegung der absoluten Decodierung immer wieder neu zu wiederholen ist.“29

    Kommt die philosophische Wertschätzung zwischen Gilles Deleuze und Paul Ricœur wegen ihres unterschiedlichen Verhältnisses zum Christentum einer „unmöglichen Konversation“ gleich?
    „Beide haben sich von der philosophischen Tradition abgesetzt; beide haben das Nicht-Philosophische zugelassen; beide denken in Aporien, in Spannungen und bevorzugen das ‚und‘ – das gemeinsame Denken, die Verschränkung. Beide haben sich von Hegel abgewandt und begnügen sich nicht mit dem kantischen Formalismus; beide räumen Bergson einen besonderen Platz ein.“30

    Das „Einverständnis“ zwischen beiden wäre wohl am besten beschrieben mit einem grundlegenden „Sein zum Leben“ nach Spinoza im Unterschied zum „Sein zum Tode“ Heideggers.31

    Paul Ricœur allerdings war Christ. Er war befreundet mit Frère Roger und Gast der Communauté von Taizé von den Anfängen an. Lange Jahre verbrachte er das Osterfest in Taizé. Was er dort suchte? „Ich würde sagen, eine Erprobung dessen, was ich zutiefst glaube: dass das, was man gemeinhin ‚Religion‘ nennt, etwas mit Güte zu tun hat. Die Traditionen des Christentums haben dies ein wenig vergessen. Es gibt eine Art Einengung, Beschränkung auf die Schuld und das Böse. Ich unterschätze dieses Problem keineswegs; es hat mich über mehrere Jahrzehnte sehr beschäftigt. Aber ich kann nicht umhin, eines nachzuvollziehen: So radikal das Böse ist – es ist nicht so tief wie die Güte. Und wenn die Religion, bzw. die Religionen einen Sinn haben, dann den, den Bodensatz an Güte der Menschen freizulegen, ihn dort zu suchen, wo er vollständig versickert ist.“32

    Jedes Jahr zum Jahreswechsel schickte Frère Roger ein kleines Gebet an Paul Ricœur. Als dieser am 20. Mai 2005 starb, fand man neben ihm auf seinem Nachttisch den Text von 2004: „Gott, du liebst uns. Weihnachten gibst du uns zu verstehen, dass die reine Freude des Evangeliums darin besteht, einer Einfachheit des Herzens entgegen zu gehen. Sie zieht eine Einfachheit des Lebens nach sich“.33


  • Zur Kritik konsumistischer Rede und ihrer ästhetischen Formen

    In der pointierten Beobachtung des schweizer-französischen Filmregisseurs Jean-Luc Godard haben die Deutschen wegen der Schrecken, die sie eigenhändig während des Zweiten Weltkrieges verbreitet hatten, „selbst die Idee, Deutsch zu sein, verloren bzw. diskreditiert“.

    Deshalb „hat ein Teil gewählt, amerikanisch zu werden, und der andere Teil, sich nicht zu bewegen.“ Und Godard fügt hinzu: „Das, was mich frappiert hat zwischen den beiden Deutschlands, ist ein sehr bewegender Moment, an dem man einen bestimmten Funken sieht, ein Licht, ein historisches Licht, in dem man auf eine bestimmte Weise noch das alte Deutschland sieht, denn Ost-Deutschland hat sich nicht bewegt seit 40-45. Man sieht also noch ein altes Deutschland. Man sieht ein neues Deutschland, das tiefgreifend amerikanisch ist, während das alte eher preußisch ist.“1

    Godard äußerte seine Intuitionen zu Deutschland im Jahre 1990 anlässlich des Filmstarts seines bis heute fast unbekannt gebliebenen Films „Allemagne neuf zéro: solitudes, un état et des variations2. Er ist noch immer einer der wichtigsten Filme über Deutschland, über den solitären Zustand dieses Landes und seiner Suche nach seiner Form von Identität.

    Bis heute haben Film und Statement Godards eine überraschende Aktualität. Nicht zuletzt lässt sich von ihnen aus ein erhellendes Licht auf den Zustand wenigstens der evangelischen Kirchen in beiden Teilen Deutschlands werfen.

    Die o.g. Amerikanisierung hat im Gegensatz zum Nichtbewegen zumindest eine Anfälligkeit, um nicht zu sagen Naivität, gegenüber Sprachformen und ihren ästhetischen Derivaten hervorgebracht, die man kommerziell oder auch konsumistisch nennen könnte.

    Konsumistische Sprach- und Redeformen3  folgen den Strategien des Marketings und damit der Dynamik eines Marktes, der geradezu hypostasiert wird. Das einzige Interesse eines Marktes allerdings ist Verkauf, Gewinn und Geld, also Konsum.

    Die Sprache des Marketings arbeitet so, dass sie an allen möglichen Sprachformen, auch den alten, Glaubwürdigkeitsanleihen macht. Diese Glaubwürdigkeitsanleihen überträgt sie auf ein Produkt, um es zu verkaufen. Hat sich die übertragene Glaubwürdigkeit im Verkauf erschöpft, muss eine andere Sprachform gefunden werden. Die einmal beliehene bleibt ausgehöhlt, einem Kadaver gleich zurück. Sie ist korrumpiert.
    Man kann diese Strategie vampiristisch nennen und nimmt ihre Fährte sofort auf, sobald man sich klarmacht, wofür z.B. Worte wie Kredit oder Schuld, Verschuldung heute mehrheitlich benutzt werden. Das schlagende Beispiel geradezu sprach- (und bild-) prostituierender Praxis ist die Technik sex sells: Was wird in der Welt der Reklame nicht alles mit Sex in Verbindung gebracht, nur um verkauft zu werden. Da sind alle Grenzen von Diskretion und Stil weit offen.4

    Die hier skizzierte konsumistische Redeweise breitet sich längst auch außerhalb des ökonomischen Bereiches des Marketings aus. Man hält sie allgemein für professionell. So dominiert sie bereits die Sprache der Politik. In der Folge werden in politischen Statements immer weniger Informationen verbreitet, sondern es wird kalkuliert, wie man eine Sachlage den Leuten am besten verkauft. Und schon schliddert man auf der glatten Konformität der Marketingsprache dahin.

    Die geradezu „reine“ Form der konsumistischen Rede liegt in der Sprachpraxis eines schamlosen deal making.  Dabei wird „zur Sprache dasselbe Verhältnis wie zu[m] Geld“ eingenommen. Sprache wird „als Privateigentum“ betrachtet. Die derart Sprechenden sind also „nicht nur Großgrundbesitzer“, sie sind „auch Großwortbesitzer“. So wie ihnen ihr „Geld ganz alleine gehört“, gehören ihnen „auch die Sprachbedeutungen“. Sie sind ihr „symbolisches Kapital“.

    Und was macht z.B. ein „Immobilienhändler mit seinem symbolischen Kapital? Er bewirtschaftet es, er dealt mit Wörtern und investiert sie in []ein neues Geschäftsfeld, in die Vermehrung politischer Macht. […] Sprechakte als politisches Investment.“

    Lässt eine „verbale Investition“ die „politischen Aktien“ am „Meinungsmarkt“ steigen, so lässt sie sich als Gewinn verbuchen. Muss ein verbaler Rückzieher gemacht werden, dann wurde die „Gewinnerwartung kurzfristig enttäuscht“ und nach unten korrigiert – eine Fehlkalkulation der „semantischen Transaktion“.5

    Ein solcher Sprecher, eine solche Sprecherin verwandelt sich in „das Musterexemplar des ökonomischen Menschen“. Im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts „formierten sich in naturrechtlichen und moralphilosophischen Diskursen einige Bauteile, die sich zum Passepartout eines ökonomischen Menschen fügen“.6

    Demnach betritt mit dem ökonomischen Menschen „nicht nur ein rationales, sondern ein leidenschaftliches Subjekt“, die Bühne, das „seine Leidenschaften allenfalls über eine Mechanik der Interessen reguliert“. Der leidenschaftliche ökonomische Mensch agiert als „blindes Subjekt eines beschränkten Wissens“.7  Die Beschränkung seines Bewusstseins auf den engen Horizont ökonomischer Interessen machen es klug, bringen es voran und harmonisieren den sozialen Verkehr. Folglich widerstreben dem ökonomischen Menschen „die Einrichtung eines guten Systems (von Gesetzen, Institutionen, Verwaltungen etc.)“ als „Unheil des Viel-Regierens“. Er nimmt den „Mechanismus des Marktes zum Test für die Effizienz aller künstlichen Einrichtungen“, die sonst das Leben bestimmen. Diese Kombination von Eigenschaften schließt indes nicht aus, dass der ökonomische Mensch ein „besonders gut regierbares“ menschliches Exemplar darstellt. „Die Prioritäten Ökonomie, Tausch und Markt schaffen ein Milieu, in dem sich die Begierden und Interessen des ökonomischen Menschen selbst regieren, selbst steuern, balancieren und kompensieren. Das Gesetz, das hier Ordnung stiftet, ist den einzelnen Agenten nicht äußerlich. Es entspringt ihrem selbstsüchtigen Herzen und regiert besser und effektiver als jeder Regent“: „als unsichtbare Hand“.8

    „Alle diese Elemente möblieren das Gehege des ökonomischen Menschen und prägen eine liberale Idylle des Marktes […] Das Preissystem übernimmt die Aufgabe, ein abwesendes Zentrum zu ersetzen und ebenso unbeabsichtigt wie unbewusst aus divergierenden Einzelkräften eine Ordnung zu garantieren. Ohne sich lieben zu müssen, ja selbst ohne sich wirklich und willentliche zu verständigen, treiben sie mit ihren Eigeninteressen die Verbesserung der Lage aller hervor. Das Wirken der ominösen unsichtbaren Hand bringt es mit sich, dass die einzige Verantwortung der ökonomischen Akteure eben nur darin bestehen kann, für nichts und niemanden verantwortlich zu sein.“9

    Worte im Munde des ökonomischen Menschen haben nichts als einen Tauschwert „so flüchtig wie Geld“. Ihr „Bedeutungskern“ wird „dereguliert“ und ihnen wird ihr „kommunikativer Kredit“ entzogen, ihre Glaubwürdigkeit.

    Es überrascht nicht zu sehen, dass die konsumistische Rede im Feld des Politischen mit Worten im Sinnes ihres „politischen Tauschwert[es]“ umgeht. Sie gehorchen dann „nur noch einer einzigen Grammatik: dem Willen zur Macht“.10

    Was der ökonomische Mensch religiös hervorbringt, kann man an großsektenartigen evangelikalen Kommerzkirchen, die Namen wie Prosperity Gospel11   tragen, studieren.

    Man könnte das beschriebene Phänomen für ein Amerikanisches halten. In rhetorisch homiletischem, aber auch in liturgischem Zusammenhang hat die naive Übernahme von ästhetischen Formen des Kommerzes auch hierzulande und nach „neun null“ ihre Auswirkungen und Nachahmer in kirchlichen Handlungsfeldern.

    Nun kommt eine konsumistische Rede selten allein. Sie hat Begleitung und Helfer, Agenten. Wir nennen sie Medien, beispielsweise und inzwischen nachgerade klassisch: das Fernsehen.

    „Fernsehen ist eine überwiegend kommerziell geprägte massenkulturelle und daher notwendig triviale Form.“12 So steht es im ersten Kapitel der „Fernsehtheorie. Zur Einführung“ des Medienwissenschaftlers Lorenz Engell.

    Wie immer die Dauerpräsenz des Fernsehens, seine Form von Repräsentation der Realität bzw. seine Auflösung oder Umwandlung in geschlossen in sich zirkulierende Selbstrepräsentationen des Mediums, oder ihre Mechanismen von Kontrolle und Disziplinierung theoretisch zu bewältigen ist, so deutlich ist doch eine Erfahrung: „einmal unbeteiligt und in Ruhe gelassen zuschauen“ ist schier unmöglich.

    Permanent wird „man von Ansager, Moderator, Nachrichtensprecher […] ins Visier genommen“; wenigstens scheinbar, „denn dessen Blick stiert scharf am Zuschauer vorbei zum Teleprompter. Wie dumm muss ein Medium eigentlich sein, wenn es nicht einmal das bisschen Abstand zur eigenen Produktionsweise aufbringt, um darauf zu achten, dass die attraktivere Verführung nicht in ständiger Eroberungsgeste besteht, sondern in der Chance, auch einmal schweigen zu können! Statt, dass das Fernsehen sich auf seine Möglichkeiten besinnt, Bilder zeigt und schweigt, quatscht es uns voll. Nur wenn’s ganz lustig wird, brauchen wir nicht mehr zu lachen, das wird dann schon eingespielt.“13

    „Es gibt überhaupt keine unkommentierten Bilder, kein ungeschnittenes und uns nicht ständig bevormundendes Material mehr“. Hinzu kommt: „Es gibt im deutschsprachigen Fernsehen auch keine nichtdeutschen O-Töne. Nirgends“. Das dafür vorherrschende Motiv scheint „die Angst vor dem Nichtverstehen“ zu sein.14

    Darin lässt sich der Grundansatz einer Kritik sowohl an der konsumistischen Rede als auch ihrer derivaten ästhetischen Formen ausmachen:

    „Dabei könnte gerade das, was man nicht versteht – was Rätsel bleibt, ein Geheimnis also, etwas Poetisches, vielleicht etwas, was sich nicht erschließt –, aufregend sein, weil doch das, was gemeinhin unter Verstehen verstanden wird, nur die Reduktion auf das ist was man vorher schon gekannt hat. Was wir also verlieren, bevor wir es gewonnen haben, ist zum Beispiel der mögliche klangliche Genuss von anderen Sprachen, Stimmen, Metren, Farben. Das funktioniert nur bei Fremdsprachen, bei denen genau diese Qualitäten durch das semantische Verstehen, durch die Kenntnis der Bedeutung von Worten und Sätzen nicht verstellt oder verdeckt sind.“15

    Und folgender Vorschlag macht die Aktualität und dringende Notwendigkeit einer Kritik konsumistischer Formen klar:

    „Wenn in allen Nachrichtensendungen, Dokumentarfilmen, politischen Magazinen die Stimmen aus Afrika, China oder aus Dänemark im Original zu hören wären und erst anschließend übersetzt oder untertitelt würden, dann könnte man schon in einer Woche eine im weitesten Sinne politisch-kulturelle Erfahrung machen, die über jeden Urlaub hinausweist. Unser Nachholbedarf in Sachen Respekt vor dem Fremden könnte auf diese Weise ganz schnell aufgehoben werden.“16

    Pause. Pause im Theater.

    Ich komme zurück in den Zuschauerraum. Sein Boden ist asphaltiert, die Wände mit riesigem schwarzen Lametta ausgekleidet. Da ist das russische Holzhaus, Lattenzäune. Was in Innenräumen – Sauna, orthodoxe Kapelle – geschieht, wird direkt über Kameras auf eine große Videowand projiziert. Doch noch ist alles leer. Der Saal füllt sich. Die Leute nehmen wieder Platz auf großen Sitzsäcken. Langsam verstummt das Murmeln, die Türen werden geschlossen.

    Plötzlich auf der Leinwand: Nachtbilder live aus einer Stadt. Berlin: der Fernsehturm, Hotelhochhäuser, fern das Rote Rathaus, Straßen, Beleuchtungen vielerlei Art, Reklame, Autos, Fahrgeräusche, Krankenwagen… Vor dieser Kulisse erzählt Alexander Scheer, einer der Brüder Karamasow, in rebellisch verstörender Intensität auf dem Dach des Theaters direkt im Spiel mit einer beweglichen Kamera die alte Legende:

    „Warum bist du gekommen, uns zu stören? … Erst jetzt, gerade jetzt sind diese Menschen von ihrer uneingeschränkten Freiheit überzeugt, während sie selbst uns ihre Freiheit ehrerbietig vor die Füße gelegt haben. […] Erst jetzt ist es möglich geworden, an das Glück der Menschen zu denken! …

    – Aber Er antwortet nicht. Er nähert sich nur plötzlich dem alten Mann und küsst ihn still auf seine blutleeren neunzigjährigen Lippen…“

    Gospodu pomolimsia, gospodi pomelui.17


     
  • minderheitlich werden II

    Durch die evangelischen Kirchen unseres Landes geht ein Riss. Es fällt zunehmend schwer, die Erfahrungen der Christinnen und Christen in der ehemaligen DDR verständlich zu machen. Die Denkfigur des „Minderheitlich-Werdens“1 eröffnet ein Feld der Wahrnehmung jenseits der eingeübten Frustrationen, die oftmals von mehrheitlichen Gesten herrühren.

    Minderheitlich-Werden bedeutet nämlich nicht, mehrheitlich werden zu wollen, sondern im Werden zu bleiben.

    So wurde die von Dietrich Bonhoeffers Überlegungen vom in-der-Welt-Sein inspirierte, umstrittene Formel des Ostberliner Bischofs Albrecht Schönherr von einer „Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern im Sozialismus“ (1971) bereits ein Jahr später wieder in Bewegung gebracht durch einen Aufruf des Erfurter Theologen Heino Falcke an die Christinnen und Christen in der DDR, sich ebenda zu engagieren „für eine verbesserliche Kirche in einem ‚verbesserlichen Sozialismus‘“2.

    Die Kirchen in der DDR wurden in kleinen Schritten zu Orten der Veränderung und boten ein Dach für verschiedene Aktivitäten und Aktivisten in Bereichen wie Frieden, Menschenrechte und Umweltschutz. Sie bot unangepassten bzw. verbotenen Dichtern, Liedermachern, Bands und Künstlern provisorische Plattformen und setzte sich für Wehrdienstverweigerer, Ausreisewillige und andere politisch Verfolgte ein3. Neben offiziellen Treffen und Vereinbarungen mit dem Staat fand diese Existenzform des Christseins ihren Ausdruck in unkonventionellen Gesten wie der folgenden:
    „In der Konferenz der Landesjungendpfarrer […] wurde inmitten intensiver friedensethischer und friedenspädagogischer Überlegungen der ‚Aufnäher‘ ersonnen, jenes auf Vliespapier gedruckte Motiv eines sowjetischen Denkmals vor dem UNO-Gebäude in New York, das einen Schmied zeigt, der mit dem aus dem Propheten Micha zitierten Satz ‚Schwerter zu Pflugscharen‘ umschmiedet. Ein frühes Bild für Rüstungskonversion, für eine konstruktive Militärdienstverweigerung, für einen Beitrag der Christinnen und Christen zu einer wirklichen Friedenspolitik. Bald waren die Rollen mit den 105000 Aufnähern in Herrnhut gedruckt – nie hätte es dafür eine Druckgenehmigung gegeben, aber die beantragte ‚textile Oberflächenveredlung‘ […] erweckte bei den staatlichen Genehmigungsorganen keinen Argwohn. Vom Mut all der Schülerinnen und Schüler und der jungen Erwachsenen wäre hier zu erzählen, von den verweigerten Diskussionen in Schulen, von den Konflikten in den Familien, auch vom Mut einiger Kirchenleitungsmitglieder, die sich solidarisch zu den mit Zwangsmaßnahmen überzogenen Jugendlichen stellten. So kündigte der Schweriner Bischof Heinrich Rathke dem Rat des Bezirkes an, wenn eine junge Frau, die von der Polizei wegen ihres Aufnähers festgehalten wurde, nicht innerhalb einer halben Stunde freigelassen werde, stünde er mit dem Aufnäher auf seinem Ärmel vor dem Gebäude des Rates des Bezirkes – eine belebte Gegend in der Bezirksstadt Schwerin –, bis er ebenfalls festgenommen würde oder bis die junge Frau frei sei. Sie wurde alsbald freigelassen.“4

    Es bildete sich eine natürliche Solidarität. Dennoch war im Leben der Christinnen und Christen in der DDR die persönliche Entscheidung im Alltag gefragt bzw. kaum zu vermeiden und die konnte drastische Konsequenzen haben.

    Heino Falcke erinnert folgendes Bild: „Als uns 1980 Roger Schutz aus Taizé besuchte, kam es auf dem Domberg in Erfurt zu folgender Szene: Wir standen als Leiter des Gottesdienstes oben vor dem Dom, da löste sich aus der Gemeinde zu Füßen der Domstufen ein kleiner Junge und stieg ganz allein vor allen die Treppe hinauf. Wir hielten den Atem an. Das war ein wunderbares Symbol für uns Christen in der DDR – sich zu wagen, alleine aus der Menge heraus seinen Weg zu gehen.“5

    Wahrscheinlich war es nicht ohne Grund, dass es die Kirchen der ehemaligen DDR waren, die eine alte Prozedur des Werdens in den Kirchen der Welt anzuregen versuchten. Im Jahre 1983 rief Heino Falcke für die DDR-Delegation auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver dazu auf, ein gesamtkirchliches Friedenkonzil einzuberufen und berief sich dabei auf Bonhoeffer.

    Auf der Tagung des Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum und der ökumenischen Jugendkonferenz im dänischen Fano im Jahre 1934 hatte Dietrich Bonhoeffer in einer Morgenandacht zu Psalm 85 erstmals ein gesamtchristliches Friedenskonzil gefordert. Er hatte an die Tradition altkirchlicher Konzile angeknüpft und die versammelten Vertreter der Ökumene direkt zur Einberufung eines solchen Konzils aufgerufen.

    Wenig später äußerte auch der katholische Priester Max Joseph Metzger die Idee eines christlichen Unionskonzils um des Friedens willen. Johannes XXIII weckte mit den Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) große Hoffnungen auf ein ökumenisches Konzil.

    An diese junge Deutung der alten Tradition knüpfte Frère Roger mit dem Konzil der Jugend, das 1974 in Taizé eröffnet wurde und einige Jahre später in den Pilgerweg des Vertrauens überging, direkt an:
    „Der auferstandene Christus kommt, um im Innersten der Menschen ein Fest lebendig werden zu lassen. Er bereitet uns einen Frühling der Kirche, einer Kirche, die über keine Machtmittel mehr verfügt, bereit, mit allen zu teilen, ein Ort sichtbarer Gemeinschaft für die ganze Menschheit. Er wird uns genügend Phantasie und Mut geben, einen Weg zur Versöhnung zu bahnen. Er wird uns bereitmachen, unser Leben hinzugeben, dass der Mensch nicht mehr Opfer des Menschen sei.“6

    1983 in Vancouver einigte man sich auf „einen konziliaren Prozess gegenseitiger Verpflichtung auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“.7

    Dieser Prozess sollte nicht ohne direkte Auswirkungen auf die Arbeit und politischen Aktivitäten der Kirchen in der ehemaligen DDR bleiben und erzeugte im Zusammenspiel mit anderen Kräften schließlich die Veränderungen des Herbstes 1989.

    Bei genauerem Hinsehen halten die Erfahrungen der sogenannte Wende für die Kirchen der DDR allerdings eine unerwartete Lektion in Sachen minderheitlich Werden bereit:

    Im Februar 1988 wurden einige DDR-Oppositionelle aus der Haft in die Bundesrepublik abgeschoben. Unter ihnen war die Malerin Bärbel Bohley. Sie konnte jedoch sechs Monate später, im August 1988 in die DDR zurückkehren. Diese Rückkehr hatte sie noch in der Haft ertrotzt und danach während ihres Aufenthalts im Westen mit allen politischen Mitteln verteidigt.

    Es waren die Umstände jener Abschiebung und die hoch konzentrierten Erfahrungen von sechs Monate Aufenthalt im Westen – in Frankreich, Italien, der Bundesrepublik und England –, durch die Bärbel Bohley zu der Konzeption jener Bürgerbewegung kam, die für den Herbst 1989 so entscheidend wurde.

    Insbesondere der „heilende Abstand zur Kirche wie zur Opposition“8 waren dabei Ausschlag gebend. Die Entwicklung Bärbel Bohleys ist in ihren Tagebüchern „Englisches Tagebuch 1988“9 bis heute eindrücklich nachzulesen.

    Der Freiraum unter dem Dach der Kirche ermöglichte viel, gerade zum Ende der 1980er Jahre, er wurde zum Teil heroisch behauptet. Zugleich aber wurden politisch relevante Aktivitäten, sobald sie unter dem Dach der Kirche stattfanden, für den Staat berechenbar. In härteren Konfliktfällen wie Inhaftierungen hatte eine Entspannung der Situation durch vermittelte Ausreisen in den Westen, eine ständige Abwanderung von kritischen Menschen und den Problemen, die durch sie in der DDR zum Ausdruck gebracht wurden, zur Folge.
    Um diesem Zusammenhang zu entkommen und dem Veränderungswillen im Lande selbst mehr Kraft zu verleihen, erkannte Bohley, dass man das in doppelter Hinsicht schützende Dach der Kirche verlassen musste.
    Zugleich erkannte sie, dass die Opposition in der DDR zu sehr zersplittert und auf einzelne Personen bezogen war. Bei aller Verschiedenheit der Situationen hatte die Opposition in der DDR nicht die Kraft etwa einer Solidarnosc oder einer Charta 77. Sie musste sich entschieden öffnen. Mit Bärbel Bohley‘s Rückkehr in die DDR wurde ‚die Zeit reif‘ für einen „Aufbruch 89“. Im September unterzeichnete sie als erste den von ihr maßgeblich gestalteten Gründungsaufruf des „Neue[n] Forum“, eine „politische Plattform“ zur „Umgestaltung der Gesellschaft“.10

    Die Situation geriet in Bewegung. Ereignisse überschlugen sich.

    Anfang Oktober entschließt sich eine junge Frau zu einer Fastenaktion als einem konkreten Angebot zum „aktiven gewaltfreien Widerstand“ in der Berliner Gethsemanekirche.11 „Am Anfang war gleich für mich der Haftbefehl da. Eigentlich wusste ich, wenn ich aus der Kirche rauskomme, dann komme ich ins Gefängnis. Aber dann hat sich während dieser Tage ja die friedliche Wende ereignet. Am 9. Oktober – also nicht am 9. November, als die Mauer geöffnet wurde – sondern am 9. Oktober gab es die friedliche Wende, wo die ersten Demonstrationen an den Panzern vorbeizogen. Da war die Kirche umstellt von Panzern und Wasserwerfern und dann auf einmal rückten die ab und die Leute rückten mit Kerzen nach, singend, Taizé-Gesänge singend. Am Morgen konnten die Autos nicht fahren, weil die Straße voller Wachs war von den Kerzen.“12

    Zwanzig Jahre später wählt Bärbel Bohley ein Hegelzitat als Überschrift für Ihren Beitrag zum Jahrestag des Neuen Forum: „Eine Bewegung erweist sich als erfolgreich, wenn sie zerfällt“13. Damit bringt sie die realpolitische Erfahrung eines minderheitlichen Im-Werden-Bleibens im Unterschied zum mehrheitlich Werden-Wollen auf den Punkt. Der politische Impuls des minderheitlich Werdens bedeute, Herrschaft zu stürzen, ohne deswegen aber den Platz des oder der Herrschenden einnehmen zu wollen.14

    Für die Kirchen der ehemaligen DDR entwickelt sich die Erfahrung der Wende zu einer Lektion des minderheitlichen Im-Werden-Bleibens. Und dies nicht nur in ihrer Rolle den Verhältnissen der ehemaligen DDR gegenüber. Auch im Zusammenspiel mit den Kirchen der alten Bundesrepublik in der gemeinsamen neuen Bundesrepublik stellt sich die Realität als eine Lektion dieses minderheitlichen Im-Werden-Bleibens dar. Die minderheitlichen Erfahrungen erweisen sich als immer schwerer vermittelbar mit den realpolitischen kirchlichen Machtverhältnissen, die traditionell mehrheitlich15 und damit konstantinisch verfasst sind.

    Unter Kaiser Konstantin hatte sich die Kirche von einer tolerierten zu einer privilegierten und schließlich zur herrschenden Institution entwickelt. Sie differenzierte sich im Laufe der Jahrhunderte in unterschiedliche administrative Regime. Mit der Teilung der Kirchen ist Ost- und Westkirche unterschieden sich von der Kirche imperialer Administration katholischer Prägung verschiedene Kirchen nationaler Administration orthodoxer Prägung. Mit der Reformation kamen Kirchen landesfürstlich-ministerialer Administration evangelischer Prägung dazu. Diese Figuren der Kombination von Christentum und Herrschaft dominieren seither die Kirchen.16

    Im Laufe der Geschichte sind immer wieder minderheitliche Entwicklungsformen innerhalb wie außerhalb der konstantinischen Administrationen aufgetreten. Die in unserem Zusammenhang markanteste war die franziskanische Reformation. Die monastische Gemeinschaft des heiligen Franziskus von Assisi nennt sich bis heute ordo fratrum minorum, der Orden der Minderbrüder. Ihr Programm des minderheitlich Werdens hatte nicht nur eine theologisch philosophische Betonung des Werdens zur Folge, sondern liefert bis heute Beispiele administrativer Techniken, die man als minorisieren bezeichnen kann.

    Demnach wird etwas zu Größe erhoben: „aus einem Denken macht man eine Doktrin, aus einer Lebensweise eine Kultur, aus einem Ereignis eine Geschichte“. Auf diese Weise „täuscht man Anerkennung und Bewunderung vor“, in Wirklichkeit „normiert man“, unterwirft Normen. Es geht also darum, sich diesem Vorgang der Normierung durch „Geschichtsschreiberei“ zu widersetzen. „Operation für Operation“ in einem geradezu chirurgischen Sinne kann man sich den Vorgang des Großmachens auch umgekehrt vorstellen: „depotenzieren (französisch minorer)“. Man müsste also dem jeweiligen Gegenstand entsprechend eine Methode des Minorisierens entwickeln, um die „Prozesse des Werdens gegen die Geschichte freizusetzen. Leben gegen Kultur, Gedanken gegen Doktrin, Wohlwollen oder Ablehnung gegen das Dogma“ mit dem Ziel, „jene aktive minoritäre Kraft wieder zu finden.“17

    Ein konkretes Beispiel für eine derart minorisierende Methode liefert und der italienische Philosoph Giorgio Agamben. Bei seiner Untersuchung des nur scheinbar abgelegenen Genres der Ordensregeln stößt Agamben auf das in ihnen ausgedrückte Verhältnis zwischen Armut und Eigentum. Insbesondere bei den Franziskanern interessiert ihn jedoch nicht so sehr die Armut als solche, sondern die Art und Weise, in der die Franziskaner den Gebrauch wichtiger nehmen als das Eigentum. Das ist genau der Punkt, an dem der minoritische Impuls auf Grundfragen konstantinisch geprägten Rechtes stößt und es minorisiert.

    „Für den Orden wie für seinen Gründer ging es um die abdicatio omnis iuris, das heißt, um die Möglichkeit, als Mensch außerhalb des Rechts zu existieren.“18 Die Minderbrüder wollten sich also jeglicher Güter bedienen (simplex usus), „ohne irgendwelche Rechte (weder ein Gebrauchs- noch ein Eigentumsrecht) an ihnen zu haben“.19

    Schon die Bezeichnung ‚Minoriten‘ oder ‚Minderbrüder‘ zeichnet sie juristisch als alieni iuris. Sie stehen wie Kinder unter der Vormundschaft eines Erwachsenen, sui iuris. Bereits Bonaventura hatte dieses Argument aus dem römischen Familienrecht heraus entwickelt. Die Minderen sind somit „nicht fähig, etwas zu besitzen, weil das Eigentum dem Vater zusteht und sie die Dinge nur gebrauchen dürfen“.20

    Die Voraussetzung dieser Konstruktion findet sich der „patristischen und kanonistischen Rezeption der Lehre von der ursprünglichen Gütergemeinschaft“. Demnach beginnen Eigentum und Recht „mit dem Sündenfall und mit der Errichtung einer Stadt durch Kain“.21 Wie Christus und die Apostel verzichten die Franziskaner auf jedes Eigentumsrecht, können den „faktischen Gebrauch der Dinge“ jedoch beibehalten. Sie kehren mit ihrer abdicatio iuris also zurück in diesen „Naturzustand“ und „die Trennung von Eigentum und Gebrauch sind die Dispositive, derer sich die Franziskaner bedienten, um jenen Stand technisch zu definieren, den sie ‚Armut‘ nannten.“22

    Zugespitzt heißt das, dass „den Minoriten ‚nur zu eigen ist, nicht zu eigen zu haben von den vergänglichen Dingen‘“, was rechtlich gesprochen so viel heißt wie, „dass sie ‚das Recht haben, kein Recht zu haben‘“23

    Die zweite Argumentationsfolge dieses minderheitlich-Werdens ist eine „geniale Verallgemeinerung des in sein Gegenteil verkehrten Notstandsparadigmas“.24 Auch dieser Ansatz geht auf eine  römische Rechtsfigur zurück, nämlich auf die lex Rodia de iactu, „dem zufolge im Fall äußerster Not jeder aufgrund des Naturrechts berechtigt ist, die Sachen des anderen zu gebrauchen.

    Noch im Streit zwischen den Franziskanern und dem Papst (Johannes XXII.), der zur Verdammung der sogenannten Spiritualen geführt hatte25, hatte der Papst die Unterscheidung zwischen ius utendi, dem Gebrauchsrecht, und der licentia utendi, der Erlaubnis zum Gebrauch, bestritten. Dem entgegen stellt Wilhelm von Ockham die „Unterscheidung zwischen einem ius utendi naturale, das allen Menschen zukommt, jedoch nur im Notstand gilt, und einem ius untendi positivum. Die Minoriten „haben zwar keinerlei positives Recht an den Dingen, die sie gebrauchen, sie haben jedoch ein natürliches Recht, das allerdings auf den äußersten Notfall beschränkt ist“. Nach Ockham folgt daraus, dass „die Erlaubnis des Gebrauchs kein Gebrauchsrecht ist“.26

    Die Minoriten haben im „Normalzustand, in dem den Menschen positive Rechte zustehen“, kein Recht. Sie haben „lediglich eine Erlaubnis des Gebrauches“ und das „nur in der äußersten Notlage“. Nur dann „treten sie wieder mit dem – natürlichen, nicht positiven – Recht in Beziehung“. Sonst haben sie keine Beziehung zum Recht. „So wird, was für die anderen normal ist, für sie zu Ausnahme, was sich den anderen jedoch als die Ausnahme darstellt, ist für sie Lebensform.“27

    Gebrauch und Notlage definieren somit die minoritische Lebensform. Giorgio Agamben erkennt in ihrer Konstruktion den „Operator eines ‚rechtlichen Vakuums‘“28, der das Leben dem herrschenden Recht entwindet.

    Minderheitserfahrungen – und eben auch die der Christinnen und Christen in der ehemaligen DDR – können als ‚Operatoren eines rechtlichen Vakuums‘ erkannt und gedacht werden. Ihre Analyse können Bausteine für ein Minorisieren der konstantinischen Verfassungen der Kirchen hervorbringen. In dieser Hinsicht wird die Aufgabe einer kommenden Kirche zu großen Teilen eine minorisierende Erfindungsaufgabe sein.


    28 I A.a.O., S. 158. Agamben zitiert hier den italienischen Philosophen und Rechtshistoriker Emanuele Coccia, Regula et vita. Il diritto monastico e la regola francescana von 2006. Emanuele Coccias jüngstes Buch, Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen, München 2018, lässt sich, zwar auf einem anderen Feld, aber doch auch unter dem Aspekt des minderheitlich-Werdens, bzw. des Im-Werden-Bleibens lesen.


  • Martyr/olog

    Seinen Tagebüchern stellt der russische Filmregisseur Andrej Tarkowskij eine Reihe idyllisch anmutender Schwarz-Weiß Fotographien aus seiner Kindheit voran. Viele von ihnen glaubt man als Filmbilder nachgestellt aus seinem Film „Der Spiegel“ zu kennen. Und man versteht, dass die Schönheit der erinnerten Bilder nicht deckungsgleich sein muss mit dem in ihnen erfahrenen Leben, deren Abbilder sie dennoch sind.

    Die Differenz, die durch dieses Denken der Bilder geht, beschreibt Tarkowskij als Martyrolog, so der Titel seiner zweibändigen Tagbücher1. Sie beginnen in den 1970er Jahren und schildern die konkreten Lebensumstände seines künstlerischen Schaffens als dissidenter Film-Bild-Künstler in der Sowjetunion und darüber hinaus. Die Tagebücher kleiden einen Riss in Worte, der sich in den Filmbildern, wie in „Der Spiegel“, verbirgt. Hatte doch Tarkowskij den Gedanken erwogen, diesen Film selbst Martyrolog zu nennen.

    Man mag in Tarkowskijs Zuneigung zu diesem Titel eine Überhöhung seines eigenen, russisch geprägten Künstler-Daseins erblicken. Doch seine Entscheidung, diesen Titel für die ungeschönte bruchstückhafte Aufzeichnung seines Lebens zu verwenden, spricht eine andere Sprache. Sie sucht eben den Martyr eines Lebens2, was in Tarkowskijs Fall ein künstlerisches Leben der Bilder war.

    Damit erinnert Tarkowskij an eine bis heute lebendige orthodoxe Tradition, die einen überraschenden Gegenwartsbezug enthält. Er besteht darin, Martyres auch im heutigen Leben zu bezeichnen und sie Bild werden zu lassen3. Dies ist jüngst in der sogenannten Heiligsprechung von Alexander Schmorell geschehen, dem Mitbegründer der deutschen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ um die Geschwister Scholl. Schmorell wird seit Februar 2012 Alexander von München genannt.

    Doch es gibt einen direkten biographischen Schnittpunkt Tarkowskijs mit dieser Tradition, der zugleich einen Blick in den Abgrund der orthodoxen Kirchen heute gewährt.

    Ende der 40er Anfang der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts ging Andrei Tarkowskij in Moskau auf die Schule für Jungen Nr. 554. Einer seiner Mitschüler hieß Alexander Wladimirowitsch Men. Über ihn würde später folgendes geschrieben werden:

    „Wie jeden Sonntag so war Vater Alexander Men auch an diesem 9. September 1990 sehr früh am Morgen aufgestanden, um in der ca. 30 Kilometer entfernten, kleinen Dorfkirche, an der er seit 20 Jahren Dienst tat, die Messe zu lesen. Seine ihn ständig begleitende Aktentasche in der Hand, stieß er die Gartentüre auf und machte sich schnell auf den Weg zum Bahnhof, um den Regionalzug in Richtung Moskau zu erreichen. Im morgendlichen Nebel nahm der den schmalen Weg zwischen den Bäumen, die bereits begannen, ihr Blätter zu verlieren. Ein langer Tag lag vor ihm: Beichtgespräche, die Messe, Taufen, Begräbnisse. Er wäre sicherlich bis zum Beginn des Nachmittags beschäftigt gewesen. Dann hätte er sich eilends auf den Weg nach Moskau gemacht, um dort im Kulturhaus der Wolchonka-Straße den zweiten Teil eines Vortrages über das Christentum zu halten.
    Seit die sowjetischen Behörden im Jahr 1988 ihre Religionspolitik geändert hatten, widmete sich Vater Alexander in aller Öffentlichkeit jener Beschäftigung, der er bis zu diesem Zeitpunkt quasi im Untergrund nachgegangen war: der Verkündigung des Evangeliums an seine Mitbürger. Am 1. September hatte er den dreißigsten Jahrestag seiner Priesterweihe gefeiert. Aber jetzt hatte er keinen Augenblick mehr Ruhe. Es war eine einzigartige Situation in der Sowjetunion: nachdem die Gläubigen siebzig Jahre lag zum Schweigen verurteilt waren, wurde er, der von einem ganzen Team von KGB-Agenten überwacht worden war, in Schulen, Institute, Klubs und Kulturhäuser eingeladen. An Ostern hatte er 60 Erwachsene getauft. Er verausgabte sich rückhaltlos, sodass seine Angehörigen sich Sorgen machten; er aber blieb gegenüber ihren Ratschlägen taub. In letzter Zeit schien er manchmal verängstigt zu sein, etwas was bei ihm völlig ungewöhnlich war. Er liebte die Natur sehr, und diese paar Minuten Fußweg am Wald entlang, während die herbstlichen Farben unter den Sonnenstrahlen spielten, würden ihm ohne Zweifel Kraft geben. Die Landschaft schien nichts Besonderes an sich zu haben, und doch war es ein besonderer Ort.
    Nur wenige Kilometer von hier erhob sich das Dreifaltigkeitskloster des hl. Sergij, ein wichtiges Zentrum der russisch-orthodoxen Kirche. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts hatte der hl. Sergij dort, mitten im Wald eine Einsiedelei gegründet, von der ein sehr großer geistlicher Impuls auf Russland ausging. Russland hatte damals schwer unter der Invasion der mongolischen Krieger des Dschingis Kahn gelitten. Andrej Rubljow war dort Mönch und hatte für dieses Kloster die berühmte Ikone der hl. Dreifaltigkeit gemalt.4  Der hl. Sergij war in einem benachbarten Dorf geboren worden und hatte oft den Weg benutzt, auf dem Vater Alexander nun ging…
    Als seine Frau, die zu Hause geblieben war, wenig später das Fenster öffnete, vernahm sie ein Stöhnen. Sie stürzte in den Garten und erkannte hinter dem Tor einen Mann ausgestreckt auf der Erde in einer riesigen Blutlache. Sie kehrte ins Hausinnere zurück, rief den Notdienst, dann die Polizei. Als sie wieder herauskam, war die Ambulanz eingetroffen. ‚Warum tun sie nichts?‘, fragte sie die Ärzte. ‚Zu spät.‘ Schließlich näherte sie sich; alles war voller Blut. Sie wagte nicht, hinzuschauen. Dann kam ihr die Frage: ‚Ist mein Mann gut angekommen?‘ Irgendeiner fragte zurück: ‚Hatte er einen grauen Hut getragen?‘ Man hatte den Hut gefunden, mit einem großen Loch.
    Wenig später meldeten sich Zeugen, die Vater Alexander begegnet waren: er hatte auf seinem Weg kehrtgemacht. War in Richtung seines Hauses gegangen, blutüberströmt. Aber er hatte ihre Hilfe nicht angenommen. Er müsste vor dem Tor zusammengebrochen sein, fast völlig verblutet, eine breite Wunde am Hinterkopf, ganz offensichtlich verursacht durch einen Axthieb. Die Umstände des Verbrechens, die Genauigkeit, mit der der Schlag durchgeführt worden war, lassen daran denken, dass der Mord sorgfältig durch professionelle Killer geplant und ausgeführt worden war.“5

    Mit Sorge hatte Alexander Men Fremdenfeindlichkeit und einen reaktionären Nationalismus in seinem Lande wachsen sehen, an denen Vertreter der Kirchen nicht unbeteiligt waren. So nimmt es nicht Wunder, dass die Untersuchungen zu den Umständen seines Todes nach zwei Jahren erfolglos eingestellt wurden.

    Alexander Men‘s Suche nach einem schöpferischen Christentum orthodoxer Tradition hatte andere Wege eingeschlagen. Kleine Schwester Claire Latour berichtet; sie lebte seit 1974 verborgen in Moskau:

    „Ich bin 1974 in Moskau angekommen und in Anbetracht der politischen Situation konnte ich während eines ganzen Jahres mit niemandem in Kontakt treten, mit keinem Russen, keiner Russin. Denn es wäre für sie viel zu gefährlich gewesen. Die Person, für die ich arbeitete, hatte mir aufgetragen, dass ich mich während mindestens einem Jahr absolut stille verhalten und niemanden treffen sollte, um sicher zu sein, dass ich nicht beschattet würde und man auf diese Weise keine Menschen ins Gefängnis beförderte. Das war leider die Praxis.
    Und plötzlich, Ende 1975, zwischen den beiden Weihnachten, also dem katholischen und dem orthodoxen Weihnachten, fragte mich meine Chefin, ob ich nicht zu einer jungen Mutter gehen und ihr Milch vorbeibringen könnte, denn sie hätte nichts, um ihr Neugeborenes zu ernähren. Ich machte mich auf den Weg. Es war für mich ein außergewöhnliches Ereignis, nach einem Jahr zum ersten Mal russische Menschen und nun gleich eine russische Familie zu treffen. Während ich dort war, kam Vater Alexander, um ihr Haus zu segnen. Also, ich glaubte, dass das nur ein Wunder sein konnte.
    Als ich ihn sah – ich kann nicht genau erklären warum – hatte ich den Eindruck, dass ich ihm sagen könnte, wer ich wirklich war. Bis dahin hatte ich es niemals irgendjemandem gesagt, das war ganz geheim. Ich folgte also meinem Gefühl, sagte ihm, dass ich Kleine Schwester Jesu sei. Zu meiner Überraschung fragte er: ‚Von Charles de Foucauld? Den kenne ich.‘ Und ich fragte mich, wie es 1975 möglich war, dass er, weit von allem, ohne Informationen, ohne ausländisches Radio, mit den Schwierigkeiten, Bücher zu bekommen, trotzdem von unserer geheimen Fraternität gehört haben konnte.
    Er lud mich auf der Stelle ein, am selben Abend zu ihm zu einem ökumenischen Treffen zu kommen. Ich war etwas beschämt, denn die Leute, bei denen ich arbeitete, würden sich Sorgen machen wegen eines solchen Ausfluges. Ich betete. Was sollte ich tun? Dann sagte ich mir, dass es unmöglich sei, eine derartige Gelegenheit verstreichen zu lassen.
    Und am Abend kamen einige junge Leute zusammen, wenigstens ein Katholik, zwei Protestanten und einige Orthodoxe. Und Vater Alexander erklärte, wie er die Einheit der Christen sah. Das war für mich eine Offenbarung. Es war als ob er sich selbst als Teil einer universellen Gemeinschaft der Christen sah…“6

    Die ökumenische Weite des Denkens von Alexander Men gefiel längst nicht allen. Und er war sich dessen bewusst, dass er „bei starkem Gegenwind“7 arbeitete. Schließlich sei es „nicht leicht, jemanden zu verstehen, der über Jahre eng am Gängelband geführt worden ist“8. Hinzu kommt, dass Men immer bekannter wurde, im Fernsehen sprach und schließlich Ostern 1990 in einfachem weißen Priestergewand vor tausenden jungen Menschen im Moskauer Olympiastadion.

    Die ersten Schriften von Alexander Men erschienen im Untergrund, dem sogenannten Samisdat. Später gelangten Manuskripte nach Belgien und erschienen im Westen. Zuerst ging es Alexander Men darum, der hanebüchenen sowjetischen Propaganda in Sachen Christentum zu widersprechen. Seit Juri Gagarins Statement nach seinem Weltraumflug, es gäbe Gott nicht, sonst hätte er ihn ja gesehen, waren in der Sowjetunion antireligiösem Spott und Hohn Tür und Tor geöffnet.

    Sein Buch „Der Menschensohn“, pseudonym 1969 in Belgien erschienen, ist vor diesem Hintergrund zu lesen, wenngleich es sich nicht auf diese Auseinandersetzung beschränkt. Men schreibt auch als Seelsorger. Darauf verweist der Herausgeber der ersten deutschen Ausgabe dieses Textes von 2006, der Jesuitenpater Klaus Mertes. Außerdem will Men aber auch „die erzwungene Isolierung der Gläubigen und der Suchenden in der Sowjetunion von den Entwicklungen der Theologie ihrer Zeit“9 aufbrechen. Dies bedeutet zum einen die durch die Oktoberrevolution abgebrochene Rezeption der russischen Religionsphilosophie in der Sowjetunion und zum anderen die Verbindung zur historischen-kritischen Exegese des Westens.

    Alexander Men: „Erfolgreicher (als die Liberale Theologie des Westens) erscheint in dieser Beziehung die Erfahrung der russischen Religionsphilosophen zu sein. Vertreter dieser Strömungen fanden für die christliche Verkündigung eine neue Sprache, die dem Denken der Neuzeit weit mehr entsprach.“10

    Men‘s Denken ist „die Frucht dieser neuen religiösen Sprache Russlands. Er verarbeitet Erkenntnisse der historisch-kritischen Exegese, ohne dabei eine mystische Einheitsschau auf Christus aufzugeben“11.

    Dabei ist das Denken von Alexander Men immer getragen von einer spirituellen Praxis. Als unsichtbare- oder Katakomben-Kirche verstanden sich zahlreiche Gebetsgruppen, die er in der Weise eines Starez betreute. Diese waren ständig von Repressalien der Polizei und anderer stattlicher Überwachungsapparate bedroht. Das Besondere dieser informellen Gruppen bestand jedoch in ihrer ökumenischen Ausrichtung und in ihrer internationalen Offenheit.

    Seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts reisten Kleine Schwestern Jesu oder auch Brüder der Communauté de Taizé12 diskret (also als Touristinnen oder Privatbesucher, je nachdem) in die Länder hinter dem Eisernen Vorhang und so auch in die Sowjetunion.

    Die Gründerin der Kleinen Schwestern Jesu, Sr. Magdeleine, fuhr mit ihrem Etoile filante (Sternschnuppe) genannten Kleinbus bereits im Juli 1964 zum ersten Mal in die UdSSR. Nach ihrer Rückkehr berichtete sie ihren Schwestern:

    „Ausgenommen die 54 Kirchen von Moskau und 10 von Leningrad fanden wir keine offenen Kirchen. Die katholische Ostkirche hat besonders unter der Verfolgung gelitten, es gibt sie nicht mehr. (…) Aber wir wollen doch das Gute sehen, das es auch gibt. In den geöffneten Kirchen drängen sich die Gläubigen, und die Kreuze glänzen von den Kuppeln.
    Wir hatten auch Kontakt mit Parteimitgliedern, nämlich den Reiseführern. Sie sind gehalten, bei den Touristen Propaganda zu betreiben, aber wenn sie in unseren Wagen kommen und sich zwischen zwei Ordensfrauen hinsetzen, die ein gut sichtbares Kreuz auf dem Kleid tragen, rechter Hand die Ikone der Muttergottes von Wladimir und über meinem Bett ein Kreuz mit der Muttergottes von Korsun, verstehen sie recht gut, dass sie nicht viel Erfolg bei uns haben werden. Und sie werden sehr freundlich, wenn wir ihnen erklären: ‚Ja, wir sind katholische Ordensfrauen, aber ein wenig anders als die üblichen. Wir geben keinen Unterricht in unserer Religion, wir verdienen unseren Lebensunterhalt durch Lohnarbeit in der Fabrik oder anderswo. Vor allem setzen wir uns für den Frieden und die Liebe zu allen Menschen ein, wir sehnen uns danach, dass alle Menschen der Erde sich verstehen und dass die Kriege aufhören.‘“13

    Vierzehn Jahre später begegnet Kleine Schwester Magdeleine Alexander Men. Eine tiefe Freundschaft wird beide verbinden. „Er ermöglicht ihr den Kontakt zu Gebetsgruppen, die an verschiedenen Stellen Moskaus insgeheim von ihm geleitet werden. Es sind bewegende Momente. Obwohl es gefährlich ist, versammeln sich die jungen Neubekehrten in ihrem Hunger nach geistlichem Leben in großer Regelmäßigkeit.“14

    Im Sommer 1989 begrüßt er sie bei einer erneuten Reise mit den Worten: „Sie sind oft gekommen, als wir noch im Unglück waren, und wir kennen Sie seit langem als unsere Freundin. Und jetzt ist Ihr Besuch noch wichtiger für uns, da wir dabei sind, das Haus unserer Kirche wiederherzustellen. Dazu brauchen wir Kräfte des Geistes. Gewiss: Gott ist es, der die Kraft dazu gibt. Aber unser Glaube ist Begegnung zwischen Gott und Mensch. Beide arbeiten zusammen. Deshalb sind Sie heute hier wie der Geist, der über Grenzen hinwegfliegt.“15

    Im Herbst des Jahres 1989 stirbt Kleine Schwester Magdeleine. Zwischen ihrem Tod und Begräbnis fällt die Berliner Mauer. Alexander Men durfte inzwischen zum ersten Mal aus der UdSSR ausreisen und trifft, ohne es zu ahnen, zu ihren Trauerfeierlichkeiten in Rom ein.16

    Ob Andrej Tarkowskij von den Aktivitäten und Verbindungen seines einstigen Schulkameraden etwas gewusst hat, ist fraglich. Es gibt dafür keine Hinweise, wenngleich gemeinsame Interessen und auch die Lektüre derselben Autoren, z.B. Pawel Florenskij, beide hätte verbunden haben können.

    Nachweislich hatte Tarkowskij in seinem Pariser Exil Kontakt zur russisch-orthodoxen Kirche in Frankreich und wurde dort auf dem russischen Friedhof Sainte-Geneviève-des-Bois begraben. Der französische orthodoxe Theologe Olivier Clement erinnert sich an eine Begegnung mit dem großen Filmregisseur, bei der Tarkowskij vermächtnishaft sagte: „Es ist die Herausforderung unserer Zeit, den Menschen als eine offene Frage zu belassen, damit er nicht davon ausgeht, alles sei einfach, alles sei schon erklärt oder erklärbar.“17

    Es ist eben der Riss, der sich in den Bildern der Erinnerung versteckt, der das Leben selbst für etwas Kommendes öffnet.

    Olivier Clément, der selbst einem „durch und durch atheistischen Milieu“17 entstammte und erst als Erwachsener getauft wurde, sieht in Tarkowskijs offener Frage das Geheimnis des Lebens verborgen. Das Geheimnis des Lebens ist für ihn das Geheimnis der Auferstehung. Die Liturgie müsse den Menschen helfen, dies „allmählich zu entziffern, und es ist gut, wenn sie dies behutsam tut und dabei nicht zu viele Worte macht“19.

  • Gastfreundschaft

    Zu einer Zeit, als die Sehnsucht nach Freiheit in (Ost-) Europa und der Welt noch Phantasie und Widerstandskraft bei den Menschen freisetzte, gab es in Prag eine Untergrund-Universität. Gelehrte aus aller Welt ließen es sich nicht nehmen, auf verbotenen Zusammenkünften in Wohnungen Vorlesungen zu halten. Sie vertrauten auf die Kraft des Denkens, die herrschende Dummheit zu unterwandern, ja auszuhöhlen.

    Einer von diesen Gelehrten war der französische Philosoph Jacques Derrida. Wieder auf dem Rückweg nach Paris wurde er in Prag von der Polizei gestellt, durchsucht, festgenommen und kurzerhand verhaftet. Der Geheimdienst hatte ihm Drogen untergejubelt und diese dann wie erwartet bei ihm entdeckt. Nur unzureichend informiert, um wen es sich bei Derrida genau handelte, unterschätzten diese Leute seine Notorietät und die daraus folgende politische Welle, die ihnen entgegenschlug. Derrida musste zügig freigelassen werden.

    Später berichtete Derrida von einer besonderen Erfahrung in seiner Prager Gefängniszelle:
    „Ich wurde gegen ein Uhr nachts eingesperrt. Um vier oder fünf Uhr früh wurde ein anderer Gefangener in die Zelle geschlossen. Ein ungarischer Zigeuner, mit dem ich sofort Freundschaft schloss. Er weihte mich in einige Dinge ein, bot sich an, die Wände zu waschen, was uns befohlen worden war. Es gab einiges, was uns die Gefängniswärter zu tun befohlen hatten. Um es kurz zu machen: In den wenigen Stunden, die ich mit diesem Mann in dieser kleinen Zelle verbrachte, machte ich eine Erfahrung der Freundschaft und Gastfreundschaft. Weil dieser Mann, der das Gefängnis besser kannte als ich, mich in dieser kleinen Zelle regelrecht empfing.“1

    Derrida las diese Erfahrung vor dem Hintergrund uralter Praktiken:
    „Eine der großen Gesten der Gastfreundschaft in der nomadischen vor-islamischen Kultur manifestiert sich in dem Brauch, das der Reisende, der sich verlaufen hat und bei den Zelten eines Nomaden ankommt, von diesem aufgenommen werden muss, und zwar mindestens drei Tage lang.“2

    In beidem erkennt Derrida die Katastrophe als Voraussetzung von Gastfreundschaft. Es könne nur dann die Erfahrung von reiner Gastfreundschaft eintreten, wenn eine Katastrophe eintritt.
    „Wir müssen festhalten, dass eine Gastfreundschaft, die diese Bezeichnung auch verdient, eine katastrophenbedingte Prüfung ist, gegen die sich leider die gastfreundlichsten Menschen, Nationen und Gemeinschaften schützen durch das Gesetz, die Kontrolle an den Grenzen, die sogenannten guten Sitten. Deshalb ist reine Gastfreundschaft keine Kategorie der Politik, auch nicht des Rechts oder gar der Vergebung. Begrenzte Gastfreundschaft hingegen kann eine Kategorie des Rechts sein. Sie wurde in die internationalen Rechtskonventionen aufgenommen, während die reine, die katastrophenbedingte Gastfreundschaft politik- und rechtsfremd ist. Es kann definitionsgemäß keine Politik und kein Recht geben, die dem Ereignis der Katastrophe gegenüber offen stehen. Das bedeutet aber nicht, dass wir auf Recht und Politik verzichten sollten. Sie müssen nur neu gestaltet werden.“3

    Unter dem Einfluss der Flüchtlingsströme infolge des Balkankrieges und der Kongo-Krise denkt Derrida 1996 in einer Vorlesungsreihe in Paris genauer über die Frage der Gastfreundschaft nach. Dabei beginnt er mit der Figur des Fremden. Ausgehend von Platons Dialogen und von Sophokles „Ödipus auf Kolonos“ arbeitet Derrida heraus, dass der Fremde vor allem derjenige ist, der Fragen aufwirft.

    „Der Fremde trägt und stellt die schreckliche Frage“ und zugleich weiß er „sich durch die väterliche und vernünftige Autorität des logos im Voraus in Frage gestellt. Die väterliche Instanz des logos schickt sich an, ihn zu entwaffnen, ihn als Verrückten zu behandeln […]“4.

    Der Fremde wird hier virtuell zum vatermörderischen Sohn. Er stellt durch sein Erscheinen das herrschende Gesetz in Frage. Er ahnt dies und kann ihm dennoch nicht entkommen
    Es beginnt schon damit, dass er die Gastfreundschaft in einer Sprache erbitten muss, „die per definitionem nicht die seine ist, in derjenigen, die ihm der Hausherr auferlegt, der Gastgeber, der König, der Herr, die Macht, die Nation, der Staat, der Vater usw. Dieser zwingt ihn zur Übersetzung in seine eigene Sprache, und das ist die erste Gewalttat. Hier beginnt die Frage (nach) der Gastfreundschaft.“5

    „Besteht die Gastfreundschaft darin, den Ankömmling zu befragen? Beginnt sie mit der Frage, die an den Kommenden gerichtet wird […]:
    Wie heißt du? Sag mir deinen Namen, wie soll ich dich nennen? Ich, der ich dich rufe, der ich dich bei deinem Namen rufen möchte? Wie werde ich dich nennen? Ebendiese Frage stellt man, ganz zärtlich gelegentlich auch Kindern oder Geliebten.

    Oder beginnt die Gastfreundschaft damit, dass man empfängt, ohne zu fragen, in einer doppelten Streichung, der Streichung der Frage und des Namens. Ist es gerechter und liebvoller, zu fragen, oder nicht zu fragen? Beim Namen zu rufen oder ohne Namen zu rufen? Einen bereits gegebenen Namen zu geben oder zu erfahren? Gewährt man die Gastfreundschaft einem Subjekt?

    Oder wird die Gastfreundschaft dem Anderen gewährt, ihm geschenkt, bevor er sich identifiziert, ja noch ehe er ein Subjekt, ein Rechtssubjekt und ein bei seinem Familiennamen zu rufendes Subjekt usw. ist (als ein solches gesetzt oder vorausgesetzt wird)?“6

    Vor diesem Hintergrund beschrieb der Journalist Niklas Maak die Situation des Herbstes 2015 als eine Situation der reinen oder absoluten Gastfreundschaft: „Ein Land öffnet seine Grenzen, ohne die, die kommen, nach ihren Namen zu fragen.“7

    Diese Situation markiere das Gegenteil der Praxis des Grenzregimes an den Grenzen der ehemaligen DDR und ließe mit Derrida die absolute Gastfreundschaft als Übertretung des Gesetzes der bzw. des Rechtes auf Gastfreundschaft in einer konkreten historischen Situation hervortreten.8

    Hier zeigt sich eine Antinomie, eine Kollision zweier Gesetze „an der Grenze zwischen zwei gleichermaßen nicht-empirischen Gesetzesordnungen. Die Antinomie der Gastfreundschaft bringt einen unversöhnlichen Gegensatz zum Ausdruck zwischen dem Gesetz in seiner universellen Singularität und einer Pluralität, die nicht nur Zerstreuung ist (die Gesetze), sondern auch eine strukturierte Vielfalt, die durch einen Teilungs- und Differenzierungsprozess determiniert wird: durch Gesetze, die ihre Geschichte und ihre anthropologische Geographie unterschiedlich verteilen.“9

    Derrida spricht von einer Tragödie. Sie besteht darin, „dass die beiden antagonistischen Terme dieser Antinomie nicht symmetrisch sind. Es gibt da eine seltsame Hierarchie – das Gesetz steht über den Gesetzen. Es ist also illegal, transgredient, gesetzlos als ein anomisches Gesetz, nomos a-nomos, ein Gesetz über den Gesetzen und außerhalb des Gesetzes“.10

    In Bezug auf den Herbst 2015 spricht auch Wolf Biermann von einer Tragödie, d.h.: „Der dramatische Held muss sich nicht zwischen Gut und Böse entscheiden, sondern fataler: ob er lieber diesen Fehler macht, oder den anderen, denn falsch ist in solcher Katastrophe alles.“11

    „Angela Merkel hat sich vor drei Jahren in einer Ausnahmesituation entschieden, tausende verzweifelte Flüchtlinge an der deutschen Grenze nicht mit Stacheldraht, Knüppel, Wasserwerfern und Maschinengewehren und Panzern zurückzujagen, nicht nach Österreich, Ungarn, Griechenland, die Türkei und womöglich in den Krieg in Syrien oder Afghanistan. Ja. Ja das war ein Fehler. Aber es war eben der kleinere, der bessere, es war der ‚richtige‘ Fehler.“12  Ein wenig später nennt Biermann diesen Fehler einen „wunderbaren Fehler“, der „der Welt das freundliche Gesicht menschlicher Vernunft“13 gezeigt habe.

    Natürlich zeigte Angela Merkel nicht nur der Welt „das freundliche Gesicht menschlicher Vernunft“, sondern zuallererst den Fremden selbst. Eben jener bzw. jenem, der oder die sich in der Fremde aufhält, außerhalb der Gesellschaft, Familie oder Stadt“; jener oder jenem „Andere[n] oder ganz Andere[n], den man einem absoluten und wilden, barbarischen, präkulturellen und präjuridischen Außen zuordnet, außerhalb und jenseits der Familie, der Gemeinschaft, der Stadt, der Nation oder des Staates“14; schließlich auch der oder dem Fremden als einem oder einer „Außerhalb-des-Gesetzes-Stehenden“15.

    Die Pointe von Derridas ausschweifenden Analysen zur Gastfreundschaft besteht darin, dass es schließlich erst der von außen ankommende Fremde ist, der einem Gastgeber die Möglichkeit eröffnet, sich zu Hause zu fühlen. „Der Hausherr ist bei sich zu Hause, doch tritt er nichtsdestoweniger dank des Gastes – der von draußen kommt – bei sich ein. Der Herr tritt also von drinnen ein, als ob er von draußen käme. Er tritt dank des Besuchers bei sich ein, durch die Gnade seines Gastes.“16

    Dieser Wechsel wird ohne den Hintergrund der französischen Sprache nicht deutlich. Im Französischen heißt zu Haus sein être chez soi, also bei sich sein. Man ist also nicht mit sich selbst identisch, sondern immer Gast und Gastgeber zugleich. Derrida macht auf diese Weise die „Zumutung des Fremden zur Bedingung von Identität“17.

    Im christlichen Horizont pointiert diese Denkfigur das paulinische: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus in mir (Gal 2,20); und das matthäische: Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen (Mt 25,35).18

    In seinem Buch „Von der Gastfreundschaft“ ist Derrida selbst ein Gastgeber bzw. ein Gast19. Er hat die französische Philosophin Anne Dufourmantelle20 in seinem Buch zu Gast. Der zweite Teil des Buches ist von ihr verfasst und trägt den Titel „Einladung“.21

    In ihrem Text macht sie darauf aufmerksam, dass die Ankunft eines Gastes, des Fremden, des Anderen ein Erschrecken auslöst, der dem Erschrecken bei einem plötzlichen Betreten eines unbekannten Ortes gleicht.
    „Wenn wir einen unbekannten Ort betreten, spüren wir fast immer eine undefinierbare Unruhe. Dann beginnt die langsame Arbeit der Zähmung des Unbekannten, und Stück für Stück verschwindet das Unwohlsein. Eine neue Vertrautheit tritt an die Stelle des Erschreckens, das der Einbruch des ‚ganz Anderen‘ in uns ausgelöst hatte. Wenn der Körper durch die Begegnung mit etwas, das er in der Realität nicht sogleich wiedererkennt, in seinen archaischen Instinktreaktionen getroffen wird, wie könnte da das Denken wirklich behaupten, das Andere, das ganz Andere ohne jedes Erstaunen zu erfassen? Nun ist aber das Denken seinem Wesen nach ein Beherrschungsvermögen. Unablässig führt es das Unbekannte auf das Bekannte zurück, zerstückelt es sein Geheimnis, um es sich anzueignen, um es aufzuklären. Um es zu benennen.“22

    Bisweilen allerdings, wird dieses beherrschende Denken auf die Probe gestellt und es stellt sich als hilflos heraus. Mit Emmanuel Lévinas nennt Dufourmantelle diese Hilfslosigkeit Erstaunen. Und das Erstaunen rückt genau den Augenblick in den Focus, in dem das Erschrecken durch Gleichschaltung in Vertrauen aufgelöst wird und eröffnet „der Gewöhnung weitere Durchgangsstellen, weitere Prägungen“. Wir werden gezwungen, „endlich zu denken und uns nicht nur einzubilden, dass wir dächten“.23

    An dieser Stelle bringt Anne Dufourmantelle den tschechoslowakischen Philosophen Jan Patocka24  ins Spiel. Er treibt diesen Gedanken noch etwas weiter: „Wir müssen das Beunruhigende, Unversöhnte, Rätselhafte in uns wachsen lassen, vor dem das gewöhnliche Leben die Augen verschließt, worüber es hinweggeht und zur Tagesordnung schreitet.“25

    In der Vorherrschaft des Denkens in Tagesordnungen, also darin, „das Reale zum Zwecke eines quantifizierbaren Wissens zu definieren und zu unterwerfen“26, sah Patocka einen Grund für die Krise Europas und der modernen Welt. Er plädierte für eine „Offenheit für das Erschütternde“27, die von uns verlangt „durch die Erfahrung des Sinnverlustes hindurchzugehen“, denn aus ihr geht „die Authentizität philosophischen Denkens“28 hervor.

    Vor diesem Hintergrund erkennt Jacques Derrida in Patockas Fronterfahrungen während des Ersten Weltkrieges das Konzept der Gastfreundschaft bis auf ihre äußerste Grenze getrieben. Denn in der Erfahrung an der Front ist der Gegner nicht mehr einfach der Gegner. Er wird „unser Teilhaber an der Erschütterung des Tages […]. Hier also tut sich das Abgründige des ‚Gebets für den Feind‘ auf, das Phänomen der ‚Liebe zu jenen, die uns hassen‘ – die Solidarität der Erschütterten“.29

    Vielleicht ist die Frage (nach) der Gastfreundschaft „eine Provokation des Denkens selbst“30 und es kann schließlich „nur derjenige Gastfreundschaft gewähren, der die Erfahrung auf sich nimmt, [sein]es Hauses beraubt zu sein“31. Sollte dieses Risiko  einer anderen Erfahrung gleich kommen: sich selbst die Fragen einer/s Anderen32 zu stellen?

    Dann wäre die Zeit, als die Sehnsucht nach Freiheit in (Ost-) Europa und der Welt Phantasie und Widerstandskraft bei den Menschen freisetzte, im Begriff wieder zu kehren. Es könnte sein, dass man sich wieder treffen muss und gegen die herrschende Dummheit aufbegehren….


  • HELL Canto 14

    Bei ihrer Wanderung durch den dritten Ring des siebten Höllenkreises gelangen Dante und Vergil an die Ufer des blutroten Stromes Phlegethon.

    „Schweigend kamen wir dorthin, wo aus dem Wald ein kleiner Fluss kräftig heraus strömt, dessen blutrote Farbe mich jetzt noch erschaudern macht. […Er] ergoss sich abwärts durch den Sand. Sein Boden und die beiden Böschungen waren aus Stein, auch die Ränder daneben; daran erkannte ich, dass hier der Übergang war.“1 So schildert Dante die Situation.

    Und sein Begleiter, Vergil, erläutert, was sie sehen: „Mitten im Meer liegt ein verwüstetes Land, das Kreta heißt, unter dessen König die Welt einst unschuldig war. Dort ist ein Berg, der damals überreich war an Wasser und Laub; er hieß Ida. Jetzt ist er verödet wie uraltes Zeug. […] Innen im Berg steht aufrecht ein riesiger Greis; die Schultern wendet er gegen Damiette in Ägypten, sein Blick geht nach Rom wie in seinen Spiegel. Sein Kopf ist aus feinem Gold gebildet, aus reinem Silber Arme und Brust. Dann bis zur Gabelung, ist er aus Kupfer. Von da an nach unten besteht er aus reinstem Eisen, nur sein rechter Fuß ist aus gebranntem Ton, und er steht aufrecht mehr auf diesem als auf dem anderen. Durch jeden Teil, außer durchs Gold, geht ein Riss. Aus diesem fließen Tränen, ihr Lauf stürzt von Fels zu Fels in dieses Tal. Sie bilden Acharon, Styx […]“2 und Phlegethon, den „Feuerfluss“, den „kochenden Blutstrom“3.

    Was Vergil hier als Ursprung der drei Höllenflüsse beschreibt, ist die „symbolische Figur des Verlaufs der Menschheitsgeschichte“4. Diese am ganzen Körper weinende Statue eines riesigen Greises vereint zwei Traditionen allegorischer Geschichtsauffassung in sich.

    Die eine steht bei Ovid in den Metamorphosen und beinhaltet die Lehre vom Goldenen Zeitalter, das in der Reihenfolge abgelöst wird durch das Silberne, das Kupferne und das Eiserne Zeitalter.5

    Die andere findet sich im biblischen Buch Daniel und beinhaltet die Beschreibung und Deutung eines Traumes des Königs Nebukadnezar durch Daniel6. Hier ist auch vom tönernen Fuß7 die Rede.

    Unter den 1826 beendeten Zeichnungen zu Dantes Göttlicher Komödie von William Blake (1757-1827) findet sich die „Von Vergil beschriebene symbolische Figur der Menschheitsgeschichte“ mit Stift, Feder und Aquarell ausgeführt, 52,7 x 37,2 cm groß und mit „HELL Canto 14“ bezeichnet. Das Original gehört in den Bestand der National Gallery of Victoria im australischen Melbourne.

    „Vor der nur angedeuteten Silhouette des Berges steht in leichtem Kontrapost die riesenhalte Figur der Menschheitsgeschichte. In ihrer heroischen Nacktheit und dem von einem Strahlenkranz geschmückten Haupt gleicht sie  einem antiken Götterbild oder der Statue eines vergöttlichten hellenistischen Herrschers. In der rechten Hand trägt sie die von einem Kreuz bekrönte Weltkugel, in der Linken einen Zepter. Beide Herrschaftszeichen sind im Text nicht erwähnt. Aus dem Körper fließen Tränen, die sich zu kräftigen Strömen verbinden und auf die Erde ergießen. Auf den Oberschenkeln verweisen einzelne tropfenförmige Tränen direkt auf die Formulierung des Textes.“8

    Wenn William Blake der Beschreibung Dantes so auffällige Insignien wie die Krone, den Reichsapfel (globus cruciger) und das Zepter hinzufügt, dann zeigt er bildlich seine Sicht der Dinge an: „Der Verfall der Weltgeschichte ist das Resultat politischer Unterdrückung – Königtum und Tyrannei.“9

    Weit entfernt vom Inneren des Berges auf Kreta sieht heute eine riesige Statue der Darstellung von William Blake überraschend ähnlich. Sie steht auf Liberty Island im Hafen von New York City. Die berühmte Statue of Liberty (1886 eingeweiht) trägt auch eine siebenstrahlige Krone, jedoch weder einen bekreuzten Globus noch ein Zepter. Dafür trägt sie eine erhobene Fackel und eine Inschriftentafel (tabula insata) mit dem Datum der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Zu Füßen der Statue liegen zerbrochene Ketten. Tränen vergießt sie nicht. Die wurden nicht zuletzt auf der benachbarten Ellis Island, der „Insel der Tränen“ vergossen.


  • Extra: Szenen zum 20. Juli 1944

    I. Szene 1

    Der Entschluss
    Claus, Nina
    Nina von Stauffenberg besucht ihren Mann in einer Klinik in München und hilft ihm dabei, mit seinen Verstümmelungen umzugehen, von nun an übt er beständig mit einer Kneifzange zu hantieren.

    Nina:   Ich bin bei Dir, mein Liebster!

    Claus: Ich muss es tun, ich muss; jetzt!

    Dort kommt er vom berge  dort steh er im hain!
    Wir sahen es selber  er wandelt in wein
    Das wasser und spricht mit den toten.

    O könntet ihr hören mein lachen bei nacht:
    Nun schlug meine Stunde  nun füllt sich das garn.
    Nun strömen die fische zum hamen.

    Die weisen die toten – toll wälzt sich das volk.
    Entwurzelt die bäume  zerklittert das korn.
    Macht bahn für den zug des Erstandnen.

    Nina:   Mein Herz, ich bin hier!

    Claus: Der Fürst des Geziefers verbreitet sein reich
    Kein schatz der ihm mangelt  kein glück das ihm weicht
    Zu grund mit dem rest der empörer!

    Ihr jauchzet  entrückt von dem teuflischen Schein
    Verprasset was blieb von dem früheren seim
    Und fühlt erst die not vor dem ende.

    Denn hängt ihr die zunge am trocknenden trog
    Irrt ratlos wie vieh durch den brennenden hof
    Und schrecklich erschallt die posaune.

    Nina:   Ich bin hier! Bei dir, mein Geliebter. Ruhig, mein Herz, ich bin hier.

    Eine Zeit vergeht

    Claus: Von Tunis aus: Wüste. In der Enge zwischen dem Salzsee Sebhket en Noual und dem Chabi-ta-Khetati-Pass: die Jagdflieger. Ein Inferno. General Broich vorneweg, ich hin und her am Schluss: getroffen. In Sfax das linke Auge, die rechte Hand und zwei Finger der linken Hand. Dann: Kathargo. Lazarettschiff: Livorno. Jetzt München: Sauerbruch. Trotzdem: ich muss handeln. Es wird Zeit, dass ich das Deutsche Reich rette!

    Nina:   Dazu bist du in deinem Zustand jetzt gerade der Richtige!

    Claus: Ich bin entschlossen. Im Gespräch mit Onkel Nüx, 39 war‘s. Da war ich noch unentschlossen, selbst etwas zu tun! Inzwischen hast Du alles gelesen.

    Nina:   Ja, habe ich. Wie geht es Sauerbruch?

    Claus: Ja, gut.

    Nina:   Und Schwerin?

    Claus: Ja.

    Nina:   Hast Du Nachrichten von Cäsar?

    Claus: Ja.

    Nina:   Hast Du mit Berthold gesprochen?

    Claus: Ja, auch.

    Nina:   Und Merz?

    Claus: Ja.

    Nina:   Diezt Truchsess?

    Claus: Nein.

    Nina:   Wolfskehl?

    Claus: Nein.

    Nina:   Beck, Hassel, Goerdeler?

    Claus: Ja.

    Nina:   York?

    Claus: Ja, er ist Moltke sehr nah. Und Julius Leber – ich hätte das nicht gedacht – ein kühner Mann. Er muss in der ersten Reihe stehen. Ein Kanzler. Für eine neue Regierung ist er jedenfalls wichtiger als Goerdeler. Wir müssen doch vorangehen jetzt!

    Nina:   Ja.

    Claus:  Mein Gott, Nina! Sieh zu, dass die Papiere niemand in die Hände kriegt.

    Nina:   Ja, gut.

    Claus: Je weniger du weißt, umso besser für dich.

    Nina:   Ja.

    Claus:  Wenn ich Dir etwas befehlen könnte…

    Nina:   Ja?

    Claus: Verzeih!

    Nina:   Ja…

    Claus: Steh nicht zu mir!

    Nina:   Nein!

    Claus: Das Wichtigste ist, dass einer von uns den Kindern erhalten bleibt

    Eine Zeit vergeht.

    Nina:   Du bist bei mir,
    Wenn auch Dein Leib verging,
    Und immer ist’s, als ob
    Dein Arm mich noch umfing.

    Dein Auge strahlt mir zu
    Im Wachen und im Traum.
    Dein Mund neigt sich zu mir,
    Dein Flüstern schwingt im Raum:

    Claus:  Geliebtes Kind! Sei stark,
    Sei Erbe mir!
    Wo du auch immer bist,
    Ich bin bei Dir!

    II. Szene

    Die Kirche
    Claus, am Ende der Küster
    Stauffenberg befindet sich allein in einer Kirche, erneut hört er die Stimme seines in frühester Kindheit verstorbenen Zwillings Konrad Maria. Plötzlich tritt der Küster auf und bittet Stauffenberg hinaus.

    Stimme: Du zweifelst, Zwilling.

    Claus: Gott, Maria, Konrad Maria!

    Stimme: Tyrannenmord, Ist es das? Thomas von Aquin, auch Martin Luther dachten über Tyrannenmord und hielten ihn unter bestimmten Umständen für gerechtfertigt.

    Claus: Das ist es nicht. Die größte Schwierigkeit besteht darin, zu begreifen, was den anderen leitet, sich von Mensch zu Mensch zu verstehen und über den Rahmen seiner eigenen Gedanken hinaus zu gehen.

    Stimme: Du meinst Gisevius?

    Claus: Zum Beispiel, mir ist er irgendwie unklar. Aber auch die Alten Herren, die blicken nur zurück. Und die zögernden Militärs; ich war schon zweimal kurz davor… Es ist ein eigenartiges Gefühl, das halb gezogene Schwert wieder in die Scheide zurückstoßen zu müssen. Zum Glück ist Beck ermutigend und stark.

    Stimme: Wenn es dann erst um Macht geht…

    Claus: Zur äußersten Tat darf man nur schreiten in einem Geist, der rein ist von allen persönlichen Interessen. Dennoch muss ich mir klar darüber sein, dass wer zum Schwert greift, durch das Schwert umkommt.

    Stimme: Selig sind die Friedfertigen?

    Claus: Ich weiß nicht. Ich denke eher an den Widerchrist. Selten habe ich über dies Gedicht des Meisters so intensiv gesprochen wie mit Tresckow und Schulenburg.

    Der Fürst des Geziefers verbreitet sein reich
    Kein schatz der ihm mangelt  kein glück das ihm weicht
    Zu grund mit dem rest der empörer!

    Ihr jauchzet  entzückt von dem teuflischen schein
    Verprasset was blieb von dem früheren seim
    Und fühlt erst die not vor dem ende.

    Dann hängt ihr die zunge am trocknenden trog
    Irrt ratlos wie vieh durch den brennenden hof

    Stimme: Kennst du das auch?

    Und je klarer das Lebendige vor mir steht/ je höher das Menschliche sich offenbart und je eindringlicher die tat sich zeigt/ umso dunkler wird das eigne blut/ umso ferner wird der klang eigner worte und umso seltener der sinn des eigenen lebens/ wohl bis eine stunde in der härte ihres schlages und in der grösse ihrer erscheinung das zeichen gebe

    Claus: Ich erinnere, ich war jung; Der Meister scheint es lange bei sich getragen zu haben.

    Stimme: Jetzt wirst du das Zeichen setzen, coûte que coûte, auf den praktischen Zweck kommt es nicht an, sondern darauf, dass der deutsche Widerstand vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat.

    Claus: In einer Kirche darf man es am ehesten sagen: ein Opfer, bei meiner Verfassung ist das nicht ohne Ironie: krummes Holz, aufrechter Gang, ohne Zweck, ohne Absicht, ohne Lohn, mit dem Risiko der Erfolglosigkeit: fifty/fifty.

    Stimme: sola gratia.

    Claus: Darüber muss man schweigen.
    – Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande –
    Er übt Gewalt mit seinem Arm

    Stimme: und zerstreut die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn

    Claus: Er stößt die Gewaltigen vom Thron

    Stimme: und erhebt die Niedrigen…

    Küster: Wir schließen die Kirche jetzt, Herr Oberst.

    Stauffenberg: Ja, selbstverständlich.

    Küster: Abends kommen hier alle möglichen Leute herein, grad neulich wurde ein Kerzenleuchter gestohlen.

    Stauffenberg: Sie brauchen mir nichts zu erklären.

    Küster: Die Juden haben keinen Respekt.

    Stauffenberg: Woher wissen Sie das?

    Küster: Ich kenn‘ mich aus, ich bin deutscher Christ.

    Stauffenberg: In ganz Berlin gibt’s fast keine Juden mehr; Gott, Maria, Konrad Maria, Magnifikat!

    III. Szene

    Der Fahrer
    Stauffenberg, sein Fahrer
    Zurück im Auto spricht Stauffenberg mit seinem Fahrer Schweizer und instruiert ihn für den organisatorischen Ablauf des 20. Juli 1944.

    Stauffenberg: Wer nicht für die Juden schreit, darf nicht gregorianisch singen.

    Schweizer: Tristanstraße?

    Stauffenberg: Ja. Pardon. Machen Sie sich keine Sorgen, Schweizer.

    Schweizer: Nein.

    Stauffenberg: Morgen sind Sie bitte um sieben Uhr früh in der Tristanstraße. Wir fahren dann nach Rangsdorf zum Flugplatz.

    Schweizer: Ja.

    Stauffenberg: Nachmittags um drei, also 15 Uhr, stehen Sie dann wieder in Rangsdorf bereit.

    Schweizer: Ja.

    Stauffenberg: Von diesem Zeitpunkt an können Sie damit rechnen, dass Haeften und ich mit dem Flugzeug aus Ostpreußen gelandet sind.

    Schweizer: Passiert es wirklich morgen?

    Stauffenberg: Ich werde Hitler persönlich von der Neuaufstellung der Sperrdivision im Ostgebiet vortragen. Und dann ist es soweit. Wir rechnen damit, dass gegen 13 Uhr der Kriegsrat zusammen tritt. Kommen wir aus den Sperrbezirken hinaus, ist es noch ein Stück bis zum Flugzeug. Und von dort ein paar Stunden nach Berlin. Also frühestens um 15 Uhr. Ein Fahrer vom Mauerwald oder Haeften fahren das Auto in Ostpreußen. Sie fahren es in Berlin. Sollte es Verspätungen geben, so erfahren sie es per Telefon.

    Schweizer: Jawohl.

    Stauffenberg: Dann geht’s in den Bendlerblock. Sorgen Sie dafür, dass Sie heute Nacht gut schlafen, Schweizer.

    Schweizer: Wie macht man das?

    Stauffenberg: Keine Ahnung! Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?

    Schweizer: Gern.

    Stauffenberg: Um etwas verweilet noch die Nacht…

    Schweizer: Morgen wird es warm.

    Stauffenberg: Woher wissen Sie das?

    Schweizer: Der Himmel, keine Wolken. Gute Nacht!

    Stauffenberg: Ah! Mein Glasauge! Liegt es im Handschuhfach oder zu Hause?

    Schweizer: Zu Hause. Sie wollten es nicht mehr benutzen.

    Stauffenberg: Morgen brauche ich alle beide!

    IV. Szene

    Das Cello
    Claus allein
    Stauffenberg ist allein in seiner Wohnung in der Tristanstraße 8 in Berlin Wannsee. Das Telefon klingelt.

    Claus: Nina, mein Herz, ich freue mich, deine Stimme zu hören, selbst am Telefon, wie geht es dir und den Kindern?

    Nina:   Geliebter, Du klingst beunruhigt. Wie geht es Dir? Wir fahren morgen allesamt nach Lautlingen.

    Claus: Aber ist das nicht zu gefährlich? Kannst Du nicht absagen?

    Nina:   Tut mir leid, mein Gepäck ist schon unterwegs, und die Fahrkarten sind auch schon gekauft.

    Claus: Ich hoffe, alles geht gut. Die Reiserei ist doch beschwerlich in dieser Zeit, für Dich und die Kinder.

    Nina:   In guten und in schlechten Tagen.

    Claus: In guten und in schlechten Tagen.

    Nach dem Telefonat versucht Stauffenberg mit seinen versehrten Händen, sein Cello zu spielen.

    V. Szene

    Das Abendessen
    Claus, Berthold, dann Peter York
    Berthold von Stauffenberg bereitet das Abendbrot, später stößt Peter York von Wartenburg hinzu.

    Claus: Berthold! Du bist’s! Du hast mich erschreckt.

    Berthold: Die Anspannung. Ich habe eingekauft, lass uns zu Abend essen. Ich habe Brot und Fisch und Käse und: ich habe eine gute Flasche Wein aufgetan, rot, Bordeaux. Peter York schaut später noch mal rein.

    Claus: Er hat an Stärke zugenommen, an Entschlossenheit. Gibt es Neuigkeiten von Moltke?

    Berthold: Er wird es wissen. Im Büro läuft hin und wieder Arbeit von ihm ein. Noch ist ihm erlaubt zu arbeiten und er ist sehr diszipliniert.

    Claus: Weißt Du, es ist schade, dass wir nicht zusammen kommen; ich find ihn so blasiert in seiner Art, so theoretisch und von oben herab. Ich kann da nur schlecht gegen an. Wenn er mit Peter und mit Trott und Leber und noch andren so gut kann und selber so aktiv ist, wie Du es vom Büro ja gut beurteilen kannst… Gut, dass Peter noch mal kommt.

    Berthold: Komm, lass uns essen! Stärke Dich. Wir müssten ein Mahl nach dem Geschmack des Meisters zu uns nehmen, doch dies hier tut‘s auch. Aufs Leben, Claus!

    Claus: Aufs Leben! Guten Appetit und Dank, ich wär‘ allein so aufgeschmissen.

    Berthold: Dabei können wir nur in sehr begrenztem Maß die Leiden des anderen teilen, das ist doch merkwürdig…

    Claus: Davon hast Du neulich Abend schon gesprochen. Du hattest es von Bonhoeffer, dem Pastor von der Abwehr, der im Gefängnis sitzt mit Dohnanyi. Was hattest Du von ihm gehört?

    Berthold: Er sagte eben, dass wir nur in sehr begrenztem Maß die Leiden des anderen teilen können. Weil wir nicht Christus sind. Doch wenn wir Christen sein wollen, müssen wir das große Herz mit Christus teilen, indem wir in der Stunde der Gefahr verantwortlich und in Freiheit handeln. Wir dürfen nicht in Furcht handeln, sondern aus wirklicher Sympathie mit denen, die leiden. Nur zusehen und abwarten heißt, nicht christlich zu handeln.

    Claus: …nicht nur zusehen und abwarten…

    Berthold: Die Zeit habe uns gelehrt, die Geschichte von unten zu betrachten, aus der Perspektive der Ausgestoßenen und Machtlosen. Auch hätten wir gelernt, dass man durch persönliches Leid mehr über die Welt erfahre als durch das Glück des einzelnen.

    Claus: Er ist also doch ein Mann, der am Leiden hängt?

    Berthold: Nein. Er ist einer, der klar sieht. Heldentum ist ihm egal.

    Claus: Wie klingt das bei ihm?

    Berthold: Ziehst du aus die Freiheit zu suchen, so lerne vor allem / Zucht der Sinne und deiner Seele, dass die Begierden / und deine Glieder dich nicht bald hierhin, bald dorthin führen. / Keusch sei dein Geist und dein Leib, gänzlich dir selbst unterworfen, / und gehorsam, das Ziel zu suchen, das ihm gesetzt ist. / Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht. / Nicht das Beliebige, sondern das Recht tun und wagen, / nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, / nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit. / Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens / nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen, / und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend umfangen.

    Claus: Gibt mir eine Zigarette bitte!

    Berthold: Ja, gern. Wunderbare Verwandlung. Die starken tätigen Hände / sind dir gebunden. Ohnmächtig einsam siehst du das Ende / deiner Tat. Doch atmest du auf und legst das Rechte / still und getrost in stärkere Hand und gibst dich zufrieden. / Nur einen Augenblick berührst du selig die Freiheit, / dann übergabst du sie Gott, damit er sie herrlich vollende. / Komm nun, höchstes Fest auf dem Wege zur ewigen Freiheit, / Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern / unseres vergänglichen Leibes und unserer verblendeten Seele, / dass wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen missgönnt ist. / Freiheit, dich suchen wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden. / Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.

    Claus: So denke ich nicht, aber das ist kraftvoll, da ist nicht nur Kontemplation, das ist auch Kampf. Gib uns noch ein wenig Wein. Es klingelt, das wird Peter sein.

    Berthold: Lass Dich hereinbitten, Peter, nimm Platz. Da ist etwas Brot und trink ein Glas Wein.

    Claus: Schön, dass du kommst. Was gibt es Neues von Moltke?

    York:   Gut, dass Du fragst. Du weißt, ich bin ihm sehr verbunden und ich spüre deine Reserven und die Seinen kenne ich. Er ist lange schon zu sehr enttäuscht vom hohen Militär und traut ihm nicht. Jetzt hält er die Tat für zu spät. Er glaubt, nun müsse man die Schande ganz erleiden, um jemals gereinigt aus ihr hervorgehen zu können. Trotzdem steht er zu Dir bei allen Unterschieden. In der Haft, sagt er, gilt ohnehin nur, was man in sich hat.

    Claus: Kannte er eigentlich Bonhoeffer, Dietrich Bonhoeffer? Berthold hat von ihm rezitiert bevor du kamst, Du kennst sein Gedächtnis…

    York:   Moltke und Bonhoeffer sind gemeinsam nach Skandinavien gereist, aber sie sind sehr unterschiedlich. Die Reise hat zu keinem weiteren Kontakt geführt, ihre Leben sind wohl zu verschieden, hier der Landwirt und Jurist, dort der Kirchenmann und Wissenschaftler.

    Berthold: Sie waren nicht über vieles einer Meinung, schwer zu sagen, wo genau die Differenzen lagen, ob bei der Frage nach dem Attentat, oder bei Fragen der zukünftigen Gestaltung Deutschlands und Europas. Trotzdem empfand Bonhoeffer Moltke als sehr anregend.

    Claus: Moltkes Enttäuschung übers Militär versteh ich gut, sie treibt auch mich in Wut. Doch er wirkt so überaus bedenkenvoll.

    York:   Mit der Zeit, als die Tat immer wieder ausblieb, kam er zu der Gewissheit, dass man nicht etwas Neues aufbauen kann auf einer Unrechtstat, zumindest nicht auf Gewalt. Nicht wegen Dolchstoßlegende, Eid und diesen Dingen, sondern ganz pragmatisch – er konzentriert sich immer mehr auf sein Christsein und das Handeln Gottes – nur so könne etwas wirklich Neues gestaltet werden, aus Gnade. Darin geht er sehr weit.

    Claus: Sein Mut ist unbestritten. Und doch bleibt er mir fremd. Trotzdem ist es gut von ihm zu hören. Ich brauche Euer aller Mut. Und darin hat Moltke Recht: wir leben im Land der Gottlosen, dagegen muss man aufstehen. Ich muss das Nessushemd anlegen. Ich kann nicht nur erdulden, nicht mehr.

    Berthold: Wenn man völlig darauf verzichtete hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann, einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane…

    Claus: Vielleicht ist das Glaube. Und auf diese Weise wird man ein Mensch.

    York:   Ein Christ.

    VI. Szene

    Nina
    Stauffenberg, Nina
    Hinten tritt Stauffenberg unversehrt mit einem Cello auf und beginnt zu spielen.

    Nina:   20. Juli 1944. Ich erinnere mich an einen jungen Mann – einen noch jungen Mann – am Sterben gehindert vom Tod selbst – und vielleicht vom Irrsal der Ungerechtigkeit.
    Den Alliierten war es gelungen, auf französischem Boden Fuß zu fassen: Die Deutschen kämpften, obschon besiegt, vergebens mit sinnloser Grausamkeit.
    In einem großen Haus (man nannte es Schloss) wurde eher schüchtern ans Tor geklopft. Ich weiß, dass der junge Mann ging, um den Gästen zu öffnen, die zweifelsohne Hilfe suchten. Diesmal Gebrüll: „Tous dehors.“

    Ein Nazileutnant ließ, in einem beschämend normalen Französisch, zunächst die ältesten Personen, dann zwei junge Frauen hinausführen. „Dehors, dehors.“ Diesmal brüllte er. Der junge Mann versuchte dennoch nicht zu fliehen, sondern kam langsam hervor, in einer fast priesterlichen Weise.

    Der Leutnant schüttelte ihn, zeigte ihm Patronenhülsen, Kugeln, offensichtlich hatte es ein Gefecht gegeben, der Boden war Kriegsboden. Der Leutnant fasste sich knapp in einer seltsamen Sprechweise und dem schon weniger jungen Mann (man altert schnell) die Patronenhülsen, die Kugeln, eine Granate unter die Nase haltend, schrie er deutlich: „Voilà à quoi vous êtes parvenu“.

    Der Nazi ließ seine Männer in Reih und Glied antreten, um gemäß den Regeln, die menschliche Zielscheibe zu treffen.

    Ich weiß – das weiß ich –, der, auf den die Deutschen schon zielten, verspürte nun, als er nur noch auf das letzte Kommando wartete, ein Gefühl außergewöhnlicher Leichtigkeit, eine Art Seligkeit (nichts Glückliches jedoch) – souveräne Heiterkeit? Die Begegnung des Todes mit dem Tod.

    An seiner Stelle, werde ich nicht versuchen, dieses Gefühl von Leichtigkeit zu analysieren. Er war vielleicht auf einmal unbesiegbar: Tot – unsterblich: Vielleicht die Ekstase: Eher das Gefühl von Mitleid mit der leidenden Menschheit, das Glück, weder unsterblich zu sein, noch ewig. Von nun an war er durch eine heimliche Freundschaft mit dem Tod verbunden.

    In diesem Augenblick – jähe Rückkehr zur Welt – erscholl der beträchtliche Lärm einer nahen Schlacht: Die Kameraden der Résistance wollten dem zu Hilfe eilen, den sie in Gefahr wussten. Der Leutnant entfernte sich, um sich Meldung erstatten zu lassen. Die Deutschen verblieben in Befehlsstellung, und verharrten so in einer Reglosigkeit, die die Zeit anhielt.

    Doch da näherte sich einer von ihnen und sagte mit kräftiger Stimme: „Nous, pas allemands, russes“, und fast lachend: „armée Wlassow“, und er machte ihm Zeichen zu verschwinden.

    Ich glaube, er entfernte sich immer noch in dem Gefühl der Leichtigkeit, soweit, bis er sich in einem entfernten Wald, dem „Bois des bruyères“ wiederfand, wo er im Schutz der Bäume blieb, die er gut kannte. Dort, in dem dichten Gehölz fand er plötzlich, und nach langer Zeit, den Sinn für das Wirkliche wieder. Überall Feuersbrünste, eine Folge von Bränden ringsum, alle Gehöfte standen in Flammen…

    So also war der Krieg: das Leben für die einen, für die anderen das Grauen der Ermordung. Indes blieb, in dem Moment, als die Erschießung nur mehr ausgesetzt war, das Gefühl von Leichtigkeit, das ich nicht zu übersetzen wüsste: vom Leben befreit? Das Unendliche, das sich eröffnet? Weder Glück noch Unglück, auch nicht die Abwesenheit von Furcht und vielleicht schon der Schritt jenseits. Ich weiß, ich stelle mir vor, dieses unanalysierbare Gefühl veränderte, was ihm an Existenz verblieb. Als ob der Tod außerhalb von ihm von nun an nur auf den Tod in ihm stoßen konnte.

    Ich bin lebendig. Nein, Du bist tot.


  • Was die Sprache nicht schafft, das schafft der Ton

    Als Kind schon hatte Hermes die erste Lyra aus einem Schildkrötenpanzer gebaut. Er hat sie seinem Bruder Apollon geschenkt. Athene hat die Flöte erfunden. Sie wirft sie weg, weil sie findet, dass das Blasen der Flöte ihr Gesicht verunstaltet. Der Sartyr Marsyas, Silenos‘ – eines Begleiters des Dionysos – Sohn, findet die Flöte. Obwohl die Göttin ihn warnt, hebt er sie doch auf und bringt es bald zu solcher Kunst im Flötenspiel, dass er Apollon zum Wettstreit herausfordert.

    Schiedsrichter soll der phrygische König Midas gewesen sein. Dieser war töricht genug, dem Marsyas und seinen Flöten den Sieg zuzusprechen, worüber Apollon so erzürnt wird, dass er dem Midas wegen seines schlechten musikalischen Gehörs ein paar Eselsohren wachsen lässt. In anderer Überlieferung fungierten die Musen als Schiedsgericht. Jedenfalls häutet Apollon Marsyas bei lebendigem Leibe. Er will ihn ergründen.

    Quid me mihi detrahis?
    Warum entziehst Du mir (mir) selber mich?
    fragt Marsays den Apoll während ihm von dessen Schergen die Haut abgezogen wird. So überliefert es Ovid.1

    Und wenn es keinen dringenderen Grund gäbe als diesen zufälligen – Marsyas am Vorabend des ersten nachösterlichen Sonntags quasi modo geniti (als wie die kleinen Kindlein) gelesen zu haben2 –  Diese Frage klingt wie das Echo auf einen anderen „Zweikampf“3:

    Quere dereliquisti me?
    Warum hast du mich (dir) entbunden?
    So könnte man die Frage des im Matthäusevangelium geschilderten Geschehens an das andere bei Ovid annähern und probehalber einmal übersetzen.4

    In seiner Übertragung des 22. Psalms greift der niederländische Dichter und Theologe Huub Oosterhuis diese Nähe auf und beschließ den Psalm: „Doch warum hast du mich verlassen, als die Erde krachte und bebte, die Felsen zerbarsten, als ich nach dir schrie, warum hast du mich nicht getröstet? Als ich da hing, so hing, an meinen Pulsadern, lebend gehäutet.“5

    Darin treffen sich beide, Christus und Marsyas: „Ins heulende Warum tropfte Blut.“ Franz Fühmann scheut vor dem Abgrund dieser Frage in seiner Beschreibung der Schindung des Marsyas vor keinem Schnitt zurück.6

    Im Anfang der tragischen Erfahrung (tragoudein) war der Schrei – eine heftige Beschwörung, die Erfahrung, seinen Körper zurückzulassen, ganz Seele zu werden und eine Reise zu tun, sprich sich den Göttern auszuliefern.

    „Marsyas, der Apollon ärgerte – die Luft als die List der Erde gegen die Sonne, gegen Apollon, den Gott der Sonne. Marsyas produziert diese Luft mit seiner Flöte, die tönt und wunderschön klingt. Marsyas ist der Verkünder des Heilens, die tönende Luft. Wir können uns Musik nicht ohne Luft vorstellen. Töne sind eine Erscheinung des Lebendigen, die vielleicht hervorgerufen wird durch Zahlen. – Pythagoras. Der Wunsch des Lebens trat ein. Als die Musik die richtige Zahlenkombination hatte, öffnete sich die Luft. […]
    Bei Marsyas interessiert mich die Flöte, die er zum Mundstück hat, so, dass Natur und Kunst zusammenkommen. Christus hat das auch geschafft.“7

    So versetzt der Bühnenbildner, Regisseur und bildende Künstler Horst Sagert sein Sartyrspiel „Marsyas“8 denn auch in kosmologische Zusammenhänge: „Marsyas, Hochgeist eines Niemals, Erstling vor der Welt-Geburt, später ein Unsterblicher, ein Sartyr spielt auf der Doppelflöte im Wettstreit mit dem Gott Apollon“9:

    „Da mein Auge noch nicht rund war,
    als ich vielmehr war als möglich,
    nicht unsterblich nicht verderblich,
    sah mir das Zeitenlose
    mit der Vorschau auf die Welten-Frühe
    in die Augen!
    – Es öffnete das Offene sich. –
    Mir sah das Zeitenlose, weltenlose,
    da mein Auge noch nicht rund war
    in die Augen
    und rundäugig und rundäugig und rundäugig hinaus!
    Ein Vorschein kam hervor aus dinglosen Gesichten.
    Der erste Augenblitz eröffnete
    mit seinem Schein-Sein den Vor-Schein
    zu Sein und Schein
    in meinen Augen
    zum rundäugigen Augenblick.
    Aus höchster Vor-Welt,
    in einem herkunftslosen Nein
    löste sich
    ein Niemals aus dem Niemals,
    sich entsagend, anfangsreich,
    verspannte
    aus sich heraus
    !einen Keim!
    Einen Span, ein Spänchen
    zu einem
    NIMMERLEIN.
    Es teilt in seinem Immer-Sein
    das Immer im Immer
    für eine Furt.
    – Durch die wir gehen müssen. –  “10

    Was in Marsyas‘ Schädel wie Schöpfungsfeuer brennt, muss man sich als einen Tanz vorstellen. Chöre aus Sartyren, Nymphen und Kentauren drehen sich in wechselnden Gruppierungen im Rhythmus der Sprache. Einander mal näher mal ferner. Sie rufen Marsyas und sich gegenseitig antwortend zu, wiederholen seine Eingebungen, spornen ihn an, übertreiben, karikieren. Sie singen, einzeln und auch alle zusammen.

    Die Schöpfung sei nur ein unerlöster Ton, der in Marsyas‘ Atem erlöst und auf seiner Flöte verblasen wird. Die ekstatische Steigerung dieses Gedankens bei seiner Ausübung nimmt ständig zu an Intensität. Schließlich wirkt es nicht nur wie eine Herausforderung:

    „Ich habe der Welt
    den Himmel der Erde gebracht!
    Apollon!
    In ihm muss dein Licht sich vor mir beugen.
    Es muss in deinem Sterne-Drehen
    in meinem Wunsch aufgehen!
    Muss auf diesem Stern
    nach meiner Flöte springen!
    Tönende Luft, die Lebenshaut der Erde,
    ist die List, die ich mit Lust,
    mit Liebes-Lust aus meiner Flöte blase.
    Sonne, Apollon!“11

    In Sagerts Stück kommt die Schindung selbst nicht vor. Aber nach der Schindung wird die vergoldete Flug-Haut angerufen12, jenes „ Flöten-Bläser-Fell, dem die Füße nicht mehr passen auf der Erde“ und das „dem Nacht-Licht seine Spur im Fluge“ gibt.13

    Als plastische Arbeit Sagerts trägt sie folgenden Titel:  „Marsyas – Die Flughaut des Marsyas im Mondlicht (Auferstehung)“, Silber, vergoldet. Und ihr Titel ist zugleich ihre Perspektive. Es gibt eine ganze Serie mit kleinen Variationen aus dem Jahr 2000, fein ziseliert gearbeitet.

    Auf diese Plastik läuft das Stück hinaus in seiner gehobenen Sprache, einem „Hölderlin-Ton der deutschen Antike-Begeisterten“. Er „setzt die lange Liste von neuzeitlichen Marsyas-Deutungen seit Tizian fort. Obwohl, eigentlich hat dies mit Ovid schon begonnen, bei dem unterhalb der Bestrafung des hybriden Flötenspielers (aus Kleinasien) durchscheint, dass er ihn für das Opfer eines willkürlichen und zudem trickbetrügerischen Olympiers hält“.14

    „Abgestürzt ins Mondlicht“, „sichtbar ist der Ton erlitten“15 kommentiert lakonisch besagter Olympier und kommt zum abschließenden Urteil: „Das Unverschmähte-Ungetane im Wunsche nach Verschiedenheit, es ist zu jung in der Gestalt, um in meinem Hirn zu überleben.“16

    Tönende Luft als lustvolle List der Erde, „der Lebens-Ton zum Schall der Gnade in der Luft“, wie Sagert an anderer Stelle17 sagt – dieser Gedanke ist altgöttlichen Gehirnen zu allen Zeiten zu jung gewesen, was wiederum heute der Erde zum Verhängnis werden kann.18

    Doch diese Geschichte hat viele Nachspiele bzw. Nachleben. Die alte phrygische Legende erzählt, dass die abgezogene Haut des Marsyas in einer Quellgrotte nahe der Stadt Kelainai aufbewahrt wurde, wo ein Fluss mit rotem eisenhaltigem Wasser entsprang. Herodot berichtet davon, andere auch…

    Der Schriftsteller Thomas Hettche erkannte jüngst nicht nur im Schreiben, sondern in jeder Lektüre eine Häutung!19 Die Lektüre, zumal die laute Lektüre des Fühmannschen Marsyas bestätigt diese These.

    Neben seiner Plastik  weist Horst Sagert fast nebenbei auf ein weiteres Nachleben der Marsyas-Geschichte: „Die erste große Maschine, die erste Kulturmaschine ist die Orgel, die aus dem Blasebalg hervorgegangen ist.“20

  • Unterwanderungen

    Die Bachkantate für den Ostermontag (BWV 6) kreist um die Bitte „Bleib bei uns“, wie sie die Emmausgeschichte im Lukasevangelium (24, 13-15) berichtet. Diese Bitte der vom Tode Jesu traumatisierten Jünger an den unerkannten Spaziergänger – mit Heiner Müller müsste man daran erinnern, dass der Aufstand als Spaziergang beginnt – ist eine der charakteristischen österlichen Gesten.

    In Bachs Kantate werden die verschiedenen Aspekte dieser Geste klanglich gezeichnet. Der Eröffnungssatz der Kantate „Bleib bei uns“ spielt im Klangraum (Tanzschritt und Tonart) des Schlusssatzes der Johannespassion „Ruht wohl“1  und orientiert akustisch die Richtung der Bitte zurück an den am Kreuz Sterbenden. Doch dann spricht die Alt-Arie den Gottessohn auf dem Thron an und lenkt damit den Blick nach vorn auf den Kommenden. Das diesen Richtungswechsel textlich tragende Motiv ist das Licht und es führt direkt in die szenische Situation der Emmausgeschichte hinein. Wobei der konkrete Moment der Bitte der Jünger – der Einbruch der Dunkelheit – anspielt auf die Angst „im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, im Dunkeln allein zu sein“3.

    Im dritten Satz der Kantate schafft Bach kompositorisch einen neuen Zusammenhang zwischen einer „Choralmelodie [und] einem Instrumentalkonzert beziehungsweise einer Ritornellform“4. Der Choral „Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ“ – eine Übertragung des lateinischen Vespera iam venit 5 – wird dabei mit einem Konzert für Violoncello piccolo kombiniert. Dem besonderen Klang dieses  „kleinen Cello“ ist „etwas Liebevolles und Tröstliches“ eigen, das „unmittelbar zu Herzen geht“.6 Die Choralmelodie erklingt allein von den Frauen des Chorsoprans gesungen.

    In dieser Kombination wird der Choral selbst Teil einer Bewegung. Passgenau übernimmt das Ritornell die Situation unserer Geste und setzt sie in Gang. In seinem Abécédaire erläutert der französische Philosoph Gilles Deleuze die Bewegungsform eines Ritornells:

    „Also nehmen wir an, das Ritornell ist eine kleine Melodie: tralala, lala lala, tralala. Wann sage ich Tralala?  Ich treibe jetzt Philosophie, hier, wenn ich frage, wann sage ich tralala, wann singe ich vor mich hin? Ich sage, ich singe zu drei Anlässen vor mich hin.
    Ich singe vor mich hin, wenn ich mein Territorium umrunde und meine Möbel poliere, im Hintergrund läuft das Radio, gut; das heißt, wenn ich bei mir zu Hause bin. Ich singe vor mich hin, wenn ich nicht bei mir zu Hause bin und wenn ich versuche, nach Hause zu kommen, wenn es Nacht wird. In der Stunde der Angst suche ich meinen Weg und mache mir Mut indem ich singe und nach Hause gehe.
    Und dann singe ich vor mich hin, wenn ich sage: Adieu, ich gehe fort und behalte in meinen Herzen… –  Das ist übrigens ein Chanson: „Adieu, je pars, dans mon cœur j’emporterais…“ –  Wenn ich also von meinem zu Hause fortgehe, um anderswo hinzugehen dann wohin?
    Mit anderen Worten: das Ritornell ist für mich absolut verbunden […] mit dem Problem des Territoriums, des Fortgehens von und des Eintretens in ein Territorium, also mit dem Problem der Deterritorialisierung. Ich gehe in mein Territorium oder ich deterritorialisiere mich, ich gehe fort, verlasse mein Territorium.“7

    Verlassen der Choral und damit Bitte und Geste „Bleib bei uns“ ihr Territorium, so deterritorialisieren sie sich und öffnen sich für eine weitere österliche Geste. Die findet sich im Johannesevangelium. Hier hört allein eine Frau: Als Maria Magdalena zum Grab Jesu kommt und schließlich dem Auferstandenen gegenübersteht, hört sie ihn zu sich sagen: noli me tangere. Rühre mich nicht an, übersetzt Luther (Joh 20, 17).

    Beide Gesten geraten auf diese Weise miteinander in eine Bewegung,  tanzend schaffen sie etwas, was man österliche Praxis nennen könnte: „Berühre mich nicht, halte mich nicht fest, versuche weder zu halten noch zurückzuhalten, sage jeder Anhängerschaft ab, denke an keine Vertrautheit, an keine Sicherheit. Glaube nicht, es gäbe eine Versicherung so wie sie Thomas wollte. Glaube nicht, auf keine Weise. Aber bleibe in diesem Nicht-Glauben standhaft. Bleibe ihm treu. Bleib meinem Fortgang treu. Bleib dem allein treu, was in meinem Fortgang bleibt: dein Name, den ich ausspreche. In deinem Namen gibt es nichts zu ergreifen, nichts dir anzueignen, sondern es gibt dasjenige, was vom Unvordenklichen her und bis hin zum Unerreichbaren an dich gerichtet ist, vom grundlosen Grund, der immer schon ein Aufbruch ist.“8

    Österliche Praxis wird in den Evangelien gestisch beschrieben. Paulus versucht, österliche Praxis zu denken: Als er das Wirken des Messias (was sich für Paulus in der Auferstehung schon ereignet hat9)  gegenüber dem Gesetz beschreibt, benutzt er das griechische Verb katargein. Katargein bedeutet so etwas wie ausschalten, entlassen, absetzen, außer Kraft setzen oder deaktivieren10. Das Wirken des Messias zerstört das Gesetz nicht, er ersetzt es auch nicht einfach durch ein neues Gesetz, sondern er deaktiviert es. Der Messias deaktiviert „jede Macht, jede Autorität und jede Gewalt“  (1 Kor 15, 24).11

    Auf das Gesetz (mitzwoth) bezogen hat dieses deaktivierende Wirken des Messias eine direkte Auswirkung auf die Identität dessen, der seine Identität vom Gesetz bestimmen lässt. Dabei wird seine/ihre Identität nicht zerstört oder durch eine andere ersetzt. „Der messianische [Mensch], (Paulus kennt das Wort Christ nicht), repräsentiert nicht eine neue, universellere Identität, sondern eine Zäsur, die durch jegliche Identität hindurchgeht – sowohl durch die jüdische als auch durch die heidnische. Der „Jude nach dem Geist“ und der Heide „nach dem Fleisch“ definieren keine neue Identität, sondern lediglich die Unmöglichkeit für jede Identität, mit sich selbst deckungsgleich zu sein (coïncider) – das heißt eine Entlassung der Identität selbst: Jude wie Nichtjude, Heide wie Nichtheide.12 Identität an sich wird auf diese Weise in eine „Spannung in Bezug auf sich selbst“13 versetzt. Sie wird geöffnet.

    Der terminus technicus des Paulus für eine auf diese Weise geöffnete, messianische Lebensform ist hos me, als-ob -nicht: „Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Auch sollen die die Frauen haben, sein als hätten sie keine; und die weinen als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“ (1. Kor 7, 29-31)

    Im Als-ob-nicht tritt etwas – ein Zustand, ein Begriff, eine Geste – zu sich selbst in Spannung, „richtet sich also weder auf ein anderes, noch erschöpft [es] sich in der Indifferenz zwischen einer Sache und ihrem Gegenteil“, sonders „es stellt sich selbst in Frage, ohne dass seine Form verändert würde“. Es unterwandert sich.

    „Leben unter der Form des Als-ob-nicht bedeutet, jegliches juristisches und soziales Eigentum abzusetzen (déstituer) [oder zu deaktivieren], ohne dass diese Positionsenthebung (déposition) eine neue Identität begründen würde. In diesem Sinne ist eine Lebensform das, was unablässig die sozialen Lebensbedingungen, unter denen es sich vorfindet, ihrer Position enthebt (dépose), ohne sie zu negieren, sondern sie einfach zu gebrauchen. […] Gebrauchen bezeichnet hier die Macht der Positionsenthebung wie sie der Lebensform des Christen eigen ist; sie besteht darin, das Schema dieser Welt abzusetzen“ 14.  Auf diese Weise enthebt sie die Welt ihrer faktischen Bedingtheiten bzw. deaktiviert sie oder setzt sie außer Kraft.

    In dieser Denkfigur bringt Paulus zwei Begriffe aus dem römischen Recht in Gegensatz: usus und dominium, Gebrauch und Besitz.15 Die Positionsenthebung des Besitzes zugunsten des Gebrauches und ihre Ausweitung auf die Weltverhältnisse eröffnet eine Dynamik, die einer neuen Schöpfung gleich kommt, ohne die erste Schöpfung zu zerstören.16  Sie öffnet bzw. ist selbst die Öffnung auf etwas Kommendes.

    „Der Auferstandene Christus kommt, um im Innersten des Menschen ein Fest lebendig werden zu lassen. Er bereitet uns einen Frühling der Kirche, einer Kirche, die über keine Machtmittel mehr verfügt, bereit mit allen zu teilen, ein Ort sichtbarer Gemeinschaft für die ganze Menschheit. Er wird uns genügend Phantasie und Mut geben, einen Weg zur Versöhnung zu bahnen. Er wird uns bereit machen, unser Leben hinzugeben, damit der Mensch nicht mehr Opfer des Menschen sei.“17


  • Der helle, helle Tag

    Im Februar des Jahres 1968 traf sich der russische Filmregisseur Andrej Tarkowskij mit seinem Szenaristen in der Nähe von Moskau. Beide wollten die literarische Version eines Filmprojektes erarbeiten, worüber Tarkowskij schon seit längerer Zeit unter dem Titel „Der helle, helle Tag“ nachdachte.

    Mit diesem ersten Titel nahm er Bezug auf ein Gedicht seines Vaters Arsenij Tarkowskij aus dem Jahre 1942. Das Filmprojekt sollte von „einer Mutter handeln, deren Geschichte wie die Geschichte aller Mütter zugleich gewöhnlich und außergewöhnlich sein würde… Es würden ihr Fragen gestellt werden und in ihre Antworten würden sich persönliche Erinnerungen des Autors mischen und vielleicht auch Passagen aus Dokumentarfilmen…“1 Der Film würde „menschliche Erfahrungen benutzen und imitieren“ und auf diese Art und Weise „die fundamentalen Antworten auf die Fragen herausfinden, die wir der Filmheldin stellen und damit zugleich den Zuschauern und uns selbst“2.

    „Die Beichte“ war der Arbeitstitel, den die erste Fassung von 1968 trug. Und das Projekt wurde von der staatlichen Filmbehörde abgelehnt. Erst im Jahre 1973 konnte der Film ausgearbeitet und gedreht werden. Die Interviews, die Tarkowskij mit seiner eigenen Mutter geplant hatte, wurden durch Spielszenen ersetzt. 1974 erschien der Film unter dem Titel „Der Spiegel“ (Serkalo) in den Kinos. „Der Spiegel“ gilt als der am meisten subjektive unter den Filmen Tarkowskijs, was ihm die sowjetische Kritik drastisch vorwarf. Seine russischen Zuschauerinnen und Zuschauer schätzten seine Nähe zur russischen Seele.

    Im Spiel der wechselnden Filmtitel von „Der helle, helle Tag“ über „Die Beichte“  –  vor der letzten Entscheidung noch der Titel „Martyrolog“, den Tarkowskij schließlich für seine Tagebücher verwandte – und „Der Spiegel“ gelang dem Regisseur ein cineastisches Gewebe aus Erinnerungen und Vergegenwärtigungen der berührendsten Art.

    Das alte Holzhaus im Wald, von dem aus man auf einen Abzweig von Feldwegen blicken konnte, und jedes Mal, wenn jemand in Richtung des Hauses einschwenkte, vor allem die Mutter der beiden dort lebenden Kinder hoffte, dass es der Vater sei, der aus dem Krieg heimkehren würde. Die lichterloh brennende Scheune dem Hause gegenüber. Der Streit zwischen Vater und Mutter nach ihrer Trennung in Hörweite des in seine Phantasie flüchtenden Sohnes, nun in einer Stadtwohnung mit vorübergehend einquartierten Gästen aus dem spanischen Bürgerkrieg. Die Furcht der als Verlagslektorin arbeitenden Mutter vor einem übersehenen Druckfehler in der Ausgabe ausgerechnet von Stalins Werken. Der Blick in einen Spiegel und das plötzliche ansichtig Werden von sich selbst als alter Mensch. Eine Dokumentarszene vom Start des ersten sowjetischen Stratosphärenballons zur Musik aus Pergolsi‘s Stabat Mater: Quando corpus morietur/fac ut animae donetur/paradisi gloriae

    „Im ‚Spiegel‘ wollte ich nicht von mir selbst erzählen, sondern vielmehr von den Gefühlen, die ich mir nahestehenden Menschen gegenüber empfinde, von meinen Beziehungen zu ihnen, meinem ewigen Mitgefühl für sie, aber auch von meinem Versagen und meinem Gefühle unaufhebbarer Schuld ihnen gegenüber. Die Ereignisse, an die sich der Held bis ins letzte Detail während seiner schwersten Krise erinnert, lassen ihn leiden, rufen in ihm Sehnsucht und Unrast hervor.“3

    Für Tarkowskij ist es der „schöpferischen Akt“ – „zweckfrei und uneigennützig“ – ,  der zeigt, „dass wir nach Gottes Ebenbild erschaffen wurden“.4  Folglich wünschte er sich, dass die Menschen sich seine Filme „wie einen Spiegel“ anschauten, „in dem [sie] sich selbst erblick[en]“.5

    Über derartige Umwandlungen, wie sie Tarkowskij in seinem Film „Der Spiegel“ künstlerisch vollführt, herrscht in der Christenheit ein alter Streit bis auf den heutigen Tag. Er führt immer wieder auf die sogenannte Alte Kirche zurück und lässt immer wieder nach der „Potentialität der altkirchlichen Denkentwicklung[en]“6  fragen, danach, wie sie wieder zu entdecken sei und heute fruchtbar gemacht werden könne.

    In seiner Lektüre der Kirchenväter des zweiten bis vierten Jahrhunderts geht der französische Philosoph Michel Foucault diesen Denkentwicklungen nach. Im Band 4 seiner „Geschichte der Sexualität“ untersucht Foucault das, was das Fleisch gestehen kann.7  „Les aveux de la chair“, die Geständnisse des Fleisches, verfolgen die Organisation des physischen Lebens, der praktischen Existenz der frühen Christen anhand ihrer Schriften. Foucault hatte den Horizont dieser breit angelegten  Untersuchung in den vorigen Bänden abgeschritten: „La volonté de savoir“, Der Wille zu wissen, „L‘usage des plaisirs“, Der Gebrauch der Lüste und „Le souci de soi“, die Sorge um sich.

    Die Geständnisse des Fleisches würden jedoch den komplexen und grundlegenden Gedanken des Verhältnisses „zwischen Schöpfer und Geschöpf“8 nie ganz ausblenden können. Bei der Formulierung ihrer Praxis griffen die ersten langsam zahlreicher werdenden Christen in erstaunlichem Maße auf ihre Umwelt zurück bzw. knüpften an Bestehendes an. So bei der Entwicklung von Vorschriften die Ernährung, Hygiene und den sozialen Umgang betreffend bis hinein in den Umgang mit nichtöffentlichen Praktiken innerhalb der Ehe und Familie und auch in Fragen vom Scham, Gewissen und Schuld des Einzelnen.

    „Das ‚Fleisch‘ ist dabei als ein Erfahrungsmodus zu verstehen, d.h. als ein Modus der Erkenntnis und der Umwandlung (transformation) des Selbst durch sich selbst in Funktion zu einem bestimmten Verhältnis zwischen der Vernichtung (annulation) des Bösen und der Darstellung (manifestation) der Wahrheit. Mit dem Christentum ist man nicht von einem toleranten Verhaltenscodex sexuelle Handlungen betreffend in einen strengen, restriktiven oder repressiven Verhaltenscodex übergegangen. Man muss diese Prozesse und ihre Artikulation anders auffassen: Die Aufstellung eines sexuellen Verhaltenscodex, organisiert um die Ehe und die Fortpflanzung, war bereits vor und neben dem Christentum weit verbreitet. Das Christentum hat ihn im Wesentlichen übernommen. Erst im Laufe weiterer Entwicklungen und im Zuge der Ausbildung bestimmter Technologien des Individuums – poenitentielle Disziplin, monastische Askese – hat sich eine Form der Erfahrung (expérience) herausgebildet, die die Verhaltenscodes auf eine neue und ganz andere Art und Weise praktizierte und für die Führung des Individuums nutzte.“9

    Die Praxis der metanoia bzw. poenitentia im Zusammenhang der Taufe ging einher mit der Entwicklung einer „Kunst der Künste“ (art des arts), der Kunst der geistigen Führung (direction spirituelle).10 Auch diese war von den Christen zunächst übernommen worden, bildete aber in monastischen Kontexten ihre christlichen Besonderheiten heraus.11

    Im Zentrum der monastischen direction spirituelle stand der Gehorsam mit den Prinzipien der subditio (Unterwerfung), patientia (Geduld) und der humilitas (Demut). Im Austausch mit dem geistlichen Führer geht die „Suche nach der Wahrheit über sich selbst“ mit einem „Sich selbst absterben“12 einher. Der Horizont dieser Praxis, die in Mönchsregeln, Traktaten und Vorschriften ihren Ausdruck fanden, wird besonders deutlich in der Praxis der virginitas (Jungfräulichkeit):

    „Die Jungfräulichkeit ist steril. Aber diese Sterilität gilt nur der fleischlichen Geburt, die [ihrerseits] auf zweierlei Art an den Tod gebunden ist: Zuerst ist er [der Tod] ihre Konsequenz und dann ist sie [die fleischliche Geburt] das Prinzip des ständigen dem Tode geweiht Seins. Als Verweigerung der Fortpflanzung (génération) ist die Jungfräulichkeit also eine Verweigerung des Todes, eine Unterbrechung  dieser unbestimmten Verkettung, die in der Welt begonnen hat, als der Tod in ihr erschienen ist, und die sich nun von Generation zu Generation, also von Tod zu Tod fortsetzt. […] Diese Serie, die mit dem Fall (chute) eröffnet wurde, wird hier unterbrochen. Die Macht des Todes findet nichts mehr, um seine Aktivität auszuführen. In dieser physischen Sterilität der Jungfräulichkeit ist also kein langsamer Fortgang in den Tod zu sehen, sondern ein Triumph über der Tod und die Ankunft einer Welt, in der der Tod keinen Platz mehr hat.“13

    Wie ein Kontrapunkt zu dieser radikalen Weltverneinung in den Klöstern erscheint seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts die zunehmende  Zahl der Christinnen und Christen, die in Städten lebten.4  Man musste also die monastischen Werte und Praktiken denen zugänglich machen, die in der Welt lebten. Es musste eine Pastorale mit dem Ziel entwickelt werden, „bestimmte asketische Werte der monastischen Existenz, wie die Praktiken der Führung von Individuen, an das Leben in der Welt anzugleichen“15.

    Diese Entwicklung vollzog sich parallel zu den Veränderungen der Verhältnisse zwischen dem Christentum, ihren sich ausbreitenden Organisationen, und dem Römischen Reich.  „Als zunächst anerkannte, dann offizielle Institution übernimmt die christliche Kirche immer einfacher und sichtbarer Funktionen in Organisation, Verwaltung, Kontrolle und Reglementierung der Gesellschaft.  Die imperiale Bürokratie ihrerseits sucht über die traditionellen Strukturen hinaus einen stärkeren Zugriff auf die Individuen.“16

    Und genau an diesem Punkt wird ein paradoxer Effekt deutlich sichtbar: „die Praktiken und Werte, die für Lebensformen entwickelt oder intensiviert wurden, die ausdrücklich im Bruch mit der Welt und der zivilen Gesellschaft sich vollzogen, schickten sich an, nicht ohne Abmilderung und Modifikation, eine Rolle in institutionellen Formen zu spielen, die gestützt oder unterhalten wurden von Organisationen des Staates und allgemeinen politischen Strukturen.“17

    Auf der einen Seite stehen asketische Ideale und Praktiken, die außerhalb der traditionellen Formen des Sozialen, ja sogar gegen sie entwickelt wurden. Auf der anderen Seite stehen sich aufeinander stützende kirchliche Organisationen und Strukturen des Staates. „Das Leben des Individuums in dem, was es als privat, alltäglich und singulär haben konnte, findet sich wieder als Objekt der Überwachung (vigilance) oder zumindest in Anspruch genommen von einer Sorge, die zweifellos weder dem ähnelte, was in den hellenistischen Städten vor sich ging, noch dem, was die ersten Christen Gemeinden praktizierten.“18

    Es entstand eine Herrschaftsform, die die Menschen „ über (par) die Manifestation ihrer individuellen Wahrheit“ regiert. Michel Foucault nennt diese Herrschaftsform „die pastorale Macht“, le pouvoir pastorale.19

    Mit der Pastorale übernimmt das Christentum wiederum eine althergebrachte Praxis. Foucault analysiert aus den Texten der Kirchenväter im Herzen der pastoralen Praxis der Kirche einen „Imperativ der Wahrheit“ bzw. ein „Ensemble von Imperativen“.20  Ein „Imperativ der doktrinalen Strenge“ (rigueur doctrinale), ein „Imperativ der Lehre“ (enseignement), ein „Imperativ der Kenntnis der Individuen (connaissance des individus) und ein „Imperativ der Vorsicht“ (prudence) lassen die pastorale Macht als eine Verbindung von „Ausbildung und Übermittlung von Wahrheit“ erscheinen.21

    Die Wahrheit ist der entscheidende Operator der pastoralen Macht. Und dies in doppelten Form: „doktrinale Gleichförmigkeit“ (conformité), die man kennen und bekannt machen muss und „individuelle Geheimnisse“ (secrets), die man aufdecken muss, sei es um sie zu korrigieren, sei es um zu strafen (châtier).“22

    „Die Bibel ist verschieden ausgelegt worden; […] Ist sie aber verschieden auslegbar, dann besteht das Christentum in der Sorge um den Frieden,  nicht in der Durchsetzung einer einzelnen Auslegungsweise.

    Diesen historisch-theologischen Pazifismus verachtete Luther als die skeptische, friedensverliebte Theologie des Erasmus. Erasmus sah Kriege voraus; der Glaubensstreit hat sie bald tatsächlich gebracht. Luther warf ihm vor, er denke an den Frieden, nicht an das Kreuz. Erasmus hätte erwidern können: Das Kreuz, an das du denkst, ist das Kreuz des Gottessohnes, der nach drei Tagen wiederauferstehen konnte. Ich denke an das Kreuz der Hunderttausenden, die in Glaubenskriegen leiden und sterben.“23


  • Liturgie und Drama

    Wenn während der sogenannten Lutherdekade und somit auch während des letzten Jahres 2017 ein genuin lutherisches Thema gänzlich ausfiel, dann war es Luthers endzeitlicher Furor. Das beängstigende finale Grollen am Himmel ist verstummt. Und niemand hätte das angemessener zum Ausdruck bringen können als der berühmteste Student der Universität Wittenberg – nämlich: Hamlet. Und zwar mit Worten aus der Überlieferung Heiner Müllers: Mein Drama findet nicht mehr statt.1

    Das ist postdramatisch.

    Postdramatisch in dem Sinne, in dem sowohl griechisches Theater als auch christlicher Gottesdienst schon immer postdramatisch sind, nämlich „Nach der Tragödie“2; man könnte auch sagen nach der Katastrophe oder nach dem Opfer.

    Und postdramatisch im lutherischen Sinne, der darin besteht, dass die lutherische Interpretation des paulinischen ex auditu mit der Übersetzung „aus der Predigt“ einer radikalen Verschiebung vom Wer zum Was gleichkommt3 und somit eine entschieden entdramatisierende4 Praxis darstellt:

    Wo Drama war, soll Lehre werden.

    Die Rezeptionen theatralischer und ästhetischer Theorien in theologischen Diskursen ändern an der Praxis in den Gottesdiensten und Predigten wenig. Das liegt zumindest teilweise daran, dass sie mit der Praxis in den Theatern kaum verbunden sind und daher stets etwas bemüht und wie von außen herangezogen wirken.  –

    Das, was seit einigen Jahren „Postdramatisches Theater“ genannt wird und seine prominenteste theoretische Ausformung von Hans Thies Lehmann5 erfuhr, müsste theologische Theateraffinitäten schlagend als ein Missverständnis erweisen. Denn postdramatisches Theater kritisiert zuallererst die Dominanz des Wortes auf der Bühne und damit eine Hierarchie der künstlerischen Mittel einschließlich der Konzentration des Dramas auf einen psychologischen Konflikt.

    Wieder hat der berühmteste Student der Universität Wittenberg die passenden Worte: Ich spiele keine Rolle mehr. Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen. […] Ich spiele nicht mehr mit.6

    Um diesem liebenswerten aber doch Missverständnis zwischen Theaterwissenschaft und Liturgiewissenschaft/Homiletik zu entkommen, müsste man das Dramatische eines Gottesdienstes postdramatisch rekonstruieren. Man müsste also danach fragen, wo das Drama geblieben ist. In mindestens zwei Feldern lohnt es sich, zu suchen.

    Das eine Feld ist die Musik und hätte seine zentrale Referenz bei Bachs Matthäuspassion und ihre für unseren Zusammenhang exemplarische szenische Realisierung an der Berliner Philharmonie von 20107 unter der Leitung von Simon Rattle und dem amerikanischen Regisseur Peter Sellars.8

    Das andere Feld ist das Bild.

    Der amerikanische Kunsthistoriker Joseph Leo Koerner hat vor mehr als zehn Jahren während eines einfachen Seminares eine Entdeckung gemacht. Koerner war dabei, seinen Studenten die Doppeldeutigkeit des berühmten Gemäldes „Das Kreuz im Gebirge“ (1807/08) von Caspar David Friedrich zu erläutern.

    Die Doppeldeutigkeit bestand darin, dass Friedrich das Bild als Altarbild malte und die Auftraggeberin es in ihrem Schlafzimmer anbrachte. „Im Zuge der Reformation und der Aufklärung sei an die Stelle der organisierten Religion als dem Ort spiritueller Transzendenz das private Erleben von Kunst und Natur getreten.“9 Zur Veranschaulichung hatte Koerner das Bild während seiner Erläuterungen als Dia an die Wand des Seminarraumes hinter sich projiziert. Er nutzte dazu einen „Überblend – Diaprojektor“ und hatte den linken Projektor bedient.

    Zum Vergleich und als Beleg seiner These schaltete er den rechten Projektor ein und projizierte ein weiteres Kruzifix an die Wand: die ebenfalls berühmte Predella des Altargemäldes von Lucas Cranach in der Wittenberger Stadtkirche von 1547.

    Cranach habe hier sein Kruzifix bewusst aus der Predigtszene herausgelöst und weder eine historische Kreuzigung, noch eine Wundererscheinung oder ein geschnitztes Kruzifix dargestellt, sondern er habe in diesem zentralen Bild der Reformation einen ersten Schritt markiert, der in Friedrichs Landschaft ende. „Hatte die Reformation das Heilige in der abgesonderten Sphäre des inneren Glaubens angesiedelt, so erkundete die Romantik die dadurch entstandene Leere.“10

    „Als ich jedoch“ – so schildert Joseph Leo Koerner – „auf meinem Podest einen Schritt nach rechts trat, um auf die Stelle zu deuten, wo Cranach diese epochale Enthebung des Kreuzes dargestellt hat, geschah etwas Unerwartetes. Während ich auf das Kreuz zeigte, warf meine Hand genau da einen Schatten auf das an die Wand projizierte Bild, wo Luther seine Finger zu Christus hin ausstreckt. Und auf einmal schien alles miteinander zu verschmelzen. Prediger und Lehrer, Kanzel und Podest, Predigt und Vorlesung, Pfarrgemeinde und Studenten, fensterloser Chor und abgedunkelter Hörsaal. Alles schien Teil ein und desselben Gefüges zu sein. Und hier wie dort, als nach wie vor intendierter Bezugspunkt der Aufmerksamkeit, stand etwas im Zentrum, das – an der Wand hinter mir ebenso wie in Cranachs und Friedrichs Gemälde – auf fast unheimliche Weise projiziert statt unmittelbar verfügbar zu sein schien: das Bild, um das es ging, die Ikone Gottes.“11

    In seinem im Jahre 2007 erschienenen und zehn Jahre später (2017) in die Deutsche Sprache übersetzten Buch „Die Reformation des Bildes“ schildert Koerner die Entdeckung seines Seminares und kommt immer wieder auf sie zurück: Der Finger von Joseph Leo Koerner hatte „unbeabsichtigt auf das Bild des Gekreuzigten gedeutet.“12

    Diese Geste führt Koerner zu der Erkenntnis, dass Cranachs und Friedrichs Kruzifixe „paradigmatische Instrumente“13 einer künstlerischen Praxis sind und als solche „Ikone und Ikonoklasmus zugleich“14.

    Beide Künstler hatten sich als historischer Voraussetzung bilderstürmerischer Attacken zu erwehren, der eine durch die Wittenberger Bilderstürmer um Karlstadt, der andere durch Napoleon. „Beide verwendeten das Kruzifix, um dem Hammerschlag Einhalt zu gebieten, der ihnen Raum gegeben hatte, und ihn zugleich zu wiederholen: Cranachs Bild, indem es das Heilige von einer Welt der Fakten reinigte; Friedrichs Bild, indem es das Heilige in einer verarmten Welt aufspürte.“15

    Das Kruzifix „stellt nicht einfach nur in einer von Bildern gereinigten Kirche ein sakrales Bild wieder her. Es verharrt vielmehr selbst in einem Zustand des Enthobenseins und bekräftigt mit bildnerischen Mitteln, dass das, was es zeigt anderswo und unsichtbar ist. Doch während es sein Erscheinen in dialektischer Weise negiert, behauptet es dennoch beharrlich seinen Platz.“16

    Diese „Gleichzeitigkeit des Bilderbesitzens und Bilderzerstörens“ bezeichnet Koerner mit einem Wort des französischen Soziologen Bruno Latour als iconoclash. Latour hatte den Begriff iconoclash für eine gemeinsam kuratierte Ausstellung am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe geprägt.17

    Wie schon bei Joseph Leo Koerner, so spielt auch bei Bruno Latours Konzept des iconoclash die Hand eine wichtige Rolle. Latour definiert iconoclash als „das, was ein tritt, wenn Ungewissheit über die genaue Rolle der Hand besteht, die bei der Produktion eines [Bildes] am Werk ist: Ist es eine Hand mit einem Hammer, die im Begriff ist zu denunzieren, zu entlarven, aufzudecken, bloßzustellen, zu enttäuschen, zu entzaubern, Illusionen aufzulösen, Luft rauszulassen? Oder ist es im Gegenteil eine achtsame und vorsichtige Hand, mit offener Handfläche, wie um Wahrheit und Heiligkeit zu ergreifen, herauszuholen, hervorzulocken, in Empfang zu nehmen, hervorzubringen, aufzunehmen, aufrechtzuerhalten, zu sammeln?“ 18

    Nicht zufällig, findet sich eine solche Ungewissheit über die Rolle der Hand in vielen Bildern selbst abgebildet. Joseph Leo Koerner las die Predella des Cranachaltares auf diese Art und er hatte prompt seine eigene Hand im Spiel.

    Der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman deutet derartige Phänomene19 als Montage. Mit der Deutung des iconoclash als Montage  lässt sich unsere postdramatische Rekonstruktion des Dramatischen im christlichen Gottesdienst auf dem Feld des Bildes entfalten. Zugleich markiert sie den Übergang vom Bildlichen ins Performative. (Siehe den oben rechts stehenden Bildausschnitt.)

    „Zu was wird hier der Körper Christi? Auf diese Frage könnte man antworten, dass der Glaube und die Andacht eine Montage erfordern die aus dem angebeteten Leib einen buchstäblich ‚unglaublichen‘, einen zugleich zerteilten (zerstückelten, auseinandergerissenen) und wieder zusammengesetzten Organismus macht: einen wie in einem Rebus oder in einem Traum fortwährend verschobenen und verstellten Körper. Die Montage dramatisiert und fokussiert den Blick, indem sie neue organische Hierarchien erfindet. So ist das offene Herz hier der Teil, der beinahe monströs für das Ganze steht; […] Die dramatische ‚Nahaufnahme‘ dringt bis ins Innere des Leibes vor, sie wird zur paradoxen Endoskopie eines abwesenden Körpers. Gleichzeitig erfindet die Montage unerhörte Zusammenhänge, indem sie den Organismus der Passion überall ausbreitet. Sie zwingt den Blick zu einem Zickzackkurs von einer Figur zur nächsten, um aus jeder isolierten Figur die exegetische Figur aller anderen Figuren zu machen.“20

    Die Arbeit der Montage bringt Bewegung ins Wahrnehmen und Denken. Sie dramatisiert: erzeugt Reibung und Konflikt. Didi-Hubermann fasst diese Bewegung als oszillierende Bewegung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit zusammen. Er geht soweit, in dieser Bewegung das Konstitutivum des Glaubens zu sehen:

    „Vermutlich gibt es keinen Glauben, ohne das Verschwinden eines Körpers. […] So hört Christus niemals auf, sich zu manifestieren, zu verschwinden und schließlich sein Verschwinden selbst zu manifestieren. Fortwährend öffnet er sich und verschließt sich wieder. Fortwährend kommt er zum Greifen nahe und zieht sich wieder zurück bis ans Ende der Welt. Beispielsweise, wenn er in seinem demütigen Tod und seinem Begräbnis entschwindet, aber bald darauf in seiner glorreichen Auferstehung zurückerscheint. Seine Auferstehung bedeutet zugleich aber auch, in einer dialektischen Wendung, dass mit ihr die Zeit eines erneuten Verschwindens beginnt, die nun aber durch den Glauben ausgezeichnet ist: die menschliche Zeit, die Zeit der Gemeinschaft und der Liturgie, in der seine Abwesenheit zum Warten auf seine Wiederkehr […] wird.“21

    Mit der Montage überträgt Didi-Huberman eine Kategorie des Kinos auf die Malerei zurück. Er nimmt damit nicht nur den Gedanken von Gilles Deleuze auf, dass das Bewegungsbild des Kinos das Denken selbst in Bewegung bringt – Deleuze sagt, dass die eigentliche Projektionsfläche eines Filmes das Gehirn sei, le cerveau, c’est l’écran  – sondern auch den Gedanken von Deleuze, dass sich in einem Bild die Zeit selbst bewegt:

    „…Es scheint mir offensichtlich, dass ein Bild nicht in der Gegenwart ist. Das was in der Gegenwart ist, ist lediglich das, was ein Bild ‚repräsentiert‘, aber nicht das Bild selbst. Das Bild selbst ist ein Ensemble von Zeitverhältnissen, durch die die Gegenwart nur hindurch fließt, sei es als vielfältige Gemeinsamkeit, sei es als kleinster gemeinsamer Teiler. Die Zeitverhältnisse sind nie in der gewöhnlichen Wahrnehmung zu sehen, aber sie sind im Bild, sobald es schöpferisch ist. [Ein Bild] macht die Zeitverhältnisse fühlbar, sichtbar, die nicht auf die Gegenwart reduzierbar sind.“22

    Iconoclash: die Gleichzeitigkeit von Bilderbesitzen und Bilderzerstören oder die Ungewissheit über die Rolle des Hand. –
    Montage: zugleich zerteilen und zusammenfügen oder aus jeder isolierten Figur die exegetische Figur aller anderen machen. –
    Bewegung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit: manifestieren, verschwinden, schließlich das Verschwinden selbst manifestieren oder fortwährend öffnen und wieder verschließen. –
    Bewegung der Zeit: ein Ensemble von Zeitverhältnissen, durch die die Gegenwart hindurch fließt oder Zeitverhältnisse, die nicht auf die Gegenwart reduzierbar sind. –

    Mit diesen Begriffen lässt sich vom reformatorischen Bild ausgehend rekonstruieren, wie das Dramatische im Gottesdienst postdramatisch gedacht werden kann. Welchen Effekt unsere Begriffsvorschläge auf gottesdienstliches bzw. auf liturgisches Denken haben können, skizziert folgendes Beispiel.

    Nehmen wir nur die liturgischen Zeitbegriffe: advent, anamnesis /zikkaron, kairos, archè /bereschit, telos (synteleia) und setzen sie in Bewegung; Zunächst als einzelne Zeitbewegungen aus unterschiedlichen Richtungen auf einander zu bzw. voneinander weg; Dann als zusammengesetzte, wechselseitige Bewegungen; Schließlich mit jeweils unterschiedlichen Geschwindigkeiten und unterschiedlichen, wechselnden Gegenwartsbezügen… eben als Ensemble von Zeitverhältnissen, durch die die Gegenwart hindurch fließt, die sich aber nicht auf die Gegenwart reduzieren lassen. Eine von hier aus entwickelte Dramaturgie des Gottesdienstes gleicht eher einem Strudel als einer Linie oder einem Faden…

    Der Komponist und Theaterregisseur Heiner Goebbels  reflektiert in seinem gleichnamigen Buch eine „Ästhetik der Abwesenheit“. Er geht dabei von seiner praktischen Theaterarbeit aus. Für die liturgische Praxis lassen sich einige Stichworte von Heiner Goebbels lesen und kommentieren:

    Abwesenheit kann „als Verschwinden des Schauspielers/Performers aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit“ konkretisiert werden, was ein „Verschwinden von der Bühne“ einschließen kann23.

    Warum steht eigentlich im evangelischen Gottesdienst immer jemand vorne? Mit steigender Tendenz steht die Pfarrerin oder der Pfarrer – wenn Wege weit sind, sogar bei kürzeren Liedteilen – ständig im Altarraum herum. Inklusive so komischer Situationen, dass er/sie sich selbst die liturgisch vorgesehenen Antworten gibt. Die unbemerkte Komik derartiger Situationen wird dadurch verstärkt, dass sie bestritten wird: jeder/jede ist gegen Klerikalismus, den die Amtstheologie ja auch nicht hergibt, dennoch wird mit steigender Tendenz liturgisch klerikal agiert, nicht nur in Großgottesdiensten.

    Ein Psalm könnte von der Gemeinde aus gebetet werden. Ein Großteil der Eingangsliturgie ebenfalls, Gebete… Da vorne könnte Platz gelassen werden. Wie soll jemand ankommen, wenn sein Platz ständig besetzt ist?

    Abwesenheit kann konkretisiert werden „als Aufspaltung der Präsenz auf alle beteiligten Elemente“ oder mit anderen Worten „als eine Polyphonie der Elemente“.24

    Wenn etwas zu sehen ist, dann muss es nicht noch einmal gesagt werden. Auch wenn etwas zu hören ist oder gesungen wird, muss es nicht noch einmal gesagt werden. Mit gesagt ist hier auch: erklärt gemeint. Dies gilt im Gottesdienst vor allem für Vollzüge, wozu auch die Sakramente gehören. Sie haben eine eigene Kraft. Also: wenn etwas getan wird, muss es nicht noch einmal gesagt werden.

    Nun gibt es im evangelischen Gottesdienst einen relativ hohen Wortanteil. Und auch da gilt es die unterschiedlichen Sprechakte sprachlich und sprechend zu unterscheiden: ein Gebet ist keine Predigt, eine Fürbitte keine Deklaration. Die unterschiedlichen Teile eines Gottesdienstes als unterschiedlich zu praktizieren, ihnen etwas zuzutrauen, hieße sie polyphon zu gestalten. Dazu gehört selbstredend auch die Beteiligung anderer Personen und das heißt immer auch: Körper. Körper an der Polyphonie der Elemente eines Gottesdienstes zu beteiligen, eröffnet ein weites Denk- und Übungsfeld.

    Abwesenheit kann „als Entstehung von Zwischenräumen/Räumen der Entdeckung/Räumen, in denen Emotionen, Imagination und Reflexion sich ereignen können“25 konkretisiert werden.

    Stille. Stille im Gottesdienst muss eine gewisse Dauer haben, damit sie sich herstellen und als Zwischenraum agieren kann. Dazu müssen ihr Anfang und Ende klar gestaltet sein, damit Stille nicht wie ein Fehler wirkt.

    Abwesenheit kann „als Abschied von Expressivität“26  verstanden werden.

    Dieser Gedanke erlaubt uns, einen Blick auf die hochgradig unterschätzte Praxis der Lesungen in einem Gottesdienst zu werfen. Abgesehen davon, dass Lesen geübt sein will, kann ein vermeiden expressiven Lesens so verstanden und praktiziert werden, dass der oder die Lesende möglichst den Text selbst wirken lässt und nicht illustrierend oder erklärend liest.

    Der legendäre Theaterregisseur Klaus Michael Grüber sagte folgendes zu seinen Schauspielern: „Es ist ja immer so, wenn ihr mir das Wort frei bietet, dann bin ich dankbar, weil ich dann daraus etwas machen darf. Wenn ihr’s schon einbettet, in jede Schattierung geht, dann habe ich nur das Nachkauen von irgendetwas. Und ich möchte nicht, dass ihr mir meine Phantasie, das wenige, raubt, oder irgendwie diktatorisch einengt…“27

    Eine Ästhetik der Abwesenheit plädiert für ein „leeres Zentrum“ und dies in zweierlei Hinsicht, nämlich für eine „leere Bühne“ und für die „Abwesenheit dessen, was wir das ‚Thema‘ oder die ‚Botschaft‘ eines Stückes nennen“.28

    Dieser Gedanke ist vielleicht der am meisten provozierende für einen oder eine Theologin. Doch er legt den Finger in die Wunde. Man kann unsere fünf Punkte zum Thema Abwesenheit so zusammenfassen, dass in der Freistellung der genannten Teile oder Vorgänge eines Gottesdienstes das eigentliche Drama für die Gemeinde, für die einzelnen Zuschauenden entsteht und eben nicht vorgeführt wird.29

    Strategien der Abwesenheit schaffen Platz oder eröffnen Räume für etwas Unerwartetes, etwas, das man eben noch nicht weiß, kennt, gehört oder gesehen hat. Heiner Goebbels nennt diese Abwesenheit „die Anwesenheit des Anderen, als eine Begegnung mit einem ungesehenen Bild, einem ungehörten Wort oder Klang; als eine Begegnung mit den Kräften, die der Mensch nicht kontrollieren kann, die sich seinem Zugriff entziehen.“30

    Im Gegensatz zu Identifikationen mit dem Bühnengeschehen und den darin auftretenden Personen mit dem Ziel von Selbstbestätigung (wie sie die gängige Fernsehästhetik praktiziert), eröffnen Strategien der Abwesenheit künstlerische Erfahrungen. Heiner Goebbels nennt sie „Erfahrung[en] durch Alterität“.31

    Liturgische Praxis als Erfahrung von Andersartigkeit zu verstehen, bedeutet, sich auf einen Erfahrungsbegriff zu beziehen, wie ihn das französische Wort expérience vorschlägt. Expérience meint nämlich Erfahrung und Experiment zugleich, also Erfahrung mit offenem Ausgang. Ein Gottesdienst eröffnet schönstenfalls Erfahrungsräume. Dann entsteht Drama .

    Und wenn Liturgie und Predigt unbedingt und dringend etwas vom Theater rezipieren sollten, dann ist es das Erfinden von Experimentierräumen, von Probesituationen, in denen man die Dinge übt – lautes Lesen zum Beispiel – und auch absurdeste Sachen einmal ausprobieren kann, selbst oder gerade dann, wenn man sie im Gottesdienst nicht macht.


     
  • Endzeiten

    Death Valley, Kalifornien.  Im Mai 1975 unternahmen der französische Philosoph Michel Foucault und zwei seiner Freunde einen Ausflug. Während eines zweitägigen Aufenthaltes am Zabriskie Point1 und in Höhlen, die an den Roden Crater2 erinnern,  setzten sie sich einem Experiment aus. In dieser überwältigenden Wüstenlandschaft nahmen sie eine genau bemessene Dosis von klinischem LSD zu sich, hörten Musik von Charles Yves, Karl-Heinz Stockhausen, aber auch die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss und Stücke von Chopin. Sie waren tagsüber in gleißender Sonne unterwegs, sahen die Venus und den gesamten Sternenhimmel aufgehen bei Nacht.

    In einem Interview vom Mai vergangenen Jahres3 erinnert sich der in Harvard promovierte Historiker Simeon Wade an diese schon damals hochumstrittene Erfahrung. Er sei besonders gespannt darauf gewesen, ob und wie sich Foucaults Denken verändern und erweitern würde. Konkret bezog er dies auf seinen Endpunkt, an dem Foucault den Menschen verschwinden sah „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“4.

    Hatten nicht zuletzt derartige Erfahrungen gezeigt, dass es „andere Formen des Wissens gibt als die der Wissenschaft“, andere Herangehensweisen an Tod und Endlichkeit als die von Foucault formulierte?  Es gäbe sogar Vermutungen, dass Erfahrungen in einer Höhle auf der griechischen Insel Patmos, wie sie sich im neutestamentlichen Buch der Apokalypse niederschlagen, vom „Fliegenpilz amanita muscaria inspiriert“ worden seien. „LSD ist das synthetische chemische Äquivalent zur halluzinogenen Kraft der Fliegenpilze.“5

    Foucault jedenfalls hatte damals eine transzendentale Erfahrung gemacht, die ihm viel bedeutete. Er hatte dies vielfach nicht nur brieflich kommuniziert. In seinem Werk sei eine Veränderung der Perspektive wahrzunehmen. Foucault  habe in der Folge seiner Erfahrung im Death Valley die Konzeption des zweiten Teiles seiner „Geschichte der Sexualität“ komplett umgearbeitet…6

    Wie immer abwegig einem Experimente, Vermutungen, Gedankengänge und –umbrüche dieser Art vorkommen: Endzeitvisionen sind ohne Rauschzustände kaum denkbar. Für die Geschichte des Christentums jedoch war der rauschhafte Bilderreichtum der Apokalypse weniger wirkungsvoll als der darin dargestellte kalte Wahn des Gerichts.

    Mit der Vision des Gerichtes als „letzte Instanz“ hat das Christentum eine „neue Form von Macht als Urteilsmacht erfunden: Die Bestimmung des Menschen ist zwar ‚aufgeschoben‘, gleichzeitig aber wird das Gericht eine letzte Instanz“.7

    Diese Erfindung kann als eine umfängliche Verschiebung des Christentums wahrgenommen werden: „ Es konnte nicht ein und derselbe Menschtyp sein, der das Evangelium und die Apokalypse schrieb.  Es spielt keine Rolle, dass jeder der beiden Texte seinerseits komplex und zusammengesetzt ist und eine Vielzahl unterschiedlicher Dinge in sich vereinigt. Es geht nicht um zwei Individuen oder Autoren, sondern um die Frage zweier Menschentypen oder zweier Seelenregionen, um zwei völlig verschiedene Gesamtheiten (ensembles)8. Das Evangelium ist aristokratisch, individuell, sanft, voller Liebe, dekadent, noch ziemlich kultiviert. Die Apokalypse ist kollektiv, volkstümlich, unkultiviert voller Hass und wild.  Man müsste jedes dieser Worte erklären, um Widersprüche zu vermeiden. Aber schon der Evangelist und der Schreiber der Apokalypse können nicht  dieselben sein. Johannes von Patmos zieht nicht einmal die Maske des Evangelisten über und auch nicht die Maske Christi, er findet eine andere, fertigt sich ein andere an, die unserer Meinung nach Christus demaskiert oder sich vor die Maske Christi schiebt. Johannes von Patmos arbeitet mit kosmischem Terror und Tod, während das Evangelium und Christus die menschliche und geistige Liebe bearbeitet. Christus erfand eine Liebesreligion (eine Praxis, eine Lebensweise und kein Glaubenssystem), die Apokalypse liefert eine Religion der Macht – ein Glaubenssystem, eine schrecklich Urteilsweise. Anstelle der Gabe Christi eine unendliche Schuld.“9

    Das Ende als Gericht wird hier zum Programm einer Zeitverschiebung als einem Aufschub. „Man sieht sich also vor der Aufgabe, eine monströse, gedehnte Zeit zwischen Tod und Ende, Tod und Ewigkeit auszufüllen. Man kann sie nur mit Visionen ausfüllen: ‚ich schaute, und da…‘, ‚und ich sehe…‘ Die apokalyptische Vision ersetzt die prophetische Rede, die Programmierung ersetzt das Projekt und das Handeln, ein ganzes phantasmatisches Theater folgt auf das Handeln der Propheten wie auf das Leiden Christi.“10

    Auf Golgatha11 hat eine Serie von kleineren und größeren Endzeiten begonnen. Noch vor der großen Zeitdehnung hatte Paulus in seinem zweiten Brief an die Thessalonicher über das Ende geschrieben. Er hatte den „Tag des Herrn“ als „nahe“ empfunden und muss, wenn nicht gewusst, so doch geahnt haben, dass sich in der Frist von Nähe Aufschübe verbergen würden. Das oder den Aufschiebenden nannte er geheimnisvoll  katechon12.

    Der afrikanische Theologe Tertullian wusste anscheinend noch, was Paulus gemeint hatte. Er identifizierte den bzw. das Katechon mit dem Römischen Reich.13 Und  wir Heutigen ahnen die Komplikation dieses Wissens spätestens von dem Moment an, an dem das Römische Reich und eine Römische Kirche ineinander fallen.

    In einer Frühjahrsnacht des Jahres 312 hatte ein Römischer Feldherr einen Traum. In ihm fallen persönliche Vision und endzeitliche Erwartung zusammen. Wiederum verschiebt sich das Christentum. Nach der harten Zeit der Verfolgungen von Christinnen und Christen, die sowohl von innen als auch von außen auf der Folie des Gerichtes gelesen werden können, beruhigt sich die Lage vor allem durch die Bekehrung eines Mannes zum Christentum: Konstantin I. Die Geschichte ist bekannt14 und es ist nur konsequent diese Verschiebung als konstantinische Wende zu bezeichnen. Das Christentum wird zunächst zur tolerierten, dann zur privilegierten Religion, schließlich zur ausübenden realen Herrschaftsform. Der Römische Kaiser Konstantin I. war ihr „Vorsitzender“15, der „Kirchenpräsident“16.

    Dem Afrikaner Augustinus verdanken wir die Unterscheidung von civitas terrena und civitas dei. Damit löst sich das Ineinander von Kirche und Reich zumindest gedanklich. Im XX. Kapitel seines Buches über den Gottesstaat ist Augustin jedoch nicht mehr klar, wer oder was ein Katechon sei. Er kennt wohl die unterschiedlichen Theorien stellt aber deutlich fest:  Ergo prorsus quid dixerit me fateor ignorare / Ich gestehe, dass ich mir ganz unklar bin, was er sagen wollte.17 Die Situation des Reiches hatte sich dramatisch geändert.

    Wer oder was auch immer Aufschübe bewirkt hat und bewirkt, sowohl die Idee von Reichen (imperii), die weitergegeben (translatio) werden, wie auch die von dazugehörigen Kirchen hält sich in unterschiedlichen, seriell endzeitlichen Ausformungen bis auf den heutigen Tag. Beide können sich in unterschiedlicher Gegenseitigkeit aufeinander beziehen. Ob in Form eines Imperiums, eines Nationalstaates oder eines Landesfürstentums, so ist ihnen doch eines gleich: sie sind konstantinisch geprägte Modelle von Christentum als Herrschaft.

    In der Reformation tritt die Predigt explizit als Herrschaftsinstrument in diesen Zusammenhang.18  In seiner Lesart des Zweiten Briefes an die Thessalonicher des Paulus identifiziert Johannes Calvin den Aufhalter als die Predigt.19 Es müssten erst alle Menschen die Botschaft vernommen haben können, ehe sie dem Gericht überführt werden.

    Heute, im Zeitalter des Verkaufs-Geredes hat sich diese Lesart gegen seinen Leser gewendet und/oder ihr eigentliches Ziel gefunden: Reden auf Teufel komm raus.  Die Auswirkungen von Calvins Lektüre werden nicht nur als Gezwitscher erschreckend deutlich am präsidialen Realapostel des großsektenförmigen Kommerzchristentums in der brave new world.

    Eine andere Tonlage bringt Dietrich Bonhoeffer in die Debatte. In seinen zwischen 1940 und 1943 niedergeschriebenen Manuskripten zur Ethik, kommt Dietrich Bonhoeffer auf das Katechon zurück20. Dies geschieht nicht in den Manuskriptteilen, die sich mit den letzten Dingen beschäftigen, wie es bei Augustin der Fall war, sondern in dem Abschnitt, in dem es um „Erbe und Verfall“ geht. Dieser Abschnitt wurde im Herbst 1940 zu schreiben begonnen und in der Zeit zwischen April und Ende des Jahres 1941 überarbeitet, ergänzt und abgeschlossen. Historische Ereignisse wie der Beginn von Hitlers Vernichtungskrieg, die Deportation der Juden und Bonhoeffers zunehmende Aktivitäten in der Widerstandsgruppe der Abwehr mit Umsturzplänen und ökumenischen Reisen werden diskret aber erkennbar21 im Text verhandelt. Sie bilden den Hintergrund der Schrift bzw. haben ihre Spuren in Randnotizen auf den Manuskriptseiten hinterlassen.22

    Bevor Bonhoeffer auf das Katechon kommt, analysiert er seine Zeit und beschreibt sie in vielerlei Hinsicht als Verfallszeit.23 „Losgelassene Gewalten“ tobten sich aneinander aus, alles sei von Vernichtung bedroht. Die abendländische Welt würfe sich „dem Nichts in die Arme“, so dass Christen „untereinander vom nahen jüngsten Tag“ sprechen. Das Nichts auf das das Abendland zutreibe, sei ein „aufrührerisches, gewalttätiges, gott- und menschenfeindliches Nichts“.24 „Der Verlust von Vergangenheit und Zukunft lässt das Leben schwanken zwischen dem brutalsten Genuss des Augenblicks und abenteuerlichem Hasardspiel.“25 Man verwechsle „in verhängnisvoller Weise Stärke mit Schwäche, geschichtliche Bedeutung mit Dekadenz“26.  An die Stellt der Wahrheit trete „die sophistische Propaganda“.  Alles, „was nutzt“, würde „als recht erklärt“. Angesichts des Nichts würde alles preisgegeben, „das eigene Urteil, das Menschsein, der Nächste“.27

    Bonhoeffer kommt zu der Schlussfolgerung, dass „vor dem letzten Sturz in den Abgrund“ nur zweierlei bewahren könne: „das Wunder einer neuen Glaubenserweckung“ oder „die Macht, die die Bibel als ‚den Aufhaltenden‘ […] bezeichnet“28. Dieses/r Aufhaltende ist eine „mit starker physischer Kraft ausgerüstete Ordnungsmacht, die sich den in den Abgrund Stürzenden erfolgreich in den Weg stellt“29. Es setzt dem Bösen seine Grenze, ist nicht Gott und nicht ohne Schuld, aber „Gott bedient sich seiner, um die Welt vor dem Zerfall zu bewahren“, es ist „staatliche Ordnungsmacht“.30  Diese Ordnungsmacht „sieht in der Kirche den Bundesgenossen, und alles was an Elementen der Ordnung noch vorhanden ist“, sucht ihre Nähe. „Dabei erweist sich die Kirche je wirksamer, je zentraler ihre Botschaft31 ist, und ihr Leiden ist dem Geist der Zerstörung unendlich viel gefährlicher als die ihr etwa noch verbliebene politische Macht. […] Sie zwingt die Ordnungsmächte zum Hören, zur Umkehr.“32

    In seiner Lesart, unterscheidet Bonhoeffer nicht nur zwischen der Ordnungsmacht und der Kirche, sondern auch zwischen der Ordnungsmacht und dem Reich (s.o.). Der/das Aufhaltende wird zu einer Chiffre des Widerstandes gegen den NS-Staat.33

    Mit dem Stichwort, vor allem jedoch mit seiner Praxis des Widerstandes (acte de résistance) hat Bonhoeffer nicht nur eine politische Verschiebung des Christentums eingeleitet. Von hier aus lässt sich eine andere Theorie des Endes bzw. der Endzeiten herstellen. Sie geht ebenfalls auf Paulus zurück und ermöglicht es, „Schluss mit dem Gericht“34 als letzter Instanz oder als Herrschaftsform der Urteilsmacht zu machen.

    In seinem Zweiten Brief an die Korinther schreibt Paulus von der „neuen Kreatur“35 , wie Luther übersetzt, der kainè ktisis, der neuen Schöpfung.  Und Widerstand (résistance) ist genau das, was den Schöpfungsakt (acte de création) ausmacht.36 Der schöpferische Akt in Kunst, Denken und Wissenschaften leistet Widerstand auf unterschiedlichen Ebenen: gegen herrschende Meinungen, gegen normative Fragestellungen, gegen Rhythmen allgemeiner Gewohnheit, gegen gängige Vorurteile und Klischees. Der schöpferische Akt, insbesondere im künstlerischen Sinne, befreit das Leben aus seinen Gefangenschaften, widersteht der Dummheit. Nicht zuletzt ist der Schöpfungsakt ein Akt des Widerstandes gegen den Tod.37 „Allein der Akt der Widerstand widersteht dem Tod, sei es in der Form eines Kunstwerks oder in der Form eines Kampfes der Menschen.“38

    Nun erschöpft sich ein Schöpfungsakt nicht in seinem Widerstand gegen äußere Gewalt, sondern birgt in sich einen Akt des Widerstandes.39 Aristoteles hatte den Schöpfungsakt mit den beiden Begriffen Potenz und Akt erklärt, so dass, man zu dem Schluss kommt: „Wer über eine Potenz verfügt, kann sie aktualisieren oder nicht aktualisieren.“40

    Das Eigentümliche dieser Formel besteht darin, dass sie die Potenz über die Nichtausübung des Aktes definiert. Die Potenz existiert nicht nur im Akt, sondern auch in der Nichtausübung des Aktes. Ein Architekt ist auch Architekt, wenn er nicht baut. Aristoteles geht so weit, dass er schreibt: „Die Impotenz (adynamia) ist eine der Potenz (dynamis) entgegengesetzte Privation. Jede Potenz ist Impotenz desselben und in Bezug auf das Selbe (dessen Potenz sie ist)“.41 Impotenz ist also nicht die Abwesenheit von Potenz, sondern „Potenz-nicht-zu (nicht zum Akt überzugehen), dynamis me energein.“42

    Demnach ist der Schöpfungsakt also nicht ein „Übergang der Potenz in den Akt“, sondern in jedem Schöpfungsakt selbst gibt es etwas, was sich dem Übergang widersetzt.43 Ein Schöpfungsakt ist also immer der Übergang einer Potenz-zu in einen Akt und zugleich der Widerstand gegen diesen Akt, also von derselben Potenz-nicht-zu.  Diese „Doppeltstruktur“ kennzeichnet jeden authentischen Schöpfungsakt. Er ist immer „Begeisterung und Widerstand“, Inspiration und Kritik“. Keines kann das andere beherrschen, weder das Nicht-zu das Zu, noch umgekehrt. 44

    Vielleicht besteht darin der Sinn der Äußerung von Gilles Deleuze, (dessen Gedanken wir hier folgen,) Bartleby sei der „neue Christus oder unser aller Bruder“? 45 Bartlebys berühmte Formel ist die wiederkehrende, ja erschöpfende  Antwort auf Fragen seines Arbeit gebenden Anwalts – I would prefer not to – ich würde es vorziehen nicht zu…

    Christentum ist nicht Gericht, sondern neue Schöpfung!


  • In manos tuas

    Wofür interessiert sich jemand, wenn sie/er sich für eine produktive experimentelle Praxis, in der „sich das Manuelle nicht von den Ideen trennen lässt“1, interessiert?

    Sie/er interessiert sich für Hände, Hände als „Bewusstsein einer Handlung“2.

    Albert Flocon war 1933 aus Deutschland nach Paris emigriert und hatte sich nach 1945 auf die Kupferstecherei konzentriert. Ende der vierziger Jahre versammelte er eine Gruppe von Graveuren um sich und bereitete mit ihnen eine Ausstellung in einer kleinen Galerie auf der Pariser Ile St. Louis vor. Die ausgestellten Gravuren kommentierend wollte Flocon einige Texte von Gaston Bachelard zitieren und nahm dazu mit ihm Kontakt auf. Bachelard, der eigenwillige Philosoph und Wissenschaftshistoriker, versprach einen eigenen Beitrag. Der gab schließlich auch den Titel der Mappe ab, die die sechzehn dem Handmotiv gewidmeten Drucke der Künstlergruppe beinhaltete:  À la gloire de la main – Zum Ruhm der Hand.

    „Das Buch wurde 1949 im bekannten Atelier von Georges Leblanc, 147 rue Saint Jacques, ‚auf Kosten eines Liebhabers‘ gedruckt. Flocons Gravur zeigt seine eigene Hand  – ‚meine Hand‘. Sie hält einen Stichel und ist dabei, ihrerseits eine Hand zu gravieren – eine Hand also ‚bei der Arbeit‘ an einer Hand. In dieser setzt sich die Folge von Stufen der De- und Transformation fort: von der körperlichen Hand, welche die Konturen einer weiteren Hand in die Kupferplatte ritzt, in deren Teller sich noch einmal eine Hand, nun in abstrahierter Form einer geometrischen Skizze abzeichnet. Und noch eines zeigt das Kupfer: Die Geste des Stechers ist in ein und derselben Bewegung nicht nur einschneidend, sondern auch aushebend. Sie verläuft in den Grund und die die Höhe zugleich.“3

    Die Aktivität einer Hand ist von sich aus nicht auf den „ziel- und nutzengerichteten Wert der Produktion eines Gegenstandes“ gerichtet, sondern sie ist „vor allem die Erfahrung und das Experiment einer Beziehung“. Form und Ergebnis diese Prozesses ist „nie wirklich ‚vorher-sehbar‘: sie ist immer problematisch, unerwartet, unsicher, offen“4.

    Nicht nur bei der Arbeit eines Kupferstechers organisiert sich die „Dynamik der Hand“ um einen „blinden Fleck“, einen „Kern von Blindheit“, und damit auf die gleiche Weise wie sich die Sprache um einen „asemischen Kern“ organisiert.5 Folgerichtig taucht die abschließende Frage des Beitrages von Paul Valéry in der Mappe „Zum Ruhm der Hand“ – nämlich ob die Hand nicht ein „Organ des Möglichen“6  sei –  im Zusammenhang der Rede wieder auf.

    „Die seltsame und bemerkenswerte Rolle der Hand während der Rede – eine begleitende Ausdrucksfunktion – könnte eine verstümmelte Reminiszenz an irgendeine alte Zeichensprache sein. Die Hand spricht also – sie bietet an, kneift, schneidet ab, stößt zurück, fügt zusammen, ruft heran, schlägt zu, weist hinauf usw. Sie exponiert vor allem die Verben. Sie verstärkt aber auch (vgl. die Hand eines Sängers) und skandiert = legt Unterbrechungen fest – grenzt die Chrono-Sätze ab. Die Hand – Repräsentationsapparat – Raum.“7

    Gegen Ende seines Musiktheaterstückes „Max Black“ (1998), unterlegt der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels diesen Text mit einem elektronisch generierten Pulsschlag. Nach jedem genannten Verb erklingt das Geräusch einer Drehrassel, aus deren Geräusch, vom Schauspieler (André Wilms) live gemacht, sich ein elektronischer Rhythmus entwickelt. Er ist mit weiteren Samples von Musikteilen – Klavier, Orchester, Beats, Maschinengeräusche, wiederholte Basslinien etc. –  versetzt. Sie lassen den musikalischen Kosmos des gesamten Stückes akustisch noch einmal Revue passieren, was seinen besonderen Reiz darin hat, dass fast alle Musik sich aus Geräuschen, Tönen und Samples zusammensetzt, die der Schauspieler mit eigenen Händen auf seiner Laborbühne hergestellt hat.

    „Die Hand – sie segnet, kratzt die Nase oder Schlimmeres, dreht den Wasserhahn auf, erhebt sich zum Schwur, gebraucht die Feder oder den Pinsel, schlägt nieder, erwürgt, drückt die Brust, reißt ab, streichelt, liest beim Blinden, spricht beim Stummen, beschwört, droht, nimmt entgegen, trommelt, gibt zu essen oder zu trinken, macht sich zum Zähler, Alphabet, Werkzeug, streckt sich dem Freund entgegen oder dem Feind; und abwechselnd instrumental, symbolisch, rhetorisch, mystisch, geometrisch, arithmetisch, prosodisch, rhythmisch. Universalakteur, Generalagent, Initialinstrument.“8

    Kurz bevor sich die Rhythmen und Samples um die einzelnen Wörter und Wortgruppen herum erneut in eine zuvor im Stück erklungene Drum & Bass Intensität steigern, bricht der Sound ab; lediglich der uhrenhafte Puls geht weiter. Der Schauspieler wechselt ins Englische und spricht viel ruhiger, nachdenklicher:

    „Wie beurteilt einer, welches seine rechte und welches seine linke Hand ist? Wie weiß ich, dass mein Urteil mit dem der Andern übereinstimmen wird? Wie weiß ich, dass diese Farbe Blau ist? Wenn ich hier mir selbst nicht traue, warum soll ich dem Urteil der Andern trauen? Gibt es ein Warum? Muss ich nicht irgendwo anfangen zu trauen?“

    Daraufhin fährt er auf dem Puls von wiederkehrenden Basslinien und vereinzelten Klaviertönen begleitet fort:

    „Denn nimm an, du führst einem Blinden die Hand und sagtest, indem du sie deiner Hand entlang führst, ‚Das ist meine Hand‘; wenn er dich nun fragte ‚Bist du sicher?‘ oder ‚Weißt du das?‘, so würde das nur unter sehr bestimmten Umständen Sinn haben. Aber anderseits: Woher weiß ich, dass das meine Hand ist? Ja, weiß ich auch nur genau, was es bedeutet zu sagen, es sei meine Hand?  – Wenn ich sage ‚Woher weiß ich’s?‘, so meine ich nicht, dass ich um mindesten daran zweifle. Es ist hier eine Grundlage meines ganzen Handelns. Aber mir scheint, sie ist falsch ausgedrückt durch die Worte ‚Ich weiß…‘“9

    Reden die Hände bei einer Rede mit, dann arbeiten sie an einer Art Werkstück aus Luft, das den Aspekt einer Rede darstellt, dem man sich mit den Worten „ich weiß“ nur unzureichend annähern kann. Sie gestalten den vor-zeichenhaften Kern der Rede, ihren immer problematischen, unerwarteten, unsicheren, offenen Anteil. Sie markieren den experimentellen Charakter einer (rhetorischen) Erfahrung, ihr Unvorhersehbares.

    Doch das geschieht nicht im luftleeren Raum.  Die Hände sind Akteure eines kleinen Theaters der Gesten, wie es im Austausch zwischen Walter Benjamin und Bertolt Brecht diskutiert wurde. Schon vor seiner Begegnung mit Brecht hatte Benjamin über ein proletarisches Kindertheater geschrieben und dabei die Bedeutung der Geste betont, die „schöpferische Innervation der Hand“. Über Brechts episches Theater schreibend bestimmt er die „Geste als sein Material“ und übernimmt die Brechtsche Formulierung über das „oberste Gebot“ dieses Theaters, dass nämlich „‚der Zeigende‘ – das ist der Schauspieler als solcher – ‚gezeigt werde‘“.10

    Dieses Prinzip des „Allen Haltungen sollte die Haltung des Zeigens zugrunde liegen“11, bedeutete ein ästhetischen Postulat zur Sichtbarkeit: Scheinwerfer sollten sichtbar sein, Auftritte, Bühnenelemente, Umbauten, Materialien, Konstruktionen, die Haltungen der Schauspieler bis hin zum Effekt der Verfremdung…12

    Brecht betonte vor allem zwei Aspekte des Gestischen. Der Schauspieler zeigt zum einen „Gesten, welche sozusagen die Sitten und Gebräuche des Körpers sind“13 – damit öffnet Brecht die Geste einer Politik der Körper. Zum anderen unterbricht die Geste blitzartig die lineare szenische Abfolge und somit den einfühlenden „Assoziationsmechanismus“ im Betrachter.14

    Brecht selbst hat seine „Technik der Geste nicht zuletzt der Rhetorik der biblischen Sprache abgeschaut“15, insbesondere der lutherischem Bibelübersetzung. Wenn zum Beispiel Luther übersetzt: „Wenn dich dein Auge ärgert: reiß es aus!“  und nicht „Reiße das Auge aus, das dich ärgert.“, kommentiert Brecht: „Der erste Satz enthält die Annahme, und das Eigentümliche, Besondere in ihr kann im Tonfall voll ausgedrückt werden. Dann kommt eine kleine Pause der Ratlosigkeit und erst dann der verblüffende Rat“.16

    Die Geste des Zeigens mit der Hand führt bei Walter Benjamin allerdings noch auf eine andere Spur. Folgende Notate finden sich im Protokoll zu Benjamins Haschischversuchen, aufgezeichnet vom befreundeten Arzt Wissing: „B. liegt, meistens mit geschlossenen Augen, völlig ruhig. […] Ca. ¼ Stunde nach Einsetzen der Wirkung hält er den Zeigefinder der l[inken] Hand steil in die Höhe, dies mindesten eine Stunde beibehaltend“.17 Diese Geste erscheint als bewusst eingenommen und willentlich aufrechterhalten. Ein späteres Notat im Protokoll: „V[ersuchs] P[erson] liegt noch in genau gleicher Lage, den Zeigefinger immer noch steil emporgestreckt, und deutet mir an, dass ich sehr viel versäumt hätte.18  Das Versäumte steht nicht im Protokoll. Doch bei allen Haschischversuchen im Frühjahr 1931 behält Benjamin diese Position bei. Es ist eben der Zeitraum, in dem er sich auch mit dem epischen Theater Brechts auseinander setzt und den seinerzeit unveröffentlichten Essay  „Was ist das epische Theater.  Eine Studie zu Brecht“ verfasst. Zumindest in dieser Hinsicht sind Benjamins Versuchsanordnungen ein „echtes Experiment, ein Testlauf von Brechts Modell unter Extrembedingungen, und im Medium des Witzes!“.19

    Später (1933/34) kommt Walter Benjamin im Zusammenhang von sprachtheoretischen Studien im Umkreis des mimetischen Vermögens20 darauf zurück. In das Verhältnis von Wort, Ding und Schrift führt Benjamin als vermittelnde physische Aktivität die Gebärdensprache ein, also mit Brechts Worten das Gestische.

    Dabei erscheint Benjamin die Hand als das „wichtigste Vehikel“ der Gebärdensprache und die Sprache der Hand die „älteste, auf die wir stoßen“. Das zeigten ethnologische Studien, die Benjamin diskutiert. Noch vor der „artikulierten Lautsprache“, besaß der Urmensch mit der Hand ein „angepasstes Werkzeug“ des Zeigens, was ihn von der übrigen Tierwelt unterschied. Die Hand, bzw. die Hände waren „die Zunge des Menschen“. Anders gesagt stellten „Handbewegungen, Minenspiel“ und Körperbewegungen überhaupt, die ersten sprachlichen Mittel des Menschen dar.  Die Geste des Zeigens als „Arm- und Fingergeste des Menschen, der unser Zeigefinger den Namen verdankt“, hätte demnach nicht nur eine „zeitlich genetische, sondern eine strukturbestimmende Bedeutung im Sprachgeschehen“. Die Sprache selbst entstünde „im Schnittpunkt“ einer „Intelligenzkoordinate“ und einer „gestischen Koordinate“. Letztere setzt  sich aus Hand und Laut zusammen. Sprache ist somit an die Gebärde/Geste gebunden. Das „phonetische Element“ der Sprache, „ist Träger einer Mitteilung, deren ursprüngliches Substrat eine Ausdrucksgebärde war“, fasst Benjamin zusammen.21

    Das kleine Theater der Hände aus rhetorischem Zusammenhang auszuschließen heißt demnach, das ursprüngliche Substrat der Ausdrucksgebärde aus dem Reden ausschließen, bzw., schlimmer noch, die Verbindung zwischen Denken und Körper zu kappen. Darin hat nicht zuletzt die homiletische Praxis der christlichen Kirchen eine lange Tradition mit verheerenden Folgen bis auf den heutigen Tag. Ihr kann nur mit einer Befreiung begegnet werden. Eine solche beginnt wiederum mit einer Geste der Hände, dem uprising.22

    Unter diesem Titel: Soulèvements/Uprisings hat in jüngster Zeit Georges Didi-Huberman eine Ausstellung im Pariser Museum Jeu de Paume erarbeitet (2016/17). In der zweiten Abteilung der Ausstellung spürt er der Geschichte der Gesten bei Aufständen nach, von alten Malereien, über De Goyas Revolutionsbilder, bis zu heutigen Kunstwerken und Dokumenten von Demonstrationen in aller Welt. In ihrem Zentrum steht das protestierende Erheben der Hände. Noch vor jeder konkreten Aktion ist das Erheben der Arme und Hände eine einfache Geste, die eine Last von sich wirft. Diese einfache Geste bricht mit der Gegenwart und streckt „die Arme einer Zukunft entgegen, die sich öffnet“. Sie ist ein „Zeichen der Hoffnung und des Widerstandes“.23

    Von hier aus erhellt gestisch das liturgische sursum corda aus der eucharistischen Liturgie seinen homiletischen Sinn: Erhebet die Hände! und öffnet dem jesuanischen Psalmzitat: in manos tuas, pater… seine eigentliche Perspektive: einen häretischen Imperativ… 24

     

  • Rätsel mit und ohne L

    Auf einer elliptischen Bühne sitzt ein Junge. Auf dem Boden der Bühne leuchten Kreise, Ellipsen, Linien. Kosmische Umlaufbahnen, Zeichnungen geometrischer Berechnungen?  Zuschauer sitzen in einer Arena um die Bühne herum. Am oberen Rand stehen schwarz gekleidete Sängerinnen und Sänger, die Gewänder rauschend eingezogen waren.

    Es kommt eine Frau in Schwarz auf die Bühne (Lydia Koniordou). Ihr Gesicht ist weiß geschminkt. Sie trägt rotes zurückgebundenes Haar. Mit kraftvoll sinnlicher Stimme spricht sie Texte aus der Bibel, den Beginn der Schöpfung1, das Damaskus-Erlebnis des Paulus2, Ausschnitte aus Paulusbriefen3  und aus der Apokalypse4. Sie spricht die alten Texte in griechischer Sprache, zelebriert die Konsonanten und Vokale. Man versteht nur einzelne Worte, ab und zu. Es ist, als ob eine Prophetin spräche, ihre Worte haben magische Kraft, sie beschwören.

    Der Junge – ebenfalls schwarz gekleidet, mit rotem Haar, das Gesicht weiß geschminkt – unterbricht sie  gelegentlich mit merkwürdigen Geräuschen, eine Art Hundegebell. Die Prophetin geht im elliptischen Rund umher und lässt Offenbarungsworte hören, wie sie bei der Schöpfung der Welt erklungen haben mögen, als sich die Umlaufbahnen eingependelt haben um Gravitationen herum. Creatio und apokalypsis – dasselbe.

    Der Junge verharrt an seinem Platz. Trotz der Dunkelheit herrscht eine heitere Atmosphäre nicht zuletzt wegen seiner merkwürdigen Geräusche. Dann erhebt er sich und erzählt ein Rätsel. Nach jeder Zeile unterbricht er mit seinem merkwürdigen, hohen Geräusch, wobei er seine Hände und Arme ruckartig übereinander bewegt:

    Ich weiß ein Wort, das hat ein L;

    Wer das sieht, der begehrt es schnell.

    Wenn aber das L weg und fort ist,

    Nichts Besseres im Himmel und auf Erden ist.

    Hast Du nun einen weisen Geist,

    So sage mir, wie das Wörtlein heißt.

    Der Junge amüsiert sich sichtlich über sein Rätsel, das er Zeile für Zeile wie Zaubersprüche darbietet. Als Zuschauer hat man den Eindruck, man schaue der vor Gott spielenden Weisheit (Spr 8) zu, wie sie das Welträtsel als Zauberspruch stellt. Dann läuft der Junge ab. – Ob Gott sich auch amüsiert?

    Es erklingt die Motette „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf“ von Johann Sebastian Bach (BWV 226). Als Zuschauer sitzt man mitten drin. Unten kosmische Karten auf dem Bühnenboden. Oben Klang. Alles gerät in Bewegung und findet seine Umlaufbahnen um klangliche Gravitationen…

    Der amerikanische Theatermann Robert Wilson hat als offiziellen Beitrag zum Lutherjahr im Berliner Pierre Boulez Saal gemeinsam mit dem Rundfunkchor Berlin einen Abend zu Martin Luther inszeniert. Er hat in seiner geheimnisvollen Art, ebendiesem Lutherjahr einige Dimensionen hinzugefügt, die ihm ansonsten gefehlt haben.

    Der Unterschied liegt im L.5

    Um das zu erkennen, muss das Rätsel des Jungen gelöst werden. Er wird am Ende des Abends wieder kommen und das gesamte Spiel  mit seinem rätselhaften Zauberspruch beschließen und sich zugleich darüber amüsiert haben  – zwischendurch war er u.a. als rot gewandeter Vogel mit riesigem Schnabel aus dem Bilderuniversum des Hieronymus Bosch aufgetaucht, gefolgt von einem Teufelskarren, umgeben von anderen Figuren mit Steinen, Flügeln, Stöcken, umklungen von anderen Bachmotetten. Ein Streitgespräch zwischen Luther und Kajetan von dem man nicht viel versteht außer, dass auch die Streitenden sich nicht verstanden haben können. Luther auf dem Totenbett: „Du bist unsers Herrn Gottes Närrchen…“:

    Ich weißt ein Wort, das hat ein L;
    Wer das sieht, der begehrt es schnell.
    Wenn aber das L weg und fort ist,
    Nichts Besseres im Himmel und auf Erden ist.
    Hast Du nun einen weisen Geist,
    So sage mir, wie das Wörtlein heißt.

    Der Blick ins Programmheft hilft, das Rätsel zu lösen: dort steht in Klammern vor der Quellenangabe “Aus Luthers Tischreden“: „Gemeint ist ‚Gold‘ – ‚God‘  für ‚Gott‘.“6

    Noch ein weiteres Rätsel gibt spätestens der Blick ins Programmheft frei. Als Epilog tritt Luthers Frau auf und spricht folgenden Text7:
    Sorrow is my own yard
    where the new grass
    flames as it has flamed
    often before but not
    with the cold fire
    that closes round me this year.
    Thirty five years
    I lived with my husband.
    The plum tree is white today
    with masses of flowers.
    Masses of flowers
    load the cherry branches
    and color some bushes
    yellow and some red
    but the grief of my heart
    is stranger than they
    for though they were my joy
    formerly, today I notice them
    and turn away forgetting.
    Today my son told me
    that in the meadows,
    at the edge of the heavy woods
    in the distance, he saw
    trees of white flowers.
    I feel that I would like
    to go there
    and fall into those flowers
    and sink into the marsh near them.8

    Überraschende Worte aus dem Munde von „Herrn Käthe“ wie Luther seine Frau zu nennen pflegte. Noch einmal mehr überrascht dieser berührende Einblick in das verschwiegene Innenleben dieser Frau, wenn man feststellt, dass diese Worte gar nicht ihre Worte sind, sondern die Worte des Amerikanischen Dichters William Carlos Williams. Sie tragen den Titel „The Widow’s Lament in Springtime“.

    Fast unmerklich kommt hinzu, dass diese Worte auch nicht von der Darstellerin (Kirsten Burger), also von Luther‘s wife selbst, sondern von einer anderen Schauspielerin – Fiona Shaw – gesprochen, und als playback zugespielt werden. Spätestens jetzt wird deutlich, dass es sich hier nicht nur um Worte eines verschwiegenen Innenlebens einer Frau handelt, sondern, dass hier gezeigt, bzw. diskret hörbar gemacht wird, dass eine Frau zum Schweigen gebracht wurde.

    Das zum Schweigen-Bringen von Frauen ist seit der Antike eine „wirkmächtige Kulturtechnik“9. „Von der in eine Kuh verwandelten Io, die nur noch Tiergeräusche machen kann, über die Muse Echo, deren Stimme nie die eigene ist, bis hin zu Penelope, der ihr halbwüchsiger Sohn über den Mund fährt“10, auch Maria Magdalena, Lydia, Junia, und Phoebe wurden derart ihrer Stimme beraubt, dass man von „Jesus und [den] verschwundenen Frauen“11 sprechen muss.  Und diese Tradition reißt im späteren Christentum bis heute nicht ab.

    Als  „akusmatischen Stimme“12 , deren erzeugender Körper unsichtbar oder abwesend, jedenfalls von ihm getrennt bleibt, macht der Theaterregisseur hier eine Stimme zum Medium des Über- bzw. Nachlebens einer Frau, Luthers wife. Die „Körperspur“  einer Stimme wird das trauernde Echo eines abwesenden Körpers, einer abwesenden, zum Schweigen gebrachten Person und somit zu einer Utopie ihrer Auferstehung.

    Am Ende des Römerbriefes (16,1), schreibt Paulus von einer Frau mit Namen Phoebe. Er nennt sie – wie sich selbst auch – Diakonin. Sie ist offenbar von Korinth allein nach Rom gereist und hat den Brief des Paulus überbracht, was so viel hieß wie ihn vorgetragen und kommentiert.  –  Unter den zu Anfang der Inszenierung in griechischer Sprache rezitierten Texten befanden sich auch Ausschnitte aus dem Römerbrief (Röm 11, 33-36; Röm 8, 14-16, 38-39). Sie hatten dieselbe stimmlich-sprachliche Wucht wie die Abschnitte aus der Apokalypse.  –  Hatte so der Brief des Paulus aus dem Mund der Phoebe geklungen? Wie hatte Phoebe Paulus‘ Worte kommentiert?

    Der streitbare Berliner Medientheoretiker Friedrich Kittler vertrat die These, Paulus habe die Auferstehung bei Euripides abgeschrieben13. Man muss dieser These nicht zustimmen, um Einflüssen der griechischen Kultur in den Schriften des Paulus nachforschen zu können. Was, wenn Paulus nicht nur Euripides, sondern auch Sophokles gelesen und von ihm abgeschrieben hätte?  Und zwar von seiner Tragödie „Antigone“? Dann ließe sich seine Auseinandersetzung mit dem Gesetz im Römerbrief nicht nur vor jüdischem Horizont lesen, wie es zum Beispiel Jacob Taubes14 vorgetragen hat, sondern auch vor griechischem.

    Folgt man nämlich bei der Lektüre der „Antigone“ von Sophokles nicht der weitverbreiteten Vorstellung Hegels, der den tragischen Kern des Stückes „in der dramatischen Kollision von Staatsgesetz und Familienpflicht als zwei gleichermaßen berechtigten sittlichen Zwecken“ sah, und macht „in einem höchst widersprüchlichen dramaturgischen und dialogischen Procedere das Positionen-Haben selbst zum Problem“, dann sieht man in der Tragödie nicht nur Meinungen konfrontiert, „sondern Arten des Meinens“15. Dann geht es nicht „um zwei Auffassungen der Priorität eines Gesetzes über ein anderes, sondern um zwei Auffassungen dessen, was ein Gesetz eigentlich sei“16.

    „Das Gesetz als etwas Gegründetes steht gegenüber einem Gesetz als etwas wesentlich Grundlosem, allenfalls erst noch zu Gründendem; Das Gesetz als Gewissheit  steht gegenüber einem Gesetz des Ungewissen; Dem Performativ des (Absolut-)Setzens gegenüber steht das Performativ des Fragens, Zweifelns, Begrenzens. Antigones Rede verlangt nicht ein anderes Gesetz, sondern ihrer Form nach verlangt sie nach einer anderen Art von Gesetz, einem ‚Nicht-Gesetz(t)‘ einer Gerechtigkeit außerhalb aller Norm.“17

    Was hier für den Begriff des Gesetzes skizziert ist, ließe sich auf weitere Themenfelder wie Familie, Staat, Verwandtschaft, Opfer, Tod  u.a. ausweiten18

    Wenn Antigone in unserer Lesart auch eine „akusmatische Stimme“ im literarischen Sinne wäre, so bringt sie doch das Echo eines abwesenden Körpers, einer abwesenden Frau zum Ausdruck. Der „Körperspur“ einer zum Schweigen gebrachten Frau wie Phoebe zum Ausdruck zu verhelfen und damit ihrem „Recht zu erscheinen“19 zu entsprechen, müsste man mit Techniken der Rekonstruktion experimentieren, wie sie auf Theaterbühnen erfunden werden.


  • Wer da?

    Der berühmteste Student der lutherischen Universität Wittenberg ist Hamlet. Glaubt man William Shakespeare, so hat Hamlet an Martin Luthers Universität in Wittenberg studiert.Als Luthers Schüler wird Hamlet im Allgemeinen nicht verstanden, obwohl einige seiner bekannten Sätze sich passgenau auf lutherische Positionen beziehen lassen.

    So die einfache Frage „Wer da?“, mit der sein Stück beginnt.2  „Wer da?“ ist nämlich die entscheidende Frage auf die Aussage des Paulus im Römerbrief, der Glaube komme aus dem Hören, ex auditu.

    Hamlet auf Luther zu beziehen heißt, Texte gegen den Strich zu lesen. Um es mit den Worten des englischen Theaterregisseurs Gordon Craig zu sagen: „Sehen Sie, es wäre gut, ab und zu etwas auszuprobieren, ganz und gar absurde Versuche zu machen. Es ist unwichtig, ob diese Versuche gelingen oder nicht. Es wäre gut, sie zu machen. Zum Beispiel mit Shakespeare. Ich werde Ihnen das erzählen. Es wäre eine ganz und gar schreckliche Vorgehensweise… Wenn man ein Viertel des Textes nicht sagte… Weil, verstehen Sie, es geht den großen dramatischen Texten jetzt wie den Gebeten im Gottesdienst. Wenn ein Schauspieler beginnt: To be or not to be… und so weiter und so weiter, ist es als sagte er: ‘Vater unser, der du bist im Himmel’ und so weiter und so weiter, … man weiß, worum es geht.  – Nein. Genug davon…“3

    Es ist Nacht auf Schloss Helsingör an der dänischen Küste. Stellen wir uns leichten Nebel vor. Es ist diesig, wie man sagt. Wachen gehen in Rufweite auf und ab. Es schlägt Zwölf und ein Wächter mit Namen Bernardo, unterwegs zum Wachwechsel auf seinen Posten, hört etwas und ruft:

    Wer da?

    Oder – wir wechseln in Heiner Müllers Übersetzung4:

    Wer ist da?

    Und der Wächter auf seinem Posten, Francisco mit Namen, antwortet:
    Nein, antwortet mir. Steht und zeigt Euch!
    Bernardo antwortet:
    Lang lebe der König.
    Und Francisco ruft den, den er erwartet:
    Bernardo?
    Und der bestätigt:
    Er.

    Dann sehen sie sich und begrüßen sich:
    Francisco: Du kommst gewissenhaft auf deine Stunde.
    Bernardo: Es ist Schlag zwölf. Scher dich ins Bett, Francisco.
    Francisco: Für deine Ablösung den besten Dank. `s ist bitter kalt und mir ist flau ums Herz.
    Bernardo: War deine Wache ruhig?
    Francisco: Keine Maus hat sich gerührt.
    Bernardo: Nun, Gute Nacht! Wenn du Horatio und Marcellus triffst, die mit mir Wache stehn, treib sie zur Eile.

    Francisco glaubt sie zu hören und wir erleben die Prozedur zur Bestätigung noch einmal:
    Francisco: Halt, Ho! Wer ist da?
    Horatio: Freunde von diesem Boden
    Marcellus: Und Vasallen Dänmarks

    Francisco ist schon im Weggehen begriffen und ruft ihnen entgegen:
    Euch gute Nacht.
    Marcellus ist als erster angekommen und antwortet:
    Leb wohl Soldat. Wer hat dich abgelöst?
    Francisco: Meinen Platz hat Bernardo. Und gute Nacht
    Francisco geht ab und Marcellus ruft zu Bernardo:
    Holla, Bernardo!

    Bernardo sieht ihn noch nicht und ruft:
    Wer – He, ist Horatio hier?
    Horatio ist fast da und sagt:
    Ein Stück von ihm.
    Und einen Moment später begrüßen sie sich:
    Bernardo: Gruß Euch, Horatio, Gruß Euch auch, guter Marcellus.

    In dieser kleinen Anfangsszene (I, 1) – einem klassischen Wachwechsel – bekommen wir ein ganzes Konzept vorgeführt, das punktgenau auf die paulinische Aussage ex auditu trifft.

    Ex auditu ist die lateinische Version eines zentralen Begriffes aus dem Römerbrief des Paulus im Zusammenhang mit dem Glauben und heißt auf Deutsch: aus dem Hören. Wenn man wissen will, was das bedeutet, ex auditu bzw. aus dem Hören, dann kann man verschiedene Fragen stellen. Die Frage, die Shakespeare uns hier vorschlägt lautet:

    „Wer da?“ oder „Wer ist da?“  Als Antwort auf diese Frage, gibt man sich zu erkennen, wie in unserer Szene. Herrscht an diesem Punkte Unklarheit wird die Frage „Wer ist da?“ verstärkt durch die Aufforderung: „Steht und zeigt euch!“ Dann begrüßt man sich und beginnt, sich auszutauschen und dieser Austausch mündet in eine Begegnung, was so viel ist wie ein  Experiment, also eine Versuchsanordnung, eine neue Erfahrung.

    Horatio: Nun, hat das Ding sich wieder gezeigt heute Nacht?
    Bernardo: Ich habe nichts gesehn.
    Marcellus: Horatio sagt,`s ist unsre Phantasie und will dem Glauben sich nicht unterwerfen an dieses Schreckbild, zweimal gesehn von uns. Deswegen bat ich dringend ihn, zu wachen mit uns durch die Minuten dieser Nacht, damit, wenn wiederkommt diese Erscheinung, er Augenzeuge sei und spricht sie an.
    Horatio: Pah, sie wird nicht kommen.
    Bernardo: Setzt Euch eine Zeit. Noch einmal wolln wir Euer Ohr belagern, das so verschlossen ist unserm Bericht, was wir zwei Nächte sahn.
    Horatio: Schön, sitzen wir und hören, was Bernardo sagt davon.

    Bei der Einführung in die Versuchsanordnung ist es ebenfalls entscheidend, wer etwas sagt, nämlich derjenige, der eine Erfahrung schon gemacht hat. Das besondere an dieser Schilderung ist, dass die Erzählung zusammenfällt mit einer Wiederholung der Erfahrung:

    Bernardo beginnt von der Erscheinung eines Geistes5 zu erzählen und der Geist des verstorbenen Vaters erscheint wieder. Diesmal sieht ihn nicht nur der Soldat, sondern der extra hinzugezogene Freund von Hamlet, Horatio, der übrigens auch in Wittenberg studiert hat. Dieser Freund wurde hinzugezogen, um nun seinerseits seine Erfahrung Hamlet zu Gehör bringen zu können. Wieder kommt es auf das „Wer“ an.

    Die nächste Szene (I, 2)  spiegelt direkt unsere Anfangsszene. In ihr trifft Horatio am nächsten Morgen auf Hamlet und berichtet ihm von dem, was er nachts gehört und gesehen hatte. Die Szene zwischen Horatio und Hamlet ist eine Variation der ersten geschilderten Szene: Damit etwas gehört werden kann, muss wieder festgestellt werden, wer spricht. Aber die Erzählung des Horatio führt nicht direkt zu einer neuen Versuchsanordnung, also einer erneuten Erscheinung des Geistes, sondern bereitet diese vor. Und diese neue Erscheinung wird eine andere Qualität haben. Im Unterschied zu den ersten Erscheinungen des Geistes, bei denen kein Kontakt mit ihm aufgenommen werden konnte, wird die kommende eine Kontaktaufnahme sein.  Und diese neue Erfahrung wird wiederum abhängig sein vom „Wer da?“.

    Wie verabredet kommt Hamlet gegen zwölf Uhr zum besagten Wachtposten und trifft dort auf Horatio und Marcellus. Und während sie noch sprechen, erscheint der Geist (I, 4).
    Horatio: Seht, Mylord, es kommt!
    Hamlet: Ihr Engel der Gnade, helft uns! Du kommst in so fragwürdiger Gestalt, dass ich dich anreden will. Ich nenn dich Hamlet Vater, König der Dänen. Antworte mir…

    Bei dieser Versuchsanordnung verändert sich die Frage „Wer da?“ direkt in eine Aufforderung: „Ich nenne dich – antworte mir!“  Im Folgenden differenziert sich die Erfahrung auf interessante Weise aus.

    Horatio: Es gibt Euch Zeichen, weg zu gehn mit ihm, als wenn es etwas mitzuteilen wünscht, Euch allein.
    Marcellus: Seht, wie mit höflicher Gebärde es Euch zu mehr entferntem Boden winkt. Geht aber nicht mit ihm.
    Horatio: Nein, keinesfalls.
    Hamlet: Es will nicht reden, also folg ich ihm.
    Horatio: Tut’s nicht, Mylord.
    Hamlet: Warum? Was soll ich fürchten?

    Dieses Zögern geht noch einige Repliken hin und her, bis Hamlet entscheidet und zum Geist spricht:
    Geh vor, ich folg dir.
    Hamlet folgt. Dann spricht er mit dem Geist:
    Hamlet: Wohin führst Du mich? Sprich. Ich geh nicht weiter.
    Geist: Hör mich.
    Hamlet: Ich wills.

    Zusammenfassend können wir mit der Shakespeareschen Frage „Wer da?“  auf die paulinische Formel ex auditu bezogen folgendes feststellen:  Mit der Fragestellung „Wer da?“ entsteht ein auf Antwort ausgerichteter Begegnungszusammenhang zwischen Personen verschiedener Art. In diesem Begegnungszusammenhang bringen sich die Beteiligten wechselseitig in Bewegung und verändern sich.

    Luthers Bezug zum paulinischen ex auditu ist ein anderer. Da ist zuerst Luthers Übersetzung des Römerbriefes im Neuen Testament. Bis in die Jubiläumsübersetzung von 2017 übersetzt Martin Luther ex auditu mit „aus der Predigt“. Die wörtliche Übersetzung „aus dem Hören“ wird lediglich mit einem Sternchen als Übersetzungsvariante angegeben.

    Auch in Luthers Vorlesung über den Römerbrief von 1515/16 – ein zentraler Text der Reformation – wird der entsprechende Vers 17 aus dem 10. Kapitel mit keinem Wort kommentiert, sondern flugs von Vers 14 auf Vers 20 gesprungen.6

    In einer anderen Vorlesung über den Galaterbrief, kommt Luther aufs Hören und erklärt, dass mit dem Hören „weder die Fähigkeit des Hörens noch der Hörvorgang gemeint“ sei, sondern sich das Hören „vielmehr auf die Sache bezieht, d.h. eben auf das Wort bzw. das mündlich gepredigte Evangelium“.7

    Und damit kommen wir auf den Punkt. Die Frage Martin Luthers nach der Bedeutung von ex auditu entspricht nicht der Frage „Wer da?“, sondern der Frage „Was?“. Wie in seinem „Kleinen Katechismus“ fragt Luther: „Was ist das?“
    Mit der Übersetzung „aus der Predigt“ grenzt Luther das Hören auf „Was?“, als eine Sache, eine sprachliche Form, eine Lehre ein. Und damit zugleich alle anderen Hörerfahrungen und die Frage nach „Wer da?“ aus.

    Luthers Übersetzung von  ex auditu / „aus dem Hören“ mit „aus der Predigt“ ist aber unmöglich ein Fehler, sondern Absicht und Strategie. Und mit der Übersetzung von ex auditu als „aus der Predigt“, scheut er sich nicht, seine theologische Strategie als Übersetzung in die Bibel selbst einzuschreiben.

    Bizarrer Weise kommt Martin Luther in einem Abschnitt seiner Obrigkeitsschrift, der davon handelt, wie Christen regiert werden sollen, darauf zurück: „Denn Christen müssen im Glauben regiert werden, nicht mit äußerlichen Werken. Glaube kann aber durch kein Menschen Wort, sondern nur durch Gottis Wort kommen, wie Paulus sagt Römer 10: ‚Der Glaube kommt durchs Hören, das Hören aber durchs Wort Gottis.‘ Welche nun nicht gläuben, die sind nicht Christen, die gehören auch nicht unter Christus‘ Reich, sondern unter das weltliche Reich, dass man sie mit dem Schwert und äußerlichem Regiment zwinge und regiere.  Die Christen tun von ihn selbs ungezwungen alles Gutes und haben gnug für sich allein am Gottis Wort.“8

    Lesen wir hier Luthers Übersetzung „aus der Predigt“ mit, so stellt sich die Predigt für den Christen als das heraus, was für den Nichtchristen Schwert und äußerliches Regiment sind. Luther versteckt in der Predigt das Hören als Gehorchen und beschränkt damit Sprache auf eine ihrer Funktionen, nämlich auf den Befehl.

    „Wörter sind keine Werkzeuge; aber man gibt den Kindern Sprache, Schreibstifte und Hefte, wie man Arbeitern Hacken und Schaufeln gibt. Eine Grammatikregel ist in erster Linie eine Markierung der Macht, und erst dann eine syntaktische Markierung. Der Befehl oder das Kennwort, die Parole, ist nicht von vorherigen Signifikationen abhängig, und auch nicht von vorherigen Organisationen distinktiver Einheiten. Es ist umgekehrt. Die Information ist nur das äußerste Minimum, das für die Ausgabe, Übermittlung und Beachtung von Anordnungen in Form von Befehlen notwendig ist. Man braucht nur soweit informiert zu sein, dass man Waffe nicht mit Waffel verwechselt […]. In jedem Befehl – auch in dem eines Vaters an seinen Sohn, ist eine kleine Todesdrohung enthalten – ein Urteil, wie Kafka sagen würde.“9

    Eine Beschränkung von ex auditu auf die Frage „Was?“ und deren Übersetzung mit „aus der Predigt“ verfolgt das Ziel von auf Gehorsam orientierten Unterscheidungen wie der zwischen Waffe und Waffel. Luthers Übersetzung entpuppt sich als Herrschaftsstrategie und hat bis über die Kriegspredigten des Ersten Weltkrieges hinaus auch als solche gewirkt.

    „Das Schwierige dabei ist, den Stellenwert und die Tragweite des Befehls zu bestimmen. Es geht nicht um einen Ursprung der Sprache, da der Befehl nur eine Sprach-Funktion ist, eine Funktion, die zur Sprache gehört. Wenn die Sprache immer Sprache vorauszusetzen scheint, und wenn man für sie keinen nicht-sprachliche Ausgangspunkt festmachen kann, so liegt das daran, dass die Sprache sich nicht zwischen etwas Geschehenem (oder Gefühltem) und etwas Gesagtem bildet, sondern dass sie immer von einem Sagen zum nächsten geht [d’un dire à un dire]. So gesehen glauben wir nicht daran, dass eine Erzählung darin besteht, zu kommunizieren, was man gesehen hat, sondern zu übermitteln, was man gehört hat und was einem ein anderer gesagt hat“10 [à transmettre ce qu’on a entendu, ce qu’un autre vous a dit 11].

    Gilles Deleuze nennt diesen sprachlichen Vorgang: „Vom Hörensagen“ [Ouï-dire]. Beim „Vom Hörensagen“ ist ein „Wer“ immer mitgedacht, denn man übermittelt das, was man gehört hat, was also ein anderer einem gesagt hat. Vom Hörensagen wäre die angemessene Übersetzung von ex auditu, wenn man den lutherischen Predigtimpuls mit berücksichtigen wollte. Wie müssten wir Predigt dann aber anders denken als eine Beschränkung auf das Was bzw. den Befehl?

    „Stellen Sie sich einen Liebenden vor, der die Frage ‚Liebst du mich?‘ mit dem Satz beantwortet: ‘Aber ja, du weißt es doch, ich habe es dir letztes Jahr schon gesagt‘.
    (Man kann sich sogar vorstellen, dass er diesen denkwürdigen Satz aufgezeichnet hat und sich damit begnügt, jene Frage mit einem Druck auf die Replay Taste seines Aufnahmegerätes zu beantworten, um so denn unbestreitbaren Beweis dafür zu liefern, dass er wahrhaft liebt…)
    Wie könnte er entschiedener bezeugen, dass er endgültig aufgehört hat zu lieben? Er hat das liebevolle Ersuchen als Informationsfrage aufgefasst.“ 12

    Der Liebende hat die Frage als Was-Frage verstanden und beantwortet.

    „Es ist durchaus möglich, dass der Liebende, sollte ihm der geforderte Sprechakt gelingen, einen Satz zur Antwort gibt, der wortwörtlich dem entspricht, den er tatsächlich ein Jahr zuvor äußerte. Vergliche man die beiden Aufzeichnungen, ließe sich formal kein Unterschied ausmachen.
    Umgekehrt mag es dem Liebhaber gelingen, dieselbe Liebe nicht durch die Wiederholung derselben Formel, sondern durch etwas ganz anderes auszudrücken, das mit dem Satz, auf den er sich beziehen soll, keinerlei Ähnlichkeit hat: durch eine Geste, eine Aufmerksamkeit, einen Blick, einen Scherz, ein Zittern in der Stimme.“13

    Der Witz dieser Kommunikationsform besteht nicht in seinem Bezug auf ein Was, sondern im Wer, der/die spricht. Was immer der Liebende sagt oder zum Ausdruck bringt, es wird „der Ton“ sein, die „Art und Weise, in der der Liebende dieses alte, verbrauchte Thema aufgreift“14.  [Aussi n’est-ce pas à la phrase même que l’amante s‘attachera, ni à leur ressemblance ni à leur dissemblance, mais au ton, à la manière, à la façon dont il reprendra, lui l’amant, ce vieux thème usé.15]

    „Mit bewundernswerter Präzision, sekundengenau wird die Liebende durchschauen, ob das alte Lied [ritournelle] den neuen Sinn eingefangen hat, den sie sich erhoffte, ob sie augenblicklich die Liebe ihres Liebhabers erneuert hat, oder ob die abgenutzten Worte den Überdruss an eine Beziehung haben durchscheinen lassen, die seit langem zu Ende ist.
    Folglich werden tagtäglich Sätze ausgesprochen, deren Hauptzweck nicht darin besteht, Referenzen nachzuzeichnen, sondern etwas ganz anderes [toute autre chose] hervorzubringen [produire]: Nahes oder Fernes, Nähe oder Distanz.“16

    Die einzige Referenz, die in der Kommunikation der Liebenden bleibt, ist die erste entscheidende Liebeserklärung. Was von ihr als Referenz bleibt, ist ihr Ton, ein Phänomen des Hörens. Ihr Ton muss sich in allen folgenden fortsetzen, muss irgendwie hindurch klingen durch die erklärende Person. Der Ton macht alle differenten Hervorbringungen als Liebeserklärungen wirksam, aktualisiert sie. Oder eben nicht.

    Zur Rede vom „Wer da?“ als wechselseitig transformierender Begegnungszusammenhang kommt also die akustische Dimension eines Tons hinzu. Sie bringt etwas hervor, schafft eine Nähe oder Ferne.

    Bruno Latour nimmt diese Erfahrung als grundlegend für die religiöse Rede, also die Predigt. Das heißt zuerst, es geht bei Predigten nicht um Informationsübermittlung oder Befehlsausgabe. Predigen ist das Produzieren von irgendetwas wie Nähe oder Ferne.

    Diese Art von Hörensagen, also einer Übermittlung dessen, „was man gehört hat und was einem ein anderer gesagt hat“ – ihren modus operandi – nennt Bruno Latour „wahrheitsgetreue Erfindung“: invention fidèle. 17

    Latour war darauf gekommen, als er den Deutschen Theologen Rudolf Bultmann und sein Konzept der Entmythologisierung studierte und ihn schließlich um 180 Grad drehte: „auch wenn Bultmann versuchte, Authentizität dadurch zu erreichen, dass er nach und nach jede sukzessive Ergänzung beseitigte, die durch lange Ketten christlicher Autoren in wilder Erfindung hinzugefügt worden waren – mit dem Ergebnis, wie Sie wissen, dass am Schluss seiner Geschichte der synoptische Tradition […] man nur noch mit drei oder vier ›genuin‹ aramäischen Sätzen dasteht, die von einem gewissen ›Joshua von Nazareth‹ geäußert wurden –; so gelangte ich durch meine Lektüre im Gegenteil zu dem Schluss, dass die Wahrheitsbedingungen des Evangeliums genau in diesen langen Ketten fortgesetzter Erfindungen lagen. Allerdings nur, sofern diese Erfindungen sozusagen in der richtige Tonart erfolgten. Von dieser Tonart, dieser Art, zwischen zwei entgegengesetzten Formen von Verrat zu unterscheiden […]: Verrat durch bloße Wiederholung, Verrat, indem man die anfängliche Intention verlor, das heißt den Geist, den Heiligen Geist.“18

    „Man muss erfinden, um der Wahrheit treu zu bleiben“.19 Unser Vorschlag zur Übersetzung von ex auditu wäre also um ein wahrheitsgetreues Erfinden zu ergänzen: „Vom Hörensagen als wahrheitsgetreues Erfinden“. Auf Luthers Bezug zur Predigt übertragen hieße das: Predigt ist ein Vom Hörensagen als wahrheitsgetreues Erfinden, das eine Erfahrung von Nähe oder Distanz hervorbringt, die man Glauben nennt.

    In seinem Kommentar zum Römerbrief des Paulus kommt Giorgio Agamben auf den Vers 17 im 10. Kapitel: „Der Glaube aus dem Hören, das Hören aus dem Wort des Christus“. Er bemerkt: „Aus der Perspektive des Glaubens bedeutet einem Wort zuzuhören nicht, die Wahrheit eines semantischen Inhalts festzulegen, aber auch nicht einfach auf das Verständnis zu verzichten.“20

    Damit öffnet Agamben eine ganz eigene Dynamik des Hörens zwischen Verständnis und Offenheit, zwischen Nähe und Distanz. Sie erhält ihre entscheidende Deutung aus dem zweiten Teil des Verses, den Agamben dazu mit „Wort des Messias“ übersetzt und damit auf die paulinische Argumentation unmittelbar vor Vers 17 verweist. Paulus bestimmt dort in seiner Lektüre einer Passage aus dem Deuteronomium (5. Moses 30,14) das Wort des Messias als ein „Wort der Nähe“ (Röm 10,8). Als ein solches Wort der Nähe lässt sich ein messianisches Wort im Unterschied zu einem Gesetz nicht auf eine bestimmte Bedeutung festlegen. Es enthält einen Überschuss an Bedeutung und stellt zugleich das Bedeuten selbst in Frage. Es unterwandert sich beständig selbst. Aristotelisch gesagt, bleibt es eine reine Möglichkeit des Sagens, die in keiner Wirklichkeit aufgeht. Im messianischen Wort bleibt immer ein Rest.

    Dennoch gibt es einen Sinn. Seinen Sinn „erwirkt“ ein solches messianisches Wort der Nähe „durch sein eigenes Ausgesprochen werden“21.  In Bezug auf das Hören fällt vom Ausgesprochen werden eine besondere Perspektive auf die Praxis des lauten Lesens22. Wenn im Hören von etwas, das ausgesprochen wird, immer ein Rest bleibt, so lenkt dieser Rest die Aufmerksamkeit auf eine andere Praxis.
    Hamlet nennt sie Schweigen (V, 2).


  • El africano

    Der spanische Dramatiker und Dichter Félix Lope de Vega Carpio (1562-1635) veröffentlichte im Jahre 1623 eine tragicomédia famosa mit dem Titel  El divino africano. Im Zentrum dieses Theaterstückes steht der Afrikaner Augustinus, der Bischof von Hippo. Zuzüglich zu den Confessiones, die die inhaltliche Grundlage des Stückes bilden, erfindet Lope de Vega ein Martyrium des Augustinus unter den Vandalen.

    Ob ein solches Martyrium dem Leben, Denken und Wirken Augustins folgerichtig oder angemessen ist, kann allerdings bezweifelt werden. Zu Augustins Zeiten hatte das frühchristliche Märtyrertum seine Blüte bereits hinter sich, war jedoch in seiner Resonanz stark genug, um Spuren in Augustins Schriften zu hinterlassen.

    Frühchristliche Märtyrerfiguren verstanden sich als Zeugen des Leidens Christi, passio, in Form einer Nachahmung, imitatio. Unter ihnen sind etliche Frauen, wie nicht zuletzt die Märtyrerakten der Heiligen Perpetua und Felicitas, Passio Sanctuarum Perpetuae et Felicitatis, bezeugen.

    In seiner Trostschrift an die Märtyrer, Ad martyres, die um 202 und damit etwa zur selben Zeit wie die Akten der  beiden Märtyrerinnen veröffentlicht wurde, vermutlich sogar an Perpetua gerichtet war1, verweist der afrikanische Theologe Tertullian auf Beispiele vorchristlicher heroischer Opferkultur als Märtyrer avant la lettre. Namentlich nennt er u.a. Lucretia. Hinzuzufügen wären biblische Vorläuferfiguren etwa bei (Deutero-) Jesaja (43,12; 33,8) und die euripidäische Alkestis und die sophokleische Antigone aus der Tradition der griechischen Tragödien.

    „Das Spezifikum der christlichen Märtyrerakten“ lässt sich „dadurch kennzeichnen, dass es in ihnen zu einer Engführung von martyrium mit Bekenntnis (confessio: „Christiana sum“), Standhaftigkeit (constantia) und Zeugnis (testimonium) kommt. Dafür ist nicht nur ihr Tod als Zeugnis ihres Bekenntnisses bedeutsam, sondern mindestens ebenso wichtig, dass dies in schriftlichen Zeugnissen überliefert wird, dass also Blutzeugnis und Schriftzeugnis verknüpft werden.2

    So kommentiert Augustinus in seiner Schrift De natura et origine animae (I, 10,12 und III, 9, 12) die Akten der Perpetua was nebenbei nicht unerheblich für deren Datierung ist.3 Von größerer Bedeutung ist allerdings der Niederschlag eines anderen Topos des Märtyrertums in Augustinus Schriften.

    Augustinus kommt darin auf Tertullian zurück. Der hatte in seiner Schrift Ad martyres einen eigenartigen Widerspruch zu seiner Schrift De spectaculis (vor 200) aufgemacht. In dieser Schrift hatte Tertullian die „Praxis der Athleten und ihre römische Übersetzung in die Gladiatorenspiele als Verkehrung der göttliche Ordnung“ dargestellt und klar verurteilt.4 In seinem Trostschreiben an die Märtyrer ermuntert Tertullian aber die Märtyrer, in der Arena wie Athleten, athletes, zu agieren im Kampf um die ewigen Siegeskranz, corona aeternitatis, von der Paulus schreibt5. Für die Akteure gilt als Handlungsanweisung, was für den Blick der Zuschauer verurteilt wird.6

    Der Blick der Zuschauer in der Arena steht im Zentrum von Augustins Rekurs auf dieses Thema im sechsten Buch seiner Confessiones. Darin beschreibt er das Erlebnis seines Schülers Alypius während eines Gladitorenspiels. Alypius ließ sich von früheren Freunden widerwillig überreden, mit ihnen zu den Spielen zu gehen. Er wollte dort anwesend und zugleich abwesend sein, also mit geschlossenen Augen, um seinen Triumph über das Geschehen auszudrücken. Anlässlich eines großen Geschreis in der Menge, öffnete er dennoch die Augen und es geschah, worauf es Augustinus mit dieser Schilderung ankommt: „Sobald er nämlich das Blut da gesehen hatte, überkam ihn auch schon die Sucht nach der wilden Lust; er wandte sich nicht etwa ab, sondern richtete gebannt seinen Blick auf das rasende Geschehen, genoss es in vollen Zügen, ohne es zu merken, ergötzte sich an dem verbrecherischen Wettstreit und berauschte sich an dem blutrünstigen Schauspiel. Er war nun nicht mehr der, als der er gekommen war, sondern einer aus der Menge, zu der er gestoßen war […]“7

    Diese Szene bildet den realen Hintergrund für ein ganzes Knäul von Fragestellungen, die bis heute nicht leicht zu entwirren und eben auch deshalb so folgenreich sind. Zum einen ist diese Szene ein erschreckend drastischer Beleg für die von Augustinus so gefürchtete Augenlust, die concupiscentia oculorum.

    Unmittelbar verbunden ist diese hier mit Blut. „Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“, heißt es im Matthäusevangelium (26, 28). In dieser Rede vom „für viel vergossen“ wird „die Szene der Passion Christi als Opfertod figuriert“ und somit als „ein Sühneopfer für die Menschen dargestellt“. Im Unterschied zu jüdischen Bundesvorstellung, in der tierisches Blut symbolisch versprengt wurde, um die Bundesworte zu beglaubigen (Ex 24, 8), beglaubigt hier „das tatsächlich vergossene Blut den neuen Bund“ und bezeugt „das stellvertretende Opfer für“. Damit „bricht das reale menschliche Blut wieder in die biblische Blutsymbolik ein und überschreitet die Gesetze des Symbolischen“.8 Blut ist hier nicht mehr Zeichen, sondern physisches Zeugnis. „Als Urbild des christlichen Opfers und als Vorbild der Imitatio Christi setzt dieses erste Blutzeugnis eine Bekenntniskultur in Gang, die notwendig blutig ist und zur Invention jener spezifischen Form der ‚Lebenshingabe‘ führt, die das Signum christlicher Heiliger ist.“9

    Unmittelbar damit verbunden ist das Abendmahl nicht nur mit Paulus auf der Folie eines jüdischen  Opfermahls deutbar (1 Kor 10, 14f), sondern wird bei Tertullian, selbst zum sacrificium. In diesem Zuge sind Märtyrer Blutzeugen und ihre Gemeinschaft nicht nur eine Gemeinschaft des Sterbens, sondern eine Gemeinschaft von conmartyres, die an die Stelle der leiblichen Verwandtschaft tritt, ja sogar konkret mit dieser in Konflikt gerät: „Das 6. Kapitel der Passio Perpatuae erzählt eindrücklich vom Opfer der familialen Bindung, insbesondere von der Missachtung der väterlichen Sorge durch die Tochter und der Sorge um da eigene Kind durch die Mutter, und zwar zugunsten des Bekenntnisses. Mehrfach tritt der Vater Perpetuas (pater meus carnalis) auf, fleht sie an, ihr Leben zu schonen, auf sein Alter Rücksicht zu nehmen und sich ihres eigenen Kindes zu erbarmen. In expliziter Entgegensetzung von leiblichem Bruder (frater carnalis) und Märtyrer-Brüdern kommt jene Entwertung der leiblichen Verwandtschaft zum Tragen, die mit der Begründung der christlichen ‚Gemeinde‘ einhergeht. Die consanguinitas/Verwandtschaft wird ersetzt durch die conmartyres, die leibliche Genealogie durch die Kette der Märtyrer: Substitution der Fortpflanzung durch das heilige Märtyrerblut.“10 Und niemand anderem als Tertullian wird die daraus folgende Spitzenformulierung zugeschrieben: semen est sanguis christianorum.11

    Diese Erfahrungen und ihre Deutungen und Deutungsverschiebungen bilden den Hintergrund für Augustins Erbsündenlehre. Wobei Augustinus seiner Schilderung des Blutrausches bei den Zirkusspielen folgend versucht, das „Märtyrerblut von dessen Nähe zu den Opferkulten zu reinigen und im Interesse der Keuschheit (wieder) symbolisch zu bändigen“12.

    Kurz vor der o.g. Geschichte des Alypius, zu Beginn des sechsten Buches der Confessiones, berichtet er von seiner Mutter, die den afrikanischen Gebräuchen folgend die Gedenkstätten der Märtyrer aufsuchte und dort sogenannte Totenopfer hinbrachte. Diese  ähnelten den damaligen heidnischen Gebräuchen so sehr, dass der Bischof sie verbot. Augustinus‘ Mutter folgte dem Verbot gehorsam. „Statt eines Korbes  voll von Erdfrüchten trug sie nun – das hatte sie gelernt – zu den Gedenkstätten der Märtyrer ihr Herz, voll von umso aufrichtigeren Gebeten. Sie gab nun den Armen, was in ihrer Macht stand, und sie feierte dort die Gemeinschaft mit dem Leib des Herrn, dessen Leiden die Märtyrer nachfolgten, wodurch sie geopfert und gekrönt worden sind.“13

    Mit der Formel vom „Herzen voll von umso aufrichtigeren Gebeten“ findet sich in Augustinus‘ Confessiones eine „Urszene für die Praxis einer Verinnerlichung“ markiert, „mit der die Passio in der Folge in eine Kulturgeschichte der passiones, der Leidenschaften überführt worden ist“.14

    Der Romanist Erich Auerbach hat diesen Umformungsprozess unter dem Titel „Passio als Leidenschaft“15 beschrieben, der sich in zahllosen Werken der  „europäischen Literatur- und Kunstgeschichte“ niederschlägt. Nicht zuletzt erlebt sie der „nachchristliche Hörer“ beim Hören der großen Passionsmusiken, wie der Bacheschen Matthäuspassion, bis heute.16

    Heute, in der realen heutigen Welt, erscheinen die Selbstmordattentäter auf den Bildschirmen wie unerlöste Wiedergänger von Märtyrern aus der alten Welt.17 Als Athleten der Aufmerksamkeit bedienen sie sich der Strategien des Konsumismus. Ein Effekt dieser vor allem auf Fernsehbilder ausgerichteten Präsenz besteht darin, die realen, leisen Martyrien zum Verschwinden zu bringen. Denn sie bleiben, ungeachtet ihrer Zahllosigkeit, in der Regel unbemerkt:

    El africano – eine Invention:
    Ich war Agostino aus einem Slum in Afrika. Ich lebte auf den Straßen einer Stadt in Europa. Das war anders als auf den Straßen Afrikas. Aber in mir fraß die Scham, die mein Herz war. Inzwischen schäme ich mich nicht mehr. „Willst Du mein Herz essen?“

    Ich bin Agostino und komme aus Afrika. Ich lebe auf den Straßen Europas. „Ich spiele keine Rolle mehr“. Ich frage nach Dir, Bruder: Lebst Du noch – in den Mauern des alten Europa? Wo bist Du?

    „Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung. Im Rücken die Ruinen von Europa. Die Hähne sind geschlachtet. Der Morgen findet nicht mehr statt. Something is rotten in this age of hope.“18

    The rest is silence.19

    Der Aufstand beginnt als Spaziergang. Wir werden mit versöhntem Herzen kämpfen, die Herren stürzen, ohne aber deswegen ihre Plätze einnehmen zu wollen. Wir werden ein kommendes Volk sein. Ein Volk von Pilgern, die nur das Nötigste besitzen, nein gebrauchen. Wir werden uns erkennen, an einem Lächeln im Gesicht. Und wir werden den Augenblick feiern …


     
  • Große(s) Leuchten und kleine Lichter

    In dem kleinen toskanischen Städtchen Bagno Vignoni befindet sich, wie der Name schon sagt, ein altes Bad, ein Thermalbad. Es ist der Heiligen Katharina von Siena gewidmet und steht im Zentrum des Filmes „Nostalghia“ von Andrej Tarkowskij. In Tarkowskijs Film wohnen in einem an das Bad angrenzenden Hotel die Kurgäste. Unter ihnen ein russischer Dichter. Er erscheint als lustloser Typ, bis er den merkwürdigen ehemaligen Mathematikprofessor Domenico trifft, der seinerseits vom Ende der Welt besessen ist, mehr noch davon, die Welt zu retten. Zwischen beiden entwickelt sich eine doppelgängerhafte Komplizenschaft. Bei einer Begegnung in seinem Haus bittet Domenico den Russen um einen Gefallen. Er solle eine brennende Kerze von einem Ende des Heilbeckens zum anderen tragen, sie dürfe dabei nicht verlöschen. Er selbst habe es immer wieder versucht, doch die Badegäste hätten ihn immer wieder daran gehindert, aus Angst, er wolle sich ertränken.

    Während nun später, gegen Ende des Films, Domenico auf einer Verrücktenkundgebung in Rom am Fuße der Reiterstatue Marc Aurels eine Rede an die Menschheit hält und sich selbst den Flammen übergibt, wird der russische Dichter an seine Bitte erinnert. Er fährt zurück nach Bagno Vignoni. Dort ist das Wasser des Beckens abgelassen, Reinigungsarbeiten haben begonnen. Wie abgemacht entzündet der Russe eine Kerze und versucht, sie durch das Becken zu tragen. Er beschützt die Flamme mit der Hand, doch zweimal bläst der Wind sie aus. Jedes Mal von Neuem beginnend, gelingt es ihm beim dritten Mal, die Kerze brennend durch das Becken zu bringen. Ist die Welt gerettet? Er bricht vor Erschöpfung zusammen. Ende des Films. Die Zuschauer müssen selbst entscheiden.

    Tarkowskij war überzeugt, dass immer wieder ausgeführte, ans Absurde grenzende Rituale die Welt retten. Hier nutzt er die alte Tradition nicht nur russischer Christen, die in der Osternacht versuchen, eine kleine Kerze mit dem Osterlicht brennend nach Hause zu tragen, und gestaltet sie gleichzeitig um, nimmt sie aus dem gottesdienstlichen Zusammenhang heraus und versetzt sie in dieses alte Heilbad, aus dem das Wasser bereits abgelassen wurde und auf dessen Grund buchstäblich der Schrott des Lebens herumliegt.

    Sieht man mit Dantes Dichtung über dieses Leben hinaus, so wird die erlöste Welt von einem großen Leuchten, einer Überfülle paradiesischen Lichtes (luce) erleuchtet sein. Selbst das Kreuz Christi ist Licht: „Von einem Kreuzarm zum anderen und zwischen oben und unten bewegten sich Lichter. Wenn sie sich begegneten oder überholten, blitzten sie stark auf. Das sah aus wie bei uns die winzigen Staubteilchen, die gerade oder gekrümmt, schnell oder langsam, lang oder kurz bei ständig wechselndem Anblick in einem Lichtstrahl schweben, wie er manchmal in den Schatten fällt, den die Leute, um sich zu schützen, mit Einfallsreichtum und Technik schaffen. Und wie Geige und Harfe in harmonischer Abstimmung vieler Saiten einen harmonischen Ton erklingen lassen, der auch dem süß klingt, der die Tonfolge nicht erfasst, so vernahm man von den Lichtern, die mir dort erschienen, von dem Kreuz her eine Melodie, die mich hinriss, auch wenn ich den Hymnus nicht verstand. Wohl verstand ich dass es ein hohes Loblied war, denn so etwas wie ‚auferstehst‘ und ‚siegst‘ drang an mein Ohr wie zu einem, der hört, aber nicht versteht. Ich verliebte mich so sehr darein, wie bis dahin mich noch nie etwas mit süßen Banden gefesselt hatte.“1

    Die kleinen Lichter (lucciola) in diesem Universum finden sich jedoch an anderer Stelle, nämlich im achten Höllenkreis. Das ist der politische Bezirk, „denn man erkennt einige Honoratioren aus Florenz wieder, die sich dort gemeinsam mit anderen als ’trügerische Ratgeber‘ in der Verdammnis versammelt finden. Der ganze Raum ist mit Flämmchen übersät – bestirnt, befallen –, die Glühwürmchen [lucciole] ähneln, wie man sie in schönen Sommernächten auf dem Lande hie und da umherfliegen sieht, in der Willkür ihres sprunghaften, diskreten, flüchtigen Leuchtens.“2

    Im Vergleich zu den Dante‘schen Beleuchtungsverhältnissen kommt es zu Beginn der vierziger Jahre des 20. Jahrhundert zu einer kompletten Umkehrung. Der europäische Kontinent, Nordafrika, mehr und mehr die ganze Welt, befinden sich im Krieg. „Auf der einen Seite: die Scheinwerfer der Propaganda, die den faschistischen Diktator mit einem Nimbus von blendendem Licht umgeben; aber auch die starken Scheinwerfer der Flugabwehr, die am dunklen Himmel den Feind verfolgen, die ‚Spotlights‘ – wie man beim Theater sagt – der Suchscheinwerfer, die von den Wachtürmen der Lager aus dem Feind nachstellen. Es ist eine Zeit, in der sich die ‚trügerischen Ratgeber‘ in ihrem Ruhmesglanz sonnen, während sich die Widerständigen aller Art, ob sie nun aktiven oder ‚passiven‘ Widerstand leisten, in flüchtige Glühwürmchen verwandeln, um sich so diskret wie möglich zu geben, während sie unentwegt ihre Signale senden.“3

    In dieser historischen Situation, in der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar 1941, beschreibt der Dantekenner Pier Paolo Pasolini in einem Brief folgende Begebenheit: Im jugendlichen Ungestüm einer mondlosen Nacht in Bologna zogen Pasolini und eine Gruppe von Freunden nach dem Essen „nach Pieve del Pino“ hinauf und haben dort „eine Unmenge von Glühwürmchen“ gesehen. Sie bildeten „Feuerwäldchen in den Sträucherwäldchen“, und „wir beneideten sie, weil sie sich liebten , weil sie einander mit Licht und Liebesflügen suchten, während wir teilnahmslos und lauter Männer auf unfruchtbarer Irrfahrt waren.“4 Auf dem Gipfel dieses Hügels angekommen, schlug die Situation plötzlich um: „Von dort sah man deutlich zwei sehr ferne und wilde Scheinwerfer, mechanische Augen, vor denen es kein Entrinnen gab, und da erfasste uns schreckliche Angst, entdeckt zu werden, während Hunde bellten, und es kam uns vor, als seien wir schuldig, und wir flohen auf dem Bergrücken, dem Hügelkamm.“5 Schließlich ruhten die jungen Leute in Decken gehüllt auf einer Lichtung. Bei Sonnenaufgang tanzte Pasolini allein im Licht, nackt „wie ein leuchtender Wurm“6, ein Glühwürmchen.

    Der „Tanz der Glühwürmchen“ ist jener „Moment der Grazie und der Gnade [grâce], der der Welt des Schreckens widersteht“, er ist zugleich „das Flüchtigste und das Fragilste, was es gibt“.7

    In seinem eigenen Glühwürmchen-Werden entdeckte Pasolini eine Verkörperung des Widerstandes. Überraschender Weise verbindet Pasolini seinen eigenen Protest mit dem Luthers. Eine Sammlung von Veröffentlichungen, meistens hochpolitische Artikel für italienische Tageszeitungen, betitelt er mit: Lutherbriefe, lettere lutherane.

    Auf die Nacht genau vierunddreißig Jahre später, am 1. Februar 1975, veröffentlicht Pasolini einen Artikel in einer großen italienischen Tageszeitung über die politische Situation seiner Zeit. Darin analysiert Pasolini, inwiefern der Faschismus der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhundert in Italien fortgelebt hatte und schleichend zu einem „Verschwinden des Menschlichen“8 führe, das parallel zum „Verschwinden der Glühwürmchen“9 durch Umweltverschmutzung stattfinde. Pasolini geht so weit, diesen „kulturellen Niedergang“ als „kulturellen Völkermord“10 zu bezeichnen.

    Menschen wie „Glühwürmchen aber sind verschwunden in dieser Epoche der industriellen und konsumistischen Diktatur, in der sich letztlich jeder wie eine Ware im Schaufenster zur Schau stellt […]. Auf diese Weise wird die staatsbürgerliche Würde gegen ein Spektakel getauscht, das endlos in Geld umgesetzt werden kann. Die Scheinwerfer haben den gesamten gesellschaftlichen Raum besetzt, niemand entgeht mehr ihren ‚wilden mechanischen Augen‘. Und das Schlimmste ist, dass alle Welt damit zufrieden zu sein scheint, da man glaubt, sich wieder schön heraus putzen zu können, indem man von dieser triumphalen Industrie der politischen Zurschaustellung profitiert.“11

    Nicht nur vor diesem Hintergrund ist es von erregender Aktualität und Hellsichtigkeit, wenn der Berliner Theaterregisseur Frank Castorf in seiner Inszenierung der „Brüder Karamasow“ von Dostojewskij, die berühmte Legende vom Großinquisitor von einem Schauspieler auf dem Dach der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, umgeben von den nächtlichen Reklamelichtern Berlins im Zentrum der Konsum- und Warenwelt spielen lässt. Der Schauspieler mit einer glühenden Zigarette in der Hand…

    Der französische Philosoph Georges Didi-Hubermann, der den Gedanken Pasolinis und auf ihn Bezug nehmenden Denkern nachgeht, fragt sich allerdings, ob die grelle Beleuchtung der Selbstdarstellung tatsächlich den Menschen zum Verschwinden gebracht hat und die (Licht-) Verschmutzung die Glühwürmchen. Didi-Huberman suchte in Italien auf den Spuren Pasolinis nach Glühwürmchen und findet sie. Kurz darauf waren sie wiederum verschwunden und Huberman entdeckte, dass sie überlebten, indem sie flüchteten und umherzogen. Um sie zu sehen, müsse man mit ihnen in Bewegung bleiben, man müsse sie „in der Gegenwart ihres Überlebens sehen: Man muss sie inmitten der Nacht lebendig tanzen sehen, mag das Dunkel dieser Nacht auch von irgendwelchen wilden Scheinwerfern bestrichen werden. Und sei es auch nur für kurze Zeit. Und mag es auch wenig zu sehen geben: Es braucht an die fünftausend Glühwürmchen, um ein Licht zu erzeugen, das dem einer einzige Kerze entspricht.“12

    Im zweiundzwanzigsten Buch seines Gottesstaates, De Civitate Dei, in dem es um die Lage der Engel und Menschen, die Auferstehung und die Seligkeit geht, schreibt Augustinus im 24. Kapitel einen Abschnitt über die Fortpflanzung. Nachdem er ausführlich das angestammte Übel, was zweierlei in sich schließt, nämlich die Sünde und die Strafe, behandelt hat, will er nun (am Ende doch), zum angestammten Gut kommen, das ebenfalls zweierlei in sich schließt, nämlich Fortpflanzung und Arterhaltung. Der Mensch zeuge zwar, nachdem er gefehlt hatte und den Tieren gleichgestellt wurde, nach der Art der Tiere, „nur dass in ihm immer noch der Gottesfunke glimmt in der Vernunft, worin er nach Gottes Bild erschaffen ist“, quaedam uelut scintilla rationis, in qua [homo] factus est ad imaginem Dei.13

    Mit seinen Gedanken zu den Glühwürmchen als kleine Lichter öffnet Pasolini, an den rebellischen Impuls lutherane anknüpfend, einen Weg in die Gedankenwelt des Augustinus, der für Luther selbst im Dunklen blieb. In der Verschattung des Menschen durch die Erbsünde glüht ein kleines Licht, eine scintilla. Wohl wissend, dass zur Fortpflanzung ein Begehren gehört, wie beim Leuchten der Glühwürmchen auch.

    In einer Predigt über das große Abendmahl bei Lukas14 kommt Meister Eckhart auf die scintilla bei Augustin zurück und nennt sie daz vünkelîn, das Fünklein – unmissverständlich ein kleines Licht. Eckhart sieht darin nicht nur das von der Schöpfung über den Sündenfall hinaus fortdauernde Glimmen der Ebenbildlichkeit, sondern das aktuelle Wirken Gottes in der Seele. Das vünkelîn der sêle ist „eine Kraft in der Seele, die spaltet das Gröbste ab“, es verwandelt, was ihm [Gott] nicht gleicht, „und wird mit Gott vereint“.15 Und Eckhart beschreibt dies Eins-werden der Seele mit Gott als „mehr als die Speise mit meinem Leib“.16 Dann fügt er einen überraschenden Gedanken hinzu: Ein Mensch, der „unausgesagt bleibt“,17 „sandte seinen Knecht aus zur Stunde des Abendmahls den Geladenen zu sagen: Kommt, denn es ist schon bereit!“18 Dieser Knecht, so sage es Gregor der Große, das sind die Prediger (daz sint prediger), ein anderer sagt, es seien die Engel (die engel). Eckhart scheint, dass dirre kneht daz vünkelîn der sêle, „jener Knecht das Fünklein der Seele [ist], das da von Gott geschaffen ist, und es ist ein Licht, oben eingeprägt, und ist ein Abbild der göttlichen Natur, das immerzu alledem, was nicht göttlich ist, widerstrebt; und es ist eine Kraft der Seele […] und ist unter allen Umständen zum Guten geneigt“, geneiget zu guote.19 Schließlich kommt Eckhart direkt auf Augustinus zurück und erklärt, ihn weiterführend: Augustinus spricht, „dass das Fünklein näher an der Wahrheit ist als alles, was der Mensch lernen kann. Ein Licht aber brennt“, ein lieht daz brinnet.20

    Wird es also am Ende darauf ankommen, kleine brennende Lichter – Osterkerzen – von einem Ort zum anderen zu tragen wie in Bagno Vignoni und darauf zu achten, dass sie nicht verlöschen? Glühwürmchen leuchten, um sich gegenseitig zu rufen, ihr Begehren zu signalisieren. So versammeln sie sich. Das vünkelîn in Eckharts Deutung geht schließlich als Knecht auf die Straßen und an die (Grenz-) Zäune hinaus und lädt zu einem großen gemeinsamen Essen. „Wir müssen also – Im Rückzug von Herrschaft und Herrlichkeit, in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft – selbst zu Glühwürmchen werden und dadurch von neuem eine Gemeinschaft bilden, eine Gemeinschaft des Begehrens, der gegenseitig zugesandten Schimmer, des Tanzes trotz allem, der Weitergabe des Denkens. Es gilt also, in der von Schimmern durchzogenen Nacht von neuem Ja zu sagen und sich nicht damit zu begnügen, das Nein des uns blendenden Lichts zu beschreiben.“21
    Trotz allem.


  • OST

    In einem Interview aus dem Jahre 1990, in dem es auf die Rolle der Kirchen in der ehemaligen DDR kam, sagte Heiner Müller: „Aber die Kirche konnte einfach Phantasieräume besetzen, die durch eine dilettantische Praxis vakant geworden waren“.1  Dieser Satz entfaltet seine aktuelle Brisanz vor dem Hintergrund eines anderen Gedankens von Heiner Müller. Er beschreibt das Preußen Kleists und in seiner Folge die ehemalige DDR als „eine Erdbebenzone“, „von Verwerfungen bedroht, angesiedelt auf dem Riss zwischen West- und Ostrom, Rom und Byzanz, der in unregelmäßigen Kurven durch Europa geht, blitzhaft sichtbar, wenn nach dem Verlust einer bindenden Religion oder Ideologie, die alten Stammesfeuer wieder gezündet werden“.2 Schlagartig wird deutlich, worin die heutige Aufgabe der Kirchen besteht, worin sie positiv an ihre Erfahrungen in der DDR anknüpfen könnten: vakante Phantasieräume zu entdecken, zu besetzen und offen zu halten.

    Ein Seismograph dieser Erdbebenzone war Hugo Ball: Mit seiner harschen Kritik an den „Folgen der Reformation“ eröffnete er seine Suche nach einem Gegenentwurf und stieß auf die (früh-) byzantinischen Wurzeln des Christentums. Von hier aus setzt sich seine Kritik an Martin Luther fort, die blitzhaft den Riss zwischen West und Ost sichtbar werden lässt: „Er [Luther] negierte den Orient in der Kirche“3.

    Zu Beginn des zentralen Kapitels seines Buches „Byzantinisches Christentum“ über Dionysius Areopagita beschreibt Hugo Ball den „großen Verschmelzungsprozess zwischen jüdischem und hellenistischem Wesen, der für die alexandrinische Schule bezeichnend ist“4.  Philo von Alexandrien habe die „Mysterienliteratur der Griechen“ herangezogen, „um die Prophetensprache der Bibel verständlich zu machen“. Dabei genügten ihm die „überschwenglichsten Namen der Griechen“ kaum, um „sein alljüdisches Pathos in Worte zu fassen“. Die „Gewalt des Enthusiasmus, der sich hier kundgibt“, führe „sogar weit über Plato hinaus“.5

    An dieser Stelle lässt Ball „einen Einwand zur Sprache kommen, der keinen Geringeren als Luther zum Vater hat. Der Einwand nämlich, die dionysischen Schriften enthielten ‚mehr Platonismus als Christentum‘, weshalb sie einem frommen Gemüte zu widerraten seien.“ Ball zitiert hier Luther aus „Die babylonischen Gefangenschaft der Kirchen“ und sieht die Umgebung dieses Zitates dazu „angetan, in der betreffenden Abhandlung einen Generalangriff auf die dionysischen Schriften zu erblicken. Von der ‚Kirchlichen Hierarchie‘ heißt es, dass nichts darin eine solide Bildung verrate. Von der ‚Himmlischen Hierarchie‘, sie stelle eine abergläubige Träumerei dar“.6

    Und Ball prüft das Argument: „Wie verhält es sich damit? Ich sagte schon, dass die Alexandriner die religiösen und philosophischen Resultate der Griechen zu einer Art Dolmetscherverfahren benutzten, um ihre ‚neuen Götter‘ verständlich zu machen. Platos System, in dem mystische und rationale Bestandteile gleich stark zum Ausdruck kamen, musste sich hierfür besonders eignen. Vorzüglich die Lehre vom Urbild und Abbild war es, die sich beim Gleichnischarakter der allegorischen Schriftbetrachtung verwenden ließ. Sie musste besonders den Judaisten und Philo zusagen, da bei Plato das Urbild, die Idee, der jüdische ‚Vater‘ ungleich höher gewertet war, als das Abbild, die Erscheinung, der christliche ’Sohn‘. Für die Nachfolger Philos aber war dieser ‚Platonismus‘ schon weniger brauchbar, wenn sich daraus nicht Missverständnisse für die Lehre von der wesensgleichen Gottheit Christi ergeben sollten. Doch davon abgesehen, wäre der Einwand nur dann berechtigt, wenn sich erweisen ließe, dass die allegorische Methode nicht vor und neben Plato in viel stärkeren Strömungen vorhanden war. Als Geheimlehre pflegten sie die Rabbinen, und ebenso gehörte sie zur orphischen und ägyptischen Geheimweisheit der Priester. Diese drei  Quellen aber wirkten viel stärker aufs Urchristentum als der gebräuchliche Platonismus, der aller Welt zugänglich war und eine Art höherer Umgangssprache der Philosophen geworden war.“7

    In diesem Gedankengang fiel das entscheidende Stichwort: Urchristentum und seine Rezeption bei den Reformatoren, insbesondere bei Martin Luther. Und Ball führt aus, dass es auf dem Stand der Forschung seiner Zeit keinen Zweifel mehr daran gebe, dass die „lutherische Auffassung des Urchristentums“ eine „willkürliche und geschichtsfremde Konstruktion“ war. Luther habe vom Urchristentum „‘die Grundbegriffe neu entbunden‘8, dabei aber verschiedene wichtige Elemente des Urchristentums ausgeschieden.9 Zusammenfassend bemerkt Ball: „Man könnte auch sagen, Luther habe den Geist der Sache ausgeschaltet, die Grundkräfte aber neu entbunden. Er negierte den Orient in der Kirche“.10

    Dabei seien gerade die Alexandriner nicht müde geworden, “bei aller Anerkennung der Philosophie den überlegenen Offenbarungscharakter der jüdisch-christlichen Tradition zu betonen: die Einheit des Gottesgedankens gegenüber der sublimierten und aufgeklärten griechischen Vielgötterei; die umfassende Tiefe und Macht der alten, die überfliegende Höhe der neueren Schrifturkunden“. So sei es neben vielen anderen von Hugo Ball genannten Autoren kein Wunder, wenn Dionysius eben „nicht Plato, den großen Athener, sondern Paulus, den Griechenapostel, seinen Lehrer und ‚eine Leuchte der Welt‘ nennt“.11
    Neben der von Hugo Ball angestrebten, integralen Rezeption des Urchristentums, wie er es bei Dionysius vorfindet, bringt er noch weitere Argumente gegen Luther in Anschlag. „Mit Unrecht aber scheint mir, wenn man glaubte, in ihm [Dionysios] den Herold jenes mystischen Mönchtums erblicken zu dürfen, gegen das mit gewichtigen Gründen die Reformation auftrat.“12 Diese Frage verdiene es nach Hugo Ball in einer Spezialuntersuchung behandelt zu werden.

    In einer solchen würde sich leicht zeigen lassen, dass zum einen die Reformation dieser Mystik stärker verbunden ist, als man häufig annimmt, zum anderen, dass diese Mystik sich zwar auch auf Schriften des Dionysius bezieht, es jedoch absurd wäre, „wollte man ihn für die mönchischen Missverständnisse verantwortlich machen, die seine Schriften im Gefolge haben.“13

    Mit „mönchische Missverständnisse“ zielt Ball auf den Augustinerorden zur Zeit der Mönche von St. Victor. Sie hatten sich auf die Schrift „Mystische Theologie“ von Dionysius Areopagita in der Übersetzung des Johannes Eriugena aus dem neunten Jahrhundert bezogen. Aber: „Das Streben nach Entbildung und die Mönchpraktiken der unvermittelten Gottvereinigung, die in den Klöstern des zwölften Jahrhunderts aufkamen, haben mit den Intentionen des Byzantiners nichts zu tun. Die Ausschaltung des sakramentalen Aktes, dann der Kirche selbst […], führte in Luthers Vergröberung zur offenen Rebellion gegen den Priester, ja gegen die Hierarchie.“14

    Was hier auf den ersten Blick nach einer Stärkung von Amt und Institution als restaurative Argumentation gegen die Reformation aussieht15, ist von Ball vielmehr im Sinne einer Öffnung von Phantasieräumen gedacht. Er sieht in Luthers Vorgehen ein „Wüten gegen die Phantasie und die Weihe“16.

    Hugo Ball vollzieht den „grotestke[n] Irrtum Luthers“ anhand von Stellen aus seinen Disputationen und wiederum der Schrift über die babylonische Gefangenschaft nach, stellt dabei fest, dass Luther zuerst dionysisch argumentiert, um dann antidionysisch zu verurteilen, und schließlich in Dionysius einen typischen Mystiker sieht, der „das Mittlertum Christi ablehnt.“17

    Hiermit öffnet Hugo Ball eine bis heute wichtige theologische Perspektive auf das Mittlertum Christi auf dem Riss zwischen West und Ost: „Der Gekreuzigte tritt in der Dionysischen Hierarchie wohl zurück hinter den Verklärten; doch hat dies seinen guten Grund. Die beiden Bücher von der Hierarchie stellen nicht den gekreuzigten, sondern den auferstandenen Christus, sie stellen die Himmelfahrt dar.“18

    In dieser Perspektive versteht sich Balls Lektüre der beiden hierarchischen Schriften des Dionysius, zum einen als Reflektion von Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, zum anderen als deren Gegenbild. „Er brauchte Dionysius, um Paulus und das Christentum zu deuten als Sanftmut, Phantasie, nichtmilitarisierte Hierarchie und Menschenfreundlichkeit. Nur mit Dionysius glaubte Ball den Weltkrieg gegenwärtig halten zu können, um einen neuen zu verhindern.“19

    Mit asketischem Ingrimm verarbeitet Ball das Grauen der Weltkriegserfahrungen, will den Schrecken regelrecht aus den Körpern treiben, sie auf diese Weise zu „Selbsteinkehr, Läuterung und Reinigung“ wenden. „Balls Flucht zu den Wüstenheiligen hält die Erfahrung der ‚Gebeinwüste‘ fest. Mit Pathos hebt Ball hervor, Dionysius habe den ‚Frieden‘ zum Maßstab der geistigen Welt gesetzt. Die Läuterung, die der Erleuchtung vorangeht, ist der Verzicht auf alles Gewaltwesen, und dies ist der innere Zusammenhang zwischen der Weltkriegserfahrung, Balls ‚Kritik der deutschen Intelligenz‘ und der Befassung mit Dionysius.“20 In seinem Tagebuch notiert Ball, er wolle „das Erlebnis der Zeit auffangen“21  und meint damit ein „verwandelndes Festhalten durch Bilder, Träume, Erinnerungen. Diese Zeit ist nicht auszuhalten ohne Gegen – Bilder.“22

    Schließlich geht es Hugo Ball um eine verwandelnde, „theurgische“ Praxis23, man sollte sie eine Praxis des Kreuzes nennen.24 „Etwas weint immerfort in mir“, notiert Ball in seinem Tagebuch während er am „Byzantinischen Christentum“ arbeitet, „vielleicht ist es ein Freund, der weint, oder ein Feind. Es verwandelt mich völlig“.25

    Horizont dieser Praxis ist jedoch der Auferstandene: „Das Haupt Christi entschwindet aus menschlicher Sphäre in die der Engel. Wortlos verstummend, durchbricht es die letzten irdischen Hüllen. Die Seligkeit der körperhaften Räume verglimmt. Der Leib ist noch sichtbar. Das Haupt aber ist von der Fülle des Lichtes schon in das Jenseits verschlungen.“26


     
  • Wie tief uns der Schrecken traf

    Der harsche Kritiker des Ersten Weltkrieges und Martin Luthers, was bei ihm beinahe auf eines hinauslief (!), Hugo Ball, war kein ausgiebiger Leser der Schriften Augustins. Auf der Suche nach der Sprache Gottes, die im Kriegsgeschrei von den Kanzeln der Kirchen Europas verschwunden war, hatte er seine Sprachexperimente auf der Dada-Bühne des Züricher Cabaret Voltaire mit Dionysius Areopagita verbunden und war zu der Erkenntnis gelangt, dass dieser Augustinus an Bedeutung für die Zukunft des Christentums überrage.1  Als er sich aber über den Verlauf seines Lebens Rechenschaft zu geben versuchte, die „Kurve seiner Konversionen“ nachzeichnete, begann Hugo Ball mit der Lektüre der Confessiones und stellte seinem redigierten Tagebuch „Die Flucht aus der Zeit“ von 1927 folgendes Motto des Augustinus voran:

    Frontosus esto, prorsus frontosus esto. Quid times fronti tuae, quam signo crucis armasti? / Sei ohne Scham, sei geradezu unverschämt, was fürchtest du dich, dazu die Stirn zu haben, die du mit dem Zeichen des Kreuzes bewehrt hast?

    Dieses Motto stammt aus „Augustins Enarrationes in Psalmos, in Psalmum 68 (69), Sermon 1,12 [zu Vers 8], in: PL 36 (1861), 850f.“2 … und stellt einen überraschend mehrstimmigen Zusammenhang zwischen Hugo Ball und Augustinus her. Hugo Ball hatte nämlich in folgendem Tagebucheintrag ein Stirnspiel mit weitreichenden Folgen eröffnet:

    Am 14. Mai 1921 notiert Hugo Ball: „Ob man sich ein Herz auf die Stirn tätowieren sollte? Alle Welt würde dann sehen:  das Herz ist ihm in den Kopf gestiegen. Und da es ein tintenblaues Herz, ein sterbeblaues, ein agonisches Herz wäre, könnte man auch sagen: Der Tod ist ihm in den Kopf gestiegen. Wir brauchen nur aufzuschreiben, wie tief uns der Schrecken traf.“3

    Auf der Stirn: ein Kreuz und ein Herz.4 Doch noch zugespitzter lesen sich die Stirnzeichen bei Hugo Ball so: „Die Sprache Gottes ist höchster Begriff. Wir begreifen nichts mehr. Wie sollten wir noch denken können? Des Übernatürlichen Kompass zeigt nach dem Herzen. Wir aber haben mit dem Herzen auch den Kopf verloren.“5

    Mit dem Schrecken, den verlorenen Herzen und Köpfen ist bei Hugo Ball konkret die historische Erfahrung des Ersten Weltkrieges gemeint.6  Auf der Augustinisch grundierten und von Hugo Ball konkretisierten Stirnbühne dieses weltweiten Völkergemetzels hat Martin Luther einen unerwartet fulminanten Auftritt.
    Im September vor einhundert Jahren schrieb Hugo Ball zur 400-jährigen Reformationsfeier: „Luther war es, der Deutschland durch seine auf Innerlichkeit, Weltabgeschiedenheit und Abstraktion gestellte Reform jäh isolierte. Luther war es, der den Pakt des Gewissens mit den Fürsten einging und sich gemeinsam mit ihnen gegen die halbverhungerten Bauern – Proletarier wandte. Er verhinderte die deutsche Bauern- und Volksrevolution. Er zerschnitt damit den Lebensnerv der deutschen Universalität. Er wurde der erste Begründer des heutigen Reiches, des Gottesgnadentums, der Selbstversenkung und Selbstüberhebung, Begründer der Staatsreligion, auf der die heutige Dynastie ruht […] Die aufständischen Bauern aber, skorbutmäulige, ausgehungerte, ausgesogene Kreaturen, die sich gar nicht so sehr gegen die Ablässe, als gegen die ganze Kutten- und Junkerwirtschaft zugleich wandten, führte Thomas Münzer. Man weiß, dass er „spurlos versenkt“ wurde durch eine Intrige Luthers […]; man weiß, dass Thomas Münzer seinen Streit gegen „das geistlose Fleisch zu Wittenberg“, wie er Luther nannte, so prinzipiell führte, wie nur etwa Bakunin seinen Kampf gegen das geistlose Fleisch der Staatssozialisten…“7

    In einer Reihe von Artikeln in der „Freien Zeitung“, dem „Unabhängige[n] Organ für Demokratische Politik“ in der Schweiz hatte Ball Themen für ein Buch als seinen Beitrag „für die streitende Demokratie“8 vorbereitet. Mit dem Titel „Kritik einer deutschen Intelligenz“ kam es 1919 heraus. Darin zeigte sich Ball überzeugt: „Eine der schlimmsten Ursachen des Weltkrieges war die Reformation“. Die überarbeitete, vor allem gekürzte Neuausgabe seiner „Kritik“ trug dann auch den Titel „Die Folgen der Reformation“ (1924).

    Die Hauptargumente seiner Streitschrift finden sich bereits in seinem Artikel zum 400sten Reformationsjubiläum: Die Isolation Deutschlands von einer zumindest europäischen Universalität, die Niederschlagung der Bauerkriege als erster deutscher Revolution und als Verdikt für alle weiteren und die Unterwerfung der Religion unter den Staat. Zweifellos haben diese Argumente bis heute an Wirkkraft behalten, wenn man sie auch ungern hört. Ihre Stoßrichtung lässt sich jedoch konkreter bestimmen: „1914: kaum eine offizielle Persönlichkeit, die sich nicht kompromittierte. Pastoren und Dichter, Staatsleute und Gelehrte wetteiferten einen möglichst niedrigen Begriff von der Nation zu verbreiten. […] Dreiundneunzig Intellektuelle bewiesen durch ein bombastisches Manifest, dass sie als Intellektuelle nicht mehr zu zählen sind.“9

    Unter den agitatorisch hervorstechenden Intellektuellen dieses Manifestes finden sich bis heute berühmte Gelehrte, der Soziologe Max Scheler, der Theologe Ernst Troeltsch, der Philosoph, Nobelpreisträger und Gründer der Luthergesellschaft Rudolf Eucken10… Sie alle riefen von Kanzeln und Kathedern buchstäblich zu den Waffen.

    Und bis heute finden sich in den Bibliotheken unserer Landes Mengen von Texten aller Art über diese Zeit, aber sie werden kaum zur Kenntnis genommen. Dabei kommt der Elan der deutschen Intellektuellen für den Ersten Weltkrieg einer „geistigen Mobilmachung“11 gleich. Sie führte allerdings direkt in einen Totentanz:

    „So sterben wir, so sterben wir
    Und sterben alle Tage
    Weil es so gemütlich sich sterben lässt.
    Morgens noch in Schlaf und Traum
    Mittags schon dahin
    Abends schon zu unterst im Grabe drin.

    Die Schlacht ist unser Freudenhaus
    Von Blut ist unsre Sonne
    Tod ist unser Zeichen und Losungswort.
    Kind und Weib verlassen wir
    Was gehen sie uns an!
    Wenn man sich nur auf uns verlassen kann!

    So morden wir, so morden wir
    Und morden alle Tage
    Unsere Kameraden im Totentanz.
    Bruder, reck Dich auf vor mir!
    Bruder, Deine Brust!
    Bruder, dass Du fallen und sterben musst.

    Wir murren nicht, wir murren nicht
    Wir schweigen alle Tage
    Bis sich vom Gelenke das Hüftbein dreht.
    Hart ist unsre Lagestatt
    Trocken unser Brot
    Blutig und besudelt der liebe Gott.

    Wir danken Dir, wir danken Dir,
    Herr Kaiser für die Gnade,
    Dass Du uns zum Sterben erkoren hast.
    Schlafe Du, schlaf sanft und still,
    Bis Dich erweckt
    Unser armer Leib, den der Rasen deckt.“12

    Für diesen Totentanz sieht Hugo Ball den entscheidenden Grund in der Reformation gelegt und entwickelt dabei „eine Art konsequentialistische Moralphilosophie der Geschichte“: „Er reflektiert die Wirkungen gesellschaftlicher Ordnungen auf das Denken der Philosophen wie auch deren Einfluss auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Auch wenn diese Sicht auf philosophische Systeme oftmals eingeschränkt und daher auch ungerecht erscheint, so muss man Ball doch zugestehen, dass er die Philosophen ernster nimmt, als viele innerhalb und außerhalb dieser Disziplin es tun. Die gesellschaftlichen Folgen geistiger Entscheidungen sind für Ball ein Mittel der Ideenkritik; […] Aber welchen Status hat eine solche Argumentation? Einmal heißt es: ‚Wenn historische Folgen Beweis sein können‘; Ball beantwortet die dieser Bedingung implizite Frage nicht direkt, jedoch zeigt seine gesamte Vorgehensweise, dass historische Folgen für ihn wahrheitsrelevante Kraft haben.“13

    So liest Hugo Ball das Augsburgische Bekenntnis als ein “Schanddokument deutscher Gewissensversklavung“: „Mit der Augsburgischen Konfession verzichteten Luther und Melanchthon vor Kaiser und Fürsten feierlich auf die individuelle Gewissensfreiheit, die das ursprüngliche Evangelium Luthers gewesen war. Die Confessio Augustana konstituierte eine neue (protestantische) Kirche, die in ihrem Verhältnis zur weltlichen Macht nur mit der byzantinischen Kirche zu vergleichen ist, sanktionierte im Namen Gottes den Absolutismus und setzte durch die Verleihung der höchsten geistlichen Würde an den Landesvater so viele protestantische Päpste ein, als es protestantische Fürsten gab.“14

    In der Tat galt das Prinzip cuius regio eius religio für die Fürsten und nicht für die Untertanen; die mussten meist das Land verlassen, wenn sie eine andere Entscheidung gefällt hatten, als die vom Landesvater verordnete, wobei sie Hab und Gut verloren. Im Umkehrschluss waren die Beweggründe der Landesväter, zum Protestantismus zu wechseln häufig genug materieller Art, denn sie übernahmen das kirchliche Eigentum. Im Zuge der Religionskriege und der Bildung stehender Heere ließ sich der Gehorsam gegenüber dem summus episcopus fürstlicher Güte leicht auf den militärischen Gehorsam des Oberbefehlshabers übertragen, wurden doch beide Gehorsame von einer Person eingefordert.

    Über viele Stationen wurde diese Herrschaftstechnik bis zum Ersten Weltkrieg perfektioniert. Und Ball ist schonungslos in seiner Analyse. Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant habe seinen kategorischen Imperativ an das preußische Pflichtideal verraten, bzw. dieses mit jenem gerechtfertigt. Als überführendes Beispiel dient Ball der Konflikt Kants mit Friedrich Wilhelm II. um seine Religionsphilosophie. Friedrich Wilhelm II. hatte Kant verboten, Veröffentlichungen oder Vorträge zur christlichen Religion zu halten und Kant hatte mit einem schriftlichen Versprechen eingewilligt und sich dabei auf seine Untertanspflicht bezogen und sein fürderhinniges Schweigen damit gerechtfertigt.

    Im Zusammenhang der Gründung der Berliner Universität käme dem Landesfürsten zum obersten Bischof und obersten Militär noch der oberste Gelehrte, der rector magnificentissimus,  hinzu. Ball sah in dieser Gründung eine „neue Residenzhochschule“ für „ein religiöses Militärportektorat, das alle Anlagen zeigte, die päpstliche Despotie des Mittelalters in furchtbarer Weise abzulösen, wenn nur ein geschickter Interpret sich fand“. Den sah er in Hegel, insbesondere in seiner Rede zu Feier der Augsburgischen Konfession im Jahre 1830.15

    Kurt Flasch sieht in Hugo Balls „Kritik der deutschen Intelligenz“ ein bis heute „schwer zu verteidigendes Buch“ wenngleich es die Kriegsschriften seiner Zeitgenossen an „Verantwortlichkeit, Scharfblick und Erudition immer noch unendlich übertrifft“. Er fasst folgendermaßen zusammen:

    „Balls Position von 1918 ist eine anti-autoritäre, christlich-anarchistische politische Philosophie, die gleichwohl neue Werte und eine ‚neue Hierarchie‘ fordert, aber eine Hierarchie, die auf Einsicht, Mitleid und Askese, nicht auf Gewalt und Kommando gegründet ist. Er kritisiert das – wie er sagt – ‚Kommandochristentum‘, vor allem das preußisch-protestantischer Tradition, aber auch das päpstlich absolutistischer Machart, wobei die römische Variante in der deutschen Geschichte weniger katastrophale Folgen angerichtet habe und insofern weniger Kritik verdient als die lutherische. Der deutsche Protestantismus habe die deutsche Mischung von Freudlosigkeit und Disziplin, von häuslicher Zwangserziehung und Obrigkeitsdenken erzeugt.“16

    Nun hatte Hugo Ball selbst gespürt, dass er in seiner „Kritik der deutschen Intelligenz“ stark polemisch argumentiert hatte und hat sich als einen „Exaltado, Radikalinsky!“17 ironisiert. Die Reaktionen auf sein Buch ließen nicht auf sich warten, nur wenige teilten seine Analyse, wenn sie sie überhaupt zur Kenntnis nahmen; auch die überarbeitete Form des Buches als „Die Folgen der Reformation“ änderte daran nichts, im Gegenteil. Der schwerste und wirkungsvollste Vorwurf war der von Ball selbst befürchtete, der des Vaterlandsverräters.

    Doch von heute aus kann man Hugo Ball’s Hellsichtigkeit nicht genug betonen, denn seine Kritik war nicht nur rückwärts gerichtet: „Es ist meine feste Überzeugung, dass der Sturz der preußisch-deutschen Willkürherrschaft […] nicht genügen wird, die Welt vor einem ferneren deutschen Attentat […] zu schützen.“18 Das sollte, wie wir heute wissen – Ball aber nicht mehr erlebte, er starb 1927 – keine 20 Jahre auf sich warten lassen.

    In dieser Perspektive wollte Hugo Ball dem Heldenbild, das die Kriegsideologie des Ersten Weltkrieges bestimmt hatte, etwas entgegen setzen und suchte bei den „großen christlichen Kirchenvätern“, des „Urchristentums und der frühbyzantinischen Kirche“19.

    1923 veröffentlicht Ball ein Buch über drei Heilige mit dem Titel „Byzantinisches Christentum“, das er als „eine Ergänzung“20  seiner „Kritik“ verstanden wissen will. Das Triptychon besteht aus Johannes Klimax – dem asketische Mönche mit der Himmelsleiter, Symeon dem Säulensteher und in der Mitte Dionysius, der sich Dionysius Areopagita nennt und in der Wissenschaft Pseudodionysius genannt wird. Hugo Ball nähert sich den Heiligen wie einem „Sprachschatz Gottes“21 und hält somit die Verbindung zu so unterschiedlichen Spracherfahrungen, wie Dada und der politischen Schriftstellerei.

    Insbesondere in Dionysius entdeckte Hugo Ball „den Patron eines neuen, eines allegorisch feiernden und auf sanfte Weise heroischen Christentums. Dionysius rette die Wahrheit von Dada […]. Dieses Christentum ist radikal arm und radikal asketisch, vor allem aber ist es ekstatisch. Es lehrt, aus uns herauszutreten und uns auf ‚das Schöne selbst‘ zu beziehen. Es lehrt, alles als Symbol zu sehen. Es treibt uns in extreme Vereinzelung, nimmt uns aber zugleich wieder auf in den Reigen, in die himmlischen Chöre. Auch die Hierarchien sind Abbild der göttlichen Schönheit. Alle Rangunterschiede sind Distinktionen des Herzens, nicht der Gewalt, nicht der Organisation.“22

    „Die Berge meiner Schwermut wollen wandern
    Aus dieser Nacht in einen fernen Tag.
    Von einem Gipfel rauschet jetzt zum andern
    Im Traum verschluchzt, was mir am Herzen lag.

    Indes den Schläfer schlug ein irrer Stern.
    Geheimnisvolles Schreiten hat begonnen
    Mein Morgen will erwachen und sich sonnen
    Im Lande der Lebendigen des Herrn.

    Schon fühlt die Höhe sich ins Licht getragen
    Schon stürmet Vogelsang der weh entschlief.
    Gelobt sei, der aus Finsternissen
    Die Flüge meiner Sehnsucht zu sich rief.“23


  • Extra: Zwei Zentren (F) – eine Ellipse

    (F1) – Homiletischer Imperativ
    I
    Als der junge Helmuth James von Moltke im Jahre 1927 die Lebensbedingungen im nur dreißig Kilometer von Kreisau entfernten niederschlesischen Bergbaugebiet zahlenmäßig zu untersuchen half – zu der Zeit lebten in dieser Gegend doppelt so viele Menschen pro Quadratkilometer wie im Ruhrgebiet „auf einem vom Bergbau unterhöhlten, absackenden, nassen Grund, so dass viele Familien buchstäblich in Löchern hausten“1 – , wurde er schnell zum aktiven Teil einer schlesischen Bürgerinitiative.

    Er besuchte die Menschen in ihren Elendsquartieren, sprach auch die verantwortlichen Politiker, Unternehmer und Organisationen und plante konkrete Vorhaben zur Verbesserung der Lebensumstände. Eine konkrete Aktion war für die Sommerferien geplant, aber auf einer Mitgliederversammlung der Initiative im Juni 1927 sagte Moltke schließlich: „Aber ‚ich‘, sagte er, ‚ich habe die Aktion verschoben‘, statt den Plural ‚wir‘ zu verwenden, wie es doch an dieser Stelle angemessen wäre. Das rutschte ihm so raus. Das kam ihm aus der Seele – würde der Breslauer Professor Eugen Rosenstock-Huessy, ein anderes Mitglied der schlesischen Bürgerinitiative, gesagt haben.“2

    Der eigenwillige Sprachphilosoph Eugen Rosenstock-Huessy3 hatte 1924 seine „Angewandte Seelenkunde“ veröffentlicht und hielt es für platte Konvention, die Sprache lediglich als „Verständigungsmittel“ zu betrachten. „In der Wirklichkeit des Sprechens leiste die Sprache wesentlich mehr. Sie diene nur in den wenigen Angelegenheiten des bereits Vollbrachten, also des realen Perfekts, der Verständigung, ihre Hauptleistung vollbringt sie als Medium der Seele  und gehorche den ‚Gesetzen einer elementaren seelischen Grammatik‘.

    Denn bevor wir an irgendein ‚Perfekt‘ denken können, sprechen wir in seelischer Erschütterung das neue plötzliche, unausdenkbare, im Gefühlssturm hereinbrechende Erlebnis aus: Die Sprache macht das Unsagbare sagbar, dazu ist sie da! Und dann anverwandle sich die Seele in ihren verschiedenen, gleichsam grammtischen ‚Aggregatzuständen‘ die Erschütterung, und ‚konjugiere‘ sie ‚durch‘; sie konjugiert, sagt Rosenstock, den Menschen durch.4

    Und der Clou seiner Entdeckung ist, dass sich dieses Durchkonjugieren nicht nur am sprechenden Individuum und in Wörtern und Sätzen äußert, sondern dass es auch eine Wirkung hat. Tiefe Erschütterungen – aber Vorsicht, sagt Rosenstock, ‚auf jedes echte Erlebnis kommen tausend Nieten!‘5– treten in ihren Nachbeben in die Menschheitsgeschichte ein. Das Unsagbare, vom ersten Seelenmodus sprachlich verwandelt und durchkonjugiert bis ins reale Perfekt, wo es objektiv erzählbar wird, ist nach Rosenstock also ein eigentlich faktenproduzierendes Phänomen.“6

    Von hier aus ist das ‚Ich‘ des jungen Moltke zu verstehen: „Wenn dich ein Erlebnis erschüttert, fühlst du dich angerufen. Das Vermittlungsorgan ist der Vokativ deiner Seele. Jetzt erst bist du wer, sagt Rosenstock, jetzt hast du einen Namen, und kaum hast du diesen Namen, entnimmst du ihm, wie einen Ruf, einen an dich persönlich gerichteten An- oder Aufruf, das heißt, in diesem Augenblick, ist deine Seele dabei, das reale Präsenz zu realisieren, das es nur in diesem Nu zwischen der Vergangenheit und Zukunft geben kann, einen winzigen Augenblick, der in der Rosenstockschen Seelengrammatik die Bezeichnung ‚Imperativ‘ trägt.

    Alles Weitere ist kinderleicht zu verstehen. Kaum vernommen, ‚zwingt dich der Druck des Auftrages, von dir als ‚ich‘ zu reden‘7 ,Helmuth James‘ ‚ich‘ zeigt weder einen grammatischen Fehler noch eine gräfliche Fehlleistung an, sondern ein Subjekt unter Druck.“Und zwar unter dem Zeitdruck, die momentan erfüllte Gegenwart sprechend zu realisieren.

    Es ist nur ein winziger Schritt, von Rosenstocks Imperativ hin zu einem homiletischen Imperativ.Seine Zeit ist das „Heute Gottes“. Ohne das Erlebnis bzw. die Erfahrung eines homiletischen Imperatives zu predigen, heißt Sprache zum bloßen Verständigungsmittel herab zu setzen.

    Die reale, faktenschaffende Kraft, die Rosenstocks Imperative auszulösen im Stande sind, lässt sich am späteren Leben Helmuth James von Moltkes maßgeblich erkennen. Ihre homiletischen Bezüge sind so gut wie unerforscht. Als einzigartige Dokumente finden sie sich in den Abschiedsbriefen von Helmuth James und Freya von Moltke10.

    II
    Gilt die Rosenstock‘sche Erlebnis-Trefferquote von eins zu tausend für‘s Homiletische, so sind die möglichen Konsequenzen folgende: den zu predigenden Texten ein hohes Erlebnispotenzial zu unterstellen, den konkreten eigenen Erlebnissen mit ihnen etwas zu zutrauen (und sie nicht durch irgendwelches Gewohnheitsdenken auszusortieren), insgesamt weniger zu predigen und in jedem Falle deutlich kürzer.

    Sich kurz bei der Einschätzung eines Erlebnisses zu irren, kann vorkommen. Sich lang zu irren, deutet untrüglich auf Selbstbezug. Dieser ist ein Automat des Geredes und verdunkelt die legitime homiletische Möglichkeit des Scheiterns.

    Außerdem befreit die Unterscheidung der verschiedenen Sprechakte im Gottesdienst diese wechselseitig aus den Klauen des Geredes. Wenn nicht alles Gesprochene im Gottesdienst Predigt ist, schaffen klare Unterscheidungen in Sprache und Sprechen Platz für die Predigt (und ihre Imperative). Sie befreien die anderen gesprochenen Teile zugleich von predigthaften Zerredungen.

    Zum Beispiel ist eine Begrüßung keine Predigt, sondern ein Gruß, ein willkommen heißen, Zeichen von Gastgeberschaft.  Gebete sind keine Predigten, sie haben schlicht einen anderen Adressaten und brauchen nur wenige Worte. Etwaige Einführungen in die biblischen Lesungen sind keine Predigten, sie wecken Geschmack auf die zu lesenden Texte. Auch Fürbitten sind keine Predigten, sondern vertrauen ihrem Adressaten etwas an. Ebenso wenig sind Abkündigungen Predigten; wenngleich in ihnen Sprache als Verständigungsmittel, also als Information, am ehesten zum Zuge kommt.

    Gerede hat in Gottesdiensten, zu denen auch Andachten zählen, nichts zu suchen! Sollte leeres Gerede dort Einzug halten, so hilft nur eines, sobald man es bemerkt: Schweigen, Singen oder Lesen. Schweigen, Singen und Lesen schaffen Platz für Erlebnis. Hierin besteht die größte Herausforderung für den „Wortkult“ des Christentums in Zeiten des Geredes: Wort wird nur Wort, wenn es gesungen werden kann; Wort wird nur Wort, wenn es geschwiegen werden kann.11

    Lesen12, lautes Lesen, öffnet sich einem Erlebnis durch übende Praxis. Mit der Zeit finden die Worte ihre Verbindung zu Stimme und Körper der Lesenden und die Sprache öffnet sich für ihre Schichtungen oberhalb und unterhalb von Sinn. Dann kann ein Erlebnis hindurch. Aus dem Text heraus auf die Hörenden hin oder in den Text hinein von den Hörenden her.

    (F 2) – Der Mensch ist ein liturgisches Tier
    I
    Mit der Machtergreifung Hitlers 1933 verließ Eugen Rosenstock-Huessy Deutschland und wanderte aus in die USA. Dort verfasste er Ende der 40er Jahre für die Zeitschrift einer Benediktiner-Abtei einen Beitrag zum Thema „Liturgisches Denken“. Rosenstock hatte seine angewandte Seelenkunde in der Liturgie wieder erkannt. Oder soll man sagen, er hatte ihren eigentlichen Ort in der Liturgie gefunden?

    Im erschütternden Aufruf seines Imperativs hatte Rosenstock-Huessy das Erklingen eines Namens erkannt, der zu einem Auftrag wird. In seinem Aufsatz zum Liturgischen Denken knüpft er an die allgemeine Erfahrung des Namennennens an: „Wenn ein Kind seinen Namen vernimmt, wird es unwiderstehlich zur Bewegung gezwungen. Ich kann meinen Namen nicht hören, ohne irgendwie in Bewegung zu geraten. Jede mächtige Liebe gibt dem Geliebten einen neuen Namen, und kraft dieses Namens beginnt er sich zu bewegen.“13

    Mit dieser Erfahrungen setzt die erste Figur liturgischen Denkens ein: „Die Seele muss ‚du‘ genannt werden, bevor sie jemals ‚ich‘ antworten kann, bevor sie je von ‚uns‘ reden kann und schließlich ‚es‘ analysiert! In diesen vier Figuren – du, ich, wir, es – geht das Wort durch uns. Das Wort muss zuerst unseren Namen rufen. ‚Dich meine ich‘, hören wir.“14Im Unterschied zu unserer alltäglichen grammatischen Praxis, hat das Du – liturgisch gedacht – Vorrang vor dem Ich, Wir und Es. Liturgie ist also vor allem auf Wechselseitigkeit und Antwort – Reziprozität und Responsivität – angelegt.

    Die für liturgisches Denken entscheidende Umstellung des Denkens, Sprechens und Handelns von Ich auf Du ändert den Blick auf den Menschen und die Welt. Sie stellt ihn von Natur auf Kreatur um. Rosenstock erläutert diese Öffnung des Blicks anhand alter Segnungsgebete. Sie sprechen beispielsweise Salz und Wasser als Kreaturen an, entheben sie damit dem abstrakten Bereich der Natur – das heißt hier: der reinen Chemie,  der „Hölle des H2O“15– und stellen sie in den konkreten Bereich der Schöpfung, des Lebens. Noch deutlicher wird diese Umstellung, wenn Wein als „creatura potus“ als „Kreatur Getränk“ angesprochen wird.

    „Es ging mir auf, dass mir nicht zwei austauschbare Worte, sondern zwei völlig verschiedene Sprachen vorlagen. ‚Die Naturen der Dinge‘ abstrahieren von der geschichtlichen Stunde des offenbaren Sprechens. ‚Creatura potus‘ erheischt einen ausgesprochenen Verzicht auf Abstraktionen. Weshalb? Dieses Getränk ist ja schon durch verschiedene Stufen gegangen; einige von ihnen weist die Vernunft der Natur zu, wie die Anpflanzung des Weines, das Schneiden und das Düngen, das Bespritzen mit dem Schwefel. Einige andere werden von der Vernunft der sozialen Tat zugeordnet, wie die Lese, das Füllen in die Fässer und Flaschen und manches andere mehr. Aber im Lichte der ‚creatura potus‘ fällt unser akademischer Unterschied zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen in sich zusammen. Im Angesichte Gottes führen wir, seine Gläubigen,  – wenn wir dem Wein Recht getan haben – diese Kreatur des Weins ebenso sehr zu seiner Bestimmung, wie es der Boden, der Regen, die Luft, die Sonne zu tun pflegen. Wir sind nicht Gott, sondern eine der Kreaturen auf der Wiese Gottes, auf der alle Kreaturen hier unten ihn loben, indem sie nicht ihren Angelegenheiten nachgehen können, ohne zugleich die Anliegen der anderen mit zu fördern.

    Mit anderen Worten: wenn der sterbliche Mensch die anderen Kreaturen zu ihrer Bestimmung führt, hindern wir nicht, sondern vollenden wir eher ihr ‚Vor-gehen‘, zu jener Kreatur, die sich im Prozess befindet, geschaffen zu werden. Die Geschichte, die sozialen Vorgänge, die menschlichen Gebräuche des Winzers oder der Salzförderers, oder die Techniken des Erbauers einer Pumpe dürfen nicht als willkürliche Taten des Willens betrachtet werden. Sie können Stufen im Fortgang der Schöpfung selbst sein.“16

    Von hier aus öffnet sich der Blick auf den Menschen. Er oder sie ist nicht auf sich zurück geworfen als Objekt der Zoologie, der Genetik oder der Psychologie. Liturgisch gedacht ist der Mensch „creatura hominis“. In dieser Genitiv-Konstruktion gewinnt der/die Mensch eine Orientierung: „Im Ausdruck creatura hominis bin ich als jener Teil von mir angeredet, der noch kommen wird.“17

    Als creatura hominis angesprochen bist du nicht, „der du bist, sondern dir wird berichtet, wer du sein wirst. In diesem Moment ist der/die Angesprochene der/die Kommende, der/die noch zu erschaffen ist.  Liturgisch gedacht ist der Mensch „antwortende[s] Plasma in der Hand [s]eines Schöpfers“18.

    Liturgie ist also Fortgang der Schöpfung als Prinzip, creatio continua als Vollzug, Neue Schöpfung als Erfahrung.

    II
    Die Basis des liturgischen Handelns ist die einfache Schönheit der Schöpfung: Gehen ist gehen und nicht Stolzieren; Grüßen ist grüßen und nicht gedanklich auf Linie Bringen; Blicken ist blicken und nicht Bedeuten; Singen ist singen und nicht Vorführen von Stimmausbildung; zu Essen Geben ist zu essen geben ebenso wie zu Trinken Geben zu trinken geben ist: in der festlichen Schlichtheit des Miteinanderteilens einer Mahlzeit. Jemanden berühren ist jemanden berühren in aller Vorsicht und Zartheit.

    Worte, Gesten, Handlungen im Gottesdienst haben einfache Alltagsvollzüge als Grundierung: stehen, atmen, begrüßen, willkommen heißen, gehen, lesen, sprechen, ein Stück Brot teilen, über den Kopf streichen, die Stirn mit Wasser benetzen, sich die Hand reichen, einander ansehen, sich umarmen, sich küssen…

    Ihr einfacher liturgischer Vollzug hat solche alltäglichen Vollzüge als gestisches Echo und macht sie daran anknüpfbar. Das Besondere von in der Liturgie verwendeten Worten, Gesten, Zeichen und Vollzügen gegenüber ihrer Alltäglichkeit entsteht in ihrer Pflege (cura), einer übenden, sich selbst unterwandernden Aufmerksamkeit.

    Im Laufe der Zeit lernt der Körper Alltagsworte und Alltagsgesten im Gottesdienst zu sprechen und auszuführen, ohne dass sie Alltag sind. Im Laufe der Zeit lernt es der Körper Gottesdienstworte und Gottesdienstgesten im Gottesdienst zu sprechen und auszuführen, ohne dass sie Gottesdienst sind.  Worte und Gesten werden Geschenk, einfach, umsonst.

    Wie immer formalisiert, ritualisiert, verdichtet liturgische Sprache und Handlung ist, ihr liegt doch ein einfacher alltäglicher Vollzug zu Grunde. Wenn eine liturgische Handlung diese gestische Verbindung zu ihrer Alltäglichkeit verliert, höhlt sie aus, sie verstockt.

    Hält sie jedoch die Verbindung zur alltäglichen Praxis, können sich alltägliche und liturgische Handlung gegenseitig formen. Gelegentlich fallen sie als Intensitäten zusammen und man erkennt sie plötzlich als neue Schöpfung mitten im alltäglichen Leben.

    Im Januar 1945 schreibt Helmuth an Freya von Moltke: „Du bist mein 13tes Kapitel des ersten Korintherbriefes. Ohne dies Kapitel ist kein Mensch ein Mensch. […] Ohne Dich hätte ich ‚der Liebe nicht‘. Ich sage gar nicht, dass ich Dich liebe; das ist gar nicht richtig. Du bist vielmehr jener Teil von mir, der mir alleine eben fehlen würde. Es ist gut, dass mir das fehlt; denn hätte ich das, so wie Du es hast, diese größte aller Gaben, mein liebes Herz, so hätte ich vieles nicht tun können, so wäre mir so manche Konsequenz unmöglich gewesen, so hätte ich dem Leiden, das ich ja sehen musste, nicht so zuschauen können und vieles andere. Nur wir zusammen sind ein Mensch. Wir sind, was ich vor einigen Tagen symbolisch schrieb, ein Schöpfungsgedanke. Das ist wahr, buchstäblich wahr. Darum, mein Herz, bin ich auch gewiss, dass Du mich auf dieser Erde nicht verlieren wirst, keinen Augenblick. Und diese Tatsache, die haben wir schließlich auch noch durch unser gemeinsames Abendmahl, das nun mein letztes war, symbolisieren dürfen.“19

     
  • luther minor

    Martin Luther hat den deutschen Sprachimpuls entschlossen wieder aufgegriffen.  –  Erich Auerbach sah in der Praxis des sermo humilis ein pfingstliches Wirken1.  –  Und ganz in diesem pfingstlichen Sinne hat Luther dem deutschen sermo humilis mit seiner Bibelübersetzung zu einem überwältigenden Durchbruch verholfen. Luthers Bezugnahme auf Augustinus von Hippo kann auch dabei kaum überschätzt werden.

    Seine Mitgliedschaft im Augustinerorden der strengen Observanz war nicht nur seiner legendären Angst vor Gewittern geschuldet, sondern hing direkt mit seiner zentralen theologischen Frage nach dem gnädigen Gott zusammen.  „[Ich  glaube], dass es heute besser ist, Mönch zu werden als es in den letzten zweihundert Jahren gewesen ist; bisher sind die Mönche dem Kreuz aus dem Weg gegangen, und das Mönchsein hat ihnen Ruhm eingetragen. Jetzt dagegen ist es allmählich soweit, dass sie den Menschen, selbst wenn sie gut sind, um ihres törichten Narrengewandes willen missfallen. Denn ein Mönch sein heißt eigentlich der Welt verhasst und ein Narr sein.“2 So klingt es wie ein Echo in seinen Vorlesungen zum Römerbrief von 1516/17.

    Immer wieder bezieht sich Martin Luther direkt auf Schriften Augustins.3  In seinen Leseexemplaren hinterließ er zahlreiche Anmerkungen. Geradezu eifersüchtig drängt Luther eine stärkere Gewichtung des Hieronymus, wie sie von Erasmus von Rotterdam vorgebracht wurde, zurück.4  In seiner erbittert geführten Auseinandersetzung mit Erasmus um die Frage nach dem freien Willen – ein geradezu theatralischer Akt der Wiederaufführung – ist unschwer das Vorbild des Streites zwischen Augustinus und Pelagius wieder zu erkennen. In seinen Verurteilungen ähnlich verheerend wie Augustin, ritt Luther gänzlich unkritisch auch dessen Attacken erneut.5  Luthers Standpunkt war klar: „die Christenheit [hat]nach den Aposteln keinen besseren Lehrer denn Augustin gefunden“6.

    So stark die Einflüsse von Augustin und ihre Übersteigerungen bei Luther auch sind – seine Impulse wurden auch bei den Augustiner-Eremiten durchaus begrüßt – schließlich kam es dennoch zum Bruch. „Um seines Eigensten willen musste er sich gegen sein Eigenstes wenden, woraus nur eine christliche Tragödie abgründigster Art hervorgehen konnte, die nicht mit einem Hinweis auf die geschichtliche Situation allein zu erklären ist. Man bewältigt das innere Verständnis dieses erschütternden Dramas nur durch analoge Überlegungen, wie sie Paulus im Römerbrief über die Zweige anstellt, die ausgebrochen sind, damit andere hineingepfropft wurden.“7

    Der Schweizer Kirchenhistoriker Walter Nigg bezeichnet Martin Luther denn auch als „de[n] verlorene[n] Sohn Augustins“8  und porträtiert Martin Luther in seinem „Buch der Ketzer“ unter der Überschrift „Der protestantische Protest“9. Was zunächst befremdlich klingt, eröffnet den schöpferischen Abgrund der Reformation. Walter Nigg stellt seinem Buch folgendes Diktum des Augustinus voran: „Glaubt doch nicht, dass Ketzereien durch ein paar hergelaufene kleine Seelen entstehen könnten. Nur große Menschen haben Ketzereien hervorgebracht.“10  Und er beschreibt Martin Luther (wie alle anderen) als Ketzer auf der biblischen Folie Jesu. Ihn erhebt er zum biblischen „Urbild aller Ketzer“ und er beschreibt „den Prozess vor dem Hohen Rat und Pilatus“ als „Prototypen aller Ketzerprozesse“.11  Wenn  Walter Nigg Jesus zum Ketzer stilisiert, so tut er dies, um deutlich zu machen, dass im modernen Menschen ein Ketzer gesehen werden kann und weil er daraus folgerte, dass für den modernen Menschen von diesem „religiösen Typos“  eine besondere Anziehung ausgeht. „Auflehnung gegen die Autorität der Kirche und Forderungen nach Autonomie haben zur Freiheit geführt. Diese neuzeitliche Freiheit zeigt jedoch im 20. Jahrhundert ihre dunkle Seite. Zu ihrer Dialektik gehört der Nihilismus, den Nietzsche und Dostojewski am Horizont des 20. Jahrhunderts dämmern sahen.“12

    Geschichtsschreibung als Ketzergeschichte ist bei Walter Nigg jedoch von der Hoffnung einer „Heimkehr des verlorenen Sohnes“13  grundiert.  „Heimkehr ist aber keine Rückkehr. Das Kind verlässt sein Elternhaus, es macht seine eigenen Erfahrungen. Wenn es eines Tages heimkehrt, beginnt eine neue Geschichte. Der Gang in die Ferne und Fremde aber hat nicht nur das Kind gewandelt, sondern auch den Vater. Das Geheimnis des Ketzers verweist auf das Geheimnis der Inkarnation. Der Sohn ging vom Vater in die Fremde, wurde Mensch, litt und starb am Kreuz. Diese Erfahrung bringt er bei seiner Heimkehr mit. Seine Auferstehung ist keine Aufhebung des Leidensweges, sondern ihre Verwandlung in Gottes Herrlichkeit. Als sichtbares Zeichen dieser Verwandlung trägt der Auferstandene die Stigmata. Auch Niggs heimkehrender Ketzer bleibt von den Wundmalen des Nihilismus gezeichnet. […] Die Heimkehr des Ketzers ist nicht das Vergangene, sondern die Kirche der Zukunft“. Sie ist „kein Zurück zu den alten Bekenntnissen […]Die alte Welt ist vergangen. Die Apokalypse hat stattgefunden. […] Daher wird die Kirche der Zukunft eine Kirche des Herzens sein. Sie wird nicht mehr auf eine traditionelle Form der Vermittlung des Glaubens von Generation zu Generation bauen können, sondern allein auf die persönliche Erfahrung. Der moderne Mensch will Gottes Gegenwart in seinem eigenen Herzen erfahren.“14  Wenn Martin Luther als Ketzer aber auch der verlorene Sohn des Augustinus ist, so heißt das vor Allem, dass ihm „nach der Parabel Jesu der Vater mit doppelter Liebe begegnet“.15

    Seine brennende Frage nach dem gnädigen Gott führte Martin Luther in den Augustinerorden hinein und schließlich wieder heraus. Seine zentrale, erleuchtende Erfahrung lässt bei  allem Gedröhn einen „zarten, innigen Luther“16  erkennen. Beim Lesen des ersten Kapitels des Römerbriefes wurde ihm intuitiv klar, dass „Paulus mit diesen Worten eine schenkende und nicht eine strafende Gerechtigkeit meinte, eine Gerechtigkeit, welche den Menschen durch Christus verliehen wird, und die in keiner Weise von der Gestalt des Erlösers abgetrennt werden kann. Durch Christus fühlte sich der innerlich bebende Mönch befreit, wenn er auch stets mehr an den paulinischen Briefen als an den Evangelien orientiert blieb. Nach seiner Erleuchtung kam sich Luther als ein Mensch vor, dem sich die Pforten des Paradieses wieder  aufgetan hatten.  Mit dem gleichen Ingrimm, mit dem er vorher das Wort der ‚Gerechtigkeit Gottes‘ gehasst hatte, nahm er nun mit seiner mönchischen Herzensglut begierig das übersüße Wort in sich auf. Nicht der Mensch findet Gott, sondern umgekehrt, Gott findet den Menschen […]17.

    Als Getriebener hatte Martin Luther gelesen, immer wieder qualvoll gelesen, ist gegen den Text angerannt wie gegen eine Wand, um schließlich zu der Erkenntnis dessen zu gelangen, was Lesen ist: „Es kann niemand Gott noch Gottes Wort recht verstehen, er hab‘s denn unmittelbar von dem Heiligen Geist. Niemand kann’s aber von dem Heiligen Geist haben, er erfahr‘ es, versuch’s und empfinde es denn; und in derselben Erfahrung lehret der Heilige Geist als in seiner eigenen Schule, außer welcher wird nichts gelernet denn nur bloße Worte und Geschwätz.“18  Lesen heißt hier zu aller erst experimentieren, Erfahrungen machen, sich Veränderung aussetzen, sich beschenken lassen, sich selbst unterwandern.

    „Ein neues Gottesverständnis war ihm geschenkt worden, wodurch er als anderer Mensch nun auch alle Dinge anders ansah als vorher, und das ihn die Angst von dem Ewigen grundsätzlich überwinden ließ. Dieses christozentrische Erlebnis vom gerechtfertigten Sünder bildet den Mittelpunkt von Luthers Religiosität, von dem sowohl die Theologie des Kreuzes als die Lehre von der Alleinwirksamkeit Gottes nur Ausdeutungen sind.“19  In den Ausdeutungen seiner umstürzenden Erfahrung, dass nicht der Mensch Gott, sondern Gott den Menschen findet, blieb Martin Luther allerdings in seinem Weltbild befangen.

    Als Martin, der damals noch Luder hieß, 1483/84 im kursächsischen Mansfeld geboren wurde, unterbreitete Christoph Kolumbus dem portugiesischen König Johann II. seine Schifffahrtspläne. Sie führten wenig später zur Entdeckung Amerikas (1492). Diese Weltentdeckung ließ Martin Luther Zeit seines Lebens „seltsam unberührt“20. Dabei hatte, bizarrer Weise, Kolumbus zur Vorbereitung seiner Weltentdeckungsfahrt die Schriften eines Autors studiert, dessen Sentenzen Luther, einer Äußerung Melanchthons folgend, fast auswendig kannte:  Pierre d’Ailly.21  Aber wenn Luther von den „Grenzen der Zivilisation“ sprach, meinte er Wittenberg.

    Auf der größten Reise seines Lebens, 1510/11, zeigte sich Bruder Martinus so gut wie unbeeindruckt von durchwanderten Landschaften wie den Alpen oder der Großstadt Rom, dem Ziel seiner Reise.22 Er nahm seine Umgebung kaum wahr. Als Luther in Rom war, waren in der Sixtinischen Kapelle die „Schöpfungs- und Prophetenfresken der Decke“  bereits vollendet, „die Bilder der Vorfahren Christi auf den Lünetten der Fensterbögen“ waren  „in Arbeit“23. Wie hätte sich das theologische Denken Martin Luthers entwickelt, hätte er Michelangelo ein wenig beim Malen zugesehen?

    Aber „[g]erade Luthers Provinzialität, seine im Vergleich zu Leonardo und Machiavelli unleugbare Befangenheit in einer durch die spätmittelalterliche Entwicklung selbst gesprengte ‚Mittelalterlichkeit‘ ermöglichten ihm seine breite Wirkung. Leonardo und Machiavelli hatten auf das Missverhältnis von Vernunft und Weltlauf, wie es sich gegen 1520 abzeichnete, radikaler und origineller geantwortet. Indem Luther den anthropologischen Pessimismus, der sich jetzt nahelegte, theologisierte, verfestigte er die Zerrissenheit, die ohnehin vorhanden war“24.

    Seine Befangenheit zeigte Luther ganz als Sohn Augustins und dessen fatalem Hang zur Verdunklung. Theologische Stichworte wie Erbsündenlehre und doppelte Prädestination waren mit radikalen Folgen für einen negativen Blick auf den Menschen und die Welt verbunden. Luther übernahm diese Seite des Augustinus nicht nur, sondern spitzte sie zu. Luthers unbarmherziges Pathos wird deutlich, wenn man ihn „einmal nicht als den Entdecker einer zeitlosen christlichen Wahrheit, sondern als Rezipienten der spätmittelalterlichen Schulwissenschaft“ und im Vergleich mit seinen Zeitgenossen liest. „Luthers Texte sind Dokumente der Zeit um 1520. Sie erhalten ihr historisches Profil“, wenn wir sie lesen neben Schriften von Erasmus, Pomponazzi ‚ Machiavelli‚ Thomas Morus und anderen.25

    Stellt man in diesem Sinne einmal Martin Luthers Schrift „Von weltlicher Überkeit“ (1523) der „Utopia“ (1516) von Thomas Morus gegenüber, so fällt von den ersten Zeilen an neben Fragen der Sprache, des Stils usw. sofort auf, dass der eine Autor vom Schreibtisch aus anzeigt, wie die Dinge zu verstehen sind26  und der andere Autor darüber berichtet, wie er reisend jemandem begegnet, der ihm faszinierend vom Leben auf einer fernen Insel berichtet, die er seinerseits bereist hat.27 Der eine schreibt im Geiste des Belehrens. Der andere aus dem Geist der Neugierde und handelt doch sehr differenziert auch „Von den Obrigkeiten“28  und den Religionen als friedlicher Grundierung einer Gesellschaft: „jeder dürfe der Religion anhängen, die ihm beliebe; jedoch noch andere Leute zu seiner Religion bekehren dürfe er nur in der Weise versuchen, dass er seine Meinung freundlich und ohne Anmaßung auf Vernunftgründe aufbaue, nicht indem er die anderen Anschauungen mit Heftigkeit herabsetze.“29

    Legt man Nicolò Machiavellis Schrift „Discorsi“ (1531) neben Martin Luthers „Wider die mörderischen Rotten der Bauern“ (1525), so fällt vor allem auf, dass der eine Autor kühl und polemisch analysiert, auch darin seine Gegner nicht schont, und der andere aber Teufel und Schwefel auf seine Gegner herab ruft und schonungslos dazu aufruft, sie dahin zu morden und zu meucheln wie räudige Hunde30. Die genannten Autoren, der eine aus England, der andere Italiener, waren wohl Zeitgenossen Luthers, haben einander jedoch nicht wahrgenommen.

    Martin Luther und Erasmus von Rotterdam haben einander nicht nur wahrgenommen, sie haben einander geschätzt. Luther konnte auf die philologische Arbeit des Erasmus aufbauen für seine bahnbrechende Übersetzung des Neuen Testamentes. Luthers Ausfälle in der Bauernschrift ließen Erasmus jedoch bei aller grundsätzlichen Sympathie für Luthers Anliegen entsetzt zurückweichen. Ein historischer Streit entbrannte zwischen beiden Autoren um den freien Willen (ganz im Schatten von Augustin). Sieht man von diesem Kampfplatz31 einmal ab und liest Luthers „Vorlesung über den Römerbrief“ (1515/16) neben Erasmus‘ „Lob der Torheit“ (1508) so sticht Luthers Begeisterung über seine zentrale Erkenntnis der Gerechtigkeit aus Gnade bei der Lektüre des paulinischen Römerbriefes heraus. Über die Torheit dieser Erkenntnis (Röm 1,22) verliert er kein kommentierendes Wort32. Erasmus hingegen bemerkt bei seiner Betrachtung der paulinischen Torheit, wie sehr Paulus in der Torheit dann doch immer wieder mehr sein wollte als die anderen Apostel.33 Der Witz an der Torheit wäre eine gerüttelte Portion Torheit auch gegen sich selbst. Das war auch Luthers Sache nicht34. Luther hatte Recht. Seine Lesart der Schrift war die richtige.35  Wer dem nicht folgte, dem rief er Hölle und Teufel auf den Pelz.

    Luthers ihm wiederum nicht bekannter Zeitgenosse Pietro Pomponazzi schloss nun Hölle und Teufel philosophisch nach dem Ökonomieprinzip schlicht aus. Man brauche sie nicht. Sie erklärten nichts und wenn sie zurzeit noch etwas erklären sollten, so könne man getrost darauf hoffen, dass man später bessere Argumente ohne sie finden würde.36  Ein Vergleich zwischen Luthers philosophischer Argumentation im ersten Teil der „Heidelberger Thesen“ (1518)37 und Pomponazzis „Über die Unsterblichkeit der Seele“ (1516) lässt immer wieder Nähe und Ferne beider Autoren, oft unerwartet schnell aufeinander folgend erkennen.

    Ein weiterer Zeitgenosse Martin Luthers war Leonardo da Vinci. Sein Mailänder Abendmahl, die Porträts Johannis des Täufers, Anna Selbdritt und der Felsgrottenmadonna zeugen von gewagten und dabei treu erfinderischen Schriftlektüren.38

    Alle genannten Zeitgenossen Luthers hatten den Mut eigenständig zu denken. Sie sparten nicht an Kritik der Kirche gegenüber und waren überzeugt, dass Veränderungen dringend nötig waren. Machiavelli wies ausdrücklich auf die „Notwendigkeit ihrer Erneuerung“39  und nimmt dabei Bezug auf die franziskanische Reformation der Kirche. Diese entging Martin Luther ganz. Er hatte nur noch Spott für Minderbrüder übrig.40

    Dabei könnte gerade eine mindere Lesart seiner Schriften einen Martin Luther vorstellen, der behutsam aber deutlich aus Augustinus Schatten hervortritt. Was bedeutet eine mindere Lesart, eine lecture mineure? Sie bedeutet zuerst eine Variabilität von Perspektivwechseln.

    Ein weiterer Persepktivwechsel wird deutlich im Vergleich Martin Luthers mit einem weiteren seiner Zeitgenossen, mit Ignatius von Loyola. Beide sind Reformatoren; wie es nicht nur bereits vor Luther deutliche reformatorische Ansätze in der Kirche gegeben hat, gab es auch zu seiner Zeit weitere Reformationen. Dies zu denken setzt jedoch voraus, den geographischen Rahmen zu erweitern und vor allem nicht vorrangig (konfessionelle) Unterschiede herauszuarbeiten, sondern auf „strukturelle und funktionale Ähnlichkeiten“41 zu konzentrieren.

    Dann lässt sich folgendes feststellen: „ – Dem solus-Christus-Prinzip der Reformation entspricht die jesuitische Jesustheologie, wobei Luther eine Wort-Christus-, Loyola aber eine Gestalt-Jesus-Theologie entwarf. – Dem sola-scriptura, der Bibellektüre, die allein den Glauben eröffnet, entspricht bei Loyola die seine reformerische Wende herbeiführende Lektüre mittelalterlicher Erbauungsbücher, vor allem der „Vita Christi“ des Ludolf von Sachsen und der „Imitatio Christi“, des Thomas a Kempis. Allerdings ist auch der Unterschied unübersehbar: Für den Spanier gibt es neben der Bibel weitere Schriftoffenbarungen Christi und er setzt auf die Christusvision, die aus dem Hören des Wortes folgt; Luther und Calvin dagegen verharren beim bloßen Hören des Wortes.  – Selbst für das sola-fide / Allein-durch-den Glauben-Prinzip, das stets als das Proprium des Protestantismus galt, gibt es bei Loyola eine Entsprechung. Ausgangspunkt ist jeweils die Bibelstelle Römer 10, Vers 17: „fides ex auditu“, der Glaube entsteht durch das Hören. Luther baute darauf seine reformatorische Glaubens- und Worttheologie auf, Ignatius die in den Gründungsformula des Jesuitenordens festgeschriebene Verpflichtung auf das „verbi ministerium“, auf den Dienst am Wort, durch den der Glaube gefestigt und verbreitet werden muss. Unterschiedlich ist wieder die Explikation dieses theologischen Axioms: Für Luther nicht anders als für Calvin ist der durch das Hören des Wortes ausgelöste Glaube berechtigt, ja verpflichtet, die konkrete Ordnung der Kirche auf ihre evangelische Rechtmäßigkeit zu prüfen und gegebenenfalls zu verwerfen. Ignatius dagegen bindet den evangelischen Glauben unlösbar an den Gehorsam gegenüber der Kirche, an die oboedientia ecclesiae.“42 Schließlich sind die skizzierten Unterschiede in der Perspektive der Ähnlichkeit schlicht unterschiedliche Strategien von Reformation, also Katechismus und Exerzitien, Lehre und Erfahrung.

    Perspektivwechsel wie den in Richtung Ähnlichkeiten kann man allerdings nur realisieren, wenn man die in Texten angelegten Herrschaftsstrategien und -konstruktionen – und  das heißt bei Luther auch, und vielleicht vor allem, sein Gepolter, sein rhetorisches Gebell43 – unterwandert. Hierzu müsste man einen Autor, „der als groß angesehen“ wird, wie in unserem Falle Martin Luther, „als kleinen Autoren behandeln“, um seine „Möglichkeiten des Werdens wieder zu entdecken“.  Denn zu Größe wird man erhoben: „aus einem Denken macht man eine Doktrin, aus einer Lebensweise eine Kultur, aus einem Ereignis eine Geschichte“. Auf diese Weise  „täuscht man Anerkennung und Bewunderung vor“, in Wirklichkeit  „normiert man“ jedoch den Autor, unterwirft ihn einer Norm. Es geht also darum, sich diesem Vorgang der Normierung durch „Geschichtsschreiberei“ zu widersetzen. „Operation für Operation“ in einem geradezu chirurgischen Sinne kann man sich den Vorgang des Großmachens auch umgekehrt vorstellen: „depotenzieren (französisch minorer), ein von Mathematikern angewandter Begriff“. Man müsste also dem jeweiligen Autor entsprechend eine Methode des Minorisierens entwickeln, um die „Prozesse des Werdens gegen die Geschichte freizusetzen. Leben gegen Kultur, Gedanken gegen Doktrin, Wohlwollen oder Ablehnung gegen das Dogma“ mit dem Ziel, „jene aktive minoritäre Kraft wieder zu finden.“44

    Vor diesem Hintergrund hat Martin Luther ausdrücklich Anlass gegeben, ihn als kleinen Autor zu lesen. Und vieles spricht dafür, ihm als solchem sogar den Vorzug zu geben. Als Erfinder des sermo humilis in Deutscher Sprache mit seiner Übersetzung zunächst des Neuen Testamentes, dann der gesamten Bibel, stellt sich Luther als kleiner Autor vor: er übersetzte die Bibel, mit dem Ziel, dass alle, jede und jeder die Heilige Schrift lesen könne. Dann hat er selbst minoritäre, ausdrücklich kleine Texte verfasst. Hier liegt der Zugang zu einem Luther minor versteckt.

    1522 verfasste er „Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten solle“. Darin ermutigte Luther die Leser und Leserinnen des Evangeliums, und darunter versteht er namentlich sowohl die vier Evangelien als auch die Briefe des Petrus und des Paulus und die Apostelgeschichte, die allesamt  auf verschiedene Arten und Weisen das eine Evangelium enthalten. „‘Evangelium‘ ist und soll nichts anderes sein als eine Rede von Christus.“45 Dabei ist Luther folgendes als Voraussetzung jeglicher Lektüre, Lehre und Tun unabdingbar: „Das Hauptstück und der Grund des Evangeliums ist, dass du Christus zuvor, ehe du ihn dir zum Vorbild fassest, aufnehmest und erkennest als eine Gabe und Geschenk, das dir von Gott gegeben und dein eigen sei. So dass du, wenn du ihm zu siehest oder –hörest, dass er etwas tut oder leidet, nicht zweifelst, er selbst, Christus, sei mit solchem Tun und Leiden dein, worauf du dich nicht weniger verlassen kannst, als hättest du es getan, ja als wärest du derselbe Christus.“46  Der Charakter einer Gabe oder eines Geschenks setzt sich fort in der Art und Weise, wie Christus lehrt: „Er treibt und zwingt niemand, ja, er lehret auch so sanft, dass er mehr aufmuntert als gebietet, er fängt an und sagt: ‚Selig sind die Armen‘, ‚Selig sind die Sanftmütigen‘ (Lukas 6,20; Matthäus 5,5) usw.“47 Wenn Christus auf diese Weise zu einem kommt und Glauben wirkt: „Danach ist‘s not, dass du dir ein Vorbild daraus machest und deinem Nächsten auch so helfest und tust, damit du auch ihm zur Gabe und zum Vorbild gegeben seiest.“48 In dieser Folge erweist sich nicht nur der mindere Autor, sondern auch der minderer Leser: „O wollte Gott, dass bei den Christen doch das lautere Evangelium bekannt wäre, und diese meine Arbeit nur möglichst bald nutzlos und überflüssig würde…“49

    Unwesentlich später findet sich ein Zeugnis minoritären Handelns von Martin Luther, das zugleich auf eine weitere minoritäre Form dieses Autors aufmerksam macht, die Choraldichtungen und –nachdichtungen. In Ihnen kommen sowohl eine ökumenische Offenheit, als auch eine liturgische Verbundenheit mit den Traditionen der alten Kirche und der lateinischen Tradition zum Ausdruck. Die minorisierende Vorgehensweise Luthers wird an folgendem Beispiel exemplarisch deutlich:

    „Im Jahre 1523 wurde in Wittenberg das Fronleichnamsfest abgeschafft als Inbegriff jener mittelalterlichen Fehlentwicklung der Eucharistie, die Luther mit seiner Gottesdienstreform auf die biblischen Ursprünge hin korrigieren wollte. Aus dem damit hinfällig gewordenen liturgischen Textkorpus sollte aber ein kleines Stück festgehalten werden, das nicht zum offiziellen lateinischen Bestand gehörte, sich ihm im Laufe des 15. Jh. aber angegliedert hatte, das Lied ‚Gott sei gelobet und gebenedeiet‘ [EG 214]. Luther wollte es festhalten als Abendmahlslied. Als Gesang zur oder nach der Austeilung kommt ihm in seinen gottesdienstlichen Schriften erstrangige Bedeutung zu. Luther greift hier ein volkssprachliches Kirchenlied des späten Mittelalters auf, redigiert es und dichtet es weiter, und aus der Art dieser poetischen Rezeption lässt sich das besondere Abendmahlsprofil, das er dem abgeschafften Fest entgegensetzen wollte, aufs beste ablesen. Das Lied, dessen älteste Quellen aus der 2. Hälfte des  14. Jh. stammen, ist ursprünglich – dafür spricht auch die musikalische Verwandtschaft – ein volkssprachlicher Leis (d.h. mit dem ‚Kyrieleis‘ schließender Gesang) zur Fronleichnamssequenz ‚Lauda Sion salvatorem‘. Während die Sequenz vom Chor gesungen wurde, sang das Volk zwischen den lateinischen Strophen den refrainartigen Leis. Handschriften des 14. und 15. Jh. belegen den Text des Liedes aber auch schon losgelöst von seiner Stammsequenz als volkssprachliches Kommunionslied. Die Fassung, von der Luther ausgeht, besteht aus zwei Leisen, d.h. mit dem Refrain ‚Kyrieleis‘ schließenden Strophen. […] Luther verbindet die beiden Leisen zu einer Strophe, der ersten eines neuen Abendmahlsliedes. Bei dieser Bearbeitung entfallen drei Verse der mittelalterlichen Vorlage, die dem Reformator aus formalen (‚numeri et musicae ratio‘) wie auch aus theologischen Gründen überflüssig zu sein schienen. […]50 Ohne diesen missliebigen Zusatz ist ihm das mittelalterliche Lied jedoch das reinste Zeugnis wahren Abendmahlsverständnisses. […] Was somit schon in dem alten – ein wenig gereinigten – Volksgesang steht, wird nun von Luther aus dem überkommenen Fronleichnamskontext herausgezogen und mit zwei eigenen Strophen für den Gebrauch im Abendmahlsgottesdienst weitergedichtet. 1524 erscheint es erstmals in J. Walthers Gesangbüchlein und erobert sich in der Folgezeit einen festen Platz in den Evangelischen Gesangbüchern.“ 51

    Zu Luthers minoritären Schriften gehört natürlich, wie der Name schon sagt, „Der kleine Katechismus“ von 1529. Diese mit Illustrationen von Lucas Cranach52 herausgebrachte Bekenntnis- und Lehrschrift Martin Luthers ist lange Zeit ein regelrechtes Volksbuch gewesen. Als strategische Schrift der lutherischen Reformation ging sie als Lehrschrift stark in die Nähe von zuerst auf Erfahrung angelegten Schriften wie den Exerzitien der ignatianischen Reformation.

    Namentlich Luthers Morgen- und Abendsegen waren ganz auf den alltäglichen Vollzug angelegt. In ihnen suchte Luther seine klösterlichen Erfahrungen in die Praxis des Alltags der einfachen Gemeindeglieder zu übertragen. In so manchem Kirchenlied finden sich direkte Spuren des Kleinen Katechismus und den dazugehörigen Morgen- und Abendsegen.53

    1524 hatte Martin Luther „das Nunc dimittis, den Lobgesang des greisen Simeon (Lk 2,29-32) in ein jedem Christenmenschen zugedachtes Sterbelied umgedichtet“54.  Hieß es im biblischen Text: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren“, so ergänzt Luther im Liedtext  „das ‚in Fried‘ durch ‚Freud‘“: In Fried und Freud fahr ich dahin. Das ist „typisch lutherische Glaubensfreudezutat“.55

    In dieser Zutat – „zart und innig“ – könnte der Schlüssel zu Luthers Überwindung des Augustinismus liegen. Sie fiele zusammen mit einer lecture mineure des „großen“ Reformators.


     
  • ledic stâ

    Die Erfindung eines sermo humils in deutscher Sprache war für den Dominikanermönch, den man Meister Eckhart zu nennen gewohnt ist, im Vergleich zu Dante anders motiviert. Eckhart’s bevorzugte deutsche Ausdrucksform war die Predigt. Und so überraschend es auch erscheinen mag, für Meister Eckhart war eine Predigt so etwas wie eine Denkwerkstatt. Seine deutschen Predigten stehen seinen lateinischen Vorlesungen und Schriften in nichts nach.1  Er ging nicht nur im Sprechen, sondern auch im Denken neue Wege, teilte sie seinen Predigthörerinnen und  -hörern mit und traute sie ihnen somit zu.

    Folglich war auch sein Rückgriff auf Augustin von eigener Art. Die Schriften und Theorien, die Dantes Widerspruch herausforderten, ließ Eckhart schlicht beiseite. So spielte die augustinische „Logik des Schreckens“ (Kurt Flasch), also seine Erbsünden- und Gnadenlehre, so gut wie keine Rolle. Meister Eckhart diente vielmehr die augustinische Trinitätslehre als Referenz.2  Eckharts Lassen als Zugang zu Augustin kam einer Unterwanderung gleich. Diese Strategie sollte Konsequenzen haben, denn auf der Gnadenlehre beruhte auch die kirchliche Gnadenverwaltung… 3

    Was geschah? Eckhart entwickelte eine Philosophie des Christentums, indem er „nicht nur die Abhängigkeit der Welt von Gott, sondern auch die innerste Natur der Gottheit (Trinität) und ihre Beziehung zur Menschheit (Inkarnation)“4 zeigen wollte. Eckharts zentrales Beispiel ist das „Verhältnis des Gerechten zur Gerechtigkeit“5. Dieses Verhältnis soll nicht mehr nach dem Inhärenzmodell beschrieben werden, Gerechtigkeit also nicht bloß als „Eigenschaft an der Seelensubstanz des Gerechten“6  gedacht werden.

    Diese Denkfigur war Eckhart durch die neue Quellenlage und Lektüre des Aristoteles um 1200 obsolet geworden. Wenn schon von Inhärenz, also „von einem In-Sein die Rede sein soll, dann ist der Gerechte eher in der Gerechtigkeit. Jedenfalls kann er nicht außerhalb ihrer sein oder getrennt von ihr. Die Gerechtigkeit geht ihm als seine innere Norm und als seine wahre Natur voraus, nicht zeitlich, sondern als sein Grund. Der Gerechte hat an der Gerechtigkeit teil. Eckhart gebraucht in diesem Zusammenhang den platonischen Grundbegriff der ‚Teilhabe‘, aber der genügt ihm nicht: Die Gerechtigkeit ‚spricht‘ sich selbst aus im Gerechten. Das Gerechte ist ‚das Wort‘ der Gerechtigkeit. ‚Gerechtigkeit’ ist dynamisch; sie wäre nicht, was sie ist, wenn sie nicht gerecht machte […] Dies Wort erzeugt den Gerechten, sofern er gerecht ist. (Auf dieses ‚sofern‘ kommt viel an, wie Eckhart später in der sogenannten Rechtfertigungsschrift erläuterte).“ 7  

    Meister Eckhart entwickelt hier eine Wort-Gottes-Theologie bei der das Wort als schöpferisches Prinzip Gottes selbst sich dem Menschen schöpferisch, erzeugend mitteilt. Das Wort erzeugt. Und das heißt: „Sofern wir gerecht sind, sind wir die Gerechtigkeit, und dann kennen wir sie auch. Sofern wir gerecht sind, nimmt die Gottheit uns in sich auf; wir werden ihre Söhne [und Töchter]. Zwischen der erzeugenden Gerechtigkeit und dem erzeugten Gerechten ist eine Verschiedenheit der Personen, nicht der Natur: Wir sind ein anderer (alius) als die gebärende Gerechtigkeit, nicht etwas anderes (aliud). Es gibt eine Verschiedenheit von erzeugender Gerechtigkeit und erzeugten Gerechten, denn nichts erzeugt sich selbst. Aber wir sind eins mit der Gerechtigkeit, sofern wir gerecht sind. Ich und der Vater sind eins. Dies ist die fortwährende Menschwerdung Gottes, auf die die historische Menschwerdung Christi hingezielt hat. Die Gottheit = Gerechtigkeit kann nicht zerteilt gedacht werden. Wenn sie sich mitteilt, teilt sie sich ganz mit. Daher ist ganz in jedem Gerechten und ganz außerhalb seiner. Zwischen der Gerechtigkeit und dem von ihr ‚geborenen‘ (nicht ‚gemachten‘) Gerechten – sie bilden ein Leben, kennen nicht den Abstand von Handwerker und Instrument – besteht eine wechselseitige Beziehung“.8

    Diese Ausformung von Dynamik und Wechselseitigkeit im Denken Eckharts entfalteten eine besondere Kraft in seinen deutschen Predigten. Denn die „deutschen Texte, meist einzelne Predigten, kein Corpus von Handschriften, sprachen in einem nicht akademischen, also breiteren Lebenszusammenhang: Sie formulierten einen neuen, nicht mehr feudalen, nicht mehr benediktinisch-monastischen Weltbegriff, einen neuen Begriff des Menschen und der Religion. Sie griffen die Armuts- und die Frauenbewegung auf, die seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts die kulturelle und kirchliche Gesamtsituation umgestaltet hatten. Eckharts Predigten drücken eine neue, nicht mehr hierarchisch fixierte Sichtweise aus, die Stadtbürger und Frauen als die ihre anerkennen konnten. Gleichzeitig mit Dante und Lull erklärte ihnen Eckhart, dass Adel nicht an Blut, Familienbesitz und feudales Lebensgefühl gebunden sei; es lag jetzt an jedem selbst, ob er ‚edel‘ war. Eckhart radikalisierte die Armutsidee, um einer neuen Autonomie zu Wort und Realität zu verhelfen: Der Mensch soll verzichten, nicht nur auf Macht und Geld, nicht nur auf kollektives und privates Eigentum, sondern auf alle äußeren Rücksichten, auf Herkommen und Ansehen, aber auch auf jenseitige Belohnungen. Er soll nicht um Lohnes, aber auch nicht um Gottes willen tun, was er tut. Er soll alles lassen, die Welt, sich und Gott. Alle gegenständlichen Fixierungen, zu denen auch die ‚Tugend‘, das eigene Ich und der jenseitige Gott gehören, soll er fallen lassen, damit er lebe. ‚Leben‘ heißt aristotelisch: sich aus sich selbst bewegen, sein Ziel in sich selbst haben. ‚Leben‘ heißt: aus einheitlichem Grund handeln; Leben ist von Leben nicht verschieden. Wer diese ‚Armut‘ realisiert, findet ‚Gelassenheit‘: Die Mittel-Zweck-Konstruktionen verlieren Lebensbedeutung. Die technokratische Selbststilisierung endet. Ich wirke ohne Warum.“9

    ‚Armut‘ und ‚Gelassenheit‘ sind zwei entscheidende Worte des Eckhart‘schen sermo humilis. In ihnen vereinen sich philosophische Präzision und lebenspraktische Anknüpfung. Beides findet sich in seinen Predigten.10   Sie stellen nicht nur in ihrer Augustinrezeption bis heute kaum zu überschätzende homiletische Herausforderungen dar. In ihrer Wirkung, insbesondere in Bezug auf die Verwendung der deutschen Sprache als Predigtsprache, erhielten sie einen verheerenden Dämpfer durch die Verurteilung einiger Thesen Meister Eckharts durch Papst Johannes XXII im Jahre 1329 in Avignon.

    Wie Meister Eckhart den sermo humilis von der Armut aus einer unterwandernden Lesart des Augustinus entwickelt, lässt sich besonders an seiner Predigt 52, Beati pauperes spiritu, zeigen.

    Vermutlich hat Meister Eckhart diese Predigt um 1320 in Köln gehalten. Köln war seinerzeit eine der reichsten deutschen Städte. Die „größte soziale und ökonomische Expansion, die Europa vor der Industrialisierung erlebt hatte“, ließ das Problem der Armut deutlich sichtbar hervortreten. Armut konnte nicht länger als „der sozusagen ‚normale‘ Zustand einer erbsündigen Menschheit“ betrachtet werden. Franz von Assisi hatte Jesus als einen Armen wieder entdeckt und zur Geltung gebracht. Doch: „wie weit war die Armutsidee zu treiben?“11

    Meister Eckhart unterscheidet zu Beginn seiner Predigt zwischen äußerer und innerer Armut. Er lobt die äußere Armut: „Sie ist hoch zu loben, in einem Menschen, der sie um der Liebe unseres Herrn Jesus Christus willen frei erwählt hat.“12  In seiner Predigt soll es aber um die innere Armut gehen.

    Von der Seligpreisung in Matthäus 5 ausgehend, ohne weiter auf bibelwissenschaftliche Fragen einzugehen, gliedert Meister Eckhart seine Predigt in nüchterner Klarheit in drei Teile. Arm sind wir, indem wir nichts wollen, nichts wissen und nichts haben.13

    Zunächst mag lediglich die Reihenfolge von wollen, wissen und haben überraschen. Man würde das Haben an erster Stelle erwarten und auf die äußere Armut beziehen. Doch nicht so Meister Eckhart. Er eröffnet mit einem Zitat von Albert von Köln den Horizont seiner Überlegungen: die neuplatonisch- augustinische Tradition. Augustin hatte in De Trinitate VIII 3 und in den Confessiones IX den Denkweg vorgezeichnet: „Sieh die Körperwelt an und negiere sie. Komme zur Geistseele und negiere sie, dann siehst du Gott. Sieh das gute Brot und den guten Freund. Nimm die Einzelbestimmungen ‚Brot‘ und ‚Freund‘ weg, halte nur das Gutsein fest und du begreifst Gott“14

    Augustin hatte die einschränkenden Einzelbestimmungen negiert, um zum Unbeschränkten zu gelangen. Meister Eckhart geht in dieser Richtung noch weiter als Augustin. Er geht über die Gegensätze und Entgegensetzungen hinaus. „Negiere auch den Gegensatz zwischen Gott und dir. Das kannst du, denn du stehst immer in deinem ersten Grund. Dieser ist unendlich einfach; alles, was in ihm ist, ist er selbst. Also bist du, sofern du dort bist, selbst dieser erste Grund, aus dem Gott und die Welt  und du, als Einzelwesen, hervorgehen. In diesem ersten Grund bist du, dort brauchst du nichts, begehrst folglich nichts. Begehren, Verlangen, Anstreben, dies alles setzt voraus, dass das Gute außer dir ist. Du bist aber im Guten. Du bist das Gute. […] Lebendig ist, was seinen Zweck in sich hat, nicht in einem anderen.“  Darin geht Meister Eckhart auf das aristotelische Konzept der Entelechie zurück und radikalisiert auch das folgendermaßen:  „Der Mensch soll weder sich selbst leben noch der Wahrheit noch für Gott. In der Einheit ist er diese selbst; er hat kein Außen mehr; er kennt keinen Zweck und benutzt nichts als Mittel. Er gibt jede Zweckorientierung auf. Er lebt, um zu leben, oder besser: Er lebt ohne Wozu.“15

    Wan daz ist armuot des geistes, daz er alsô ledic stâ gotes und aller sîner werke16   „Denn das ist Armut des Geistes: Abgelöst leben von Gott und seinen Werken, so dass Gott, wenn er in der Seele wirken will, selbst die Stätte ist, worin er wirken will – und das tut er gern. Denn findet Gott den Menschen in seiner Armut, dann nimmt Gott sein Wirken in sich selbst auf; er wird die eigene Stätte seiner eigenen Werke, denn Gott ist ein Tätiger, der in sich selbst wirkt. Hier nun, in dieser Armut, das erreicht der Mensch das ewige Sein, das er einst gewesen ist, das er jetzt ist und das er immer bleiben wird. Doch da entsteht ein Problem: Der heilige Paulus sagt: ‚Alles, was ich bin, das bin ich durch die Gnade Gottes‘.17   Aber meine Rede steigt höher hinauf – höher als Gnade, als Sein und Erkennen, als Wollen und Verlangen – wie kann dann das Wort des heiligen Paulus wahr sein? Hierauf lautet die Antwort: Das Wort des Paulus ist wahr. Er brauchte die Gnade, denn die Gnade Gottes bewirkte in ihm, dass das Zufällige an ihm in sein Wesen ein ging. Als die Gnade endete, weil sie ihr Werk vollbracht hatte, da blieb Paulus das, was er war. Also lehren wir, der Mensch solle so arm dastehen, dass er keine Stätte sei und keine Stätte habe, in der Gott wirken könnte. Wo der Mensch noch eine solche Stätte behält, dort hält er am Unterschied fest. Darum also bitte ich Gott, dass er mich ablöse von Gott…18 Her umbe sô bite ich got, daz er micht quit mache gotes19

    Immer wieder kreisen die Gedanken hier um etwas, das mit sich selbst identisch ist. Und dies nicht mit sich selbst als mit etwas anderem hinzugekommenen, oder erst durch das Hinzukommen von etwas anderem. In der Sprache Meister Eckharts heißt das: „Ez ist selbe daz selbe“. In mittelalterlich lateinischer Übersetzung ipsum per se. Kurt Flasch nennt es „selbig“.20

    Eckhart geht mit dieser Denkfigur auf den aristotelischen und neuplatonischen Nous als einem gottmenschlichen Intellekt zurück. Demnach ist unser Intellekt in sich Leben und Seligkeit, „nicht erst durch anderes Hinzukommendes“. Er ist keine Eigenschaft, oder Vervollkommnung. Der Intellekt weist keine Bestimmungen auf und zergliedert sich nicht in etwas oder etwas anderes. Er ist nicht dinghaft noch verdinglichend. Er ist „tätige Verneinung“, privatio, „beroubet-Sein“.

    Eckhart ging in diesem Verständnis des Intellektes auf Plotin und Augustin zurück. „Aber Eckhart verstärkte diese Motiv, gestützt auf Aristoteles, die Aristoteleserklärer Averroes, Albert und Dietrich von Freiberg. Seine Armutspredigt enthält eine Philosophie des Christentums, der Beseligung und des Intellekts auf aristotelisch-averroistischer, durch Albert und insbesondere durch Dietrich vorbereiteter Basis.“21  Auf das Pauluszitat: „Durch die Gnade bin ich, was ich bin“ bezogen, heißt das folgendes:

    Die Gnade formt „unsere geistig-willentliche Außenbetätigung, alles, was dem möglichen Intellekt, intellectus possibilis, untersteht, also Wollen und Handeln, alle dinghafte Weltbeziehung. Unser Umgang mit Dingen steht akzidentieller Vervollkommnung offen. Die Gnade hat ihr Feld. Aber sie ist eingeschränkt auf den ‚möglichen Intellekt‘, auf den rezeptiven Geist, den intellectus possibilis. Der ‚tätige Intellekt‘, intellecuts agens, braucht sie nicht. Er ist das, was wir immer schon waren. Er ist keiner weiteren Vervollkommnung fähig. Er hat keine Eigenschaften. Ihm ist das Haben das Sein. Er ist der Kern unseres Wesens, und da Gnade die Natur nicht zerstört, sondern voraussetzt, kann Gnade sich nur auf die intellektuelle und willentliche Außenbeziehung des Menschen richten. Dafür ist sie unentbehrlich […] Die Gnade hilft uns zufallsausgesetzten Menschen zu dem, was wir als wesenhaft tätiger Intellekt zufallsüberlegen von Ewigkeit sind.  Der ‚tätig Intellekt‘, Intellectus agens, setzt das Wesen der Seele in die Ewigkeit. Hat die Gnade ihr Werk getan, dann überformt der tätige Intellekt, der oberhalb der einzelnen Seelenkräfte steht, den ganzen Menschen. Dieser, ein bestimmtes Individuum, Paulus zum Beispiel, ist dann zu dem geworden, was er immer schon war.“22

    Im Horizont seiner Untersuchungen zur „Dekonstruktion des Christentums“ kommt Jean-Luc Nancy auf die Predigt 52 von Meister Eckhart zu sprechen.  Schon die Ausgangsfrage seiner Analyse dieser Predigt zeigt die Pointe von Eckharts homiletischer Praxis als Denkwerkstatt in der spirituellen Praxis als Gebet. Denn: „Kann man von (de) Gott sprechen (parler) ohne sich an (à) Gott zu richten (s‘adresser)?“23


     
  • Los jetzt!

    Dante hatte sich entschlossen, seine Commedia divina im volgare zu verfassen. Er erfand ein sermo humilis,  der verschiedene Sprachebenen nebeneinander stehen ließ1. Für aufmerksame Klassiker unter seinen Lesern, bot dies durchaus Anlass zu Kritik2. In seiner neuen Sprache begann Dante nicht nur seinen literarischen Ausdruck zu verändern, er las die Wirklichkeit neu:

    Als Dante das Paradies durchwandert, gelangt er schließlich in den zehnten Himmel, das Empyreum, das ist „der unräumliche Raum Gottes und der Seligen“. Man hat die überwältigende Darstellung des Gustave Doré vor Augen, zumindest erinnert man sich sofort, wenn man sie wieder sieht:
    Pura luce:
    Luce intellectual, piena d’amore;
    Amor di vero ben, oien di letizia;
    Letizia che trascende ogne dolzore. 3

    Dante trinkt aus dem Lichtfluss, einem „leuchtende[n] Fluten, goldrot glänzend“ und betrachtet die himmlische Architektur einer Rosenblüte. Bernhard von Clairvaux erläutert ihm die himmlische Sitzordnung. Auf den Blütenblättern der Rose sind die Sitze der Seligen angeordnet „je nach der Seite, von der ihr Glaubensblick auf Christus fiel“. Auf der einen Seite die, „die an den kommenden Christus glaubten“, auf der anderen Seite die, die auf den Christus blickten, der gekommen ist“.4 Dort erblickt Dante auch Augustinus. Und Bernhard erläutert ihm die „hohe göttliche Voraussicht“, über die er, Dante, „im stillen zweifelt“5: „In den frühesten Zeiten genügte, um das Heil zu erlangen, die Unschuld zusammen mit dem Glauben der Eltern; später, als die ersten Zeiten vollendet waren mussten männliche Wesen beschnitten werden, damit ihr unschuldiges Gefieder Kraft gewann; aber seit die Zeit der Gnade kam, blieben Kinder ohne die vollkommene Taufe Christi auf dort unten beschränkt.“6

    Diese augustinische Frage der Gnadenwahl  ist für Dante nicht nur eine theoretische. Als Höllenfahrer nach Aeneas und Paulus, wird Dante vom Römischen Dichter Vergil geführt. Allein diese Konstruktion birgt einen auf der Wanderung mehrfach diskutierten Konflikt mit den theologischen Theorien des Augustinus.  Denn Vergil war nicht getauft, konnte nicht getauft sein. So musste er in der Hölle zurückbleiben.7 Das schmerzte Dante tief.

    Dante kannte vor allem die Confessiones von Augustinus – das der Commedia zugrunde liegende alte Motiv des Aufstiegs zum Guten hat einen Echoraum in der „Unruhe des Herzens“, die erst in Gott zur Ruhe kommt – aber auch De Civitate Dei und De Trinitate. Er übernahm von Augustinus „die Lehre von Gott als dem Guten in allem Guten (bonum omnis boni), die Analyse der drei Funktionen des menschlichen Geistes (mens) als Erinnern, Einsehen und Lieben und er entwickelte Augustins Metaphysik der Liebe in seinem Sinne weiter“; Dante hat Augustinus aber auch in mehr als einer Hinsicht widersprochen.8

    Dante empfindet Vergils Verbleib in der Hölle nicht nur als unrechtmäßig. Er erscheint Dante als „Unbegreiflichkeit des göttlichen Beschlusses“ und somit als dessen Mangel. „Der humane und weise Vergil bleibt für immer vom Paradies ausgeschlossen, dies erzeugt einen Schmerz, den Dante dem Leser [seiner Commedia] bis zum Ende nicht abnimmt. Er akzeptiert den Mangel an Rationalität und Gerechtigkeit der Erbsünden- und Gnadentheorie, lässt ihn aber bis zum Ende als Kontrast erscheinen zur Überzeugung von der Weisheit als der Tochter Gottes, die weiß, dass Gott ein Gott der vernünftigen und guten Ordnung ist.“9

    Dante belässt es nicht nur beim Kontrast. Er arbeitet ihn heraus und unterwandert ihn erfinderisch.  An Aristoteles anschließend sieht er den Menschen als auf der Suche nach Glückseligkeit und konkretisiert diese Suche im Sinne einer „von unserem Geist immer gesuchte[n] Wahrheit“ als „die Totalität der Ideen im Geist Gottes“. Diese Sehnsucht nach der Wahrheit „modifiziert sich nach dem Status dessen, der diese Sehnsucht hat und ihr folgt. Im irdischen Leben ist sie unvollkommen. Gesättigt wird der Geist nur, wenn die Gnade hinzukommt. Gnade heißt hier: Neidlose Mitteilung, Menschenfreundlichkeit Gottes, nicht willkürliche Auswahl einzelner aus der Sündenmasse. Die volle Glückseligkeit ist nur im Himmel zu erreichen, für Getaufte und Erwählte, aber die natürliche Weisheit ist wirkliche Seligkeit und Gottesnähe. Daher kennt Dante ein zweifaches Glück. Daher dichtet er in der Commedia ein irdisches und ein himmlisches Paradies“.10

    Ein weiterer Kontrast zwischen Dante und Augustin öffnet das Feld der Gnadenwahl ins Politische. Wie an anderen Stellen nimmt sich Dante die Freiheit, historische Konstellationen sub specie paradisi aufzuschließen. Dies geschieht zum Beispiel, wenn er Thomas von Aquin seinen historischen Gegner Siger von Brabant oder auch Bonaventura seinen Gegner Joachim von Fiore ausdrücklich wert schätzen lässt. Von der zentralen Bedeutung des Römischen Dichters Vergil in unserem Zusammenhang war schon die Rede.

    Ein anderer Römer ist Cato. Der römische Politiker Cato hatte sich nach dem Sieg Caesars und der Abschaffung der republikanischen Freiheiten das Leben genommen.  „Augustin hat den Suizid streng verworfen; auch Dante sah ihn als Verstoß gegen die Natur an, aber hier stellt er diese Bewertung zurück und macht Cato zum Aufseher über das Purgatorio. Er preist ihn: Cato hat den Wert der Freiheit vorgelebt, und als die verloren ging, verweigerte er das Weiterleben.“ Dante sieht in Cato‘s Selbsttötung einen politischen Protest gegen die Tyrannei. Er ist kein Christ, aber als Heide ist er „im Besitz der natürlichen Tugenden, deren Wert im Purgatorio anerkannt und um die Ethik der  Bergpredigt erweitert ist.“11 Doch die Wertschätzung Cato‘s hat noch einen weiteren Aspekt. Dante plädiert gegen Augustin für die Anerkennung der Verdienste des Römischen Reiches im Sinne einer Rechts- und Friedensmission. Augustin hatte dem Römischen Reich nicht einmal den Status einer civitas zugestanden, „da es auf Unrecht beruhe, nämlich auf der Verehrung falscher Götter. Augustin sah in den heidnischen Göttern nicht Produkte der Volksphantasie, sondern real existierende Dämonen“. 12 Für Augustin war das Römische Reich, wie alle Reiche dieser Welt nichts „als große Räuberbanden, magna latrocinia13. Dante hingegen schätzt natürliche Verdienste nicht nur wert sondern begründet sie durch den natürlichen Menschen, nicht etwa als ein durch die Kirche oder den Papst verliehenes Recht. Dante wollte die Rolle des Papstes  auf eine „geistliche Vaterrolle“ 14 beschränkt sehen. Er wollte eine arme Kirche.

    In der Welt zwischen 1250 und 1350 hatte der „wachsende Reichtum der mittel- und norditalienischen, der französischen und rheinischen Städte eine wachsende Armut zur Folge. Es entstand eine neue Sensibilität für Not, Leiden, Armut. Franz von Assisi hat die Empfindlichkeit für die Not der Armen und Kranken gefördert: Man erinnerte sich, dass Jesus arm gewesen war. Das apostolische Leben war ein armes Leben; der Jesus des Neuen Testaments hatte klar gesagt, der Menschensohn habe nichts, wohin er sein Haupt legen kann. Seine Jünger sollten, wenn sie unterwegs seien, kein Geld dabei haben. Abaelard hatte in seiner Theològìa die Quellen antik-philosophischer Armutsideen ausgegraben und mit denen des Neuen Testaments synthetisiert. Weder die Idee der Armut noch die Kritik an Hybris oder superbia ist erst auf christlichem Boden entstanden, und darauf insistierte Abaelard. In der Macht- und Geldkirche des 13. Und 14. Jahrhunderts löste das zugleich antik-philosophische wie neutestamentliche Konzept freiwillig besitzlosen Lebens gewaltige Spannungen aus. Das Verlangen nach einer ecclesia spiritualis durchzieht die Commedia“…15

    Auch für diesen Gedanken sind Stichworte wie Intellekt (nous) und Glückseligkeit (eudaimonia) von ausschlaggebender Bedeutung. Sie zeugen von einer Rezeption des Aristoteles um 1200 die Augustinus quellenmäßig (und sprachlich) nicht möglich war und die auf arabische Quellen, Wissenschaftler und Kommentatoren wie Avicenna und Averroes zurückgingen. Diese neu zugänglichen Quellentexte und Kommentare waren nicht unumstritten und entfalteten eine sehr lebendige philosophische Debatte mit weitreichenden theologischen Folgen.16

    Diese Debatte jenseits historischer Verurteilungen in ihrer Vielfalt erneut aufgeschlossen zu bedenken und nach zu verfolgen ist eine Herausforderung für die heutige Lektüre Augustins und seiner Rezeption durch die Reformatoren, die ihrerseits unklar bis auf uns gegenwärtig ist.

    Schließlich werden alle Beteiligten einer solchen Arbeit am „evangelischen Plasma“  mit Dantes Worten sagen müssen: „Aber dazu reichten meine Flügel nicht, doch mein Geist war erschüttert von einem Lichtblitz, in dem er sein Glück fand.“17

    Daraus kann nur eines folgen: Or movi 18– Los jetzt!


  • sermo humilis

    Der deutsche Literaturwissenschaftler und Romanist Erich Auerbach verfasste in seinem amerikanischen Exil, in dem er bis zu seinem Tod 1957 lebte, eine Studie zum sermo humilis. Darin beginnt Auerbach mit der Lektüre einer Predigt von Augustinus und stellt fest, dass „diese rhetorische Art des Ausdrucks im ganzen und alle ihre Formen […] der antiken Schultradition“ entstammen. Zu Augustins‘ Zeiten um 400 war „die ungebildete oder halbgebildete Ausdrucksweise, für antike Ohren peinlich ungriechische oder unlateinische Ausdrucksweise der urchristlichen Literatur“ nicht mehr bestimmend.

    Die christliche Predigt hatte sich den Hörgewohnheiten ihrer Zuhörer angepasst. Sie wurde eine „Art pädagogischen Theaters“. Als Beispiel nennt Auerbach neben Augustinus für den Westen auch Johannes Chrysostomos, „den berühmten Prediger des Ostens“2.

    Augustinus war nicht nur ein glänzender Rhetoriker. In seinem Werk De doctrina christiana hat er sich auch zu den Fragen des Verhältnisses von Rhetorik und Predigt geäußert. Hierbei griff Augustinus vor allem auf Cicero zurück. Diese rhetorische Tradition „ist auf der Anschauung von den Rede- und Dichtungsarten aufgebaut, in welcher, nach Stufen der Würde, die Gegenstände mit der Ausdrucksweise übereinzustimmen habe; somit war es wesentlich, auch die Gegenstände nach ihrer Würde zu ordnen“.3

    Über niedere Gegenstände sprach man im niederen Stil, über mittlere Gegenstände im mittleren und über erhabene Gegenstände im erhabenen Stil. Augustin übernahm und begründete dies Prinzip in der jeweils „verfolgten Absicht“  der Rede4.  Den Bezug auf die Gegenstände weist er jedoch zurück.5

    „Das ist eine so bedeutende Abweichung von der rhetorischen und überhaupt literarischen Tradition, dass es nahezu die Zerstörung ihrer Grundlagen bedeutet“6, interpretiert Auerbach.  Im christlichen Zusammenhang verlieren die niederen, alltäglichen Gegenstände ihre Niedrigkeit und höchste Gegenstände des Glaubens können in niederer Ausdrucksweise jedem verständlich vorgetragen werden.

    Um diese rhetorische Besonderheit der christlichen Predigt (und Literatur) zu beschreiben, erfindet Erich Auerbach den Begriff des sermo humilis neu. „Humilis hängt zusammen mit humus, Erdboden, und bedeutet im wörtlichen Verstande niedrig, niedrig gelegen, klein gewachsen.“7 Der übertragene Sinn von humilis entwickelte sich in verschiedene Richtungen: wertlos, gering, sowohl im Einzelnen als auch um Verhältnis zu etwas; im sozialen und politischen Sinne niedrige Herkunft, geringe Bildung, Armut, keine Macht; im moralischen Sinne unwürdiges Handeln, Unterwürfigkeit. Verschiedene Aspekte können vermischt auftreten. In der Rhetorik wurde sermo humilis zur gebräuchlichsten Bezeichnung des niederen Stils. Andererseits wurde humilis „zum wichtigsten Eigenschaftswort für die Bezeichnung der Inkarnation“ und drückt auf diese Weise „die Atmosphäre und Höhenlage des Lebens und Leidens Christi aus“.8

    Ein ursprünglich abwertend gebrauchtes Wort verschob seine Bedeutung und wurde „unmittelbar auf Christus selbst“ bezogen. Dabei betont es die „Körperlichkeit Christi auf Erden und nach der Auferstehung“.9 Es bezieht sich zugleich auf die „soziale und geistige humilitas derjenigen, an die sich die Lehre wendet und denen sie zugänglich ist“.10  Zudem bezieht es sich auf „die humilitas des Stiles der Heiligen Schrift“.11

    Ziel und „Charakter dieser Demut oder Niedrigkeit des Stils ist Allgemeinzugänglichkeit“.12 Die Niedrigen sollen sich angesprochen fühlen. Damit ist aber der Inhalt der Schrift nicht niedrig und auch nicht immer einfach. Manches klingt dunkel und verborgen. Doch auch das Dunkle soll nicht einschüchtern oder abschreckend vorgetragen werden. Dabei geht es nicht nur um Stilformen der Rede. Mit ihnen kann man elastisch verfahren. Auerbach nennt diese Verfahrensweise polar – die Rede pendelt stilistisch mit weitem Ausschlag zwischen dem Niedrigen und dem Erhabenen – und bringt Beispiele aus Augustins‘ De Trinitate und aus einer der frühesten Märtyrerakten (Passio SS Perpetuae et Filicitatis).

    Bei allen unterschiedlichen Stilmitteln, die z.B. bei Augustin vielfältige Verwendung finden und denen sich die Märtyrerakten ganz enthalten, ist das Hauptmerkmal des sermo humilis seine allgemeine Zugänglichkeit. Jede/r sollte lesen und verstehen können. Das schließt eine „caritativ sich [n]eigende“ Geste, ebenso wie eine Diskretion fürs „Erhabene“ und die Offenheit für „Gemeinschaftliche[s]“ ein.13

    Bis hierhin meint Auerbachs Untersuchung zum sermo humilis die Lateinischen Sprache als Sprache des Christentums. Mit historischen Veränderungen der Lateinisch sprachigen Kulturen änderte sich auch die Sprache. Das Lateinische wurde weniger „antikisch“ (Auerbach). Das zog Veränderungen des christlichen Sprachgebrauchs nach sich. Im Zweiten Teil seiner Untersuchung verfolgt Erich Auerbach die Entwicklung des sermo humilis in das sogenannte Frühmittelalter. Zu Beginn des sechsten Jahrhunderts begann eine Entwicklung, die um 1300 virulent wurde.

    Die Gesellschaften hatten sich diversifiziert und individualisiert. Die Volkssprachen drängten in die dem Lateinischen angestammten Bereiche, wie Gerichte, Universitäten usw. „Dieser Prozess lief in mehreren Sprachgebieten fast gleichzeitig: Raimundus Lulus (gest. 1316) bewirkte ihn fürs Katalanische wie Meister Eckhart (gest. 1328) fürs Deutsche, Dante (gest. 1321) fürs Italienische. […] Sie wollten dem Stadtpublikum, das vernünftige Erklärungen verlangte, die Wahrheit des Christentums zeigen.“14

    Ein sermo humilis musste erfunden werden, wie es Dante in seiner Commedia tat und Meister Eckhart in seinen deutschen Predigten. Mit der Verurteilung von Meister Eckhart (1329) erlitt die deutsche Entwicklung einen deutlichen Rückschlag. Erst Martin Luther wagte den Durchbruch mit seiner Bibelübersetzung.

    Luther und Dante waren ausgiebige Kenner und Leser der Schriften des Augustinus. Luther verstärkte Augustinus‘ dunkle Seite (s.o.). Dante jedoch widersprach ihm15. Sollten wir bei Dante, dem „Dichter der irdischen Welt“ (Erich Auerbach), das Instrumentarium zu einer „Befreiung vom Augustinismus“ finden?

  • minderheitlich werden

    Das Gedenken und Jubilieren der 500 Jahre Reformation wird unterwandert von der Jahreszahl 1917. Wobei ‚Luther 1917‘ im Rausch des Ersten Weltkrieges davon nichts mit bekam. Die vergessene Vorgeschichte der eigentlichen Unterwanderung von 1917 findet sich in einem Tagebucheintrag des Dadaisten, Reformations- (und Erste-Weltkriegs-) Kritikers und Homiletikers2 Hugo Ball. Er notierte am 7. Juli 1917 im Schweizerischen Mogadino:

    „Seltsame Begegnisse: Während wir in Zürich, Spiegelgasse 1 das Kabarett hatten, wohnte uns gegenüber in derselben Spiegelgasse, Nr. 6, wenn ich nicht irre, Herr Uljanov-Lenin. Er musste jeden Abend unsere Musiken und Tiraden hören, ich weiß nicht, ob mit Lust und Gewinn. Und während wir in der Bahnhofstraße die Galerie eröffneten, reisten die Russen nach Petersburg, um die Revolution auf die Beine zu stellen. Ist der Dadaismus wohl als Zeichen und Geste das Gegenspiel zum Bolschewismus? Stellt er der Destruktion und der vollendeten Berechnung die völlig donquichottische, zweckwidrige und unfassbare Seite der Welt gegenüber? Es wird interessant sein zu beobachten, was dort und was hier geschieht.“ 3

    In unmittelbarer jahreszeitlicher Nähe der Reformationsbegängnisse im damaligen Kriegsdeutschland fand im damaligen Russland die Große Sozialistische Oktoberrevolution statt.  Eine spätere Praxis dieser Revolution – die Sowjetunion hatte nach dem Zweiten Weltkrieg an der Evangelischen Kirche des damaligen Deutschland eine Zwangsprovinzialisierung exekutiert – führte 1969 zur Gründung des Bundes der Evangelischen Kirche in der DDR. Im Ringen um die Existenzweisen einer „Kirche im Sozialismus“ machten die ostdeutschen Christinnen und Christen in ihren Kirchen Erfahrungen zwischen rüder Repression und friedlicher Revolution.

    Diesen im Detail sehr unterschiedlichen persönlichen und institutionellen Erfahrungen eignet ein zukunftsweisendes, ins „Donquichottische“ reichendes Potential.  Das lässt sich jedoch nur aktualisieren, wenn man von dem Gebaren der Rechthaberei und der Besserwisserei absieht. Das entscheidende Codewort für eine solche Aktualisierung heißt: „minderheitlich werden“.

    Dabei gilt es „das Minderheitliche als potentielles und schöpferisches Werden“ vom „Mehrheitliche[n] als homogenes und konstantes System“ zu unterscheiden. Minderheitlich bedeutet, ein schöpferisches „Werden zu ermöglichen“, über das sich nicht „wie über ein Eigentum verfügen“ lässt, das vielmehr von seinen Möglichkeiten her zu denken ist. Es geht darum, ein Werden zu aktivieren, in das man selbst eintreten muss, ein Werden, „das den ganzen Menschen affiziert“.4

    „Minderheit und Mehrheit sind nicht nur quantitativ einander entgegengesetzt. Mehrheit impliziert eine ideale Konstante, ein Standardmaß, an dem sie sich misst und bewertet.“ Die Mehrheit setzt ein „Rechts- und Herrschaftsverhältnis voraus“. Sie spricht im Namen „eines Wesens des Menschen, einer reinen Vernunft, eines universellen Subjektes“, einer Doktrin oder eines Systems.5 Ein Minderheitlich-Werden hingegen beginnt immer dort, wo jemand ein klein wenig abweicht vom Modell der Mehrheit, wo eine Lücke entsteht, eine Irritation, ein Widerspruch, ein Moment der Unordnung, lío.

    Es liegt auf der Hand, dass sich die Erfahrungen der Christinnen und Christen und ihrer Kirche im totalitären System der DDR als Erfahrungen eines Minderheitlich-Werdens sinnvoll und wertschätzend deuten und zur Sprache bringen lassen.

    Was darüber hinaus ein Minderheitlich-Werden für die heutige gesamtdeutsche Kirche, die in ihren maßgeblichen Teilen von einem mehrheitlichen Gestus geprägt ist, bedeuten könnte, wird klarer, wenn das Wort „minderheitlich“ französisch gelesen wird: mineur. Noch deutlicher tritt der theologisch-spirituelle Zusammenhang hervor, wenn man es italienisch-lateinisch hört: minor. Die Franziskaner nannten und nennen sich bis heute Minoriten: die Minderen.

    Es ist übrigens der über jeglichen religiösen Verdacht erhabene Gilles Deleuze, der im Austausch mit einem italienischen Theaterregisseur auf diese theologische Spur des Minoritären führt: „Die Theologen sind groß (majeur, mehrheitlich), aber gewisse italienische Heilige sind klein (mineur, minderheitlich), Heilige durch Gnade: der heilige Joseph von Copertino, die Irren, die heiligen Idioten, der heilige Franz von Assisi, der vor dem Papst tanzt […] Das ist das Werk der Gnade…“6

    Die Entdeckung der Begriffe Minderheitlich/Minderheitlich-Werden beginnt bei der Sprache und hat damit einen direkten homiletischen Bezug. Bei einer Untersuchung der literarischen Sprache Kafkas entdeckt Gilles Deleuze den Begriff der kleinen Literatur (littérature mineure) und in ihrer Folge die kleine Sprache (langue mineure).7

    Versucht man, das Verhältnis einer minderheitlichen Sprache zur mehrheitlichen Sprache zu bestimmen, wird erkennbar, wie eine Praxis des Minderheitlich-Werdens funktioniert. Es geht dabei um ständige Grenzverletzungen der Standards einer Sprache, um eine ständige Unterwanderung ihrer Machtverhältnisse, um eine ständige Variation ihrer Doktrin. Es geht um ein Stottern am Rande des Unsagbaren und um die Erfindung einer neuen Sprache – einer minderheitlichen Sprache – in der Mehrheitssprache. So wie Kafka als Prager Jude deutsch schreibt, oder Beckett als Ire französisch oder wie in den Schwarzen Vierteln Amerikas eine neue Sprache (black English) entsteht: Immer im Werden, variierend, spielend, subversiv, erfinderisch. Es geht also um den „unterschiedlichen Gebrauch derselben Sprache“8. Ein „minoritäre[r] Gebrauch“9 der Sprache besteht darin, alles Mehrheitliche, Macht –  bzw. Marktkonforme, Repräsentative und Eigentumshafte zu unterwandern, zu durchkreuzen und zu variieren.

    Eine Hellhörigkeit für das Minderheitliche, Minoritäre, Minoritische zu entwickeln und diese im Denken und der Sprache, in der kirchlichen Theorie und Praxis, zum Zuge kommen zu lassen, darin besteht die Aufgabe der Jahreszahl  1917 im Reformationsjubiläumsjahr 2017 und ihre ökumenische Chance.  Zugleich besteht in dieser Aufgabe die Lektion von 1989, jenem in der 17er Jubiläumsreihe stotternden Jahr. Eine Ironie der Geschichte.

  • Anderswo

    Ein Leser mit notorischen Unterwanderungstendenzen ist der französische Philosoph Jacques Derrida. Unter den Referenzen seiner Lektüremethode, der Dekonstruktion, findet sich der Begriff der destructio von Martin Luther2.  Die besondere Perspektive aber, die sich an dieser Stelle öffnet, besteht in der Tatsache, dass Jacques Derrida ein ausgiebiger Leser des Augustinus war.

    Augustinus wurde in Thagaste geboren, gelegen im heutigen Algerien. Derrida wurde in El-Biar bei Algier geboren3. Die ersten vier Jahre seines Lebens verbrachte Derrida in einem Haus in der Rue Saint-Augustin in Algier4.  Ihre Geburtsorte haben dauerhafte Prägung bei beiden hinterlassen:  „herrschende Fremdherrschaft und damit einhergehende Mehrsprachigkeit, der Weggang aus dem Heimatland ins Land des Kolonisators, das Leben und der Erfolg im fremden Land, das Nachreisen der Mutter und ihr Tod jenseits der Heimat“5.

    In dem Film „Derrida anderswo“ von Saafa Fathy6 erklingt bei filmischen Ausflügen in die algerische Vergangenheit häufig eine Oud, eine arabische Laute. Ihr Klang markiert biographische Verortungen bei Derrida. In Bezug auf Augustinus ist man es eher nicht gewohnt, sich vorzustellen, in welcher Landschaft, in welchem Klima er lebte und wo diese Orte sich heute konkret befinden, wie es dort klingt, riecht und aussieht. Jedenfalls wird der Name der Rue Saint-Augustin in Algier in den Ohren Derridas zeitlebens einen besonderen Klang behalten. Und Derrida wird immer weitere Orte über ihre Namen mit Augustinus in Verbindung bringen.

    So lebte Derrida später einige Zeit in Santa Monica, Kalifornien. Monica ist der Name der Mutter von Augustinus. In seinen Confessiones berichtet Augustin über sein spezielles Verhältnis zu Monica und von ihrem Sterben. Auch Jacques Derrida hatte ein besonderes Verhältnis zu seiner Mutter Georgette – eine Pokerspielerin – und begann unter dem Eindruck ihres Sterbens ein Buchprojekt mit dem Titel Circonfessions. Darin identifiziert sich Derrida mit Augustin, er ahmt ihn nach, zitiert ihn, umkreist  ihn, parodiert ihn zuweilen, vervielfältigt augustinische Motive in seine eigenen.

    Seine umkreisende Strategie des Lesens und Schreibens führt Derrida zu der Erkenntnis, dass es bei einem Bekenntnis (confessio) darum geht, sich „um ein einziges Ereignis herum neu zu verteilen und zusammenzufügen“7. Von einem solchen Ereignis kann nur Gott ein Zeuge sein.

    Bei einem Bekenntnis geht es also nicht darum, „ein Wissen auszusprechen, dass Gott über meine Sünden informiert“ und ihm damit etwas zu sagen, was er schon weiß,  sondern es handelt sich darum, so zu sprechen, dass „mein Verhältnis zum Anderen“ sich transformiert und „ich mich selbst“ zugleich transformiere8 . Mit dieser Interpretation des Bekenntnisses als „transformatorischen Sprechakt“9  knüpft Derrida an Augustins Prinzip der „Vielheit der Interpretationen“10 an. Er unterwandert jedoch zugleich Augustins Politik der Wahrheit11.

    Das wiederum hat mit einer anderen Identifikation Derridas zu tun, die auch in der Rue Saint-Augustin zu verorten ist und in den Confessiones: „Ich kenne die Herkunft meiner Familie nicht. Wenn ich mich in dieses Wort ‚Marane‘ verliebt habe […]dann, weil es auf meine vermutete jüdisch-spanische Herkunft verweist und weil es zugleich etwas sagt über eine Kultur des Geheimnisses. Die Frage des Geheimnisses hat mich immer beschäftigt. […] Und das nicht nur im Blick auf das Unbewusste, sondern auch auf Grund seiner politischen Dimension: das Geheimnis als das, was der Politik Widerstand leistet, was der Politisierung widersteht, der Bürgerhaftigkeit, der Durchsichtigkeit und des Scheins. Überall, wo man das Geheimnis, das Bewahren des Geheimnisses zerstören will, gibt es eine totalitaristische Bedrohung. Totalitarismus zerstört das Geheimnis: Du wirst gestehen, Du wirst bekennen (confesser), Du wirst Dein Inneres aussprechen. Die geheime, diskrete  Mission des Maranen besteht also darin, zu zeigen, dass das Geheimnis bewahrt und respektiert werden muss.“12

    Mit der Figur des Maranen, dem spanischen Juden des 14. Jahrhunderts, der, nachdem er zu Christentum konvertiert wurde, seine Religion weiter ausübt, geheim, um der Verfolgung zu entgehen, mit dieser Figur des Immigranten, Clandestinen, Unsichtbaren, mit dem, der keine Papiere hat, unterwandert Derrida Augustin: „condiebar eius sale13.

  • Licht und Schatten

    Martin Luther war fast zwanzig Jahre seines Lebens Augustiner(-Eremit). Die prägende Kraft einer solchen Lebensform hat sich unter die Adiaphora des Gedenkens und Jubilierens der 500 Jahre Reformation verkrümelt. Dabei könnte sie als Schlüssel zu Luthers Glauben, Denken und Reformieren gelesen werden. Auf den Namenspatron dieses Ordens bezogen kommt man an einer Schlüsselstellung kaum vorbei. In diesem Sinne blieb Martin Luther Zeit seines Lebens Augustiner. Oder sollte man sagen, er wurde Augustinist und die Lebensform schrumpfte zur Überzeugung?

    Über Martin Luther und die Reformation ist Augustinus von Hippo oder Aurelius Augustinus oder Augustin – wie man will – bis heute auf eine ungeklärte Weise im christlichen und nachchristlichen Denken gegenwärtig. Ungeklärt ist die Gültigkeit Augustinischer Prägungen in der heutigen Theologie, unaufgeklärt sind ihre Wirksamkeiten im kirchlichen Leben, unklar sind ihre Auswirkungen in der säkularen Welt.

    Der Philosoph Peter Sloterdijk schlägt vor, Luther anlässlich seines Jubiläums zu befragen, ob „seine Theologie die Hauptaufgabe seiner Zeit, die Befreiung vom Augustinismus, bewältigt2“  habe. Bei der Fragestellung ist die Antwort von vornherein klar. Sie lautet: Nein.

    Denn bis heute habe das Denken Augustins das Denken des christlichen Abendlandes nachhaltig ‚verdunkelt‘. Mit der Verknüpfung von Erbsünde und Sexualität verbreitet er eine beständige Verdächtigung des Körpers. Seine doppelte Prädestination malt eine seltsame Grundierung bis in das vorherrschende Wirtschaftssystem unserer Tage hinein.

    Vor allem aber mit der Sicht des Menschen als ein ‚unheilbar korruptes‘3  Wesen hat Augustinus „eine Fundamentalinquisition gegen die menschliche Eigenliebe“4  zu einer der „Konstanten der abendländischen Mentalitätsgeschichte“5  gemacht. Die Reformatoren haben diese Konstante nicht nur aufgegriffen, sondern ins Zentrum gerückt.

    Augustinus „wollte sich nicht damit zufriedengeben, den außerparadiesischen status quo der Menschen demütig zu Kenntnis zu nehmen. Er drängte darauf, den Fall tiefer zu motivieren, indem er ihn zu einem Entfremdungsdrama zwischen Mensch und Gott überhöhte.“  Er tat dies, indem er den Fall „aus seiner mythischen Vergangenheit“ herauslöste, „um ihn im Leben jedes einzelnen zu reaktivieren“6 . „Den Hebelpunkt für seine Lehre von der  anhaftenden Erblichkeit der Sünde findet Augustinus im Generationsprozess: Wie das zweigeschlechtliche Leben als solches ist die Sünde eine sexuell übertragbare Krankheit. Mehr noch: Der Modus der Übertragung, der Geschlechtsakt, beinhaltet die Wiederholung der ersten Sünde, weil er nicht ohne superbia, das heißt nicht ohne die überhebliche Selbstbevorzugung des Geschöpfes vor seinem Schöpfer, zustande kommt.“7  Und für Augustinus ist dieser „Hochmut der Übertretung schlimmer, als die Übertretung selbst“8.

    Wo „die Gegenseitigkeit [der Gottesbeziehung] verloren und die Liebenswürdigkeit des Menschen sich in Nichts aufgelöst hat“, da sollte das Reich der Gnade beginnen. Doch „die Liebe Gottes hat jetzt nicht mehr den Charakter einer allgemein und bedingungslos teilhabegewährenden Zuneigung, sondern den einer stark selektiven, herablassenden Begnadigung“9.

    Was war geschehen? Aus der philosophischen „Analyse des Wahrheitsanspruchs und der Bedingung von Werturteilen“ hatte Augustinus eine Gotteskonzeption entworfen, in die er „anthropomorphe Motive der biblischen Sprache“ eintrug und sie „mit seiner neuen Gnadenlehre“ zuspitzte. „Jetzt ist Gott souveräner Himmelskaiser. Als Herr der Welt kann er befehlen, was er will. Er hat sich nicht nach einsehbaren Grundsätzen zu richten. Als allmächtiger Kaiser gebraucht er Menschen und Verhältnisse als Instrumente. Nicht sie sind es, die handeln, sondern er handelt durch sie. Die Gnadenwirkung ist unfehlbar und unwiderstehlich.“10

    Während die philosophischen Analysen „die freie Beurteilung der Welt ermöglichen sollten, hielt Augustin nun die Freiheit zwar noch verbal fest, zerstörte aber die Bedingungen ihrer Möglichkeit.“ Beide „Tendenzen konnte man getrennt weiter entwickeln, und man hat es getan. Deswegen wurde die Wirkungsgeschichte Augustins nicht die Geschichte eines ruhigen Ausbaus des Gewonnenen, sondern eine endlose Reihe von Konflikten: Der Mainzer Erzbischof Rhabanus Maurus ließ den Mönch Gottschalk öffentlich auspeitschen, weil er an Augustins Prädestinationslehre festhielt. Luther, Calvin und Jansenius beriefen sich auf Augustin mit mehr Recht, als ihre katholischen Gegner wahrhaben wollten.“11

    Wie aktuell die Fragen sind, auf die Augustin damals zu antworteten suchte, wird deutlich, wenn man sich ihrer historischen Bedingungen erinnert. „Die Gnaden- und Erbsündenlehre Augustins ist ein sekundärer Mythos, der festhält, dass die von Augustin erfahrene Welt des untergehenden römischen Reiches ein Defizit an Rationalität aufwies. Schon immer wies die bislang erfahrbare Welt die verschiedensten Defizite an Rationalität auf. Was bei Augustin in eine halb mythische, halb rationale Sprache drängte, war das historische Defizit der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert. Es zeigte sich in folgender Form: Die Grenzbedrohung durch die Wanderstämme führte zur Aufblähung des militärischen Apparats. Bei steigendem Finanzbedarf des Staates sanken die Steuereinnahmen wegen des Produktionsrückgangs und des Währungsverfalls. Die Kriege und Requisitionen störten die Landwirtschaft, das Handwerk und den Handel. Um dennoch die Bedürfnisse der Armee und der großen Städte zu befriedigen, baute der spätantike Staat ein System von Dienstleistungen auf. Er nahm den Charakter eines Zwangsstaates an, indem er das Berufsleben quasi-militärisch organisierte. Es kam zu einer Verarmung des Bürger- und Bauerntums. Die Gesellschaft polarisierte sich zunehmend in die Ganz-Reichen und die Armen. Um die Zwangsregelungen zu überwachen, wurde ein riesiger Beamtenapparat notwendig, der wiederum die Staatsfinanzen belastete“12

    Auf der Folie seiner eigenen Biographie hatte Augustinus das Christentum nach der konstantinischen Wende in einer durch eine globale Krise herausgeforderten Situation gedacht. Dabei hatte er sich von unterschiedlichen Denktraditionen anregen lassen und sich von anderen schonungslos abgegrenzt. Diese Mischung birgt bis heute Sprengstoff, wobei die Strategien von Christentum als Herrschaft eine Kontinuität darstellen.13

    Die Fragen, auf die Augustin in seiner Zeit antwortete, stellen sich immer wieder neu. Wie lautet die Antwort derer, die heute das Erbe Martin Luthers für sich reklamieren, auf die Frage Peter Sloterdijks nach der Befreiung vom Augustinismus?

    Einer, der das Erbe Augustins für sich beansprucht, stellte mit der Geste seines Rücktritts die Kombination von Christentum und Herrschaft in Frage. Ob er wollte oder nicht: er unterwanderte sich selbst.
    Eine andere Praxis der Unterwanderung ist Lesen. Was Augustinus betrifft war Martin Luther uns Heutigen in dieser Hinsicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein ganzes Stück voraus. Ob er sich als Lesender selbst unterwanderte?