In der Morgendämmerung des vergangenen Jahrhunderts fuhr ein feuerköpfiger junger Mann durch die Straßen von Paris. Meist trug er einen schwarzen Hut und hatte die Hosen in die Strümpfe gesteckt. Denn er fuhr nicht irgendwie: Er fuhr Fahrrad. Eines jener stilsicher einfachen Rennräder, die man auf alten Fotos sieht. Sie sind heute wieder angesagt.

Der feuerköpfige Radfahrer fuhr allerdings nicht nur Rad, um sich fortzubewegen. Seine Gedanken bewegten sich mit. Das Fahrrad wurde ihm zur Denkmaschine, genauer gesagt wurde es ihm zum Modell einer „Maschine zur Erforschung der Zeit“.

„Die Maschine besteht aus einem Edelholzrahmen, analog zu dem Rahmen eines Fahrrades. Die Ebenholzstangen sind durch miteinander verlötete Kupferbeschläge zusammengefügt. Die drei Rundstäbe in den drei waagerechten Ebenen des euklidischen Raumes sind aus kupferbeschlagenem Ebenholz, in Richtung ihrer Achsen auf ein Gestänge aus spiralförmig gewickeltem Quarzblech montiert, und die äußersten Glieder drehen sich in Quarzmuffen…“1

Der Erfinder dieser Maschine zur Erforschung der Zeit heißt Alfred Jarry. Bekannt ist der Protodadaist vor allem wegen seines Theaterstückes „König Ubu“ (1896), das von einem grotesk skrupellosen Diktator handelt und dessen Uraufführung zum Skandal geriet.

Seiner Beschreibung und Theorie der Maschine fügt Jarry schließlich folgendes hinzu und setzt uns damit auf die Spur dessen, was wir Ewigkeit zu nennen die Angewohnheit haben:

„Es muss noch gesagt werden, dass es für die Maschine zwei Vergangenheiten gibt: die Vergangenheit, die vor unserer Gegenwart liegt oder die reale Vergangenheit, und die von der Maschine konstruierte Vergangenheit, wenn sie zu unserer Gegenwart zurückkommt, und die nichts anderes als die Umkehrbarkeit der Zukunft ist. Ebenso kommt die Maschine, da sie die reale Vergangenheit nur auf dem Wege über die Zukunft erreichen kann, durch einen unserer Gegenwart symmetrischen Punkt, einen toten Punkt, wie jener zwischen Zukunft und Vergangenheit, den man richtiger Weise imaginäre Gegenwart nennen müsste.“2

Um diese Beobachtung genauer zu beschreiben, nimmt Jarry das Beispiel eines Apfels. Läuft die Maschine zur Erforschung der Zeit, so ist sie „immer auf die Zukunft gerichtet“. „Die Zukunft ist die normale Abfolge der Phänomene: ein Apfel hängt am Baum; er wird fallen; die Vergangenheit ist eine Umgekehrte Abfolge: der Apfel fällt – vom Baum. Die Gegenwart ist gleich null. Sie ist ein kleiner Bruchteil eines Phänomens.“3

Das bedeutet im Umkehrschluss: „Die Fahrt in die Vergangenheit besteht in der Wahrnehmung der Umkehrbarkeit der Phänomene. Man wird den Apfel wieder von der Erde auf den Baum springen […] sehen.“4

Diese Wahrnehmung betrifft jedoch nur die Abfolge der Phänomene bzw. die ihrer „visuelle[n] Aspekte“, die „der Raum bewahrt hat“.5  Jarry geht es jedoch nicht um die Phänomene, sondern um die Umkehrung der Zeit selbst.

Der französische Philosoph Gilles Deleuze entdeckt in Alfred Jarry „ein[en] verkannte[n] Vorläufer Heideggers“. Dazu liest Deleuze Jarry und Heidegger und ihr Verhältnis zur Metaphysik, zur Technik und zur Sprache vergleichend. In Bezug auf die Zeit und ihre Umkehrung führt ihn das zu folgender Analyse, die für unseren Zusammenhang entscheidend ist:

„Die Abfolge der drei Stasen Gewesenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges weicht der Ko-Präsenz oder Simultaneität der drei Ekstasen, nämlich des Seins des Gewesenen, des Seins des Gegenwärtigen und des Seins des Zukünftigen. Die Gegenwart ist das Sein des Gegenwärtigen, aber auch das Sein des Vergangenen und des Zukünftigen; Die Aethernitas bezeichnet nichts Ewiges, sondern die Gabe oder die Aussonderung der Zeit, die Verzeitlichung der Zeit, wie sie sich gleichzeitig in den drei Dimensionen herstellt (Zeitraum). Daher beginnt die Maschine mit der Verwandlung der Sukzession in Simultaneität, bevor sie zur letzten ‚Umkehr‘-Transformation gelangt, wenn sich das Sein der Zeit insgesamt in Möglich-Sein, in Seinsmöglichkeit als Zukunft verwandelt. Jarry erinnert sich vielleicht seines Lehrers Bergson, wenn er das Thema der Dauer aufgreift, die er zunächst durch eine Unbeweglichkeit in der zeitlichen Abfolge (Bewahrung des Vergangenen) definiert, dann als Erforschung des Zukünftigen oder als eine Öffnung der Zukunft: ‚Die Dauer ist die Umwandlung von Abfolge in Umkehr, das heißt: das Werden eines Gedächtnisses‘.“6

Von hier aus verstanden wäre mit der christlichen Ewigkeit nicht irgendeine jenseitige Zeit von unendlicher Dauer gemeint, sondern die Öffnung der Zeit in ein Zukünftiges als Möglichkeit und dies aufgrund einer Umkehr. In Deleuzes Lektüre von Jarry bedeutet dies die Möglichkeit eines „stets zu-kommenden Denkens“7.

Sind Ewigkeit und Advent etwa dasselbe?