Dem alten Wort Heimsuchung haftet zumindest heute ein negativer, schicksalhafter Klang an. In der Bezeichnung des Festes der Maria meint es aber einfach Besuch, vielleicht den ersten aller Besuche, wie sie in der Christenheit von der Apostelgeschichte an dokumentiert und vor allem praktiziert wurde und noch wird. Hier geht es um den Besuch Mariens bei Elisabeth. „Übers Gebirg‘ Maria geht / zu ihrer Bas‘ Elisabeth“ klingt es bei Johann Eccard und versetzt uns Evangelische eher in die Kirchenjahreszeit des Advent. Das weist wiederum auf den weniger, oder zumindest nicht nur zyklischen Charakter des Kirchenjahres, das vielleicht eher einer Spirale gleicht.1

„Die Spirale ist eine geometrische Figur. Aber sie ist auch eine Figur des Lebens, die Figur einer bestimmten Konzeption des Lebens. Ihr dreht euch, ihr verändert euch, und dann findet ihr euch an der gleichen Stelle wieder wie zuvor, aber nicht ganz auf demselben Platz.“2

Dieses Fest des Besuches der Maria bei Elisabeth nach der lukanischen Überlieferung ist ein Fest der Bewegung, das die Gastfreundschaft als liturgische Grundform umreißt. Da ist zuerst ein Aufbrechen, dann ein Unterwegssein und ein Ankommen. Dann ist da die Begrüßung, das Hüpfen des Kindes im Leibe der Besuchten und der inspirierte, berühmte Gruß, mit dem Elisabeth Maria willkommen heißt, ihr von der innersten Bewegung berichtend. Und dann einer der wichtigsten und ältesten Gesänge der Christenheit: das Magnifikat, als Antwort. Bausteine einer Gastfreundschaft als liturgische Grundform.  

Nun ist der Begriff der Gastfreundschaft äußerst riskant, liegen in ihm doch zwei Dimensionen antinomisch ineinander. Der eine kommt aus alter nomadischer Zeit und ist markiert von einer katastrophalen Notsituation. Jemand hat sich verlaufen in der Wüste und trifft auf jemanden bzw. wird gefunden. Vor diesem Hintergrund gilt der Brauch, dass der Reisende drei Tage aufgenommen werden muss. Das wäre reine Gastfreundschaft. Ihr gegenüber steht die begrenzte Gastfreundschaft.

„Wir müssen festhalten, dass eine Gastfreundschaft, die diese Bezeichnung auch verdient, eine katastrophenbedingte Prüfung ist, gegen die sich leider die gastfreundlichsten Menschen, Nationen und Gemeinschaften schützen durch das Gesetz, die Kontrolle an den Grenzen, die sogenannten guten Sitten. Deshalb ist reine Gastfreundschaft keine Kategorie der Politik, auch nicht des Rechts oder gar der Vergebung. Begrenzte Gastfreundschaft hingegen kann eine Kategorie des Rechts sein. Sie wurde in die internationalen Rechtskonventionen aufgenommen, während die reine, die katastrophenbedingte Gastfreundschaft politik- und rechtsfremd ist. Es kann definitionsgemäß keine Politik und kein Recht geben, die dem Ereignis der Katastrophe gegenüber offen stehen. Das bedeutet aber nicht, dass wir auf Recht und Politik verzichten sollten. Sie müssen nur neu gestaltet werden.“3

Die hier nach dem französischen Philosophen Jacques Derrida skizzierte Problematik kennen wir aus der aktuellen Politik. Auch Derridas Überlegungen von 1996 entstanden vor dem Hintergrund einer konkreten politischen Flüchtlingskrise.

Es beginnt damit, dass der Fremde die Gastfreundschaft in einer Sprache erbitten muss, „die per definitionem nicht die seine ist, in derjenigen, die ihm der Hausherr auferlegt, der Gastgeber, der König, der Herr, die Macht, die Nation, der Staat, der Vater usw. Dieser zwingt ihn zur Übersetzung in seine eigene Sprache, und das ist die erste Gewalttat. Hier beginnt die Frage (nach) der Gastfreundschaft.“4  

„Besteht die Gastfreundschaft darin, den Ankömmling zu befragen? Beginnt sie mit der Frage, die an den Kommenden gerichtet wird […]:

Wie heißt du? Sag mir deinen Namen, wie soll ich dich nennen? Ich, der ich dich rufe, der ich dich bei deinem Namen rufen möchte? Wie werde ich dich nennen? Ebendiese Frage stellt man, ganz zärtlich gelegentlich auch Kindern oder Geliebten.

Oder beginnt die Gastfreundschaft damit, dass man empfängt, ohne zu fragen, in einer doppelten Streichung, der Streichung der Frage und des Namens. Ist es gerechter und liebvoller, zu fragen, oder nicht zu fragen? Beim Namen zu rufen oder ohne Namen zu rufen? Einen bereits gegebenen Namen zu geben oder zu erfahren? Gewährt man die Gastfreundschaft einem Subjekt?

Oder wird die Gastfreundschaft dem Anderen gewährt, ihm geschenkt, bevor er sich identifiziert, ja noch ehe er ein Subjekt, ein Rechtssubjekt und ein bei seinem Familiennamen zu rufendes Subjekt usw. ist (als ein solches gesetzt oder vorausgesetzt wird)?“5

Die Pointe von Derridas ausschweifenden Analysen zur Gastfreundschaft besteht darin, dass es schließlich erst der von außen ankommende Fremde ist, der einem Gastgeber die Möglichkeit eröffnet, sich zu Hause zu fühlen. „Der Hausherr ist bei sich zu Hause, doch tritt er nichtsdestoweniger dank des Gastes – der von draußen kommt – bei sich ein. Der Herr tritt also von drinnen ein, als ob er von draußen käme. Er tritt dank des Besuchers bei sich ein, durch die Gnade seines Gastes.“6

Dieser Wechsel wird ohne ihren Hintergrund der französischen Sprache nicht deutlich. Im Französischen heißt zu Haus sein être chez soi, also bei-sich-sein. Man ist also nicht mit sich selbst identisch, sondern immer Gast und Gastgeber zugleich.

Vor diesem Hintergrund ins christliche gewendet pointiert die Denkfigur der Gastfreundschaft selbst eine Begegnung: das paulinische: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus in mir (Gal 2,20); und das matthäische: Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen (Mt 25,35).7

In den liturgischen Zusammenhang einer Grundform gewendet ist Gastfreundschaft in einem Vollzug gestiftet von zwei Frauen. Der einzig beteiligte Mann, Zacharias, ist bis auf Weiteres stumm. Als Fest des Besuches der Maria bei Elisabeth stammt es aus der minderheitlichen Tradition des Christentums. Die auch Minderbrüder genannten Franziskaner, um genauer zu sein Johannes Bonaventura, haben es 1263 zunächst in ihrem Orden eingeführt, bevor es sich dann verbreitete.

Gastfreundschaft als liturgische Grundform ist umfängt sowohl die paulinische Geste als auch die matthäische. Sie ist offen in beide Richtungen, auch wenn der Fremde im liturgischen Falle eher die Gottesdienstbesucherinnen und –besucher sind und das Aufnehmen ein Empfangen, Ansehen, Zuhören und Ansprechen, einen geschmückten Ort Bereiten. Anders gesagt bedeutet das so etwas wie zugewandt- und angeschaltet- Sein, menschlich – aber auch liturgisch und homiletisch – ein Minimum an Stil nicht unterschreitend. Und bei allem Anspruch eine gewisse Diskretion nicht überschreitend.