Martin Luthers Umweg über das Vaterunser zur Taufe führt die antiphonische Komposition des Kleinen Katechismus, wenngleich sie bei ihm unausgesprochen bleibt, fort. Denn die Taufe als kirchliche Praxis ist zu aller erst ein Echo auf die Taufe Jesu. Er hat selbst nicht getauft. Aber zu seiner Taufe am Jordan kam zur johannäischen Taufe eine Stimme hinzu. Ein Klangphänomen, das uns unter den Worten: „Dies ist mein liebes Kind, an dem ich Wohlgefallen habe“ (Mt 3, 17 par.) überliefert ist.

Aus dem „Ich bin der Herr Dein Gott“ wurde das „Du sollst“ bzw. das „Du sollst nicht“. Die Antwort darauf erklingt im „Ich glaube“. Letzteres macht nur Sinn in der direkten vertrauten Anrede: „Vater unser“, worauf wiederum „Du bist mein liebes Kind“ als Antwort erklingt.

In derartigen responsiven Klangräumen bilden sich Subjekte des Glaubens (Röm 10,17). Sie sagen Ich und meinen damit zugleich etwas zutiefst Innerliches und etwas vermeintlich Äußeres. Jean-Luc Nancy hat tief und genau in diesen Klangraum hineingehört: „Das Subjekt ist zuerst der Adressat: Du bist gerufen (Abraham), aber davon nicht zu trennen ist das Subjekt zugleich eine Behauptung: „Ich bin’s“. Mit Augustin entdeckt sich dieses „Ich“ als dazu fähig, die Anrede zu erwidern in einem Gruß, der nicht mehr abrahamitisch ist: interior intimo meo.1 Nun ist aber dieses interior (und superior) das Ich, das sich behauptet… Es gibt da eine Ambivalenz: „Ich“ bin es, der Gott anerkennt, selbst wenn es Gott ist, der sich mir öffnet. Die Verderbtheit (corruption) liegt im Hochmut dieses „Ichs“. Sie ist der Anspruch (prétention), Gott gleich zu sein (eritis sicut deus: man müsste erneut fragen, was mit diesen Worten des Satans gegeben ist). Der Mensch ist die Kreatur, die das Geheimnis seiner Kreation erkennt, aber wenn diese ihn (wieder)erkennt bzw. (an)erkennt, warum sollte er nicht Gott gleich sein?” 2
Die Ambivalenz dieser Fragestellung wird seit den Zeiten der Alten Kirche diskutiert und tritt in ihren in der Taufe angelegten institutionellen Konkretionen (Mitgliedschaft, Steuern, Verwaltung etc.) nicht zuletzt angesichts aktueller Fragestellungen in ihrer Abgründigkeit geradezu bedrückend hervor.

Wie konnte es dazu kommen?

In seiner Lektüre der Kirchenväter des zweiten bis vierten Jahrhunderts geht der französische Philosoph Michel Foucault diesen Entwicklungen nach. Im Band 4 seiner „Geschichte der Sexualität“ untersucht Foucault das, was das Fleisch gestehen kann.3Les aveux de la chair“, die Geständnisse des Fleisches, verfolgen die Organisation des physischen Lebens, der praktischen Existenz der frühen Christen anhand ihrer Schriften. Foucault hatte den Horizont dieser breit angelegten Untersuchung in den vorigen Bänden abgeschritten: „La volonté de savoir“, Der Wille zu wissen, „L‘usage des plaisirs“, Der Gebrauch der Lüste und „Le souci de soi“, die Sorge um sich.

Die Geständnisse des Fleisches würden jedoch den komplexen und grundlegenden Gedanken des Verhältnisses „zwischen Schöpfer und Geschöpf“ 4 nie ganz ausblenden können. Bei der Formulierung ihrer Praxis griffen die ersten langsam zahlreicher werdenden Christen in erstaunlichem Maße auf ihre Umwelt zurück bzw. knüpften an Bestehendes an. So bei der Entwicklung von Vorschriften die Ernährung, Hygiene und den sozialen Umgang betreffend bis hinein in den Umgang mit nichtöffentlichen Praktiken innerhalb der Ehe und Familie der Fall und auch in Fragen vom Scham, Gewissen und Schuld des Einzelnen.

„Das ‚Fleisch‘ ist dabei als ein Erfahrungsmodus zu verstehen, d.h. als ein Modus der Erkenntnis und der Umwandlung (transformation) des Selbst durch sich selbst in Funktion zu einem bestimmten Verhältnis zwischen der Vernichtung (annulation) des Bösen und der Darstellung (manifestation) der Wahrheit. Mit dem Christentum ist man nicht von einem toleranten Verhaltenscodex sexuelle Handlungen betreffend in einen strengen, restriktiven oder repressiven Verhaltenscodex übergegangen. Man muss diese Prozesse und ihre Artikulation anders auffassen: Die Aufstellung eines sexuellen Verhaltenscodex, organisiert um die Ehe und die Fortpflanzung, war bereits vor und neben dem Christentum weit verbreitet. Das Christentum hat ihn im Wesentlichen übernommen. Erst im Laufe weiterer Entwicklungen und im Zuge der Ausbildung bestimmter Technologien des Individuums – poenitentielle Disziplin, monastische Askese – hat sich  eine Form der Erfahrung (expérience) herausgebildet, die den Verhaltenscodes auf eine neue und ganz andere Art und Weise praktizierte und für die Führung des Individuums nutzte.“ 5

Die Praxis der metanoia bzw. poenitentia im Zusammenhang der Taufe ging einher mit der Entwicklung einer „Kunst der Künste“ (art des arts), der Kunst der geistigen Führung (direction spirituelle).6 Auch diese war von den Christen zunächst übernommen worden, bildete aber in monastischen Kontexten ihre christlichen Besonderheiten heraus.7
Im Zentrum der monastischen direction spirituelle stand der Gehorsam mit den Prinzipien der subditio (Unterwerfung), patientia (Geduld) und der humilitas (Demut). Im Austausch mit dem geistlichen Führer geht die „Suche nach der Wahrheit über sich selbst“ mit einem „Sich selbst absterben“ 8 einher. Der Horizont dieser Praxis, die in Mönchsregeln, Traktaten und Vorschriften ihren Ausdruck fanden, wird besonders deutlich in der Praxis der virginitas (Jungfräulichkeit):

„Die Jungfräulichkeit ist steril. Aber diese Sterilität gilt nur der fleischlichen Geburt, die [ihrerseits] auf zweierlei Art an den Tod gebunden ist: Zuerst ist er ihre Konsequenz und dann ist sie das Prinzip des ständigen dem Tode geweiht seins. Als Verweigerung der Fortpflanzung (génération) ist die Jungfräulichkeit also eine Verweigerung des Todes, eine Unterbrechung dieser unbestimmten Verkettung, die in der Welt begonnen hat, als der Tod in ihr erschienen ist, und die sich nun von Generation zu Generation, also von Tod zu Tod fortsetzt. […] Diese Serie, die mit dem Fall (chute) eröffnet wurde, wird hier unterbrochen. Die Macht des Todes findet nichts mehr, um seine Aktivität auszuführen. In dieser physischen Sterilität der Jungfräulichkeit ist also kein langsamer Fortgang in den Tod zu sehen, sondern ein Triumph über der Tod und die Ankunft einer Welt, in der der Tod keinen Platz mehr hat.“ 9
Wie ein Kontrapunkt zu dieser radikalen Weltverneinung in den Klöstern erscheint seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts die zunehmende  Zahl der Christinnen und Christen, die in Städten lebten. 10 Man musste also die monastischen Werte und Praktiken denen zugänglich machen, die in der Welt lebten. Es musste also eine Pastorale mit dem Ziel entwickelt werden, „bestimmte asketische Werte der monastischen Existenz, wie die Praktiken der Führung von Individuen, an das Leben in der Welt anzugleichen”. 11

Diese Entwicklung vollzog sich parallel zu den Veränderungen der Verhältnisse zwischen dem Christentum, seinen sich ausbreitenden Organisationen, und dem Römischen Reich.  „Als zunächst anerkannte, dann offizielle Institution übernimmt die christliche Kirche immer einfacher und sichtbarer Funktionen in Organisation, Verwaltung, Kontrolle und Reglementierung der Gesellschaft.  Die imperiale Bürokratie ihrerseits sucht über die traditionellen Strukturen hinaus einen stärkeren Zugriff auf die Individuen.“ 12
Und genau an diesem Punkt wird ein paradoxer Effekt deutlich sichtbar: „die Praktiken und Werte, die für Lebensformen entwickelt oder intensiviert wurden, die ausdrücklich im Bruch mit der Welt und der zivilen Gesellschaft sich vollzogen, schickten sich an, nicht ohne Abmilderung und Modifikation, eine Rolle in institutionellen Formen zu spielen, die gestützt oder unterhalten wurden von Organisationen des Staates und allgemeinen politischen Strukturen.“ 13   

Auf der einen Seite stehen asketische Ideale und Praktiken, die außerhalb der traditionellen Formen des Sozialen, ja sogar gegen sie entwickelt wurden. Auf der anderen Seite stehen sich aufeinander stützende kirchliche Organisationen und Strukturen des Staates. „Das Leben des Individuums in dem, was es als privat, alltäglich und singulär haben konnte, findet sich wieder als Objekt der Überwachung (vigilance) oder zumindest in Anspruch genommen von einer Sorge, die zweifellos weder dem ähnelte, was in den hellenistischen Städten vor sich ging, noch dem, was die ersten Christen Gemeinden praktizierten.“ 14
Es entstand eine Herrschaftsform, die die Menschen „über (par) die Manifestation ihrer individuellen Wahrheit“ regiert. Michel Foucault nennt diese Herrschaftsform „die pastorale Macht“, le pouvoir pastorale. 15 

Mit der Pastorale übernimmt das Christentum wiederum eine althergebrachte Praxis. Foucault analysiert aus den Texten der Kirchenväter im Herzen der pastoralen Praxis der Kirche einen „Imperativ der Wahrheit“ bzw. ein „Ensemble von Imperativen“. 16  Ein „Imperativ der doktrinalen Strenge“ (rigueur doctrinale), ein „Imperativ der Lehre“ (enseignement), ein „Imperativ der Kenntnis der Individuen (connaissance des individus) und ein „Imperativ der Vorsicht“ (prudence) lassen die pastorale Macht als eine Verbindung von „Ausbildung und Übermittlung von Wahrheit“ erscheinen. 17

Die Wahrheit ist der entscheidende Operator der pastoralen Macht. Und dies in doppelten Form: „doktrinale Gleichförmigkeit“ (conformité), die man kennen und bekannt machen muss und „individuelle Geheimnisse“ (secrets), die man aufdecken muss, sei es um sie zu korrigieren, sei es um zu strafen (châtier).“ 18 

Eine solche Analyse der pastoralen Macht – ganz gleich, ob sie hierarchisch oder strukturell diffundiert ausgeübt wird – müsste direkt in die Beichte führen und Fragen nach einer institutionellen Form der Beichte dringlich erscheinen lassen. Stichworte dafür könnten die Begriffe des Aufschießens und  des Lösens sein, verstanden im Sinne eines Aufschließens und Loslösens von Herrschaftsformen; mit anderen Worten: minderheitlich werden. 19

Doch wieder macht Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus einen Umweg.