Zu einer Zeit, als die Sehnsucht nach Freiheit in (Ost-) Europa und der Welt noch Phantasie und Widerstandskraft bei den Menschen freisetzte, gab es in Prag eine Untergrund-Universität. Gelehrte aus aller Welt ließen es sich nicht nehmen, auf verbotenen Zusammenkünften in Wohnungen Vorlesungen zu halten. Sie vertrauten auf die Kraft des Denkens, die herrschende Dummheit zu unterwandern, ja auszuhöhlen.

Einer von diesen Gelehrten war der französische Philosoph Jacques Derrida. Wieder auf dem Rückweg nach Paris wurde er in Prag von der Polizei gestellt, durchsucht, festgenommen und kurzerhand verhaftet. Der Geheimdienst hatte ihm Drogen untergejubelt und diese dann wie erwartet bei ihm entdeckt. Nur unzureichend informiert, um wen es sich bei Derrida genau handelte, unterschätzten diese Leute seine Notorietät und die daraus folgende politische Welle, die ihnen entgegenschlug. Derrida musste zügig freigelassen werden.

Später berichtete Derrida von einer besonderen Erfahrung in seiner Prager Gefängniszelle:
„Ich wurde gegen ein Uhr nachts eingesperrt. Um vier oder fünf Uhr früh wurde ein anderer Gefangener in die Zelle geschlossen. Ein ungarischer Zigeuner, mit dem ich sofort Freundschaft schloss. Er weihte mich in einige Dinge ein, bot sich an, die Wände zu waschen, was uns befohlen worden war. Es gab einiges, was uns die Gefängniswärter zu tun befohlen hatten. Um es kurz zu machen: In den wenigen Stunden, die ich mit diesem Mann in dieser kleinen Zelle verbrachte, machte ich eine Erfahrung der Freundschaft und Gastfreundschaft. Weil dieser Mann, der das Gefängnis besser kannte als ich, mich in dieser kleinen Zelle regelrecht empfing.“1

Derrida las diese Erfahrung vor dem Hintergrund uralter Praktiken:
„Eine der großen Gesten der Gastfreundschaft in der nomadischen vor-islamischen Kultur manifestiert sich in dem Brauch, das der Reisende, der sich verlaufen hat und bei den Zelten eines Nomaden ankommt, von diesem aufgenommen werden muss, und zwar mindestens drei Tage lang.“2

In beidem erkennt Derrida die Katastrophe als Voraussetzung von Gastfreundschaft. Es könne nur dann die Erfahrung von reiner Gastfreundschaft eintreten, wenn eine Katastrophe eintritt.
„Wir müssen festhalten, dass eine Gastfreundschaft, die diese Bezeichnung auch verdient, eine katastrophenbedingte Prüfung ist, gegen die sich leider die gastfreundlichsten Menschen, Nationen und Gemeinschaften schützen durch das Gesetz, die Kontrolle an den Grenzen, die sogenannten guten Sitten. Deshalb ist reine Gastfreundschaft keine Kategorie der Politik, auch nicht des Rechts oder gar der Vergebung. Begrenzte Gastfreundschaft hingegen kann eine Kategorie des Rechts sein. Sie wurde in die internationalen Rechtskonventionen aufgenommen, während die reine, die katastrophenbedingte Gastfreundschaft politik- und rechtsfremd ist. Es kann definitionsgemäß keine Politik und kein Recht geben, die dem Ereignis der Katastrophe gegenüber offen stehen. Das bedeutet aber nicht, dass wir auf Recht und Politik verzichten sollten. Sie müssen nur neu gestaltet werden.“3

Unter dem Einfluss der Flüchtlingsströme infolge des Balkankrieges und der Kongo-Krise denkt Derrida 1996 in einer Vorlesungsreihe in Paris genauer über die Frage der Gastfreundschaft nach. Dabei beginnt er mit der Figur des Fremden. Ausgehend von Platons Dialogen und von Sophokles „Ödipus auf Kolonos“ arbeitet Derrida heraus, dass der Fremde vor allem derjenige ist, der Fragen aufwirft.

„Der Fremde trägt und stellt die schreckliche Frage“ und zugleich weiß er „sich durch die väterliche und vernünftige Autorität des logos im Voraus in Frage gestellt. Die väterliche Instanz des logos schickt sich an, ihn zu entwaffnen, ihn als Verrückten zu behandeln […]“4.

Der Fremde wird hier virtuell zum vatermörderischen Sohn. Er stellt durch sein Erscheinen das herrschende Gesetz in Frage. Er ahnt dies und kann ihm dennoch nicht entkommen
Es beginnt schon damit, dass er die Gastfreundschaft in einer Sprache erbitten muss, „die per definitionem nicht die seine ist, in derjenigen, die ihm der Hausherr auferlegt, der Gastgeber, der König, der Herr, die Macht, die Nation, der Staat, der Vater usw. Dieser zwingt ihn zur Übersetzung in seine eigene Sprache, und das ist die erste Gewalttat. Hier beginnt die Frage (nach) der Gastfreundschaft.“5

„Besteht die Gastfreundschaft darin, den Ankömmling zu befragen? Beginnt sie mit der Frage, die an den Kommenden gerichtet wird […]:
Wie heißt du? Sag mir deinen Namen, wie soll ich dich nennen? Ich, der ich dich rufe, der ich dich bei deinem Namen rufen möchte? Wie werde ich dich nennen? Ebendiese Frage stellt man, ganz zärtlich gelegentlich auch Kindern oder Geliebten.

Oder beginnt die Gastfreundschaft damit, dass man empfängt, ohne zu fragen, in einer doppelten Streichung, der Streichung der Frage und des Namens. Ist es gerechter und liebvoller, zu fragen, oder nicht zu fragen? Beim Namen zu rufen oder ohne Namen zu rufen? Einen bereits gegebenen Namen zu geben oder zu erfahren? Gewährt man die Gastfreundschaft einem Subjekt?

Oder wird die Gastfreundschaft dem Anderen gewährt, ihm geschenkt, bevor er sich identifiziert, ja noch ehe er ein Subjekt, ein Rechtssubjekt und ein bei seinem Familiennamen zu rufendes Subjekt usw. ist (als ein solches gesetzt oder vorausgesetzt wird)?“6

Vor diesem Hintergrund beschrieb der Journalist Niklas Maak die Situation des Herbstes 2015 als eine Situation der reinen oder absoluten Gastfreundschaft: „Ein Land öffnet seine Grenzen, ohne die, die kommen, nach ihren Namen zu fragen.“7

Diese Situation markiere das Gegenteil der Praxis des Grenzregimes an den Grenzen der ehemaligen DDR und ließe mit Derrida die absolute Gastfreundschaft als Übertretung des Gesetzes der bzw. des Rechtes auf Gastfreundschaft in einer konkreten historischen Situation hervortreten.8

Hier zeigt sich eine Antinomie, eine Kollision zweier Gesetze „an der Grenze zwischen zwei gleichermaßen nicht-empirischen Gesetzesordnungen. Die Antinomie der Gastfreundschaft bringt einen unversöhnlichen Gegensatz zum Ausdruck zwischen dem Gesetz in seiner universellen Singularität und einer Pluralität, die nicht nur Zerstreuung ist (die Gesetze), sondern auch eine strukturierte Vielfalt, die durch einen Teilungs- und Differenzierungsprozess determiniert wird: durch Gesetze, die ihre Geschichte und ihre anthropologische Geographie unterschiedlich verteilen.“9

Derrida spricht von einer Tragödie. Sie besteht darin, „dass die beiden antagonistischen Terme dieser Antinomie nicht symmetrisch sind. Es gibt da eine seltsame Hierarchie – das Gesetz steht über den Gesetzen. Es ist also illegal, transgredient, gesetzlos als ein anomisches Gesetz, nomos a-nomos, ein Gesetz über den Gesetzen und außerhalb des Gesetzes“.10

In Bezug auf den Herbst 2015 spricht auch Wolf Biermann von einer Tragödie, d.h.: „Der dramatische Held muss sich nicht zwischen Gut und Böse entscheiden, sondern fataler: ob er lieber diesen Fehler macht, oder den anderen, denn falsch ist in solcher Katastrophe alles.“11

„Angela Merkel hat sich vor drei Jahren in einer Ausnahmesituation entschieden, tausende verzweifelte Flüchtlinge an der deutschen Grenze nicht mit Stacheldraht, Knüppel, Wasserwerfern und Maschinengewehren und Panzern zurückzujagen, nicht nach Österreich, Ungarn, Griechenland, die Türkei und womöglich in den Krieg in Syrien oder Afghanistan. Ja. Ja das war ein Fehler. Aber es war eben der kleinere, der bessere, es war der ‚richtige‘ Fehler.“12  Ein wenig später nennt Biermann diesen Fehler einen „wunderbaren Fehler“, der „der Welt das freundliche Gesicht menschlicher Vernunft“13 gezeigt habe.

Natürlich zeigte Angela Merkel nicht nur der Welt „das freundliche Gesicht menschlicher Vernunft“, sondern zuallererst den Fremden selbst. Eben jener bzw. jenem, der oder die sich in der Fremde aufhält, außerhalb der Gesellschaft, Familie oder Stadt“; jener oder jenem „Andere[n] oder ganz Andere[n], den man einem absoluten und wilden, barbarischen, präkulturellen und präjuridischen Außen zuordnet, außerhalb und jenseits der Familie, der Gemeinschaft, der Stadt, der Nation oder des Staates“14; schließlich auch der oder dem Fremden als einem oder einer „Außerhalb-des-Gesetzes-Stehenden“15.

Die Pointe von Derridas ausschweifenden Analysen zur Gastfreundschaft besteht darin, dass es schließlich erst der von außen ankommende Fremde ist, der einem Gastgeber die Möglichkeit eröffnet, sich zu Hause zu fühlen. „Der Hausherr ist bei sich zu Hause, doch tritt er nichtsdestoweniger dank des Gastes – der von draußen kommt – bei sich ein. Der Herr tritt also von drinnen ein, als ob er von draußen käme. Er tritt dank des Besuchers bei sich ein, durch die Gnade seines Gastes.“16

Dieser Wechsel wird ohne den Hintergrund der französischen Sprache nicht deutlich. Im Französischen heißt zu Haus sein être chez soi, also bei sich sein. Man ist also nicht mit sich selbst identisch, sondern immer Gast und Gastgeber zugleich. Derrida macht auf diese Weise die „Zumutung des Fremden zur Bedingung von Identität“17.

Im christlichen Horizont pointiert diese Denkfigur das paulinische: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus in mir (Gal 2,20); und das matthäische: Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen (Mt 25,35).18

In seinem Buch „Von der Gastfreundschaft“ ist Derrida selbst ein Gastgeber bzw. ein Gast19. Er hat die französische Philosophin Anne Dufourmantelle20 in seinem Buch zu Gast. Der zweite Teil des Buches ist von ihr verfasst und trägt den Titel „Einladung“.21

In ihrem Text macht sie darauf aufmerksam, dass die Ankunft eines Gastes, des Fremden, des Anderen ein Erschrecken auslöst, der dem Erschrecken bei einem plötzlichen Betreten eines unbekannten Ortes gleicht.
„Wenn wir einen unbekannten Ort betreten, spüren wir fast immer eine undefinierbare Unruhe. Dann beginnt die langsame Arbeit der Zähmung des Unbekannten, und Stück für Stück verschwindet das Unwohlsein. Eine neue Vertrautheit tritt an die Stelle des Erschreckens, das der Einbruch des ‚ganz Anderen‘ in uns ausgelöst hatte. Wenn der Körper durch die Begegnung mit etwas, das er in der Realität nicht sogleich wiedererkennt, in seinen archaischen Instinktreaktionen getroffen wird, wie könnte da das Denken wirklich behaupten, das Andere, das ganz Andere ohne jedes Erstaunen zu erfassen? Nun ist aber das Denken seinem Wesen nach ein Beherrschungsvermögen. Unablässig führt es das Unbekannte auf das Bekannte zurück, zerstückelt es sein Geheimnis, um es sich anzueignen, um es aufzuklären. Um es zu benennen.“22

Bisweilen allerdings, wird dieses beherrschende Denken auf die Probe gestellt und es stellt sich als hilflos heraus. Mit Emmanuel Lévinas nennt Dufourmantelle diese Hilfslosigkeit Erstaunen. Und das Erstaunen rückt genau den Augenblick in den Focus, in dem das Erschrecken durch Gleichschaltung in Vertrauen aufgelöst wird und eröffnet „der Gewöhnung weitere Durchgangsstellen, weitere Prägungen“. Wir werden gezwungen, „endlich zu denken und uns nicht nur einzubilden, dass wir dächten“.23

An dieser Stelle bringt Anne Dufourmantelle den tschechoslowakischen Philosophen Jan Patocka24  ins Spiel. Er treibt diesen Gedanken noch etwas weiter: „Wir müssen das Beunruhigende, Unversöhnte, Rätselhafte in uns wachsen lassen, vor dem das gewöhnliche Leben die Augen verschließt, worüber es hinweggeht und zur Tagesordnung schreitet.“25

In der Vorherrschaft des Denkens in Tagesordnungen, also darin, „das Reale zum Zwecke eines quantifizierbaren Wissens zu definieren und zu unterwerfen“26, sah Patocka einen Grund für die Krise Europas und der modernen Welt. Er plädierte für eine „Offenheit für das Erschütternde“27, die von uns verlangt „durch die Erfahrung des Sinnverlustes hindurchzugehen“, denn aus ihr geht „die Authentizität philosophischen Denkens“28 hervor.

Vor diesem Hintergrund erkennt Jacques Derrida in Patockas Fronterfahrungen während des Ersten Weltkrieges das Konzept der Gastfreundschaft bis auf ihre äußerste Grenze getrieben. Denn in der Erfahrung an der Front ist der Gegner nicht mehr einfach der Gegner. Er wird „unser Teilhaber an der Erschütterung des Tages […]. Hier also tut sich das Abgründige des ‚Gebets für den Feind‘ auf, das Phänomen der ‚Liebe zu jenen, die uns hassen‘ – die Solidarität der Erschütterten“.29

Vielleicht ist die Frage (nach) der Gastfreundschaft „eine Provokation des Denkens selbst“30 und es kann schließlich „nur derjenige Gastfreundschaft gewähren, der die Erfahrung auf sich nimmt, [sein]es Hauses beraubt zu sein“31. Sollte dieses Risiko  einer anderen Erfahrung gleich kommen: sich selbst die Fragen einer/s Anderen32 zu stellen?

Dann wäre die Zeit, als die Sehnsucht nach Freiheit in (Ost-) Europa und der Welt Phantasie und Widerstandskraft bei den Menschen freisetzte, im Begriff wieder zu kehren. Es könnte sein, dass man sich wieder treffen muss und gegen die herrschende Dummheit aufbegehren….