Seit den Anfängen Europas erzählt man sich die Geschichte von einer Gruppe von Frauen aus dem mittleren Osten. Sie tauchen an der Grenze von Argos in Griechenland auf und bitten um Schutz. Man heißt sie willkommen nach dem Gesetz der Gastfreundschaft. Doch schon bald entspinnt sich ein Konflikt um den Empfang der Fremden.

Die Rede ist von der wahrscheinlich ältesten erhaltenen griechischen Tragödie: Die Schutzflehenden von Aischylos. Darin fliehen die fünfzig Töchter des Danaos aus Ägypten. Sie sollen dort ihre eigenen Vettern, die Söhne des Aigyptos, heiraten, was sie vehement ablehnen. Unter Verfolgung ihrer Freier gelangen sie nach Argos, der Heimat ihres Geschlechtes. Dort bitten sie den König Pelasgos um Aufnahme und flehen um seinen Schutz. Die fünfzig jungen Frauen haben eine dunkle Hautfarbe, sind in weiße Gewänder gehüllt und tragen Kopftücher.

Den Metamorphosen des Ovid folgend, ist Danaos der Urenkel des Epaphos, der seinerseits aus der Verbindung von Zeus mit Io hervorging und nach Aischylos dunkelhäutig war.
Mit der Aufnahme der fünfzig Frauen gerät Pelasgos von Argos in einen moralisch-politischen Konflikt. Nach seinem Gewissen und dem Willen der Götter, muss er den Frauen nicht zuletzt wegen ihrer argeischen Abstammung Schutz und Aufenthalt gewähren. Politisch hingegen riskiert er einen Krieg mit dem Heimatland ihrer Verfolger, Ägypten. Der Schutz des Eigenen gerät in Widerstreit mit der Verpflichtung, anderen zu helfen.

In den Augen der griechischen Dichterin Niki Giannari verfolgen die Schutzflehenden dieser Urszene die europäische Geschichte wie Gespenster. Sie erkennt sie nicht nur in den Geflüchteten aus dem syrischen und afghanischen Krieg im griechischen Flüchtlingslager auf Idomeni, nein: Des spectres hantent l’Europe/ „Gespenster gehen um in Europa“. So nennt sie ihr Gedicht, das der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman kommentiert.1

Hubermann sieht im Aufeinandertreffen der Gespenster und dem Stacheldraht der Grenzbefestigungen den Entstehungsmoment eines politischen Materials, das als Frage auf die Geschichte Europas einwirkt. Und diese Frage ist direkt an den europäischen Gründungsmythos gebunden, wie ihn die Schutzflehenden erzählen. Man könne den Titel der Tragödie des Aischylos auch mit „Die Exilierten“ oder „Die Geflüchteten“ übersetzen.2

Die Frage der Gastfreundschaft ist die politische Grundfrage, der politische Grundkonflikt Europas. Diese Frage ist von beunruhigender Fremdheit. Und sie ist eben deshalb beunruhigend, weil sie uns allzu vertraut ist. Das Beunruhigende des Fremden besteht vor allem darin, dass es uns als Zeichen eines „ehemals Heimisch[en], Altvertraut[en]“3  entgegentritt, wie Freud es beschreibt.

„Die Gespenster Europas sind also nicht genau diejenigen ‚säkularen oder heiligen‘ Leute, die in Plastikhüllen gekleidet die Grenze in Idomeni und anderen Orts zu überwinden versuchen: Es sind die Fragen, die sie an unsere Gegenwart stellen, an unsere eigenen Wünsche und an unser politisches Gedächtnis. Sie erscheinen als Gespenster, weil sie in uns den Abgrund des ehemals Heimischen, Altvertrauten aufsteigen lassen. Man kann also gut sagen, dass es Fragen sind, die ‚umgehen in Europa‘; Fragen der Zeit und konsequenterweise Fragen nach dem Sein und der Existenz. Wie kann es uns also erstaunen, dass unsere Fragen, unsere tiefsten und intimsten Fragen, uns so oft von Fremden gestellt werden. Ist es nicht in Gestalt des Fremden, in der zumindest in Europa, in der Geschichte des philosophischen Denkens, begonnen wurde, Fragen zu stellen? Kann man es nicht in den Dialogen des Plato nachlesen?“4

In seinem Text über die Gastfreundschaft hatte der französische Philosoph Jacques Derrida diese Frage wieder aufgegriffen und auf die Andersartigkeit des Gesetzes der Gastfreundschaft im Verhältnis zu anderen Gesetzen verwiesen. Er hatte die reine Gastfreundschaft als ein Gesetz außerhalb der Gesetze bestimmt, als ein nomos anomos, das sich in Gestalt des Fremden als konkrete Frage uns stellt.5

Sie sind da.
Und sie empfangen uns
Großzügig
in ihren flüchtigen Blicken,
uns, die Vergesslichen und Blinden.

Sie gehen vorüber und sie denken uns.
(Niki Giannari)

In einem persönlichen, autobiographischen Zusammenhang schreibt Georges Didi-Huberman diese Überlegungen zu einer „Kritik der Wurzel (racine)“ fort: „…mit Misstrauen betrachte ich eine gewisse Art „radikalen“ zeitgenössischen Denkens, das aus jedem Problem ein Problem „über die Wurzel“ macht. Die offensichtliche Illustration dieses Denkens – oder vielmehr eine ihrer fundamentalen Quellen – besteht in der Art und Weise, in der Heidegger alle Dinge „radikal“ denken wollte, das heißt „an der Wurzel“. Das führt zu einer derartigen Wertschätzung der Wurzel, dass die „entwurzelten“ aller Art – die Obdachlosen, das Lumpenproletariat, die Zigeuner, die Juden, die internationalistischen Bolschewiken, etc. – für ihn nur noch ein nihilistisches Amalgam gefährlicher Bevölkerungsgruppen ohne Tradition, ohne Fundament und also ohne Verankerung in der „Wahrheit des Seins“ bilden.

Man weiss, dass Walter Benjamin in der gleichen Zeit wie Heidegger ein gänzlich anderes Model des Ursprungs und somit der Wahrheit als solcher vorgeschlagen hat: Nicht die Wurzel, sondern den Strudel (tourbillon). Also nicht die stabile Dauerhaftigkeit einer Sache, die fest in die Erde gepflanzt ist, sondern die instabile Wiederkehr eines Prozesses, der den Lauf der Dinge bestimmt. Nicht die Wahrheit als Fundament, sondern die Wahrheit als Bewegung, als dauerhaftes Exil […] als Wanderung in der Wüste.“6

Didi-Huberman entwickelte dieses Idee auf dem amerikanischen Kontinent weiter, genauer in Kanada, wo er eine andere Situation beobachtete als im alten Europa mit seinen wurzelhaften Nationalismen.  Auf dem anderen Kontinent „haben Reise und Landschaft, Horizont und Wurzel nicht dieselbe Bedeutung: die historischen ‚Migranten‘ sind dort eher die Kolonisatoren und die ‚Lumpenproletarier‘ sind eher die Indianer, die man plötzlich die Autochtonen nennt“. In diesem Zusammenhang ergibt sich eine völlig neue Komplexität für das Begriffspaar Wurzel/Strudel.7

Die Aktivität des Weggehens (partir), dessen tragische Variante uns in Gestalt der auf den Straßen umherziehenden Migranten und Exilierten vor Augen steht, hat ihr Gegenbild im „bevorzugten Zeitvertreib der Touristen“. „Sie lieben es ans Ende der Welt zu reisen (partir) und, die Nase in der Luft, alles Mögliche anzusehen, den Turm von Pisa, das Empire State Building, die Pyramide von Gizeh. Und sie tun das alles um schöne ‚Erinnerungen‘“ zu sammeln.“8

Wenn man hingegen aufbricht (partir) und eher den Boden, die Erde, betrachtet, praktiziert man etwas Anderes. „Den Boden zu betrachten, bedeutet, als Archäologe zu handeln: man beugt sich über den Raum, um die Arbeit der Zeit zu denken“.9  Dann ist man Erinnerungen ganz anderer Art auf der Spur wie sie Georges Didi-Huberman ins Warschauer Getto oder nach Auschwitz dem Schicksal seiner Familie während des Zweiten Weltkrieges folgend führten.

Sie gehen vorüber und sie denken uns.

Die Toten, die wir vergessen haben,
die Engagements, die wir eingegangen sind und die Versprechen,
die Ideen, die wir liebten,
die Revolutionen, die wir gemacht haben,
die Sakramente, die wir verneint haben,
alles ist mit ihnen zurückgekommen.
Wohin du auch siehst in den Straßen
oder den Avenues des Okzidents,
sie gehen: diese heilige Prozession
sieht uns an und durchquert uns.

Jetzt Stille.
Alles hält an.

Sie ziehen vorüber.
(Niki Giannari)