Bis heute am bekanntesten geblieben ist Franz Fühmann – vielleicht der bedeutendste Schriftsteller der DDR1 – durch seine Nacherzählungen für Kinder. Immer wieder sind sie mit verschiedenen Bildarbeiten aufgelegt worden. Den Anstoß dazu soll seine Tochter gegeben haben.

Stellt man aber die kulturpolitische Lage der 60er, 70er und frühen 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der DDR in Rechnung, so kann man sich des Gedankens einer gewissen Tarnung nicht erwehren. Sie hätte darin bestanden, offiziell unliebsames Kulturgut unter die Leute zu bringen. Das war zukunftsträchtig für Kinder und junge Leute am besten zu machen. So erzählte Franz Fühmann die alten griechischen Mythen nach: Prometheus, die Titanenschlacht, die Sagen um Troja, aber auch die Nibelungen. Ein groß angelegtes Projekt von Nacherzählungen alttestamentlicher Geschichten blieb ein lang gehegter Wunsch.2

Fühmann näherte sich den unterschiedlichen Quellen unter dem Aspekt der großen „Menschheitserzählungen“3. Er will die Originale nicht ersetzen, sondern zu ihnen „hinführen“4 und bleibt dabei empfindlich für „Trübungen“5, die die Stoffe im Laufe ihrer Überlieferung erfuhren, sei es durch Ideologie oder auch durch Konfession.

Seine Nacherzählung des Marsyas etwa beginnt Fühmann wie ein Chronist: „Marsyas war einer, der sich vermaß, mit Apollon in einen Wettkampf zu treten, und mit einem Instrument, das Athene verflucht hatte. – Er war ein Silen. […] Das Instrument war die Doppelflöte, und Athene hatte sie erfunden, es gehört ja zu ihrem Wesen, einen Blick für das Hilfreiche zu haben, das in den nahesten Dingen steckt. Ein daumenstarker Erlenzweig; sie klopfte ihn aus und erkannte dabei, dass diese Höhlung erst vollkommen war, wenn ihr Klang von der Tiefe des Nachtigallenschlages bis zur Helle des Lerchengeschmetters reichte. Dazu bedurfte es zweier Rohre; sie vereinigte sie in einem Mundstück.“6

Und schon ist man drin, sieht und hört eine Welt: Athene und die Flöte, wegen der sie im Olymp ausgelacht worden war. Sie warf sie weg und wusch ihr Gesicht im Meer. „Marsyas, den Strand durchstreifend, fand die Flöte.“7  Er nahm sie an sich und brachte es zu so vergnüglichem Spiel, dass Kybele, „die schwarzäugige Göttin des phrygischen Ida“8, dieses Spiel ein „[t]önendes Mondlicht“ nannte und Marsyas einflüsterte, es sei schöner als das des Gottes Apollon. Selig forderte er den Gott zu einem Wettkampf heraus und ließ sich auch durch Vorahnungen davon nicht abbringen.

Der Kampfpreis sei „nichts Drittes“ erklärte schließlich der Gott: „der Besiegte gebe sich in die Hand des Siegers, auf dass der mit ihm beliebig verfahre.“10  Was denn der Gott im Falle seines Gewinnens mit ihm, Marsyas, zu tun gedenke? Er werde „ihn ergründen“. „Wie das geschehe? Durch Ergründen, erwiderte der Gott: Er werde den Ort seiner Seele suchen und, fügte er hinzu, und Marsyas verstand nicht: den Sitz ihrer Überhebungskraft. Seine Seele töne ja aus diesem Rohr! Lachte der Silen. Dunkles Wort: Ob man Leere denn reinigen könne?“11

Der Wettstreit ging seinen Gang. Die Musen, „ins Unsagbare überwältigt, sprachen Apollon den Sieg zu […] Marsyas, arglos, unterwarf sich […] aus der Waldtiefe traten zwei Skyten, Männer des Nordens, […] Darmsaiten und Messer in den Händen […] Marsyas sah ihnen neugierig zu, wie sie herankamen, mit unhörbaren Tritten, und er verstand selbst dann noch nicht, als sie ihn, Arme und Beine in die Schräge zerrend, packten und, Kopf nach unten, als zottiges Xi, an zwei schwarzstämmige Fichten banden […] Erst als die Skyten seinen Balg von den Leisten her aufzuschlitzen begannen, begann Marsyas zu begreifen und sogleich ging alles in Heulen unter […] Ins heulende Warum tropfte Blut“.12

Franz Fühmann scheut sich nicht die Schindung zu schildern, dem Grauen Worte zu geben: „In der Konsequenz des Willens zur Wahrheit liegt übrigens auch ein Wesensunterschied von Mythos und Märchen. Der Mythos kennt kein Happy-End und kein Wunschdenken, und manche Mythen, etwa die des geschundenen Marsyas oder des rasenden Ajax, sind von einer solchen Härte, dass sie uns abweisend machen könnten, spürten wir nicht, auch noch im Krassest- und Grässlichsten jene tapfre Wahrhaftigkeit, die uns die eigne Erfahrung bestätigt und am Beispiel ihres Gestaltetwerdens die Möglichkeit ihrer Bewältigung zeigt.“13

Marsyas wimmert um Gnade. Apollon sah zu, bewegte dabei die Saiten der Lyra und sang. „Doch keiner bekundete, das der Sieger sich weidete“14. „Ach, Gnade dem Fleisch, dem arglos armen, seine Lust sei so flüchtig wie seine Süße, und wenn man es prüfe, sei es nur Schmerz!“15  Hier keine Gnade.

Dann geschieht „das Unglaubliche“: „Apollon, der Reinste der Reinen, rührte die Haut an, mit einem Tupfen des Fingers“. Aber „[d]er Herr des Delphischen Orakels spricht nicht und schweigt nicht, er bedeutet.“ … „[U]nd die Flöte schluchzte“.16

„Dann wurde Phrygien erobert […] Und Marsyas, die unverwüstliche Haut? Man erzählt, dass aufständische Soldaten sie entführten und als Banner der Freiheit auf‘ s Forum ihrer Stadt pflanzten, zwischen Königsburg und Ältestenhaus, und dass sie dem Ausgeweideten opferten, als Ihresgleichen und ihrem Schutzherrn, mit Flötenspiel, an offenen Feuern, und Einfalt, und hilfegewährenden Frauen“…17

Der Bühnenbildner und Theaterregisseur Horst Sagert schweigt in seinem Sartyrspiel „Marsyas“ von der Schindung. Er hat die Linearität der Erzählung in chorische Rundtänze verwandelt. Der abgelöste Balg des Marsyas erscheint schließlich als Flughaut im Mondlicht. Was als Anrufung kreisend besungen wird, nimmt güldene Gestalt an. Eine Serie handgroßer Plastiken: „Die Flughaut des Marsyas im Mondlicht (Auferstehung)“, Silber vergoldet, 2000.

Dieser vergoldeten Flughaut ansichtig, kann Apollon nur ein Befremden konstatieren:

Apollon:
Umnachtet, geflügelt, abgestürzt ins Mondlicht,
geht der höchsten Höhe deines Himmel-Hirns
kein Ikarus verloren.
Die Fußspur der Unsterblichkeit
Verließ die angezogene Haut
Im Mittagsschatten.
Sichtbar ist der Ton erlitten,
in der Gestalt, im Wahn der Wunder.
Das Ende der Welt hat sich verkehrt,
der Anfang ist zurückgekehrt!
Will mit dir im Mond-Licht wehen,
deinen Himmel sehen.
[…]
Das Licht, das Licht!
Selbstvernichtete, befreite Dunkelheit.
[…]
Das Unverschmähte-Ungetane
Im Wunsche nach Verschiedenheit,
es ist zu jung in der Gestalt,
um in meinem Hirn zu überleben.18

Und die Chöre um Apollon herum besingen – noch befremdlicher – die Flughaut des Marsyas im Mondlicht und nicht ihn, den alten Gott.

Fortan ist das Mondlicht kein Idyll allein, sondern zumindest auch befremdend. Der Theaterregisseur Einar Schleef hat das gewusst und für seine letzte Theaterarbeit, der der Text „Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes“ von Elfriede Jelinek zugrunde lag, eine besondere Fassung des Abendliedes „Der Mond ist aufgegangen“ vorbereitet. Dazu hat der das Abendlied mit dem Mittelteil des Liedes „Der Wanderer“ von Franz Schubert (D. 493) – Die Sonne dünkt mich hier so kalt, / Die Blüte welk, das Leben alt, / Und was sie reden, leerer Schall, / Ich bin ein Fremdling überall. – in Text und Musik übereinandergelegt.

Der Mond ist aufge-gang–en
Die Son————ne dünkt mich

Die goldnen Sternlein prangen
       hier         so            ka——lt,

am Himmel hell und klar.
die Blü————-te    welk,

Der Wald steht schwarz und schweiget
das Le————————ben alt,

und aus den Wiesen steiget
und was                 sie reden

Ein weißer Nebel wunderbar.
       lee———-rer Schall;

So legt euch denn, ihr Brüder
Ich bin                  ein Fremd-

in    Gottes Namen nieder,
ling ü————-ber-all.19