Zwischen den Zehn Geboten als dem ersten Teil des Kleinen Katechismus von Martin Luther und seinem zweiten Teil, dem Glauben, liegen nicht nur die Wechsel der An- und Aussprüche von „Ich bin“ (der Herr Dein Gott) über „Du sollst“ bzw. sollst nicht (und Luthers Beantwortung in Form von Wir sollen) zu „Ich glaube“.

Zwischen den Zehn Geboten und dem Glaubensbekenntnis liegen auch Wechsel von Zeiten, Sprachen, Kulturen, Lebens- und Herrschaftsformen, Geschichts- und Menschenbildern; das alles wäre und ist interessant.

Die Wechsel der An- und Aussprüche setzen sich aber direkt in weiteren Wechseln fort, die ins Heute führen. Sie lassen sich mit drei Stichworten beschreiben: Praxis, Werk, Entwerkung.

Die Zehn Gebote, ganz gleich, ob sie einer nomadischen, einer liturgischen oder einer moralischen Praxis zuzuschlagen sind, sie sind auf eine Praxis bezogen, sie verlangen nach Praxis, nach Tun. Von ihnen als von Glaubenssätzen überzeugt zu sein, ist schön, aber entscheidend ist ihre Praxis, ihr praktisches und konkretes Tun, welches ein Nicht-Tun einschließt, je nach Gebot.

Die Problematik dieses Zusammenhanges wird deutlich, wenn die von den Geboten geforderte Praxis mit dem Begriff des Werkes als einem Resultat von Praxis in Verbindung gebracht wird. Diese Schlinge zieht sich zu, wenn eine Praxis über ihr Werk hinaus mit einem Verdienst gekoppelt wird, das sich anzurechnen wiederum allzu leicht in den verführerischen Strudel von versprochener oder erhoffter Erlösung, Geld und Repräsentation zu geraten droht und historisch eklatant geraten ist. In seiner perfidesten Form, dem Ablasshandel, führte diese institutionelle Technik als eine der größten Aktionen kirchlichen Marketings zur Spaltung des westlichen Christentums und ließ Werke fürderhin als verdächtig erscheinen, ja sogar Praxis selbst.

Ist das nicht ein weitverbreitetes Missverständnis, das vor allem deshalb so über die Maße beliebt ist, weil es bis heute konfessionsübergreifend zu so etwas wie (zumindest verwalterischem) Machterhalt dient?

Im Zusammenhang seiner „Dekonstruktion des Christentums“ hat der französische Philosoph Jean-Luc Nancy den Jakobusbrief gelesen. Im Zentrum seiner Lektüre steht das griechische Wort argé im Vers 20 des Briefes. „Der Glaube ist ohne Werk argé, das heißt leer oder eitel, ineffizient und ineffektiv. Argos ist eine Zusammenziehung von a-ergos: ‚ohne ergon‘. Jakobus formuliert eine Quasi-Tautologie. Doch sie bedeutet, das ergon ist hier die Existenz. Es bedeutet also auch, dass ergon generell viel eher als Wirksamkeit denn als Produktion verstanden wird, und als In-actu-sein viel eher denn als operari eines opus.“[1] Das heißt, die Werke sind hier nicht als Werke des Glaubens im Sinne eines Kundtuns oder einer Demonstration zu verstehen, sondern der Glaube existiert in Werken. Nancy liest das Verhältnis zwischen Glauben und Werken hier in umgedrehter Perspektive. „Der Glaube besteht nicht an sich. Deshalb geht es darum, ihn ek tôn ergôn, aus den Werken heraus zu zeigen, aus ihnen hervorgehend. Statt das die Werke aus dem Glauben hervorgehen, ja anstatt dass sie den Glauben ausdrücken, existiert dieser nur in den Werken: in den Werken, welche die seinen sind und deren Existenz das ganze Wesen des Glaubens ausmacht, wenn man so sagen kann.“[2]

Diese Logik des Jakobsbriefes verschiebt „unser gewohntes Verständnis von ergon“ und damit zugleich „unsere platonische und aristotelische Auffassung von poiesis“. Denn beide Worte treten im Jakobusbrief gemeinsam auf. Beide Worte müsste man hier im Sinne von praxis verstehen, nämlich als „das Tun eines Handelnden“ und nicht als „die Handlung an einem Objekt“.[3]

Es liegt also im Werk selbst eine Differenz, etwas, was mit sich selbst nicht adäquat ist: „die praxis ist das, was keine Produktion eines seinem Begriff adäquaten Werkes“ (also eines Objektes) sein kann. Das Werk ist entwerkt (désoeuvré). Und Glaube kann weder seinem Werk noch seinem Subjekt eigen sein. Er kann nur empfangen werden, geschenkt, umsonst.[4]

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Im Zusammenhang des Kleinen Katechismus erlaubt dieser Gedanke einen kleinen Exkurs zu den Zehn Geboten.

Die innere Logik des Jakobusbriefes kommt nach Jean-Luc Nancy in folgender Frage zum Ausdruck: „Wenn die Menschen nach dem Bilde Gottes erschaffen worden sind, was ist dann diese homoiosis? Wem oder Was sind sie ‚homogen‘?“[5]

Und Nancy folgt der Spur des Schöpfers, den der Brief den „Vater der Lichter“ (1,17) nennt und stellt fest: „Gott ist zuerst der Gebende.“ Und folgt man der „Logik der Gabe […], gibt der Geber sich in seine Gabe auf. Ebendies geschieht hier. Gebend die Gabe vollbringend, gibt er sich und bleibt zugleich an sich schattenlos, denn es ist diese Auflösung des Schattens, dieses Aufhellen, das er gibt und das er ‚allen gerne gibt‘ (1,5). Geben und Zurückhalten sind hier keine Gegensätze – und dementsprechend wären Sein und Schein hier identisch: phänomenologische Theologie.“[6]

Wenn sich hier die Logik der Gabe und die Logik des Homogenen überlagern, folgt Nancy dem Jakobusbrief, dann ist das Gegebene von besonderer Bedeutung: Es ist die Gnade, die besser ist als jegliches Verlangen, und sie wird den Demütigen gegeben (4,6 mit Bezug auf Spr 3,34).

In Martin Luthers rigoros katechetischer Gebärde könnte man nun fragen: Was ist das?

„Die Gnade, das ist die Gunst, das heißt zugleich die Erwählung, die begünstigt und das Vergnügen oder die Freude, die so gegeben ist. Die Gnade ist gratis, ein Geschenk (gratia übersetzt charis, zeigt Beneviste, und hat gratis und gratuitas ergeben). Es ist die Gratuität des Vergnügens, das um seiner selbst willen gegeben wurde.“[7]

Eine Pointe dieser Lektüre ist die, dass im Unterschied zur einer Logik des Mangels, des Neides oder des Verzichts die Logik der Gnade „vom Genießen herrührt“ als einem „Begehren und Vergnügen als Empfänglichkeit für die Gabe.“ Diese Empfänglichkeit ist ihrerseits eine Hingabe oder Aufgabe und muss der Gabe selbst „an Gratuität gleichkommen“.[8]

Diesen Gedanken folgend wären die Zehn Gebote also weniger im Sinne von Gesetzen, Geboten oder Verboten und ihren vorrangig ins Ethische und Juristische weisende Implikationen zu verstehen, sondern als Gaben im Sinne von Praxis (s.o.) oder Lebensform. Diese Spur entspricht eher dem hebräischen Wortlaut der „Zehn Gaben“, die weniger mit „Du sollst“ als mit “Du bist“ oder „Du wirst sein“ beginnen.

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Aber kommen wir zurück zum zweiten Teil des Kleinen Katechismus, auf das Credo und auf den Begriff der Entwerkung.

Das eigenartige französische Wort désoeuvrement[9] lässt sich auf zweierlei Art und Weise ins Deutsche übersetzen: Werklosigkeit und Entwerkung. Die erste Übersetzung legt das Gewicht stärker auf einen Zustand, die zweite auf eine Tätigkeit. Diese Tätigkeit meint eine werklose Tätigkeit. Das ist eine Tätigkeit, die kein Werk hat und auch auf kein Werk ausgerichtet ist; eine werklose Tätigkeit produziert nichts, stellt nichts her, sie hat kein Ziel und bewerkstelligt nichts. Eine werklose Tätigkeit verschenkt sich, gibt sich, ist umsonst.

Die werklose Tätigkeit par excellence nennen wir Glauben.

Credo – ich glaube – zu sagen ist also eine werklose Tätigkeit.

Dazu steht das Credo klassischer Tradition in einer Spannung. Sie wird schlagartig deutlich, wenn man die Bezeichnung „Glaubensbekenntnis“ verwendet, einen Werkbegriff. Credo – ich glaube – als Überschrift meint aber immer zugleich das Prinzip einer Entwerkung, und zwar einer Entwerkung des Bekenntnisses selbst. Was zunächst befremdlich klingt, zeigt sich bereits im liturgischen Vollzug von Mehrstimmigkeit und Wechselgesang; beide Praktiken lassen sich als Grundmodi einer Entwerkung verstehen.

Der Mehrstimmigkeit entsprechen Signaturen im Bekenntnistext selbst.[10] Sie zu öffnen, also ohne Werk zu lesen, heißt, sie vom Gestus der Macht zu befreien:

Zuerst legt die Mehrstimmigkeit eines Bekenntnisses seine doppelte Zeitbewegung offen, ein alter Text wird heute gesprochen, er aktualisiert Ereignisse oder Erfahrungen, die noch älter sind als er selbst und öffnet sie auf einen Zeithorizont hin, der als kommend, adventisch, gedacht werden muss. Ein Credo kann also nicht bloßes Gedächtnis sein.

Zudem trägt der Text des Bekenntnisses Narben von Machtentscheidungen und Herrschaftsgesten in sich, die zur Formulierung des Bekenntnisses führten. Das heißt, er verschweigt nicht nur Stimmen aus dem mehrstimmigen Spiel des Glaubens, sondern schließt sie aus, was nicht selten konkret hieß: vernichtet sie. Die Spur der Mehrstimmigkeit unter den Narben solcher Herrschaftspraxis kehrt nun aber in einem weiteren Grundmodus der Entwerkung wieder.

Dieser ist der Grundmodus des Wechselgesanges; er öffnet sich zwischen »ich glaube« und »hilf meinem Unglauben« in der Person dessen, der credo sagt, und also immer schon mehrstimmig ist. Ein Credo kann auch nicht bloße Gewohnheit sein.

Wenngleich ein Credo Anteile von Gedächtnis und Gewohnheit in sich birgt und mit ihnen arbeitet, so bietet sich der Begriff der Wiederholung an, ein darüber hinaus Gehendes des Credo zu denken und zu beschreiben. Dies darüber Hinaus ist zugleich Impuls und Ziel der Entwerkung des Credo als Ausdruck einer werklosen Tätigkeit.

Die Wiederholungsforscher Kierkegaard und Péguy fügen nämlich der Wiederholung neben Gedächtnis und Gewohnheit noch einen weiteren Aspekt hinzu, nämlich den der Zukunft.

Wiederholung als Kategorie der Zukunft übertrugen sie dem Glauben. Glauben war für beide eine Art Sorge. Sie sollte die Erfahrung der Abwesenheit Gottes überwinden und dessen zweifelnden Niederschlag im Ich ausgleichen.

Gilles Deleuze geht in seiner Rezeption von Kierkegaard und Péguy darüber hinaus, wenn er fest stellt: „Aber der Glaube fordert uns dazu auf, Gott und das Ich ein für allemal in einer gemeinsamen Auferstehung wiederzufinden.“  Darin sieht Deleuze „ein Abenteuer des Glaubens, demgemäß man immer der Narr seines eigenen Glaubens, der Komödiant seines eigenen Ideals ist.“  Genau dies ist der Moment der Entwerkung, der im Glauben selbst sich findet. Deleuze führt fort: „Das rührt daher, dass der Glaube ein Cogito hat, das ihm eignet und ihn seinerseits bedingt, das Gefühl der Gnade als innerer Erleuchtung. Dieses ganz besondere Cogito ist es, in dem der Glaube sich reflektiert und erfährt, dass seine Bedingung ihm nur als ‚wieder-gegebene‘ gegeben werden kann und das er nicht nur von dieser Bedingung abgetrennt, sondern in ihr entzweit ist. Der Glaubende sieht sich dann nicht nur als tragischer Sünder, weil der Bedingung beraubt, sondern als Komödiant oder Narr, als Trugbild seiner selbst, weil in der Bedingung entzweit und reflektiert. Zwei Gläubige betrachten einander nicht ohne zu lachen“[11].

Ein Lachen, risus pascalis, findet sich also im Glauben selbst als ständige Praxis seiner Entwerkung. So wird Glauben unablässig eine werklose Tätigkeit, „eine Tätigkeit, in der das Wie das Was vollkommen ersetzt hat, in der das formlose Leben und die unbelebte Form in einer Lebensform zusammen fallen“[12]. Glauben ist ein vergnügliches Geschenk, das klingt in vielen Stimmen. Oder es schweigt.