Blättert man in Martin Luthers Kleinem Katechismus, so fällt einem schnell sein strukturierendes Element auf: Die immer wiederkehrende Frage: Was ist das? Nach jedem Glaubenssatz stellt Luther diese Frage, um sie dann kurz und prägnant zu beantworten.

Luther mag vielerlei Gründe gehabt haben, seinen Kleinen Katechismus auf diese Weise zu gestalten. Der Hauptgrund liegt sicher in seiner Übersetzung des berühmten Verses des Apostels Paulus im Römerbrief (Röm 10, 17). Paulus schrieb dort, der Glaube komme aus dem Hören. Luther übersetzt, der Glaube komme aus der Predigt.

Mit dieser Übersetzung schränkt Luther das Hören, aus dem der Glaube kommt, folgerichtig auf ein Gehorchen und damit auf eine Sache, eine Lehre ein.[1] Also fragt er immer: „Was ist das?“

Diese Frage mag gerade im ersten Teil des Kleinen Katechismus, den Zehn Geboten, angemessen erscheinen. Denn die werden ja jeweils mit „Du sollst“ oder „Du sollst nicht“ beginnend übersetzt. Und Luther nimmt dies geradewegs auf, indem der seine Frage nach dem Was jeweils mit einem „Wir sollen“ zu beantworten beginnt.

Aber bevor es sich um etwas handelt, nach dem man überhaupt mit „Was?“ fragen kann, gehen Menschen durch eine große Leere. Einem Befreiungsimpuls folgend, der bis zu „Go down, Moses“ durch die Menschheitsgeschichte hallt, geht der Mensch. Und es ist zu hoffen, dass er, sie oder es weiter geht. „Der Mensch geht im sengenden Gelb des Sandes, und dieses Gelb hat für ihn keine Grenzen mehr. Der Mensch geht im Gelb, und er versteht, dass der Horizont selbst, wie scharf er dort auch sein mag, dort hinten, ihm nie als Grenze oder als ‚Rahmen’ dienen wird: Er weiss nun genau, dass jenseits der sichtbaren Grenze der gleiche glühende Ort liegt, der immerzu weiter geht, immer gleich und gelb bis zur Verzweiflung. Und der Himmel? Wie könnte er diese farbige Einkerkerung lindern, er, der nur einen Mantel aus glühendem Kobalt bietet, den man nicht unmittelbar anschauen kann? Er, der unseren Gehenden zwingt, den Nacken zu einem immer rauheren Boden zu beugen?“[2]

Das Entscheidende dieser Erfahrung ist die Erfahrung einer Abwesenheit. Sie gehört zwangsläufig und konstituierend zu den Wünschen, dem Denken und dem Schmerz des Menschen. „Aber die Wüste – weiträumig, entleert, monochrom – bildet wahrscheinlich den angemessensten visuellen Ort, um diese Abwesenheit als etwas unendlich Mächtiges, Souveränes zu erkennen. Darüber hinaus bildet sie wahrscheinlich den treffendsten imaginären Ort, um zu glauben, dass sich diese Abwesenheit als eine Person manifestieren wird, mit einem Eigennamen – unaussprechlich oder ohne Ende ausgesprochen. Und darüber hinaus bildet sie wahrscheinlich den angemessensten symbolischen Ort, um die alte Herkunft eines Gesetzes und eines Bundes mit dem Abwesenden zu erfinden.“[3]

Schritt für Schritt wird aus dem Abwesenden, „der Ersehnte“, dann „der Bevorstehende“ und schließlich „der Anwesende“, und der Mensch „erfindet sich als ‚auf ihn zu‘ gehend, auf dem Wege zur Oase eines Dialogs, eines Gesetzes, eines zu schließenden endgültigen Bundes“.[4] Schließlich wird der gehende Mensch es wagen, „die Augen zum Himmel zu erheben, zum Berg gegenüber – und er wird den Abwesenden sehen. Endlich“[5].  

In den Notizen zu seiner Inszenierung von Arnold Schönbergs unvollendeter Oper „Moses und Aron“ schreibt der italienische Regisseur Romeo Castellucci: „Schönbergs Moses scheint zu sagen: das größte Problem liegt nunmehr an dem, der sieht, und wie er sieht, und vor allem, was er sieht.“[6] 

Aber sogleich schreibt der Dekalog vor, (sich) kein Gottesbild zu machen (Ex 19, 16-25; 20, 19).

Und so vertraut Moses selbst seinen Worten nicht. Castellucci notiert: „Seiner Meinung nach ist die wahre Aussage mehr als nur das Wort selbst, das, wie Aron es beweist, immer ein Haufen versteckter Absichten ist. Moses dagegen möchte die Stille, die vorbeugende Wirkung des Bildes, die Askese der Idee. Er denkt nicht, dass Gott in der Sprache zu erkennen ist, selbst wenn diese das einzige ihm zur Verfügung stehende Mittel ist, um das, was er gesehen und gehört hat, zu übermitteln. Aber er hat weder ein Gesicht, noch einen Namen, noch einen Körper.“[7]

Und so lässt Castellucci seine Inszenierung mit dem letzten Satz des von Schönberg in Musik gesetzten Materials schließen. Moses endet in der seiner Rolle eigenen Art des Sprechgesangs mit den Worten: „O Wort, du Wort, das mir fehlt!“[8] Und der Vorhang senkt sich erdrückend auf ihn herab.

Was bleibt, ist Schrift. Und das hat direkte architektonische und kultische Konsequenzen wie das Buch Exodus weiter berichtet.[9] Bis auf uns Heutige hat es aber vor allem mediale Konsequenzen und diese sind von höchster Aktualität: „Auch im Fernsehen, das als Bildmedium gilt, muss es irgendwo Schrift geben. Geschriebener Text, der in einigen Einzelfällen stärker als jedes Bild sein kann. Das weiß man von Moses und Aaron. Was Aaron sagt und nicht schreibt, ist populär und gewinnt die Menschen schnell. Und dennoch gibt es etwas, sagt Moses, was nicht ins Bild gesetzt werden und nicht durch Worte übertönt werden darf. Es muss Schrift bleiben.“[10]

Als ob auch Martin Luther gelegentlich einen kleinen Zweifel am gesprochenen Wort verspürt hätte, fügte er den Zehn Geboten des Kleinen Katechismus etwas hinzu bzw. geht über ihn hinaus. Bereits 1524 verfasste er einen die zehn Gebote umschreibenden Liedtext in zwölf Strophen und verband ihn mit der Melodie eines Pilgerliedes in Form einer Leise. Auf diese Art Weise sind die Zehn Gebote nicht nur Teil einer Lehre, sondern auch Teil einer spirituellen Praxis, des Singens.