Die Bachkantate für den Ostermontag (BWV 6) kreist um die Bitte „Bleib bei uns“, wie sie die Emmausgeschichte im Lukasevangelium (24, 13-15) berichtet. Diese Bitte der vom Tode Jesu traumatisierten Jünger an den unerkannten Spaziergänger – mit Heiner Müller müsste man daran erinnern, dass der Aufstand als Spaziergang beginnt – ist eine der charakteristischen österlichen Gesten.

In Bachs Kantate werden die verschiedenen Aspekte dieser Geste klanglich gezeichnet. Der Eröffnungssatz der Kantate „Bleib bei uns“ spielt im Klangraum (Tanzschritt und Tonart) des Schlusssatzes der Johannespassion „Ruht wohl“1  und orientiert akustisch die Richtung der Bitte zurück an den am Kreuz Sterbenden. Doch dann spricht die Alt-Arie den Gottessohn auf dem Thron an und lenkt damit den Blick nach vorn auf den Kommenden. Das diesen Richtungswechsel textlich tragende Motiv ist das Licht und es führt direkt in die szenische Situation der Emmausgeschichte hinein. Wobei der konkrete Moment der Bitte der Jünger – der Einbruch der Dunkelheit – anspielt auf die Angst „im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, im Dunkeln allein zu sein“3.

Im dritten Satz der Kantate schafft Bach kompositorisch einen neuen Zusammenhang zwischen einer „Choralmelodie [und] einem Instrumentalkonzert beziehungsweise einer Ritornellform“4. Der Choral „Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ“ – eine Übertragung des lateinischen Vespera iam venit 5 – wird dabei mit einem Konzert für Violoncello piccolo kombiniert. Dem besonderen Klang dieses  „kleinen Cello“ ist „etwas Liebevolles und Tröstliches“ eigen, das „unmittelbar zu Herzen geht“.6 Die Choralmelodie erklingt allein von den Frauen des Chorsoprans gesungen.

In dieser Kombination wird der Choral selbst Teil einer Bewegung. Passgenau übernimmt das Ritornell die Situation unserer Geste und setzt sie in Gang. In seinem Abécédaire erläutert der französische Philosoph Gilles Deleuze die Bewegungsform eines Ritornells:

„Also nehmen wir an, das Ritornell ist eine kleine Melodie: tralala, lala lala, tralala. Wann sage ich Tralala?  Ich treibe jetzt Philosophie, hier, wenn ich frage, wann sage ich tralala, wann singe ich vor mich hin? Ich sage, ich singe zu drei Anlässen vor mich hin.
Ich singe vor mich hin, wenn ich mein Territorium umrunde und meine Möbel poliere, im Hintergrund läuft das Radio, gut; das heißt, wenn ich bei mir zu Hause bin. Ich singe vor mich hin, wenn ich nicht bei mir zu Hause bin und wenn ich versuche, nach Hause zu kommen, wenn es Nacht wird. In der Stunde der Angst suche ich meinen Weg und mache mir Mut indem ich singe und nach Hause gehe.
Und dann singe ich vor mich hin, wenn ich sage: Adieu, ich gehe fort und behalte in meinen Herzen… –  Das ist übrigens ein Chanson: „Adieu, je pars, dans mon cœur j’emporterais…“ –  Wenn ich also von meinem zu Hause fortgehe, um anderswo hinzugehen dann wohin?
Mit anderen Worten: das Ritornell ist für mich absolut verbunden […] mit dem Problem des Territoriums, des Fortgehens von und des Eintretens in ein Territorium, also mit dem Problem der Deterritorialisierung. Ich gehe in mein Territorium oder ich deterritorialisiere mich, ich gehe fort, verlasse mein Territorium.“7

Verlassen der Choral und damit Bitte und Geste „Bleib bei uns“ ihr Territorium, so deterritorialisieren sie sich und öffnen sich für eine weitere österliche Geste. Die findet sich im Johannesevangelium. Hier hört allein eine Frau: Als Maria Magdalena zum Grab Jesu kommt und schließlich dem Auferstandenen gegenübersteht, hört sie ihn zu sich sagen: noli me tangere. Rühre mich nicht an, übersetzt Luther (Joh 20, 17).

Beide Gesten geraten auf diese Weise miteinander in eine Bewegung,  tanzend schaffen sie etwas, was man österliche Praxis nennen könnte: „Berühre mich nicht, halte mich nicht fest, versuche weder zu halten noch zurückzuhalten, sage jeder Anhängerschaft ab, denke an keine Vertrautheit, an keine Sicherheit. Glaube nicht, es gäbe eine Versicherung so wie sie Thomas wollte. Glaube nicht, auf keine Weise. Aber bleibe in diesem Nicht-Glauben standhaft. Bleibe ihm treu. Bleib meinem Fortgang treu. Bleib dem allein treu, was in meinem Fortgang bleibt: dein Name, den ich ausspreche. In deinem Namen gibt es nichts zu ergreifen, nichts dir anzueignen, sondern es gibt dasjenige, was vom Unvordenklichen her und bis hin zum Unerreichbaren an dich gerichtet ist, vom grundlosen Grund, der immer schon ein Aufbruch ist.“8

Österliche Praxis wird in den Evangelien gestisch beschrieben. Paulus versucht, österliche Praxis zu denken: Als er das Wirken des Messias (was sich für Paulus in der Auferstehung schon ereignet hat9)  gegenüber dem Gesetz beschreibt, benutzt er das griechische Verb katargein. Katargein bedeutet so etwas wie ausschalten, entlassen, absetzen, außer Kraft setzen oder deaktivieren10. Das Wirken des Messias zerstört das Gesetz nicht, er ersetzt es auch nicht einfach durch ein neues Gesetz, sondern er deaktiviert es. Der Messias deaktiviert „jede Macht, jede Autorität und jede Gewalt“  (1 Kor 15, 24).11

Auf das Gesetz (mitzwoth) bezogen hat dieses deaktivierende Wirken des Messias eine direkte Auswirkung auf die Identität dessen, der seine Identität vom Gesetz bestimmen lässt. Dabei wird seine/ihre Identität nicht zerstört oder durch eine andere ersetzt. „Der messianische [Mensch], (Paulus kennt das Wort Christ nicht), repräsentiert nicht eine neue, universellere Identität, sondern eine Zäsur, die durch jegliche Identität hindurchgeht – sowohl durch die jüdische als auch durch die heidnische. Der „Jude nach dem Geist“ und der Heide „nach dem Fleisch“ definieren keine neue Identität, sondern lediglich die Unmöglichkeit für jede Identität, mit sich selbst deckungsgleich zu sein (coïncider) – das heißt eine Entlassung der Identität selbst: Jude wie Nichtjude, Heide wie Nichtheide.12 Identität an sich wird auf diese Weise in eine „Spannung in Bezug auf sich selbst“13 versetzt. Sie wird geöffnet.

Der terminus technicus des Paulus für eine auf diese Weise geöffnete, messianische Lebensform ist hos me, als-ob -nicht: „Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Auch sollen die die Frauen haben, sein als hätten sie keine; und die weinen als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“ (1. Kor 7, 29-31)

Im Als-ob-nicht tritt etwas – ein Zustand, ein Begriff, eine Geste – zu sich selbst in Spannung, „richtet sich also weder auf ein anderes, noch erschöpft [es] sich in der Indifferenz zwischen einer Sache und ihrem Gegenteil“, sonders „es stellt sich selbst in Frage, ohne dass seine Form verändert würde“. Es unterwandert sich.

„Leben unter der Form des Als-ob-nicht bedeutet, jegliches juristisches und soziales Eigentum abzusetzen (déstituer) [oder zu deaktivieren], ohne dass diese Positionsenthebung (déposition) eine neue Identität begründen würde. In diesem Sinne ist eine Lebensform das, was unablässig die sozialen Lebensbedingungen, unter denen es sich vorfindet, ihrer Position enthebt (dépose), ohne sie zu negieren, sondern sie einfach zu gebrauchen. […] Gebrauchen bezeichnet hier die Macht der Positionsenthebung wie sie der Lebensform des Christen eigen ist; sie besteht darin, das Schema dieser Welt abzusetzen“ 14.  Auf diese Weise enthebt sie die Welt ihrer faktischen Bedingtheiten bzw. deaktiviert sie oder setzt sie außer Kraft.

In dieser Denkfigur bringt Paulus zwei Begriffe aus dem römischen Recht in Gegensatz: usus und dominium, Gebrauch und Besitz.15 Die Positionsenthebung des Besitzes zugunsten des Gebrauches und ihre Ausweitung auf die Weltverhältnisse eröffnet eine Dynamik, die einer neuen Schöpfung gleich kommt, ohne die erste Schöpfung zu zerstören.16  Sie öffnet bzw. ist selbst die Öffnung auf etwas Kommendes.

„Der Auferstandene Christus kommt, um im Innersten des Menschen ein Fest lebendig werden zu lassen. Er bereitet uns einen Frühling der Kirche, einer Kirche, die über keine Machtmittel mehr verfügt, bereit mit allen zu teilen, ein Ort sichtbarer Gemeinschaft für die ganze Menschheit. Er wird uns genügend Phantasie und Mut geben, einen Weg zur Versöhnung zu bahnen. Er wird uns bereit machen, unser Leben hinzugeben, damit der Mensch nicht mehr Opfer des Menschen sei.“17