Sollten nicht nur Gedanken, sondern auch Praktiken aus ihren angestammten, mitunter verknöcherten Gehäusen ausgewandert sein?

Bei genaueren Hinsehen ließ sich etwas derartiges auf der kürzlich vergangenen Fußballeuropameisterschaft der Frauen in London beobachten. Neben dem, was immer zu diesem begeisternden, leidenschaftlichen und kämpferischen Wettbewerb und daran beteiligten Personen resp. Spielerinnen und Trainerinnen zu sagen wäre, stellt sich die Frage nach Praktiken, die dort vollzogen wurden und die man als säkular liturgisch bezeichnen kann. Sie hatten nicht nur eine große Wirkung. Sie lassen ihre originär liturgischen Herkünfte erkennen obwohl sie verwandelt sind.

Worum geht es? Was sind demnach öffentlich verständliche und praktizierte liturgische Gesten und Vollzüge? Ich meine Vollzüge, die in aller Einfachheit doch Verbindungen erkennen lassen zu Vollzügen von denen sie ausgewandert sind, von denen sie sich aber unterscheiden.

Direkt vor Beginn des Spiels knieten alle Spielerinnen auf dem Feld auf ihren Positionen auf einem Knie nieder. Diese einfache Praxis des Kniens, die der evangelischen liturgischen Praxis verloren gegangen ist, zeigt sich hier als körperliche Geste der Solidarität, Antirassismus und Fairplay auf eine denkbar natürliche und kraftvolle Art und Weise ohne Erklärungen übrigens. Könnte diese Geste zurück finden in kirchliche liturgische Zusammenhänge? Auf Großereignissen wie Kirchentagen etwa?

Am Todestag des legendären Fußballspielers Uwe Seeler hielt das gesamte Stadion eine Schweigeminute ab. Auch hier ohne große Erklärungen. Zum Verständnis dieser kleinen Zeremonie, die ja in unterschiedlichen Kontexte verbreitet ist, wurde nichts erklärt, was ihr schnell etwas Pädagogisches bis hin zu etwas Erzwungenem angetragen hätte, sondern es erschien einfach ein großes Lichtbild des betrauerten Spielers mit den Lebensdaten auf den im Stadion verteilten Videotafeln.1

In diese Beobachtungsreihe gehört auch das gemeinsame Singen der Nationalhymnen der jeweils gegeneinander spielenden Herkunftsländer der Mann- bzw. Frauschaften vor dem Spiel. Bei aller Emotionalität, Kraft und auch Verschiedenheit der Hymnen stellt sich hierbei jedoch ein Unterschied zu den beiden vorherigen Praktiken heraus. Er besteht in ihrem unweigerlichen Bezug zu Macht, Repräsentation und eben möglicherweise auch zu Gewalt.

Im Anblick der im Fernsehen während des Singens eingeblendeten Frauenporträts fiel mir ein, dass es einen Moment lang kurz nach der Wende eine öffentliche Diskussion darüber gab, ob nicht die gemeinsame Nationalhymne des wiedervereinten Deutschland ein Festlied für Kinder sein könnte:

Anmut sparet nicht noch Mühe,
Leidenschaft nicht noch Verstand,
dass ein gutes Deutschland blühe
wie ein andres gutes Land,
dass die Völker nicht erbleichen,
wie vor einer Räuberin,
sondern ihr Hände reichen
uns wie andern Völkern hin.
 
Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern woll‘n wir sein.
Von der See bin zu den Alpen,
von der Oder bis zum Rhein.
Und weil wir dies Land verbessern,
lieben und beschirmen wir’s.
Und das liebste mag’s uns scheinen,
so wie andern Völkern ihrs.2
 
Dieses Lied ist von Bertolt Brecht gedichtet, von Hanns Eisler vertont und mir am eindrücklichsten in der Fassung des Komponisten und Theaterregisseurs Heiner Goebbels in seinem Musiktheaterprojekt „Eislermaterial“. Ein Livemitschnitt ist zu hören auf der gleichnamigen CD von 2002 mit dem Ensemble Modern, gesungen von Josef Bierbichler. Zu seiner Wahl des Schauspielers als Sänger sagt Heiner Goebbels und weist in unserem Zusammenhang auf ein Kriterium:

„Er ist zwar ein Schauspieler, aber keiner, der etwas künstlich herstellt, sondern der große Möglichkeiten hat, die Dinge sehr direkt zu formulieren und zu verkörpern. Außerdem hat er eine sehr schöne, relativ zarte Gesangsstimme, die dieser Einfachheit und Melancholie und dem Fehlen von Prätention in den Liedern sehr nahe kommt.“3

In Heiner Goebbels’ neuester Komposition A House of Call. My imaginary notebook (UA 2021) kann man einen Eindruck davon gewinnen, dass Hymnen nicht nur in Form von Nationalhymnen eine gefährliche Verbindung zu Macht, Repräsentation und möglicherweise sogar Gewalt eingehen können, sondern auch kirchliche Hymnen wie in diesem Falle das bekannte Lied „Nun danket alle Gott“ (EG 321).

Im Ethnologischen Museum, Phonogramm-Archiv Berlin stieß er auf die Sammlung Lichtenecker von 1931. Hier findet sich ein Tondokument, auf dem Schulkinder „das Kirchenlied „Nun danket alle Gott“ in der Sprache der Nama“ singen. „Sie sind Nachfahren jener Volksgruppe, die sich 1904 an dem Aufstand der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) beteiligt hatten.“4

Auf geradezu beklemmende Art kann man in diesem Dokument (es erklingt im Kapitel Wax and Violence von A House of Call) hören, inwiefern die Aufnahme „Teil eines bisher wenig erforschten, polyphonen Echos kolonialer Wissenspraxis – und dessen inhärenter epistemischer Gewalt“5  ist. Im Falles dieses Kirchenliedes kommt man kaum um umhin, von liturgischer Gewalt sprechen.

In aktuellen Krise der Kirchen stellt sich nach dem Hören dieses Dokumentes ebenso beklemmend die Frage danach, ob sich eine Glaubwürdigkeit der Praxis der Kirchen wiederherstellen lässt, ohne diese Kapitel ihrer Geschichten aufzuarbeiten und entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen.6

In A House of Call nimmt Heiner Goebbels Spur säkularer Liturgien aber noch auf andere Weise wieder auf als die, die uns zu den Hymnen und ihren säkularen und liturgischen Verbindungen zu Macht und eben auch zu Gewalt geführt hat.

Er beschreibt das gesamte Werk als einen „Zyklus mit Rufen, Aufrufen, Anrufungen, Beschwörungen, Gebeten, Sprechakten, Gedichten und Liedern für großes Orchester. Aber nicht das Orchester ruft, sondern es ist mit Stimmern konfrontiert, es präsentiert, unterstützt, begleitet sie, antwortet und widerspricht ihnen – wie in einem säkularen „Responsorium“, einer gemeinschaftlichen Antwort des Orchesters auf die vielen einzelnen Stimmen, die mit ihren ganz eigenen Klängen und Sprachen zu hören sind.“7

Der Introitus des Werkes trägt den Untertitel A Respons to Répons und verwendet einen Ausschnitt auf dem Werk Répons von Pierre Boulez vom Beginn der 1980er Jahre. Boulez macht folgende Bemerkung in seiner Partitur: „Der Titel des Werks bezieht sich auf das Responsorium des Gregorianischen Chorals, bei dem ein Solosänger mit dem Chor alterniert. Zwei Faktoren dieser Form erlangen hier Bedeutung: zum einen die Beziehung zwischen ‚dem Einen und den Vielen‘, zum anderen das räumliche Element, das durch den Abstand zwischen Solist und Chor entsteht.“8

In seinem Introitus antwortet nun Heiner Goebbels seinerseits auf das Werk von Boulez, indem er es mit einem Orgel-Loop konfrontiert, den er, ebenfalls zu Beginn der 1980er Jahre mit seiner Band Cassiber spielte. Dabei handelt es sich um eine Orgelkadenz nach der Stelle mit dem Text „Ach heile mich“ in der Bachkantate BWV 135 „Ach heile mich, du Arzt der Seelen“.

Am Ende des Werkes singt das gesamte Orchester, das Ensemble Modern Orchestra9, auf einem Ton den Abschnitt aus einem der letzten Texte von Samuel Beckett „Worstward Ho“ den Abschnitt der mit den Worten „what when words gone“ beginnt.10 

Anlässlich der Uraufführung bei Musikfest Berlin 2021 schrieb ein Kritiker von einem „säkularen Gebet“11.

Sollten nicht nur Gedanken, sondern auch Praktiken aus ihren angestammten, mitunter verknöcherten Gehäusen ausgewandert sein?