Es ist keine überraschende These zu behaupten, dass die Geburt zu „den häufigsten Motiven der europäischen Malerei“1 zählt. Überraschender ist folgende Beobachtung: „Die Geburt, die [da] geschildert wird, ist kein gewöhnliches, sondern ein einmaliges, nicht darstellbares und widernatürliches Ereignis. Die christliche Theologie hat dazu beigetragen, die Geburt zu etwas Undenkbarem zu machen, indem sie sie aus jeglichem naturalistischen Rahmen heraustreten ließ, sie gegen die Natur auszuspielen wusste und sie als Wunder begriff.“2

Genauer gesagt bedeutete das, die Geburt von der Natur und von der Mutterschaft zu entkoppeln3  und „zum Synonym einer absoluten Neuheit“4  zu machen.5  Nach und nach wurde dieses Wunder „säkularisiert und durch Bedeutungserweiterung“6  auf die menschliche Geburt übertragen. Dieser Vorgang lässt sich bis in das Werk von Hannah Arendt verfolgen.

In „Das Leben des Geistes: Das Denken, Das Wollen“ beschreibt sie die Geburt als den „Eintritt eines neuen Geschöpfes, das mitten im Zeitkontinuum der Welt als etwas völlig Neues erscheint“7. Als solche betrifft die Geburt vor allem die Menschen. Sie sind „Initium, Neuankömmlinge und Anfänger von Geburt an“8. Nur sie, die Menschen, „ergreifen die Initiative“ und „werden zum Handeln veranlasst“9. Nach Hannah Arendt ist mit dem Menschen „das Anfangsprinzip in die Welt gekommen“10.

So faszinierend und wirkmächtig derartige Theologie(n) und Philosophie(n) der Natalität auch (gewesen) sein mögen, so sehr führen sie doch in die hegemoniale Enge eines Anthropozentrismus, der spätestens in der Perspektive des Anthropozän sich als fatal und damit als zerstörerisch erweist.

Wie lässt sich die weihnachtliche Geburt anders denken?

Die Frage stellen heißt zugleich danach zu fragen, wie man Geburtlichkeit jenseits hierarchisch-ontologischer Begriffe beschreiben kann. Der in Frankreich lebende italienische Philosoph Emanuele Coccia versteht Geburt als Metamorphose und schlägt vor, die weihnachtliche Geburt und in ihrer Folge alle Geburten als etwas zu denken, an dem nicht nur die Natur, sondern auch Gott teilhat:

„Wir müssten uns vorstellen, dass ein Gott, der an der Geburt teilhat, in allen erdenklichen natürlichen Wesen, ob Ochse, Eiche, Ameise, Bakterie oder Virus, verkörpert sein muss. Wenn die Geburt Heil mit sich bringt, dann in jeder erdenklichen Geburt, zu jedem erdenklichen Moment, an jedem erdenklichen Ort. Wir müssten uns vorstellen, dass jede Geburt nicht nur eine Form der Vergöttlichung, der Weitergabe göttlicher Substanz ist, sondern vor allem eine Form der Metamorphose Gottes. Dieser Gott würde in seiner Alleinigkeit alles Lebendige einschließen, umgekehrt wäre jedes einzelne Lebewesen eine Erfahrung der Vervielfältigung des Göttlichen – in einem theologischen Karneval, vor dem alle historischen Religionen verblassen müssten.“11

Was hier überraschend und etwas wild klingt, könnte vielleicht herkömmliche theologische Anknüpfungspunkte suchen und diese in eine karnevalistische Bewegung bringen. So könnten Schöpfung, Geburt und Kenosis zusammen gedacht werden. In jeder Geburt wandert Gott verborgen durch die Schöpfung, genauso wie die Materie wandert, sich ständig neu konfiguriert.

Einer so skizzierte Geburtlichkeit entspricht die Inspiration eines Franz von Assisi, in seinem „Sonnengesang“ (1224/25) von „Bruder Sonne“ und „Schwester Mond“ zu singen. In unseren Tagen (2015) hat Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato si“12  diese Gedanken aufgegriffen und auf unsere aktuelle Weltlage bezogen. Insbesondere die Verbindung des Schreies der Erde mit den Schreien der Armen13  weckte das Interesse des Philosophen Bruno Latour an der Enzyklika. Nach dem Grund seines Interesses gefragt antwortete Latour in einem Gespräch:

„Die aktuelle Umweltfrage nimmt die Theologie in die Pflicht, Stellung zu beziehen, die sich über 300 Jahre auf die Welt des Spirituellen beschränkten. Die Wissenschaft beansprucht ihre eigene Hegemonie und versucht, die Hegemonie der Religion zu verdrängen. Den armen Religiösen bleibt nur noch das Übernatürliche. Es ist extrem schwierig, Bischöfen und Priestern zu erklären, dass die Umweltfrage eine enorme Chance für die Kirche ist, um zu den ursprünglichen Themen der Kirche zurückzukehren. Man nennt das: Inkarnation. Das heißt, es geht um die Erde und nicht um den Himmel. Das ist ein altes Thema der Kirche, das aber verloren ging. Die Umweltfrage soll jetzt nicht zur neuen religiösen Ideologie werden, aber sie eröffnet neue Chancen. Die Umweltfrage bringt etwas ganz Neues mit sich. Nämlich diese außergewöhnliche Verbindung, die in einer laizistischen Welt undenkbar ist, die Verbindung des Schreies der Armen und des Schreis der Erde14. Das ist großartig und Sie taten gut daran, diesen Satz zu zitieren. Der Kosmologie der Modernen war dieser Ansatz fremd. Die Erde schreit nicht und die Armen werden nicht gehört. Wobei es hier um die sozial Benachteiligten geht, nicht um die „Armen“ im theologischen Sinne. Die Umweltfrage eröffnet also neue Möglichkeiten. Sie bringt eine Neuorientierung in den Wertvorstellungen und bietet somit neue Chancen. Ich sage den Theologen: ‚Sie haben großes Glück. Schauen Sie: Seit 150 Jahren fragen Sie sich, ob die Kirche modernisiert werden muss. Jetzt geht die Moderne vor Ihren Augen zu Ende.‘ Die Frage nach der Modernisierung wird also hinfällig, es gibt keine Moderne mehr. Wir alle sind uns einig, auch wenn nicht alle Christen sind, dass die Moderne endet. Wir versuchen die politischen Werte zu retten. Und die Kirche hat das Glück, wenn ich so sagen darf, die Moderne sterben zu sehen, die sie bekämpfte, mit der sie nicht umgehen konnte. Jetzt kann die Kirche ein völlig neues Gedankenumfeld schaffen. Sie kann zu ihrer Tradition zurückkehren, zu einem Gott, der Mensch wurde, der zur Erde, zur Schöpfung gehört. Er nimmt an der Schöpfung teil, er ist Zeuge und Betroffener aller Entwicklungen. Jetzt kann die Theologie sich neu positionieren. Vielleicht auch beim Thema der Jungfrau Maria. Denn in der Theologie wurden Projektionsflächen angehäuft, die sicher aus guten Gründen entstanden sind. Doch diese Gründe sind nun einige Jahrhunderte alt. Der Papst erfand nun einen neuen Mythos. Doch viele Priester und Kardinäle sehen diese neue Sicht mit Argwohn. Die „Schwester Erde“. Was soll ein Priester damit anfangen? Ein Papst, der von “Schwester Erde“ spricht, das ist befremdlich. Doch es eröffnet eine neue Chance. Das ist eine sehr weit gefasste Version der Umweltfrage. Es ist eine Chance auf die Erneuerung der Zivilisation. Die Zivilisation der Moderne war schlecht, denn sie führte in diese Sackgasse. Die ökologische Frage bietet nun die Chance einer neuen Zivilisation.“15

Die Metamorphose des theologischen Begriffes der Geburt bzw. der Geburtlichkeit, an der Gott teilhat, deren Zeuge er ist und von deren Entwicklungen er betroffen ist, könnte ein Beitrag dazu sein. Ein „theologischer Karneval“ ist hier gefragt – nicht zu vergessen: Franz von Assisi ist der Erfinder des Krippenspiels. Und wo fand es statt? Im Wald…

P.S. In Kriegszeiten, weit jenseits selbstreferentieller kirchlicher Verwaltungen, die damals für den Krieg predigten, im Cabaret Voltaire in Zürich: „Das ‚Krippenspiel‘ (Concert bruitiste, den Evangelientext begleitend) wirkte in seiner Schlichtheit überraschend und zart. Die Ironien hatten die Luft gereinigt. Niemand wagte zu lachen. In einem Kabarett und gerade in diesem hätte man das kaum erwartet. Wir begrüßten das Kind, in der Kunst und im Leben.“ (Hugo Ball am 3. Juni (!) 1916)16