In den Archiven der kleinen Hafenstadt Cagliari Im Süden von Sardinien findet sich folgende Begebenheit überliefert:

Eines Nachts Ende April oder Anfang Mai des Jahres 1720 hatte der sardische Vizekönig Saint Rémys, dessen Verantwortlichkeiten vom König sehr reduziert gehalten waren, einen bedrückenden Traum. Er sah sich selbst von der Pest infiziert und seinen kleinen Staat von ihr verwüstet. Der Plage fielen nicht nur große Teile der Gesellschaft zum Opfer, die öffentliche Ordnung geriet ins Wanken, die Moral zerfiel. Er hörte in sich die Stimmen von Gerüchten, Schreien und Schmerzen, musste seinem eigenen Verfall zusehen. Doch irgendwo wusste er noch im Traum, dass man an Träumen nicht stirbt. Er erwachte und beschloss, dem alphaften Wahn seines Traums vom vermaledeiten Virus aus dem Orient zu trotzen. Er würde sich als fähig erweisen, den Virus fernzuhalten.

Einen Monat zuvor war in Beirut ein Schiff mit Namen Grand-Saint-Antoine in See gestochen. Dieses Schiff befindet sich nun gerade vor Cagliari und bittet um Einfahrt und das Recht, an Land zu gehen. Da gibt der Vizekönig einen Befehl, der von den ihn Umgebenden und vom Volk für völlig absurd, dumm und despotisch gehalten wird. Geradewegs entsendet er ein Boot mit dem Befehl für die Grand-Saint-Antoine, sofort zu kreuzen, volle Segel zu setzen und in See zu stechen. Sollte sie dem Befehl nicht nachkommen würde man das Schiff mit Kanonenbeschuss versenken.

Der französische Theatermann Antonin Artaud, der diese Geschichte berichtet, kommentiert: „Man muss doch die besondere Kraft des Einflusses bemerken, den dieser Traum auf ihn [Saint Rémys] ausübte. Denn dieser Einfluss erlaubte es ihm, trotz des Sarkasmus der Menge und des Skeptizismus seiner Entourage, die Wildheit seiner Befehle durchzusetzen und sich damit nicht nur über die Rechte der Menschen, sondern ganz einfach über den Respekt vor dem menschlichen Leben und aller Art von nationalen und internationale Konventionen hinwegzusetzten.“1

Ungefähr zwanzig Tage später trifft die Grand-Saint-Antoine ein im Hafen von Marseille, wo man ihr Landeerlaubnis gewährt. Der Zeitpunkt ihres Eintreffens fällt zusammen mit der größten Explosion der Pest, an die man sich in Marseille erinnern kann. Doch in den Aufzeichnungen ihrer Verkehrsbehörden finden die Pesterkrankten der Grand- Saint- Antoine und ihr Schicksal keine Erwähnung, obwohl man der Pest von 1720 die einzigen klinisch verwertbaren Aufzeichnungen der Plage in Marseille verdankt. Einige Matrosen der Besatzung des Schiffes haben überlebt und heuerten später anderswo an. Aber die Grand-Saint-Antoine hatte die Pest nicht nach Marseille gebracht. Sie war bereits da und gerade in starkem Ansteigen begriffen, wenngleich man sie in den Häuser lokalisiert hatte. Die Pest, von der die Besatzung befallen war, war allerdings die orientalische Pest, der ursprüngliche Virus, dessen Ausbreitung in der Stadt besonderes Grauen verbreitete.

Artaud fügt hinzu, dass diese orientalische Pest allein in der Lage war, Verwüstungen ohnegleichen anzurichten, immerhin war die gesamte Besatzung befallen, außer dem Kapitän. Dennoch können diese neu nach Marseille gekommenen Erkrankten nicht direkt zur Ausbreitung der Epidemie beigetragen habe, denn sie hatten keinen Kontakt mit den anderen Bewohnern der Stadt, die Viertel waren abgeriegelt. Die Grand-Saint-Antoine hatte die Pest auch nicht in Cagliari auf Sardinien abgeladen, wo sie nur in Rufweite vorbeikam, „aber der Vize-König hatte im Traum bestimmte Emanationen empfangen, denn man kann nicht verneinen, dass sich zwischen der Pest und ihm eine ausgeglichene wenn auch subtile Kommunikation hergestellt hatte und es ist zu einfach, die Kommunikation über eine derartige Krankheit einer Übertragung durch einfachen Kontakt zu bezichtigen. Das Verhältnis zwischen Saint Rémys und der Pest war zwar stark genug, um sich in Bildern seines Traums frei zu entladen, doch stark genug, um in ihm als Krankheit zu erscheinen, war es nicht.

Wie dem auch sein, als der Stadt Cagliari kurze Zeit später zu Ohren kam, dass das von ihren Küsten durch den despotischen Willen des wundersam hellsichtigen Prinzen verjagte Schiff, Ursache der großen Epidemie in Marseille gewesen sei, hat sie die Fakten in ihren Archiven gesammelt, wo sie jeder wiederfinden kann.“2

Mit dieser Erzählung beginnt der in Marseille geborene Artaud seine Beschreibung der Pest als eine Allegorie des Theaters von 1933/34.3  Wir wollen diesem Text hier nicht weiter folgen, sondern einer seiner Wirkungen: Anfang der 1980er Jahre erhielt der junge Kunsthistoriker und Philosoph, Georges Didi-Huberman als Dramaturg den Auftrag, eine Materialsammlung zum Thema Pest für eine Theaterproduktion in Straßburg zu erstellen, die bei ihrer Aufführung 1983 den Titel Dernières Nouvelles de la Pest / „Letzte Neuigkeiten von der Pest“ getragen haben wird.4

Während der Proben entstand die Idee, ein Buch zu machen, das nichts Anderes zum Ziel hat, als „die Bruchstücke der Erinnerung zusammenzutragen, die sensibel dazu wären, die Barriere des Vergessens zu überschreiten: Das Vergessen der Pest. Aber im Überschreiten der Barriere des Vergessens sollte nichts Problematisierendes liegen, denn schließlich liegt die Pest doch weit hinter uns (…?). Eher sollte das zu Vorschein kommen, was bis heute in uns bleibt von diesem Schrecken, den die Pest erzeugt hat, die Vorstellungswelt, die sie zum Teil geschaffen hat und deren Träger wir sind: Das Gefühl des Schlimmsten. Welche Wege sucht sich dieses Gefühl? Durch welche Formen? Welche Visionen? Wie kann man sich dagegen verteidigen?“5

Für die Auswahl, Zusammenstellung und Kommentierung des gesammelten Materials für ein Buch zog sich Didi-Huberman von den Proben zurück. „Ich erinnere mich, dass dieses kleine Buch fieberhaft in weniger als 15 Nächten in den leeren Sälen eines großen Theaters geschrieben wurde. […] Ich isolierte mich vom Theater im Theater. Ich mochte es, dass die Bühne entvölkert war. Und dennoch liebte ich, und wie sehr, die Schauspielerinnen und Schauspieler. Für sie wurde dieser Text geschrieben. Jeden Morgen habe ich ihnen Teile davon laut vorgelesen, ohne zu wissen, wozu das nützlich sein sollte.“6

Neben vielen klassischen Autoren mit Pest-Erfahrungen unterschiedlicher Art und Intensität wie Lukrez, Thukydides, Boccaccio, historischen Dokumenten, medizinischen Analysen u.v.a.m., sind es vor allem zwei Autoren, die für das „Memorandum der Pest“ von gestaltgebender Bedeutung sind: Daniel Defoe und Antonin Artaud.

Dabei war Defoe mit seinem Journal de l’année de la peste für Didi-Huberman ein „traumhafter Anführer (guide)“7. Defoe war „ein Mann der Aufklärung in finstersten Zeiten“. Als solcher „will er zu allem eine kritische Distanz wahren. Er ist nicht kontaminiert. Also kann er ironisch sein“, ohne an die Vorstellungskraft (fiction) zu appellieren.

Das aber will Antonin Artaud. Mit seiner „Sprache der Qual“ (Heiner Müller) will er sich auf der „Höhe des Desasters halten, von dem er erzählt“8. „Artaud liebt die Pest“9 und wahrscheinlich kann er das nur deshalb, weil er selbst nicht von der Epidemie bedroht war. Sein Stil ist ein Stil des „Abgrunds“.

Damit interessiert sich Artaud vor allem für das, was Aby Warburg die monstra nannte, nämlich „die Bestialität, das Animalische, die physische Brutalität“ einer Epidemie, die „direkt auf das unbewusste Gedächtnis (mémoire)“10 einwirkt und damit im „Akt der Imagination“ seinen Ausdruck sucht. Imaginieren in diesem Sinne „ist kein Luxus, noch weniger ein Trost. Es ist ein psychisches Schicksal, in das das Schlimmste (le pire) eingeschrieben ist“, eine „Plage des Seins“11. Ein „ansteckender Ausbruch der Bilder“12  lässt „die Sprache verrückt“ werden, „die Logik zusammenbrechen“ und erzeugt eine „Epidemie der Worte“13.

Gegen diese „generelle Paranoia“ kämpft Daniel Defoe entschieden an mit Ironie und „beschreibender Genauigkeit“. Seine Worte sind nicht „verängstigt von sozialer Verrücktheit“, seine Gedanken nicht „versteinert von intimer Angst“. „Daniel Defoe verlässt die monstra, deren lebendiger Zeuge er war, und sucht so die astra der freien Ausübung der Vernunft (raison).“14

Für Georges Didi-Huberman repräsentieren Defoe und Artaud „ohne Zweifel zwei symmetrische Arten des Kämpfens mit Worten gegen die Tyrannei der Worte – also der Gesetze, also der Akte – die eine betroffene, verarmte, depressive Gesellschaft in eine totalitäre, triumphalistische und manische (das existiert noch in unseren Tagen) Gesellschaft transformiert.

Der Stil Dafoe ist derjenige der Aufklärung; er hilft uns, zu verstehen und uns frei zu machen. Der Stil Artaud ist derjenige des Abgrundes; er verpflichtet uns, zu verstehen, dass wir betroffen, also verwickelt sind in die Zeit, den Raum und die Materie, in die Verrücktheit (folie) einer großen Krankheit des Seins.“15

Symmetrisch bedeutet hier so viel wie, dass wir immer zugleich eingetaucht sind in etwas und trotz allem (malgré tout) einen Willen behaupten müssen, einen Ausweg daraus zu finden.