Die Verwendung des Begriffes Spurenlesen eröffnet einen ungewohnten Hintergrund von Epiphanias, nämlich seine Naturgeschichte. Sie beginnt bei der Spurensuche und die hat „eine Vorgeschichte, die wir mit den Tieren teilen“1. Sie ist ein Erbe aus der Zeit von „vor rund zwei Millionen Jahren, da wir uns von sammelnden Fruchtfressern zumindest teilweise in Spurensucher und jagende Fleischfresser verwandelten“2

Was zuerst der Versorgung mit Nahrung untergeordnet war, Spuren auffinden, sie geduldig verfolgen und schließlich die Beute erlegen, ging einher mit einem Interesse für das verfolgte Tier, seine Gewohnheiten, Vorlieben, Bewegungsarten. Die Spur oder Fährte wird mehr und mehr gelesen als Zeichen, das es ermöglicht, sich in das Wildtier und seine Bewegungen hineinzuversetzen, sie zu rekonstruieren, mit seinen Augen zu sehen, sein Verhalten zu antizipieren.

„Es geht darum, das Unsichtbare zu sehen, die immateriellen Habitate aufzudecken in einer Welt, die reicher ist als gedacht und in der man niemals alleine war. Spurenlesen bedeutet, aufmerksam zu werden auf das Netz unsichtbarer Einflüsse, das die lebendige sichtbare Welt strukturiert, und sie hervortreten zu lassen.“3

Diese konzentrierte Aufmerksamkeit hat Nebeneffekte. Zum Beispiel, dass man sich selbst vergisst, über sich selbst hinausgeführt wird „in ein erweitertes Ich hinein, das nicht mehr so viele hinderliche subjektive Probleme hat, aber anderen Lebewesen Platz lässt“4, eben den beobachteten.

Zugleich wird man im konzentrierten Blick „aus sich selbst herausgeschleudert“5. Durch ein Instrument wie ein Fernglas verstärkt, wird man ganz Blick, was eine eigenartige Transzendenz erzeugt und den spurensuchenden Menschen zu einem Lebewesen „mit glühendem und unparteiischen Interesse an den Lebewesen ringsum“6  macht.

„Ein Lebewesen, das fasziniert ist von Lebewesen, das sich aber ihrer Gesamtheit zugehörig fühlt – eines, das weiß, dass wir in allererster Linie Lebewesen sind und erst dann Menschen. Ein Lebewesen, das das Gemeinsame im Unterschiedlichen sucht, die Schnittmenge, anhand derer sich unsere besondere Animalität erst bestimmen lässt: unsere menschliche Art und Weise, Lebewesen zu sein.“7

Diese Komponenten führen zur zentralen Hypothese der Überlegungen des französischen Philosophen Baptiste Morizot, denen wir hier folgen. Demnach spielte das Spurenlesen eine erhebliche Rolle bei der Entwicklung der Denkfähigkeit des Menschen:

„Der Mensch hat seine geistigen Fähigkeiten, Dinge zu entschlüsseln, zu interpretieren, oder zu erahnen, weiterentwickelt, weil er sich vor etwa drei Millionen Jahren in eine ökologische Nische begeben hat, in der er seine Nahrung lediglich mittels Spuren erlangen konnte. Geborene Jagdtiere hingegen verfügen oft über einen starken Geruchssinn.
Das ganze Problem besteht letztlich darin, dass wir einst fruchtfressende Primaten waren, das heißt visuell orientierte Tiere mit einem schlechten Geruchssinn, und erst später Jäger und Spurenleser wurden, die davon lebten, abwesende Dings zu finden.
Um das zu schaffen, so ohne verlässlichen Geruchssinn, mussten wir uns das Auge zunutze machen, das das Unsichtbare sieht, nämlich das Auge des Geistes.
Beim Spurensuchen erlebt man, wie sich entscheidende intellektuelle Fähigkeiten entfalten, die sich um die Gabe drehen, das Unsichtbare zu erkennen, etwa die Zukunft eines Tieres oder eine Sequenz aus dessen Vergangenheit. Spurenlesen ist ein intellektuelles Problem, das vielleicht zur Werdung des Menschen beigetragen hat.“8

Nun gehört zu Spurensuchen und –Lesen auch die Tatsache, dass man Spuren hinterlässt, selbst dann wenn man sich tarnt. Man wird also selbst lesbar für andere. Das kann schließlich zu der für uns ungewohnten Perspektive führen, sich selbst als mögliche Beute erkennen zu müssen.

Zum Spurenlesen gehören also auch psychologische und soziale Fähigkeiten, die zugleich aus ihm hervorgehen. Eine Vielzahl von Perspektiven kreuzen sich in dieser Praxis, die sich als Lebenspraxis herausstellt:

„Leben bedeutet, großzügig mit seinen Zeichen zu sein. Es bedeutet allen anderen Zeichen zu geben, auch widerwillig, ohne es zu wünschen und ohne dass sie angemessen wären – das ist die phänomenologische Definition einer ‚reinen Gabe‘. Zeichen geben und empfangen bzw. austauschen – das ist das Fundament und die Natur der großen Lebenspolitik, die die Geschöpfe zu einer ökologischen Gemeinschaft verbindet.“9

Von hier aus lässt sich auch die Bewegungsart des Spurenlesens genauer beschreiben: Mitgehen. „Gehen wird zu einem Akt der Übertragung. Dabei gehen wir weder neben dem Tier noch gleichzeitig mit ihm. Man folgt den Schritten eines Anderen, der einen Weg beschritten hat und dessen Spuren allesamt Zeichen sind, die sein Wollen festgehalten haben – einschließlich des Wunsches, seinem Aufspürer zu entkommen, sofern er dessen Vorhandensein bemerkt hat.
Mitgehen, ohne Gleichzeitigkeit und Gegenseitigkeit, verschafft uns folglich Erfahrungen, durch die wir etwas von einem anderen Wesen lernen: Man lässt sich leiten, lernt, wie ein anderer zu fühlen und zu denken. Man überschreitet die Grenzen seiner eigenen Logik, um eine andere zu lernen; wir lassen uns durchdringen von Wünschen, die nicht die unseren sind. Besonders aber müssen unsere Vorstellung und unser Denken von den Zeichen ausgehen, die das Tier dort zurückgelassen hat, wohin es seine Absichten und Gewohnheiten lenken, damit wir auf der richtigen Spur bleiben.
Eines vor allem ist wichtig: auf der Spur bleiben. Was uns die Kunst des Spurenlesens lehrt, ist, das nicht zu verlieren, was man nicht besitzt.“10