In einem Interview aus dem Jahre 1990, in dem es auf die Rolle der Kirchen in der ehemaligen DDR kam, sagte Heiner Müller: „Aber die Kirche konnte einfach Phantasieräume besetzen, die durch eine dilettantische Praxis vakant geworden waren“.1  Dieser Satz entfaltet seine aktuelle Brisanz vor dem Hintergrund eines anderen Gedankens von Heiner Müller. Er beschreibt das Preußen Kleists und in seiner Folge die ehemalige DDR als „eine Erdbebenzone“, „von Verwerfungen bedroht, angesiedelt auf dem Riss zwischen West- und Ostrom, Rom und Byzanz, der in unregelmäßigen Kurven durch Europa geht, blitzhaft sichtbar, wenn nach dem Verlust einer bindenden Religion oder Ideologie, die alten Stammesfeuer wieder gezündet werden“.2 Schlagartig wird deutlich, worin die heutige Aufgabe der Kirchen besteht, worin sie positiv an ihre Erfahrungen in der DDR anknüpfen könnten: vakante Phantasieräume zu entdecken, zu besetzen und offen zu halten.

Ein Seismograph dieser Erdbebenzone war Hugo Ball: Mit seiner harschen Kritik an den „Folgen der Reformation“ eröffnete er seine Suche nach einem Gegenentwurf und stieß auf die (früh-) byzantinischen Wurzeln des Christentums. Von hier aus setzt sich seine Kritik an Martin Luther fort, die blitzhaft den Riss zwischen West und Ost sichtbar werden lässt: „Er [Luther] negierte den Orient in der Kirche“3.

Zu Beginn des zentralen Kapitels seines Buches „Byzantinisches Christentum“ über Dionysius Areopagita beschreibt Hugo Ball den „großen Verschmelzungsprozess zwischen jüdischem und hellenistischem Wesen, der für die alexandrinische Schule bezeichnend ist“4.  Philo von Alexandrien habe die „Mysterienliteratur der Griechen“ herangezogen, „um die Prophetensprache der Bibel verständlich zu machen“. Dabei genügten ihm die „überschwenglichsten Namen der Griechen“ kaum, um „sein alljüdisches Pathos in Worte zu fassen“. Die „Gewalt des Enthusiasmus, der sich hier kundgibt“, führe „sogar weit über Plato hinaus“.5

An dieser Stelle lässt Ball „einen Einwand zur Sprache kommen, der keinen Geringeren als Luther zum Vater hat. Der Einwand nämlich, die dionysischen Schriften enthielten ‚mehr Platonismus als Christentum‘, weshalb sie einem frommen Gemüte zu widerraten seien.“ Ball zitiert hier Luther aus „Die babylonischen Gefangenschaft der Kirchen“ und sieht die Umgebung dieses Zitates dazu „angetan, in der betreffenden Abhandlung einen Generalangriff auf die dionysischen Schriften zu erblicken. Von der ‚Kirchlichen Hierarchie‘ heißt es, dass nichts darin eine solide Bildung verrate. Von der ‚Himmlischen Hierarchie‘, sie stelle eine abergläubige Träumerei dar“.6

Und Ball prüft das Argument: „Wie verhält es sich damit? Ich sagte schon, dass die Alexandriner die religiösen und philosophischen Resultate der Griechen zu einer Art Dolmetscherverfahren benutzten, um ihre ‚neuen Götter‘ verständlich zu machen. Platos System, in dem mystische und rationale Bestandteile gleich stark zum Ausdruck kamen, musste sich hierfür besonders eignen. Vorzüglich die Lehre vom Urbild und Abbild war es, die sich beim Gleichnischarakter der allegorischen Schriftbetrachtung verwenden ließ. Sie musste besonders den Judaisten und Philo zusagen, da bei Plato das Urbild, die Idee, der jüdische ‚Vater‘ ungleich höher gewertet war, als das Abbild, die Erscheinung, der christliche ’Sohn‘. Für die Nachfolger Philos aber war dieser ‚Platonismus‘ schon weniger brauchbar, wenn sich daraus nicht Missverständnisse für die Lehre von der wesensgleichen Gottheit Christi ergeben sollten. Doch davon abgesehen, wäre der Einwand nur dann berechtigt, wenn sich erweisen ließe, dass die allegorische Methode nicht vor und neben Plato in viel stärkeren Strömungen vorhanden war. Als Geheimlehre pflegten sie die Rabbinen, und ebenso gehörte sie zur orphischen und ägyptischen Geheimweisheit der Priester. Diese drei  Quellen aber wirkten viel stärker aufs Urchristentum als der gebräuchliche Platonismus, der aller Welt zugänglich war und eine Art höherer Umgangssprache der Philosophen geworden war.“7

In diesem Gedankengang fiel das entscheidende Stichwort: Urchristentum und seine Rezeption bei den Reformatoren, insbesondere bei Martin Luther. Und Ball führt aus, dass es auf dem Stand der Forschung seiner Zeit keinen Zweifel mehr daran gebe, dass die „lutherische Auffassung des Urchristentums“ eine „willkürliche und geschichtsfremde Konstruktion“ war. Luther habe vom Urchristentum „‘die Grundbegriffe neu entbunden‘8, dabei aber verschiedene wichtige Elemente des Urchristentums ausgeschieden.9 Zusammenfassend bemerkt Ball: „Man könnte auch sagen, Luther habe den Geist der Sache ausgeschaltet, die Grundkräfte aber neu entbunden. Er negierte den Orient in der Kirche“.10

Dabei seien gerade die Alexandriner nicht müde geworden, “bei aller Anerkennung der Philosophie den überlegenen Offenbarungscharakter der jüdisch-christlichen Tradition zu betonen: die Einheit des Gottesgedankens gegenüber der sublimierten und aufgeklärten griechischen Vielgötterei; die umfassende Tiefe und Macht der alten, die überfliegende Höhe der neueren Schrifturkunden“. So sei es neben vielen anderen von Hugo Ball genannten Autoren kein Wunder, wenn Dionysius eben „nicht Plato, den großen Athener, sondern Paulus, den Griechenapostel, seinen Lehrer und ‚eine Leuchte der Welt‘ nennt“.11
Neben der von Hugo Ball angestrebten, integralen Rezeption des Urchristentums, wie er es bei Dionysius vorfindet, bringt er noch weitere Argumente gegen Luther in Anschlag. „Mit Unrecht aber scheint mir, wenn man glaubte, in ihm [Dionysios] den Herold jenes mystischen Mönchtums erblicken zu dürfen, gegen das mit gewichtigen Gründen die Reformation auftrat.“12 Diese Frage verdiene es nach Hugo Ball in einer Spezialuntersuchung behandelt zu werden.

In einer solchen würde sich leicht zeigen lassen, dass zum einen die Reformation dieser Mystik stärker verbunden ist, als man häufig annimmt, zum anderen, dass diese Mystik sich zwar auch auf Schriften des Dionysius bezieht, es jedoch absurd wäre, „wollte man ihn für die mönchischen Missverständnisse verantwortlich machen, die seine Schriften im Gefolge haben.“13

Mit „mönchische Missverständnisse“ zielt Ball auf den Augustinerorden zur Zeit der Mönche von St. Victor. Sie hatten sich auf die Schrift „Mystische Theologie“ von Dionysius Areopagita in der Übersetzung des Johannes Eriugena aus dem neunten Jahrhundert bezogen. Aber: „Das Streben nach Entbildung und die Mönchpraktiken der unvermittelten Gottvereinigung, die in den Klöstern des zwölften Jahrhunderts aufkamen, haben mit den Intentionen des Byzantiners nichts zu tun. Die Ausschaltung des sakramentalen Aktes, dann der Kirche selbst […], führte in Luthers Vergröberung zur offenen Rebellion gegen den Priester, ja gegen die Hierarchie.“14

Was hier auf den ersten Blick nach einer Stärkung von Amt und Institution als restaurative Argumentation gegen die Reformation aussieht15, ist von Ball vielmehr im Sinne einer Öffnung von Phantasieräumen gedacht. Er sieht in Luthers Vorgehen ein „Wüten gegen die Phantasie und die Weihe“16.

Hugo Ball vollzieht den „grotestke[n] Irrtum Luthers“ anhand von Stellen aus seinen Disputationen und wiederum der Schrift über die babylonische Gefangenschaft nach, stellt dabei fest, dass Luther zuerst dionysisch argumentiert, um dann antidionysisch zu verurteilen, und schließlich in Dionysius einen typischen Mystiker sieht, der „das Mittlertum Christi ablehnt.“17

Hiermit öffnet Hugo Ball eine bis heute wichtige theologische Perspektive auf das Mittlertum Christi auf dem Riss zwischen West und Ost: „Der Gekreuzigte tritt in der Dionysischen Hierarchie wohl zurück hinter den Verklärten; doch hat dies seinen guten Grund. Die beiden Bücher von der Hierarchie stellen nicht den gekreuzigten, sondern den auferstandenen Christus, sie stellen die Himmelfahrt dar.“18

In dieser Perspektive versteht sich Balls Lektüre der beiden hierarchischen Schriften des Dionysius, zum einen als Reflektion von Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, zum anderen als deren Gegenbild. „Er brauchte Dionysius, um Paulus und das Christentum zu deuten als Sanftmut, Phantasie, nichtmilitarisierte Hierarchie und Menschenfreundlichkeit. Nur mit Dionysius glaubte Ball den Weltkrieg gegenwärtig halten zu können, um einen neuen zu verhindern.“19

Mit asketischem Ingrimm verarbeitet Ball das Grauen der Weltkriegserfahrungen, will den Schrecken regelrecht aus den Körpern treiben, sie auf diese Weise zu „Selbsteinkehr, Läuterung und Reinigung“ wenden. „Balls Flucht zu den Wüstenheiligen hält die Erfahrung der ‚Gebeinwüste‘ fest. Mit Pathos hebt Ball hervor, Dionysius habe den ‚Frieden‘ zum Maßstab der geistigen Welt gesetzt. Die Läuterung, die der Erleuchtung vorangeht, ist der Verzicht auf alles Gewaltwesen, und dies ist der innere Zusammenhang zwischen der Weltkriegserfahrung, Balls ‚Kritik der deutschen Intelligenz‘ und der Befassung mit Dionysius.“20 In seinem Tagebuch notiert Ball, er wolle „das Erlebnis der Zeit auffangen“21  und meint damit ein „verwandelndes Festhalten durch Bilder, Träume, Erinnerungen. Diese Zeit ist nicht auszuhalten ohne Gegen – Bilder.“22

Schließlich geht es Hugo Ball um eine verwandelnde, „theurgische“ Praxis23, man sollte sie eine Praxis des Kreuzes nennen.24 „Etwas weint immerfort in mir“, notiert Ball in seinem Tagebuch während er am „Byzantinischen Christentum“ arbeitet, „vielleicht ist es ein Freund, der weint, oder ein Feind. Es verwandelt mich völlig“.25

Horizont dieser Praxis ist jedoch der Auferstandene: „Das Haupt Christi entschwindet aus menschlicher Sphäre in die der Engel. Wortlos verstummend, durchbricht es die letzten irdischen Hüllen. Die Seligkeit der körperhaften Räume verglimmt. Der Leib ist noch sichtbar. Das Haupt aber ist von der Fülle des Lichtes schon in das Jenseits verschlungen.“26