Im Jahre 1977 wurde das Berliner Olympiastadion, zum Schauplatz eines legendären Ereignisses: Unter dem Titel „Winterreise. Textfragmente aus Hölderlins Roman ‚Hyperion oder der Eremit in Griechenland‘“1 besetzten es der Theaterregisseur Klaus-Michael Grüber und sein Ensemble der Berliner Schaubühne auf eine besondere Art und Weise und legten es in die Hände (oder besser: unter die Füße) der Wanderer, wie Hölderlin selber einer war, der Gefährdeten, am Abgrund Stehenden.

Da fand sich die Ruine des Berliner Anhalterbahnhofs nachgebaut (Szenografie: Antonio Recalcati); ein Imbiss, an dem die Spieler wie Herumziehende sich etwas zu essen oder zu trinken holten, wenn sie nicht von Militärjeeps gejagt wurden, oder vom Wind über den Fußballrasen gewehte Textseiten aufsammelten, daraus vorlasen, selbst Fußball zu spielen oder in ihren Zelten Unterschupf suchten; es war sichtbar kalt; da war über den Zuschauerreihen ein Friedhof gebaut mit Grabkreuzen; auf der Laufbahn, der Stabhochsprunganlage und an anderen Orten trainierten Athleten; immer wieder sang eine einsame Frau, unter anderem ein Lied von Gustav Mahler, natürlich ohne Orchesterbegleitung…

Und unter ihnen ein Fremder, ein Wanderer durch die Nacht, ein rotes Stirnband um den Kopf, im Anzug mit wärmenden Schichten darunter und Turnschuhen. Der sprach Hölderlin-Texte, die über die Stadionanlage hallten.

Ich ziehe durch die Vergangenheit wie ein Ährenleser über die Stoppeläcker, wenn der Herr des Lands geerntet hat. Da liest man jeden Strohhalm auf. Wie ein heulender Nordwind fährt die Gegenwart über die Blüten unseres Geistes und versenkt sie im Entstehen.“2

Wie manch anderer Ausschnitt erscheint der letzte Satz an der Anzeigetafel, wo sonst die Sportergebnisse aufleuchten; das olympische Feuer brennt, Fahnen von verschiedenen Ländern wehen im Wind, man hört die Schnüre an die Stangen schlagen; Militärjeeps mit aufgeblendeten Scheinwerfern stehen an der Aschenbahn; die weiße Fahne mit den olympischen Ringen wiegt sich vor dem dunkelblauen Abendhimmel; ein Startschuss fällt – er ist zugleich der Abschuss einer roten Leuchtkugel, die sich rauchend in die Lüfte erhebt – und ein Wettlauf der Clochards hat damit begonnen, auch Frauen mit langen Kleidern laufen mit, einer humpelt, Athleten der anderen Art, der Fremde unter ihnen…

Der Wanderer spricht, ruft, laufend, agiert die Text Hölderlins, als hätte er sie im Moment ihres Aussprechens gerade erfunden. Alles kommt auf den „Augenblick des Sprechens“ an.

Was an Hölderlins Theater, insbesondere in Bezug auf sein Trauerspiel „Der Tod des Empedokles“ – das Klaus Michael Grüber unter dem Titel „Empedokles. Hölderlin Lesen“ 1975 an der Schaubühne in Berlin inszeniert hatte – lediglich als Mangel bezeichnet wurde und wird3, erhält im Zusammenhang des „Postdramatischen Theaters“ seinen Sinn4:

„Nicht die Zeitlinie der Handlung; nicht das Drama, sondern der Augenblick, wenn die menschliche Stimme sich erhebt. Ein Körper exponiert sich, leidet. Der Klagelaut, den er von sich gibt, pflanzt sich fort und trifft den Zuschauer als Klangwelle, tangential, mit köperloser Kraft. Furcht und Mitleid: mehr brauchen sie nicht. An Grübers Inszenierungen zählt der kostbare Augenblick, in dem der Körper, bedroht, in einem Raum der Szene zum Sprechen kommt. Es ist übrigens diese Konstellation, nicht die Narration (die dem Epos zukam), die auch das antike Theater entstehen ließ“.5

Eben diesen Forschungsweg ist Hölderlin gegangen als er schreibend nach seinem eigenen Theater suchte und sich schließlich auf die Texte des antiken Theaters zurückgeworfen fand, insbesondere auf Sophokles und seine Version der Antigone und des Ödipus, die er übersetzt und kommentiert hat. Bei dieser schreibenden Theaterarbeit6  bildet sein eigenes Wandererleben, sein konkretes Ausgesetzt-Sein jedoch den Hintergrund. Man denke nur an die Schilderungen von Hölderlins Rückkehr aus Bordeaux, als die Wildheit des Erfahrenen ihm nicht nur ins Gesicht geschrieben stand und Schrecken erregte.7

„Das Wesen des Tragischen beruht für Hölderlin auf dem absoluten Paradox der Theophanie. Die griechische Theophanie ist der Tod […]. Nicht ohne ein fernes Echo der lutherischen Interpretation der kenose wiederklingen zu lassen8, aber als heroischen Modus denkt Hölderlin die heilige hybris der Antigone – den ‚Antitheos‘, wie er ihn nennt – von der Gotteslästerung her.“9

In Momenten des äußersten Leidens „vergisst der Mensch sich und den Gott und kehret, freilich heiligerweise, wie ein Verräther sich um. – in der äußersten Gränze des Leidens besthet nemlich nichts mehr, als die Bedingungen der Zeit oder des Raums. An dieser vergisst sich der Mensch, weil er ganz im Moment ist; der Gott, weil er nichts als Zeit ist; und beides ist untreu, die Zeit, weil sie in solchen Momenten sich kategorisch wendet, und Anfang und Ende sich in ihr schlechterdings nicht reimen lässt, und der Mensch, weil er in diesem Momente der kategorischen Umkehr folgen muss, hiermit im Folgenden schlechterdings nicht dem Anfänglichen gleichen kann“.10

„D[ies]er Text Hölderlins ist auch [deswegen] schwierig, weil das, was er darlegt, in der Tat eine Theologie ist und weil diese Theologie ganz und gar einzigartig ist und in der Tradition kein Beispiel hat. Es handelt sich nicht um eine ‚negative Theologie‘ oder eine Theologie des deus absconditus; es ist auch nicht wie – auf unterschiedliche Art – bei Hegel und bei Nietzsche eine nachlutherianische Theologie vom Tod Gottes. Es ist eine ‚andere‘ Theologie. Gleich wohl handelt es sich nicht, wie man vorschnell glauben wollte, um eine völlig ‚bodenlose‘ Theologie, sondern um den Versuch einer Wiederherstellung oder der ‚Erfindung‘ der Theologie der Griechen, welche die Griechen selbst11 niemals als solche explizierten wollten, oder höchstens (gelegentlich) auf fragmentarische oder poetische Art.“12

Wie schon beim Theater, so ist Hölderlin auch theologisch nicht nach rückwärts zu den Griechen gewandt, sondern nach vorwärts. Gilles Deleuze sieht genau an dieser Stelle Hölderlin als den einzigen, der den „Ausgang aus dem Kantianismus“ gefunden hat, im Unterschied zu Fichte und Hegel. Denn Hölderlin hat „die Leere der reinen Zeit und in dieser Leere die beständige Umkehr des Göttlichen, den fortgesetzten Riss im Ego und die konstitutive Leidenschaft des Ichs entdeckt“13.

In seiner „Kritik der reinen Vernunft“ hatte sich Kant mit dem Cogito von Descartes auseinandergesetzt. Er hatte festgestellt, dass Descartes berühmtes Dictum cogito ergo sum „mit zwei logischen Werten arbeitet: der Bestimmung und der unbestimmten Existenz. Die Bestimmung (ich denke) impliziert eine unbestimmte Existenz (ich bin, da ich ja ‚sein muss, um denken zu können‘) – und bestimmt sie eben als Existenz eines denkenden Wesens: Ich denke, also bin ich, ich bin ein Ding, das denkt“.14

In der Lektüre von Gilles Deleuze spitzt sich die Kritik Kants an Descartes auf den Einwand zu, „dass die Bestimmung unmöglich direkt auf das Unbestimmte bezogen werden könne“. „Die Bestimmung ‚ich denke‘ impliziert“ zwar „selbstverständlich etwas Unbestimmtes (‚ich bin‘)“, aber es sagt „uns nichts“ darüber aus, „wie diese Unbestimmte durch das ‚Ich denke‘ bestimmbar ist“15. Mit Kants Worten: „[I]m Bewusstsein meiner selbst beim bloßen Denken bin ich das Wesen selbst, von mir aber freilich noch nichts zum Denken gegeben ist.“16

Diesem Einwand gegen Descartes entsprechend fügt nun Kant den o.g. zwei logischen Werten, der Bestimmung und dem Unbestimmten, einen dritten logischen Wert hinzu: „das Bestimmbare, oder eher die Form, in der das Unbestimmte (durch die Bestimmung) bestimmbar ist“.17

Die Einführung dieses dritten logischen Wertes markiert in der Lektüre Kants durch Gille Deleuze nichts geringeres als „die Entdeckung der Differenz“, und zwar einer Differenz nicht mehr in einem empirischen Sinne „zwischen zwei Bestimmungen, sondern als transzendentaler Differenz zwischen DER Bestimmung und dem, was sie bestimmt – nicht mehr als äußerer Differenz, die trennt, sondern als innerer Differenz, die das Sein und das Denken a priori aufeinander bezieht.“18

Lakonisch fasst Deleuze zusammen: „Kants Antwort ist berühmt: Die Form, in der die unbestimmte Existenz durch das Ich-denke bestimmbar ist, ist die Form der Zeit…“19. Die Konsequenzen dieses Gedankens sind „unabsehbar“. Mit diesem Gedanken „beginnt eine lange unerschöpfliche Geschichte: ICH ist ein anderer“. Das Ich als Ich-denke und Ich-bin erhält einen Riss, (so ist die Bezeichnung von Deleuze, Hölderlin nennt es Zäsur,20) einen Riss durch das Einfügen eines rezeptiven oder auch passiven Ichs, das dem dritten logischen Wert entspricht. Dieses Ich ist in dem Sinne rezeptiv oder passiv, als das es das Bestimmbare (s.o.) ist, also bestimmt wird und als solches in der Zeit erscheint.

Die große philosophische Neuerung Kants ist demnach die „Einführung der Zeit in das Denken“21 und damit die Auflösung ihrer Unterordnung unter den Raum und die Bewegung, was ihr entweder die Form einer Linie oder die Form eines Kreises verleiht, – Hamlet nennt das the time is out of joint, die Zeit ist aus den Fugen oder aus den Angeln gehoben. Hölderlin sagt, sie reime sich nicht (s.o.).22

Die theologische Implikation dieses Gedankenganges, welche den eigentlichen Bogen zu Hölderlins ‚anderer‘ Theologie schlägt, beginnt wiederum bei Descartes, der in seinem berühmten Satz: „Ich denke, also bin ich“ die Zeit einfach raus lässt bzw. sie als Augenblick denkt und Gott überlässt, der zum Garanten der Identität des Ichs wird.23

Kant wird nach der Einführung der Zeit ins Ich feststellen, dass „das gleichzeitige Verschwinden der rationalen Theologie und der rationalen Psychologie, die Art [ist], wie der spekulative Tod Gottes eine Spaltung des Ego nach sich zieht“.24  Die Einführung „der Form der Zeit in das Denken als solches“ meint nun ihrerseits eine „reine und leere Form“, also „den toten Gott, das gespaltene Ego“ bzw. „das passive Ich“ (s.o.), den Riss.25

Aber Kant selbst verfolgte diesen Gedanken nicht weiter und ersetzte den Riss durch eine neue Form der Identität (Deleuze nennt dies eine „praktische Wiederauferstehung“ Gottes), indem er das passive Ich ganz in seiner Rezeptivität belässt. Damit hält der die Identität und ihre Repräsentation aufrecht.26

Deutet man die transzendentale Differenz aber dynamisch und erhält „die Form der Zeit, den toten Gott wie das gespaltene Ego“ offen, trifft man auf das Projekt Hölderlins, der darin „die Leere der reinen Zeit und in dieser Leere die beständige Umkehr des Göttlichen, den fortgesetzten Riss im Ego und die konstitutive Leidenschaft des Ichs entdeckt“27:

In Momenten des äußersten Leidens „vergisst der Mensch sich und den Gott und kehret, freilich heiligerweise, wie ein Verräther sich um. – In der äußersten Gränze des Leidens besthet nemlich nichts mehr, als die Bedingungen der Zeit oder des Raums. An dieser vergisst sich der Mensch, weil er ganz im Moment ist; der Gott, weil er nichts als Zeit ist; und beides ist untreu, die Zeit, weil sie in solchen Momenten sich kategorisch wendet, und Anfang und Ende sich in ihr schlechterdings nicht reimen lässt, und der Mensch, weil er in diesem Momente der kategorischen Umkehr28 folgen muss, hiermit im Folgenden schlechterdings nicht dem Anfänglichen gleichen kann“.29

Ob der Theaterregisseur Klaus-Michael Grüber seinen Abend „Empedokles – Hölderlin lesen“ auf zwei Bühnen, die im rechten Winkel zueinanderstanden (Bühnenbild Antonio Recalcati), simultan inszeniert hat, um dieser transzendentalen Differenz, die das Denken und das Sein a priori aufeinander bezieht, Ausdruck zu verleihen, ist fraglich. Dennoch hat er zeitgleich der Sprache Hölderlins auf der einen Bühne stumme Szenen auf der anderen Bühne gegenübergestellt.

Auf der einen Bühne ein Styropor-Gebirge, was an die Eisschollen auf Caspar-David Friedrichs Gemälde „Das Wrack im Eis oder Die im Eismeer zerschellte ‚Hoffnung‘“ erinnert. Über die Proben wird von einem Theaterkritiker berichtet, sie seien von einer so „gesammelten Verfassung“ gewesen, wie er Theaterproben noch nie erlebt habe. „Stille. Meditationsstimmung – Gelassenheit, aus der die Konzentration komme, die einen der Schauspieler plötzlich sprechen lässt.“30  „Immer weniger, immer weniger“ sei ein häufig wiederholter Satz des Regisseurs gewesen.

Empedokles, von seinem Bruder, dem Tyrannen aus der Stadt Agrigent verbannt, denkt über die Situation nach: „Mein königlicher Bruder. Ach, er wusst es nicht, / Der kluge, welchen Segen er bereitete, / Da er vom Menschenhände los, da er mich frei / Erklärte, frei, wie die Fittiche des Himmels.“31 Der Regisseur unterbricht. „Er spielt nicht, aber spricht vor, wobei der die Pausen mit erklärenden Worten füllt: ‚Vom Menschenhände los‘: das ist die ausgeflippte Dimension. Danach kommt Steigerung zu ‚frei‘, das ist noch Freiheit von…; dann die Erkenntnis, in der Steigerung durch bloße Wiederholung ‚frei, wie die Fittiche des Himmels‘; das ist: Freiheit zu etwas. Ungeheure Systematik ist in dem Satz. ‚Los‘. Was heißt das: Wirst du gleich abgeschossen wie ein toller Hund? Nein: ‚frei‘. Aber wer ist ‚frei‘, wer ist in Wahrheit ausgestoßen: ich oder er, der Bruder? Denn ich bin ‚frei‘, befreit zur Natur, zum Äther.“ Dann spricht der Spieler. „Er spricht nicht nach. In minutenlangen Pausen zwischen einzelnen Wörtern lernt er nicht der Text, den er längst auswendig kann, sondern erforscht eine Inszenierung deren Titelfigur er erst sein wird.“32

In den Pausen wird oft eine Schallplatte gespielt. Svjatoslav Richter spielt Schuberts nachgelassene Klaviersonate No. 21.33  Ihr Beginn wird in der Aufführung zu hören sein. „Vergesst nicht: Wir spielen diese Musik nicht zur Einstimmung, sondern weil wir eine ähnliche Leichtigkeit suchen. Es ist kein Zufall, dass Schubert hier nicht mehr das ganze Klavier benutzt.“ Und dann kommt es, Grübers: „Immer weniger, immer weniger.“34

Auf der anderen Bühne ist die zugige Halle eines alten Bahnhofs zu sehen. Es kommen „lauter Einsame, Fremde, mit Koffern.“ Kein Wort wird gesprochen. „Auf der Bank sitzt, barfuß, ein Bauer im dunklen Anzug, den Rucksack neben sich, den Koffer auf den Knien, isst Brot und Käse, trinkt Wein. Mit Maiglöckchen in Händen kommen zwei junge Frauen, in schwarzem Anzug und offenem Haar, in weißem Kleid und Trauerschleier über dem zum Kranz geflochtenen Haar. Sie gehen zur Personenwaage, vergleichen ihr Gewicht, setzen sich dann, weit voneinander weg. […] Eine ältere Frau in Trauerkleidung auf hohem Kothurn: sie zieht sich um, legt die dunklen Gewänder ab, holt aus dem Koffer die Kleider eines jungen Mannes, ein rotes Hemd – aus dem bis zur Premiere die Rote Fahne samt aufgenähtem Hammer und Sichel werden wird. Neben ihr eine junge Frau, die ihren Blumenstrauß nervös an die Gitter von Fahrkartenschaltern schlägt, hektisch mit einer Kette spielt.“35

Immer wieder ermutigt der Regisseur zu diesem stummen Spiel: „Habt keine Angst“. „Lasst euch führen von den Blumen, von der Geste. Nicht darüber nachdenken. Das sind alles Sternschnuppen vom täglichen Leben. Jeder Halbsatz eine Katastrophe. Das ist Utopie, wie Hölderlin sie meint. Ganz offenbleiben, verletzbar, auch in der Einsamkeit. Nicht diese Pseudokommunikation. Wir haben nichts mehr. Es gibt nichts mehr hinter den Dingen. Kein Mysterium. Daher kommt eure Faszination. Ihr sei nicht mehr, als ihr seid: diese phantastische Oberfläche. Alles ist offen. Das ist Hölderlin. Nichts Geschlossenes.“36

Zwei Stunden lang agieren die Spielerinnen und Spieler stumm. Dann sprechen sie die Verse, die Hölderlin für einen Schlusschor am Ende des ersten Aktes entworfen hat:

„Neue Welt… / O wann / schon öffnet sich / die Flut über die Dürre…“ 37