Beim Hören der nachösterlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs1  fällt auf, wie schnell der Osterjubel, der aus der dramatischen, revolutionären Osterkantate „Christ lag in Todesbanden“ (BWV 4) aufsteigt, getrübt wird durch Worte und Töne der Verzagtheit und Trauer, ja der Todesfurcht.

Die Kantaten zum Sonntag Jubilate (BWV 12, 103, 146) etwa „befassen sich mit dem Schmerz ob des Abschieds Jesu von seinen Jüngern, mit den Prüfungen, die ihnen nach seinem Fortgang bevorstehen, und mit der Vorfreude, ihn einst wiederzusehen“2.

Darin erklingt sicher auch etwas aus der Lebenserfahrung Bachs selbst, dessen Leben auf eine Weise vom Tod gezeichnet war, wie wir es uns heute kaum vorstellen können. Zugleich kehren darin alte Überlieferungsstränge des memento mori wieder, wie wir sie in den Kulturen der vanitas, der melancholia, asketischen Praktiken der mortificatio bis hin zur katharischen endura in unterschiedlichen Ausprägungen finden. Schon in den Psalmen kommen sie zum Ausdruck: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (90, 12).

Doch nicht zuletzt Martin Luthers Übernahme der mittelalterlichen Antiphon media vita in morte sumus (1456) und ihre Erweiterung um zwei Strophen in seinem Lied „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen“ (1524) bringt zumindest auch eine institutionelle Prägung dieser Tradition zum Ausdruck:

Die Schuld- und Bußpolitik der Kirchen. Ihre organisierte Bedrohung des Lebens durch eine skrupellose Indienstnahme von Vorstellungswelten wie der des Jüngsten Gerichtes und der Höllenpein verstellen die Möglichkeiten einer österlichen Praxis des Todes.

In Bachs Kantaten klingt sie auf, trotzdem. Zum Beispiel in der dem Sonntag Exaudi zugeordneten Kantate „Sie werden Euch in den Bann tun“ (BWV 183). Mit der Tenorarie „Ich fürchte nicht des Todes Schrecken“ erklingt eine „intime Scena, in der wir Zeugen werden, wie der Gläubige um seine Angst vor Verfolgung und schlussendlicher Auslöschung ringt, während er die ganze Zeit von den beruhigenden Klängen seines Gefährten getragen wird, des ‚Schutzarms‘ Jesu, von dem im Text die Rede ist: des Cello piccolo.“3

Das kleine vierseitige Cello, das Bach so liebte, zeigt klanglich einen Gestaltungsraum auf, in dem sich eine andere, österliche Praxis des Todes vielleicht skizzieren lässt.

I) Der französische Schriftsteller Maurice Blanchot berichtet autobiographisch von der Hinrichtung eines Mitgliedes der Résistance durch deutsche Soldaten. Der befehlshabende „Nazi ließ seine Männer in Reih und Glied antreten, um, gemäß den Regeln die menschliche Zielscheibe zu treffen“. Der, „auf den die Deutschen schon zielten, verspürte nun, als er nur noch auf das letzte Kommando wartete, ein Gefühl außergewöhnlicher Leichtigkeit, eine Art Seligkeit (nichts Glückliches jedoch) – souveräne Heiterkeit? Die Begegnung des Todes mit dem Tod“.4

Von diesem Moment an war der junge Mann „durch eine heimliche Freundschaft mit dem Tod verbunden“. Plötzlich wurde die Erschießung durch den Lärm einer sich nähernden Schlacht unterbrochen. Während der befehlshabende Leutnant sich entfernte, um Meldung zu erstatten, verblieben die Deutschen „in Befehlsstellung, und verharrten in einer Reglosigkeit, die die Zeit anhielt“. Schließlich erschien jemand, sagte, sie seien keine Deutschen, sondern Russen von der Wlassow-Armee“ und machte dem jungen Mann „Zeichen zu verschwinden“.5

Als der jungen Mann in einem nahen Waldstück wieder zu sich kam, fand er „den Sinn für das Wirkliche wieder“: „Überall Feuersbrünste“. Aber was war dieses Gefühl der Leichtigkeit? „Vom Leben befreit? Das Unendliche, das sich öffnet? Weder Glück noch Unglück, auch nicht die Abwesenheit von Furcht und vielleicht schon der Schritt jenseits“. Jedenfalls veränderte dieses „unanalysierbare Gefühl“ das, „was ihm an Existenz blieb“: „Als ob der Tod außerhalb von ihm von nun an nur auf den Tod in ihm stoßen konnte.“6

„Was macht’s. Einzig bleibt das Gefühl von Leichtigkeit, das der Tod selbst ist, oder, um es genauer zu sagen, der Augenblick meines Todes fortan stets in der Schwebe.“7
II) Am 5. November 1995 setzte der französische Philosoph Gilles Deleuze seinem Leben ein Ende. Von Jugend auf war er schwer krank und konnte zuletzt nur noch mit Unterstützung von Sauerstofflaschen atmen. Ein langjähriger Freund, der Philosoph René Schérer, glaubt, „dass man nur philosophisch über den Tod von Gilles Deleuze sprechen kann“8, er wird sein ewiges Geheimnis bleiben. Man könne jedoch mit Sicherheit sagen, dass dieser Tod nicht in einer Hoffnungslosigkeit oder Todessehnsucht begründet sei, welche Deleuze immer für irreführend und falsch gehalten hatte. War doch seine gesamte Philosophie immer „eine Hymne an das Leben“9  und dessen starke Bejahung.

Der Tod von Gilles Deleuze als Auflösung (dissipé) seines Körpers, seines Individuums, markiere lediglich „das Auslöschen (effacement) des Autors, des Schriftstellers vor seinem Werk“. Und dies ist philosophisch zu verstehen, geradezu ontologisch, denn „allein die Beraubung (dépouillement10 ) der Person, des ‚Ich‘ (je), des ‚Subjekts‘ (sujet), erlaubt den Zugang zur Wahrheit des Seins der Dinge. Die Wahrheit des Philosophen Deleuze ist weder psychologisch noch biographisch, sie ist unpersönlich, kosmisch“.11

„Der Tod ist zugleich in einem äußersten und endgültigen Verhältnis zu mir und meinem Körper, hat seinen Grund in mir, ist aber auch ohne Beziehung zu mir, das Unkörperliche und Infinitive, das Unpersönliche, etwas das nur in sich selbst begründet ist. Einerseits der Teil des Ereignisses, der sich realisiert und vollendet; andererseits ‚der Teil des Ereignisses, den seine Vollendung nicht realisieren kann‘. Es gibt also zwei Vollendungen, die wie Verwirklichung und Gegen-Verwirklichung sind. Aus diesem Grund sind der Tod und seine Verwundung kein Ereignis unter anderen. Jedes Ereignis ist wie der Tod, doppelt und in seiner Doppeltheit unpersönlich. ‚Er ist der Abgrund der Gegenwart, die gegenwartslose Zeit, zu der ich keine Beziehung habe, auf die ich nicht zustürzen kann, denn in ihr sterbe ich nicht, ich habe die Macht zu sterben verloren, man stirbt in ihr, man stirbt unablässig und hört nicht auf zu sterben‘.“12

Einem solchen Ereignis gegenüber gelte es, sich als würdig zu erweisen, „dessen würdig zu werden, was uns zustößt“ und „ja zum Tod zu sagen, aus Liebe zum Leben“.13

Jenseits seiner eigenen Praxis hatte diese Annäherung an ein solches Ereignis wie den Tod Konsequenzen für das Denken von Deleuze. Er wollte nicht urteilen, „lieber Straßenfeger sein als Richter (plutôt être ballayeur que juge)“14  und entdeckte das Geheimnis des Denkens darin, etwas „existieren zu lassen (faire exister)“ und „nicht zu richten (non pas juger)“15.

Für seine Praxis des Schreibens bedeutete das Folgendes: „Wenn ich über einen Autor schreibe, dann ist es mein Ideal, nichts zu schreiben, was seine Traurigkeit hervorrufen könnte, oder, wenn der Autor tot ist, nichts zu schreiben, was ihn in seinem Grab weinen ließe.“16
III) In einem Gespräch aus dem Jahre 1990 sieht der deutsche Dramatiker Heiner Müller unsere „gesamte Geschichte und Politik“ auf „die Verdrängung der Sterblichkeit“ reduziert. „Kunst aber stammt aus und wurzelt in der Kommunikation mit dem Tod und den Toten. Es geht darum, dass die Toten einen Platz bekommen. Das ist eigentlich Kultur.“17

Für diese Diagnose ist „der Umgang mit Zeit“ entscheidend. „Zeit des Lebens, Zeit des Sterbens, Zeit des Todes“. Niemand könne die bewusste Wahrnehmung der Zeit aushalten, weshalb man Zeit mit allen möglichen Aktivitäten totschlage. Das bedeutet nichts anderes, als die Todesangst zu verdrängen18  und den Augenblick aus dem Zeitablauf herauszulösen, der „wesentlich Zerstörung bedeutet“19.

Für Müller hat dieser Gedanke eine direkte Konsequenz für den der Identität. „wer mit sich identisch ist, der kann sich einsargen lassen, der existiert nicht mehr, ist nicht mehr in Bewegung. Identisch ist ein Denkmal“20.

„Was man braucht, ist Zukunft und nicht die Ewigkeit des Augenblicks. Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen. Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft. Man muss die Anwesenheit der Toten als Dialogpartner oder Dialogstörer akzeptieren – Zukunft entsteht allein aus dem Dialog mit den Toten. Was Kunst vermag, ist, diese Illusion personaler Identität zu zerstören.“21

Was zuerst etwas brachial anmutet, wird deutlicher, wenn man Müllers Ausführungen weiter folgt. Hinzu kommt ein sprachliches Thema, das homiletische Fragestellungen eröffnen könnte.

Also direkt an das obige Zitat anschließend entwickelt Heiner Müller folgenden Gedanken:

„Das ist der Kern von Becketts Rückzug aus der Sprache als Mitteilung […]. Es geht nicht um Information, sondern um die Mitteilung einer Befindlichkeit. Über seine Art zu formulieren kann der Autor mitteilen, was mit ihm ist. Das ist reicher als eine Information, einen Fremdgegenstand über oder durch den Text zu transportieren. Denn es hilft die eigene Befindlichkeit anders wahrzunehmen. Außerhalb syntaktischer Ordnungen wird etwas mitgeteilt, was nicht mitteilbar ist. Daran muss der Leser arbeiten, um es auf sich zu beziehen, denn er weiß nicht, was ihm da mitgeteilt wird. Dann weiß er aber auch nicht mehr, wer er ist. Wer aber nicht mehr weiß, wer, was und wo er ist, der muss sich bewegen. Das ist das revolutionäre Moment an dieser Art Texte, sie schaffen Veränderung.“22
Exit: Könnte es ein aus derartigen (und weiteren, anderen) Erfahrungen zusammengesetztes Theorie- und Praxisfeld geben, das ein österliches Einüben in den Tod beschriebe?

Wenigstens könnten uns derartige Überlegungen aufmerksam werden lassen gegenüber den technischen Unsterblichkeitsillusionen der konsumistischen Welt. Im Unterschied zu deren merkantilen soundscapes wird der Gestaltungsraum eines cello piccolo, wie Bach es liebte, etwas heilsam Atonales in seinem Audrucksspektrum haben.