Als Martin Luther im Jahre 1523 in Wittenberg das Fronleichnamsfest abschaffte, tat er vor allem Zweierlei. Das Eine ist die Umgestaltung der gottesdienstlichen Praxis im Sinne der Reformation wie sie pragmatisch in der Formula missae et communionis pro ecclesia Vuittembergensi zum Ausdruck kommt und darin ihren Ausgang nimmt.

Es sollten vor allem die mittelalterlichen Fehlentwicklungen der Eucharistie auf ihre biblischen Ursprünge hin korrigiert werden. Dabei ging Luther nicht nur mit der in seinen Invokavit-Predigten von 1522 grundgelegten Rücksicht auf unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten vor. Er flankierte diese praktische Gestaltungsaufgabe mit der Übersetzung der maßgeblichen Quellentexte, nämlich der Bibel. Die Übersetzung des Neuen Testamentes hatte er aus der Einsamkeit der Wartburg bereits zu Invokavit nach Wittenberg mitgebracht. Sie erschien als „Septembertestament“.  Noch im Sommer begann Luther die Übersetzung des Alten Testaments, nun nicht mehr allein, sondern im direkten Austausch mit seinen Fachkollegen und auch mit Cranach, der nicht nur große und kleine Holzschnitte schuf, sondern Teile auch druckte in seiner Druckerei am Markt 4. So erschienen mit den Fünf Büchern Moses, den Historischen Büchern, dem Psalter, dem Hohelied und dem Buch Hiob in den Jahren 1522-24 drei Viertel der Bibelübersetzung.1

In diesen Schaffenskontext gehört die liturgische Umgestaltung, bei der Martin Luther eine Feinfühligkeit zeigt, die zum Schönsten gehört, was die Reformation hervorgebracht hat.

In Blick auf Fronleichnam und das Abendmahl greift er auf „ein volkssprachliches Kirchenlied des späten Mittelalters“ zurück und bearbeitet es auf eine Art, die „das besondere Abendmahlsprofil, das er dem abgeschafften Fest entgegensetzen wollte, auf beste“ zeigt. „Das Lied, dessen älteste Quelle aus der 2. Hälfte des 14. J[ahr]h[underts] stammen, ist ursprünglich – dafür spricht auch die musikalische Verwandtschaft – ein volkssprachlicher Leis zur Fronleichnamssequenz Lauda Sion salvatorem. Während die Sequenz vom Chor gesungen wurde, sang das Volk zwischen den lateinischen Strophen den refrainartigen Leis.“2

Luther geht in seiner Bearbeitung von der Fassung aus, die aus zwei Leisen besteht. Er nimmt also zwei Strophen, die jeweils mit dem Refrain ‚Kyrieleis‘ schließen und verbindet sie zu einer Strophe, der ersten eines neuen Abendmahlsliedes. „Bei dieser Bearbeitung entfallen drei Verse der mittelalterlichen Vorlage, die dem Reformator aus formalen wie auch aus theologischen Gründen überflüssig zu sein schienen.“ Wie er in der formula missae et communionis schreibt, missfällt Luther an den von ihm gestrichenen Partien „die Akzentuierung der Eucharistie als Sterbesakrament, das die Pfaffen als gutes Werk verwalten, mit dem man ohne Glauben das ewige Leben erlangen kann, auch wenn man das Sakrament zu Lebzeiten geringgeachtet hat“. „Ohne diesen missliebigen Zusatz ist ihm das mittelalterliche Lied jedoch das reinste Zeugnis wahren Abendmahlsverständnisses.“3

Diese Bearbeitung hat Luther nun mit zwei weiteren Strophen aus eigener Feder vervollständigt und erstmals in Johann Walters Gesangbüchlein von 1524 veröffentlicht. Es hat bis heute seinen Platz im evangelischen Gesangbuch (EG 214) und findet sich auch im katholischen Gotteslob, seit 1975 sogar mit Nennung von Luthers Namen.4

In dem sogenannten „Babstschen Gesangbuch“ von 1545 hat Luther diesem Abendmahlslied „Gott sei gelobet und gebenedeiet“ noch ein Gebet hinzugefügt. Dieses Gebet ist Luthers deutsche Fassung der Oration aus der alten Fronleichnamsliturgie. „Es sind nur zwei Wortpartikel, in denen Luther die lateinische Vorlage verändert. Dem ‚gedenken‘ wird ein ‚und predigen‘ hinzugefügt und statt ‚venerari / verehren‘ heisst es ‚brauchen‘.“5
Die letzte der beiden Veränderungen führen uns zum zweiten Teil des Tuns Luthers bei der Abschaffung des Fronleichnamsfestes 1523 in Wittenberg.

Fronleichnam wurde im Jahre 1264 von Papst Urban IV. als Fest eingesetzt. Es ging auf Visionen der Juliana von Lüttich zurück, in denen sie sah, das der Kirche ein Fest zu Verehrung des Altarsakramentes fehle. „Das tiefer liegende Motiv war jedoch die große Verehrung, des eucharistischen Brotes im späten Mittelalter. Aus dem alten christliche Brauch, einige geweihte Hostien zur Verwendung in der Zeit zwischen den Messen aufzuheben (z.B. als Sterbekommunion), entstanden ausgeklügelte Formen des Hostienkults. […] Mit dem zunächst in Deutschland beheimateten Brauch, die Hostie während des Gottesdienstes auszusetzen, wurde das heilige Brot noch mehr aus der eigentlichen Kommunion herausgelöst und als eigenständiges sakrales Objekt betrachtet. […] Bei der Wandlung hochgehoben, damit jedem der ‚erlösende Anblick‘ zuteilwerden konnte, wurde das heilige Brot nicht verzehrt, sondern vor allem verehrt. Der Anblick der Hostie während der Wandlung drängte ihren Verzehr so sehr in den Hintergrund, dass die ‚Augenkommunion‘ (manducatio per visem, ‚das Kauen mit den Augen‘) von manchen Kirchenmännern für genauso heilswirksam betrachtet wurde, wie der Verzehr. Ja, man konnte seine Verehrung des Altarsakraments gerade dadurch bekunden, dass man die Kommunion nicht oder nur selten empfing (ab 1215 erhielten die Laien die Kommunion nur einmal im Jahr).“6

Luthers theologische Argumentation angesichts dieser Tradition (ihrer Auswüchse sowieso), ist klar: Nach der Schrift ist das Abendmahl zum usus bestimmt, nicht zur visio.  Sieht man jedoch die mit der visio verbundene Praxis genauer an, muss man erkennen, was Luther mit der Abschaffung von Fronleichnam und der Rückführung des Abendmahles auf seine biblischen Ursprünge als Praxis und damit als Erfahrung aber eben mit abschaffte:

„Anders als das mit Zulassungsbedingungen und Sanktionen belegte Essen, bot der Fernsinn des Sehens jedermann einen freien Zugang zum Mysterium. Aus der gebotenen Distanz konnte jeder partizipieren an der Präsenz. Die einzuverleiben er sich scheute oder ihm versagt war. Dass der Gesichtssinn als der geistigste der fünf Sinne galt, konnte im Frömmigkeitshaushalt des Laienvolkes den Verzicht aufs Verzehren kompensieren. Vor der magischen Faszination des bloßen Blicks sollten die Gebete zur Elevation die Christenmenschen bewahren.“9

Mit anderen Worten und geöffnetem Kontext: „Wie Museumsbesucher durch strukturierte Räume und Tableaus ihre Bahnen ziehen, so nehmen auch die an der Messe teilnehmenden Laien, ausgeschlossen von der Produktion des Heiligen, mit der Peripherie vorlieb. […] Dem direkten Konsum entzogen, tauchte das Heilige im Zuge einer bricolage verstohlener Blicke und phantasievoller Simulationen wieder auf. […] Was die einfachen Gläubigen mit der Messe anfingen – ihre ausgeklügelten individuellen und gemeinschaftlichen Repräsentationen am Rande des liturgischen Geschehens –, war an den Standards gemessen nicht weniger wirkungsmächtig oder zentral als die priesterlichen Handlungen.“10

Diese skizzierte Analyse wäre lediglich von historischem Interesse, würde sich nicht heute durch die stark bildgestützten digitalen Medien und die Versuche, sie für die Übertragung gottesdienstlicher Formen zu nutzen, die Fragen nach ihrer Praxis und Gestaltung erneut stellen.

Was ist das Anschauen eines Gottesdienstes im Fernsehen oder via Zoom anderes als eine Praxis der visio, besonders in Bezug auf das Abendmahl? Die Differenzen sind offensichtlich: Eine Monstranz ist kein Bildschirm, zumindest ist der technische Abstand zwischen beiden, wenn man sie denn beide als Bildhalter verstehen will, beträchtlich. Auf das Gezeigte – also zu Sehende – konzentriert ist ihr Unterschied unüberbrückbar. So ist die Hostie ein Bild, das über Unähnlichkeit funktioniert: „Was ist eine Hostie? Eine Hostie ist zugleich Zeichen und Präsenz des Leibes Christi. Und doch ist die Hostie nur eine weiße Fläche ohne ‚Figur‘, d.h. ohne irgendeine Ähnlichkeit mit dem, dessen Zeichen und Präsenz sie ist. So als erforderte das Element der Präsenz in gewisser Weise die Nicht-Ähnlichkeit von Zeichen und Referent.“11  Das Fernsehbild jedoch funktioniert über Ähnlichkeit und Identifikation, was eine große Frage an die aktuelle Bildpraxis der Kirchen stellt.12

Aber dieser gravierenden Unterschiede ungeachtet bleibt die tatsächliche Praxis dennoch das Sehen: visio. Solches Sehen als konkrete liturgische Praxis hatte in seinem Vollzug jedoch eine Besonderheit entwickelt. Es suchte sich sein Praxisfeld „am Rande des liturgischen Geschehens“ und vollzog somit eine „Dezentrierung des Sehens“13, was heute eher Seherfahrungen in Museen entspricht und wiederum „eine Eigenschaft der visuellem Erfahrung allgemein“14  verstärkt.

„Studien mit Eyetrackern haben gezeigt, dass ein Auge, das unbeweglich gehalten wird oder dem man ein Bild zeigt, das sich zum Auge synchron bewegt, nichts sieht. Im Moment der Aufmerksamkeit leer, taucht mit Verzögerung ein Bild Im Geist auf, das das Auge bereits hinter sich gelassen hat. Auch Kunsthistoriker bekunden eine merkwürdige Blindheit sowohl gegenüber der Physiologie des ruhelosen Blicks als auch gegenüber der den Ablenkungen, die mit dem realen Erleben ihrer Objekte verbunden sind.“15

Setzt man nun diese Seherfahrung mit dem streng zentralisierten und identifikationsdominanten Sehmodus der heutigen technischen Medien ins Verhältnis, so erkennt man ihre Unzulänglichkeit für den liturgischen Gebrauch. Die Aufgabe bestünde darin, das Sehen auf für zentrales Sehen konstruierte technische Medien (Bildschirme) zu dezentralisieren.

Das kann dadurch geschehen, dass man der wiedergewonnenen visio den ihr zugehörigen usus hinzufügt, indem man das starre, auf den blinkenden Bildschirm Glotzen unterbricht und nebenbei das tut, was liturgisch zum usus dazu gehört nur eben übersetzt ins eigene Tun. Die Bestandteile dieses Tuns sind die der klassischen Liturgie, Bereitung der Gaben und Rezitieren der Einsetzungsworte, Essen und Trinken. Wie sie genau zu tun sind, so, dass sie jeder vor dem Bildschirm „machen“ kann und sie doch eine Verbindung zu dem haben, wie es die Pfarrerin in der Kirche tut, ist behutsam zu erfinden, so dass visio und usus nicht (wieder) auseinanderfallen, also vom Rande her.

Das würde übrigens auch eine leichte Verschiebung dessen bedeuten, was man Liturgie zu nennen die Angewohnheit hat, vom Finanzieren und Organisieren des Dienstes am Volk bei den alten Griechen über die sakramentale Verwaltung als Dienst am Volk durch wie auch immer definierte Kleriker hin zu einem Tun, bei dem das Volk mittun kann, weil es mit seinen alltäglichen Vollzügen in Verbindung steht, mit dem, was man sowieso macht.16