Der spanische Dramatiker und Dichter Félix Lope de Vega Carpio (1562-1635) veröffentlichte im Jahre 1623 eine tragicomédia famosa mit dem Titel  El divino africano. Im Zentrum dieses Theaterstückes steht der Afrikaner Augustinus, der Bischof von Hippo. Zuzüglich zu den Confessiones, die die inhaltliche Grundlage des Stückes bilden, erfindet Lope de Vega ein Martyrium des Augustinus unter den Vandalen.

Ob ein solches Martyrium dem Leben, Denken und Wirken Augustins folgerichtig oder angemessen ist, kann allerdings bezweifelt werden. Zu Augustins Zeiten hatte das frühchristliche Märtyrertum seine Blüte bereits hinter sich, war jedoch in seiner Resonanz stark genug, um Spuren in Augustins Schriften zu hinterlassen.

Frühchristliche Märtyrerfiguren verstanden sich als Zeugen des Leidens Christi, passio, in Form einer Nachahmung, imitatio. Unter ihnen sind etliche Frauen, wie nicht zuletzt die Märtyrerakten der Heiligen Perpetua und Felicitas, Passio Sanctuarum Perpetuae et Felicitatis, bezeugen.

In seiner Trostschrift an die Märtyrer, Ad martyres, die um 202 und damit etwa zur selben Zeit wie die Akten der  beiden Märtyrerinnen veröffentlicht wurde, vermutlich sogar an Perpetua gerichtet war1, verweist der afrikanische Theologe Tertullian auf Beispiele vorchristlicher heroischer Opferkultur als Märtyrer avant la lettre. Namentlich nennt er u.a. Lucretia. Hinzuzufügen wären biblische Vorläuferfiguren etwa bei (Deutero-) Jesaja (43,12; 33,8) und die euripidäische Alkestis und die sophokleische Antigone aus der Tradition der griechischen Tragödien.

„Das Spezifikum der christlichen Märtyrerakten“ lässt sich „dadurch kennzeichnen, dass es in ihnen zu einer Engführung von martyrium mit Bekenntnis (confessio: „Christiana sum“), Standhaftigkeit (constantia) und Zeugnis (testimonium) kommt. Dafür ist nicht nur ihr Tod als Zeugnis ihres Bekenntnisses bedeutsam, sondern mindestens ebenso wichtig, dass dies in schriftlichen Zeugnissen überliefert wird, dass also Blutzeugnis und Schriftzeugnis verknüpft werden.2

So kommentiert Augustinus in seiner Schrift De natura et origine animae (I, 10,12 und III, 9, 12) die Akten der Perpetua was nebenbei nicht unerheblich für deren Datierung ist.3 Von größerer Bedeutung ist allerdings der Niederschlag eines anderen Topos des Märtyrertums in Augustinus Schriften.

Augustinus kommt darin auf Tertullian zurück. Der hatte in seiner Schrift Ad martyres einen eigenartigen Widerspruch zu seiner Schrift De spectaculis (vor 200) aufgemacht. In dieser Schrift hatte Tertullian die „Praxis der Athleten und ihre römische Übersetzung in die Gladiatorenspiele als Verkehrung der göttliche Ordnung“ dargestellt und klar verurteilt.4 In seinem Trostschreiben an die Märtyrer ermuntert Tertullian aber die Märtyrer, in der Arena wie Athleten, athletes, zu agieren im Kampf um die ewigen Siegeskranz, corona aeternitatis, von der Paulus schreibt5. Für die Akteure gilt als Handlungsanweisung, was für den Blick der Zuschauer verurteilt wird.6

Der Blick der Zuschauer in der Arena steht im Zentrum von Augustins Rekurs auf dieses Thema im sechsten Buch seiner Confessiones. Darin beschreibt er das Erlebnis seines Schülers Alypius während eines Gladitorenspiels. Alypius ließ sich von früheren Freunden widerwillig überreden, mit ihnen zu den Spielen zu gehen. Er wollte dort anwesend und zugleich abwesend sein, also mit geschlossenen Augen, um seinen Triumph über das Geschehen auszudrücken. Anlässlich eines großen Geschreis in der Menge, öffnete er dennoch die Augen und es geschah, worauf es Augustinus mit dieser Schilderung ankommt: „Sobald er nämlich das Blut da gesehen hatte, überkam ihn auch schon die Sucht nach der wilden Lust; er wandte sich nicht etwa ab, sondern richtete gebannt seinen Blick auf das rasende Geschehen, genoss es in vollen Zügen, ohne es zu merken, ergötzte sich an dem verbrecherischen Wettstreit und berauschte sich an dem blutrünstigen Schauspiel. Er war nun nicht mehr der, als der er gekommen war, sondern einer aus der Menge, zu der er gestoßen war […]“7

Diese Szene bildet den realen Hintergrund für ein ganzes Knäul von Fragestellungen, die bis heute nicht leicht zu entwirren und eben auch deshalb so folgenreich sind. Zum einen ist diese Szene ein erschreckend drastischer Beleg für die von Augustinus so gefürchtete Augenlust, die concupiscentia oculorum.

Unmittelbar verbunden ist diese hier mit Blut. „Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“, heißt es im Matthäusevangelium (26, 28). In dieser Rede vom „für viel vergossen“ wird „die Szene der Passion Christi als Opfertod figuriert“ und somit als „ein Sühneopfer für die Menschen dargestellt“. Im Unterschied zu jüdischen Bundesvorstellung, in der tierisches Blut symbolisch versprengt wurde, um die Bundesworte zu beglaubigen (Ex 24, 8), beglaubigt hier „das tatsächlich vergossene Blut den neuen Bund“ und bezeugt „das stellvertretende Opfer für“. Damit „bricht das reale menschliche Blut wieder in die biblische Blutsymbolik ein und überschreitet die Gesetze des Symbolischen“.8 Blut ist hier nicht mehr Zeichen, sondern physisches Zeugnis. „Als Urbild des christlichen Opfers und als Vorbild der Imitatio Christi setzt dieses erste Blutzeugnis eine Bekenntniskultur in Gang, die notwendig blutig ist und zur Invention jener spezifischen Form der ‚Lebenshingabe‘ führt, die das Signum christlicher Heiliger ist.“9

Unmittelbar damit verbunden ist das Abendmahl nicht nur mit Paulus auf der Folie eines jüdischen  Opfermahls deutbar (1 Kor 10, 14f), sondern wird bei Tertullian, selbst zum sacrificium. In diesem Zuge sind Märtyrer Blutzeugen und ihre Gemeinschaft nicht nur eine Gemeinschaft des Sterbens, sondern eine Gemeinschaft von conmartyres, die an die Stelle der leiblichen Verwandtschaft tritt, ja sogar konkret mit dieser in Konflikt gerät: „Das 6. Kapitel der Passio Perpatuae erzählt eindrücklich vom Opfer der familialen Bindung, insbesondere von der Missachtung der väterlichen Sorge durch die Tochter und der Sorge um da eigene Kind durch die Mutter, und zwar zugunsten des Bekenntnisses. Mehrfach tritt der Vater Perpetuas (pater meus carnalis) auf, fleht sie an, ihr Leben zu schonen, auf sein Alter Rücksicht zu nehmen und sich ihres eigenen Kindes zu erbarmen. In expliziter Entgegensetzung von leiblichem Bruder (frater carnalis) und Märtyrer-Brüdern kommt jene Entwertung der leiblichen Verwandtschaft zum Tragen, die mit der Begründung der christlichen ‚Gemeinde‘ einhergeht. Die consanguinitas/Verwandtschaft wird ersetzt durch die conmartyres, die leibliche Genealogie durch die Kette der Märtyrer: Substitution der Fortpflanzung durch das heilige Märtyrerblut.“10 Und niemand anderem als Tertullian wird die daraus folgende Spitzenformulierung zugeschrieben: semen est sanguis christianorum.11

Diese Erfahrungen und ihre Deutungen und Deutungsverschiebungen bilden den Hintergrund für Augustins Erbsündenlehre. Wobei Augustinus seiner Schilderung des Blutrausches bei den Zirkusspielen folgend versucht, das „Märtyrerblut von dessen Nähe zu den Opferkulten zu reinigen und im Interesse der Keuschheit (wieder) symbolisch zu bändigen“12.

Kurz vor der o.g. Geschichte des Alypius, zu Beginn des sechsten Buches der Confessiones, berichtet er von seiner Mutter, die den afrikanischen Gebräuchen folgend die Gedenkstätten der Märtyrer aufsuchte und dort sogenannte Totenopfer hinbrachte. Diese  ähnelten den damaligen heidnischen Gebräuchen so sehr, dass der Bischof sie verbot. Augustinus‘ Mutter folgte dem Verbot gehorsam. „Statt eines Korbes  voll von Erdfrüchten trug sie nun – das hatte sie gelernt – zu den Gedenkstätten der Märtyrer ihr Herz, voll von umso aufrichtigeren Gebeten. Sie gab nun den Armen, was in ihrer Macht stand, und sie feierte dort die Gemeinschaft mit dem Leib des Herrn, dessen Leiden die Märtyrer nachfolgten, wodurch sie geopfert und gekrönt worden sind.“13

Mit der Formel vom „Herzen voll von umso aufrichtigeren Gebeten“ findet sich in Augustinus‘ Confessiones eine „Urszene für die Praxis einer Verinnerlichung“ markiert, „mit der die Passio in der Folge in eine Kulturgeschichte der passiones, der Leidenschaften überführt worden ist“.14

Der Romanist Erich Auerbach hat diesen Umformungsprozess unter dem Titel „Passio als Leidenschaft“15 beschrieben, der sich in zahllosen Werken der  „europäischen Literatur- und Kunstgeschichte“ niederschlägt. Nicht zuletzt erlebt sie der „nachchristliche Hörer“ beim Hören der großen Passionsmusiken, wie der Bacheschen Matthäuspassion, bis heute.16

Heute, in der realen heutigen Welt, erscheinen die Selbstmordattentäter auf den Bildschirmen wie unerlöste Wiedergänger von Märtyrern aus der alten Welt.17 Als Athleten der Aufmerksamkeit bedienen sie sich der Strategien des Konsumismus. Ein Effekt dieser vor allem auf Fernsehbilder ausgerichteten Präsenz besteht darin, die realen, leisen Martyrien zum Verschwinden zu bringen. Denn sie bleiben, ungeachtet ihrer Zahllosigkeit, in der Regel unbemerkt:

El africano – eine Invention:
Ich war Agostino aus einem Slum in Afrika. Ich lebte auf den Straßen einer Stadt in Europa. Das war anders als auf den Straßen Afrikas. Aber in mir fraß die Scham, die mein Herz war. Inzwischen schäme ich mich nicht mehr. „Willst Du mein Herz essen?“

Ich bin Agostino und komme aus Afrika. Ich lebe auf den Straßen Europas. „Ich spiele keine Rolle mehr“. Ich frage nach Dir, Bruder: Lebst Du noch – in den Mauern des alten Europa? Wo bist Du?

„Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung. Im Rücken die Ruinen von Europa. Die Hähne sind geschlachtet. Der Morgen findet nicht mehr statt. Something is rotten in this age of hope.“18

The rest is silence.19

Der Aufstand beginnt als Spaziergang. Wir werden mit versöhntem Herzen kämpfen, die Herren stürzen, ohne aber deswegen ihre Plätze einnehmen zu wollen. Wir werden ein kommendes Volk sein. Ein Volk von Pilgern, die nur das Nötigste besitzen, nein gebrauchen. Wir werden uns erkennen, an einem Lächeln im Gesicht. Und wir werden den Augenblick feiern …