„Die Tragödie kam mit dem Kult von Helden rund um frühe Heldengräber auf. Chöre fanden sich beisammen und ihren Ruhm zu tanzen, reiche Gönner, um die Chöre selber einzuüben und über Monate zu unterhalten. Ein Grabmal, ein Altar – ein Tanzplatz, eine Orchestra. Nichts anderes hieß für viele hundert Jahre leiturgia, ‚Werk für die Leute‘“.1 Dann kam Krieg, das Geld ging aus, die Chöre mussten gestrichen werden, bis schließlich die Christen den Griechen „auch dieses schöne Wort und Tun entwenden“: Liturgie.

Geklaut, zur bürgerlichen Kasualie herabverwaltet oder als Dienstleistung kommerzialisiert lassen die Gänge an die Gräber nur schwer erkennen, dass ihre Spur ins Herz des Tuns der Christen führt: den Tod Christi und seine Praxis: die Taufe (Röm 6, 3f), also die Einwilligung in den eigenen Tod als einen, der etwas zu tun haben möge mit dem Tode Christi wie er erinnerbar ist und eine Öffnung anzeigt.

Oder sollte man sagen: die Einwilligung in die eigenen Tode, als solche, die etwas zu tun haben mögen mit dem Tode Christi wie er erinnerbar ist und eine Öffnung anzeigt?

Mit den Worten des atheistischen Dichters: „Was man braucht, ist Zukunft und nicht die Ewigkeit des Augenblicks. Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder. Denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen.“

Heiner Müller hat diese Erkenntnis in seinem Leben gewinnen müssen in einer Intensität, die man sich nur selten einzugestehen wagt: „Gestern, an einem sonnigen Nachmittag, als ich durch die tote Stadt Berlin fuhr, heimgehrt aus irgendeinem Ausland, hatte ich zum ersten Mal das Bedürfnis, meine Frau auszugraben aus ihrem Friedhof – zwei Schaufeln voll habe ich selbst auf sie geworfen – und nachzusehen, was von ihr noch daliegt: Knochen, die ich nie gesehen habe, ihren Schädel in der Hand zu halten und mir vorzustellen, was ihr Gesicht war hinter den Masken, die sie getragen hat durch die tote Stadt Berlin und andere Städte, als er bekleidet war mit ihrem Fleisch. Ich habe dem Bedürfnis nicht nachgegeben, aus Angst vor der Polizei und dem Klatsch meiner Freunde.“

Inge Müller war im Zweiten Weltkrieg mehrfach verschüttet worden und hatte ihre Eltern aus dem Schutt gegraben, um ihre Reste zu beerdigen. Seitdem war ihr Leben ein „heroische Kampf, gegen den Wunsch, sich zu töten“.

Eines Tages verlor sie diesen Kampf: „Sie war tot als ich nach Hause kam. Sie lag in der Küche auf dem Steinboden. Ich bückte mich, hob ihr Gesicht aus dem Profil und sagte das Wort, mit dem ich sie anredete, wenn wir allein waren. Ich hatte das Gefühl, dass ich Theater spielte. Ich sah mich, an den Türrahmen gelehnt, halb gelangweilt, halb belustigt, einem Mann zusehen, der gegen drei Uhr früh in seiner Küche auf dem Steinboden hockte über seine vielleicht bewusstlose, vielleicht tote Frau gebeugt.“  Nach dem Tod seiner Frau Inge, versuchte Heiner Müller das Ereignis aufzuschreiben und hörte Wochen und Monate das Wohltemperierte Klavier von Bach.3

Im aktuellen Kontext von Klimawandel, Pandemie, Krieg und Katastrophen rücken derartige Erfahrungen bedrohlich nah und das begleitende „Wort und Tun“ von Pfarrerinnen und Pfarrern an den Gräbern legt den Zugang zu dem, was Liturgie bedeuten könnte in der heutigen Welt im Stillen wieder frei:

Was könnten Christen den Menschen, die nicht glauben, unter denen sie leben, geben? Und zwar im Sinne von Gnade. Was könnten sie den Menschen, unter denen sie leben, also schenken?

In einem Porträt über das alte Kloster Sucevita in der Bukowina im Norden Rumäniens4  sagt ein orthodoxer Priester folgendes: „Wenn es keine Liturgie, keine Erinnerung an den Tod mehr gibt, endet die Welt. Das ist eine über Jahrhunderte weitergeführte Tradition. Die Kirche ist nicht nur für die Lebenden, sondern auch für diejenigen da, die eingeschlafen sind, diejenigen, die gestorben sind. Der Hauptunterschied zwischen den Christen im Orient und Okzident ist, dass die westlichen Religionen diesen Bund mit den verstorbenen Ahnen verloren haben. Aber bei uns im Orient bleibt die Verbindung zwischen den Lebenden und denen die eingeschlafen sind, erhalten. Wir sind ein Ganzes. Eins in Christus.“

Man muss diesem Priester nicht in jeder Nuance zustimmen.5  Aber wäre das nicht Etwas, wenn man über die Christen sagen würde: Sie weisen niemanden ab? Sie vereinnahmen niemanden? Jede Tote und jeden Toten begraben sie mit heiterer Würde aus Respekt vor dem gelebten Leben?

Sie verschenken dies an die Menschen, unter denen sie leben, auf eine Art und Weise, die es jeder und jedem, die das möchte, ermöglicht, ein solches Geschenk auch anzunehmen.