„In einem Weihnachtsbrief des Jahres 1923 schreibt [Walter Benjamin (1896-1943)] an seinen älteren Freund Florens Christian Rang: ‚Dann aber ist bei solchem Gruße das Merkwürdige, dass er neben allen Weihnachtserinnerungen aus der Kindheit, denen das Gewissen einen breiteren Raum zu gönnen verbietet, auf eine trifft, die zu den drei oder vier unveräußerlichen meines Lebens gehören, in denen dieses sich vernehmlich in mir gestaltete. Ich weiss nicht, wie alt ich war, vielleicht sieben, vielleicht zehn Jahre. Vor der Bescherung saß ich allein in einem dunklen Zimmer und dachte an das Gedicht ‚Alle Jahre wieder‘ oder sagte es. Was dabei eigentlich geschah, weiss ich nicht und der Versuch, es auszusprechen, würde nur eine Fälschung hervorbringen. Kurz, noch heute sehe ich in diesem Augenblick mich in jenem Zimmer sitzen und weiss, dass es das einzige Mal in meinem Leben war, dass ein seinem Gehalt nach religiöses Liedwort oder Wort überhaupt in mir eine unsichtbare oder nur flüchtige sichtbare Gestalt annahm.‘1

W[alter] Benjamin stammt aus einem Berliner bildungsbürgerlichen Haus assimilierter Juden, die die Gebräuche ihrer christlichen Umgebung übernommen hatten, auch Weihnachten mit seiner häuslichen Inszenierung. Der erwachsene Mann erinnert sich an etwas, was annähernd ein halbes Jahrhundert zurückliegt und ihm im Gedächtnis geblieben ist als eine der wenigen ‚unveräußerlichen‘ Erinnerungen des Lebens, die einzige, die sich an ein Stück religiöser Sprache heftet: ‚Alle Jahre wieder…‘ Und er offenbart dem evangelischen Freund, dass hier aus einem christlichen Liedvers so etwas wie eine Epiphanie hervorgegangen ist, die tiefbewegend, aber nicht näher zu beschreiben ist.

Anfang der dreißiger Jahre hat W[alter] Benjamin ein Buch mit dem Titel ‚Berliner Kindheit um Neunzehnhundert‘2  geschrieben. In der Topographie dieser philosophischen Stadtskizzen begegnet ein Stück mit dem Titel ‚Ein Weihnachtsengel‘3, das die Stelle aus dem Brief an F. Chr. Rang in einer Art narrativer Reflexion aufgreift.

‚Ein Weihnachtsengel
Mit den Tannenbäumen begann es. Eines Morgens, noch ehe Ferien waren, hafteten an den Straßen-ecken die grünen Siegel, die die Stadt wie ein großes Weihnachtspaket an hundert Ecken und Kanten zu sichern schienen. Dann barst sie eines schönen Tages dennoch und Spielzeug, Nüsse, Stroh und Baumschmuck quollen aus ihrem Innern: der Weihnachtsmarkt. Mit ihnen quoll aber noch etwas anderes hervor. Die Armut. Wie nämlich Äpfel und Nüsse mit ein wenig Schaumgold neben dem Marzipan sich auf dem Weihnachtsteller zeigen durften, so auch die armen Leute mit Lametta und bunten Kerzen in den bessern Vierteln. Die Reichen aber schickten ihre Kinder vor, um denen der Armen wollene Schäfchen abzukaufen oder Almosen auszuteilen, die sie selbst vor Scham nicht über ihre Hände brachten. Inzwischen stand bereits auf der Veranda der Baum, den meine Mutter insgeheim gekauft und über die Hintertreppe in die Wohnung hatte bringen lassen. Und wunderbarer als alles, was das Kerzenlicht ihm gab, war, wie das nahe Fest in seine Zweige mit jedem Tag dichter sich verspann. In den Höfen begannen die Leierkästen die letzte Frist mit Chorälen zu dehnen. Endlich war sie dennoch verstrichen und einer jener Tage wieder da, an deren frühesten ich mich hier erinnere. In meinem Zimmer wartete ich, bis es sechs werden wollte. Kein Fest des späteren Lebens kennt diese Stunde, die wie ein Pfeil im Herzen des Tages zittert. Es war schon dunkel, trotzdem entzündete ich nicht die Lampe, um den Blick nicht von den dunklen Fenstern überm Hof zu wenden, hinter denen nun die ersten Kerzen zu sehen waren. Es war von allen Augenblicken, die das Dasein des Weihnachtsbaumes hat, der heimlichste, in dem er Nadeln und Geäst dem Dunkel opfert, um nichts zu sein als nur ein unnahbares und doch nahes Sternbild im trüben Fenster einer Hinterwohnung. Doch wie ein solches Sternbild hin und wieder eins der verlassenen Fenster begnadete, indessen viele weiter dunkel blieben und andere, noch trauriger, im Gaslicht der frühen Abende verkümmerten, schien mir, dass diese weihnachtlichen Fenster die Einsamkeit, das Alter und das Darben – all das, wovon die armen Leute schwiegen – in sich fassten. Dann viel mir wieder die Bescherung ein, die meine Eltern eben rüsteten. Kaum aber hatte ich so schweren Herzens wie nur die Nähe eines sichren Glücks es macht, mich vom Fenster abgewandt, so spürte ich eine fremde Gegenwart im Raum. Es war nichts als ein Wind, so dass die Worte, die sich auf meinen Lippen bildeten, wie Falten waren, die ein träges Segel plötzlich vor einer frischen Brise wirft.
‚Alle Jahre wieder
Kommt das Christuskind
Auf die Erde nieder
Wo wir Menschen sind‘
– Mit diesen Worten hatte sich der Engel, der in ihnen begonnen hatte, sich zu bilden, auch verflüchtigt. Doch nicht mehr lange blieb ich im leeren Zimmer. Man rief mich in das gegenüberliegende, in dem der Baum nun in die Glorie eingegangen war, welche ihn mir entfremdete, bis er, des Untersatzes beraubt, im Schnee verschüttet oder im Regen glänzend, das Fest da endete, wo es ein Leierkasten begonnen hatte.‘

Es ist ein ‚Stadtbild‘4, ein Bild der Stadt Berlin, dieses besonderen bürgerlichen Viertels, gesehen von einem bestimmten Haus, dieser Stube im begüterten Vorderhaus der, ein Zeitbild, um 1900, zur Weihnachtszeit. E. Fischer hat W. Benjamin einen ‚Geisterseher in der Bürgerwelt‘5  genannt: ‚Die scheinbar unbedeutenden Dinge, an denen die meisten achtlos vorübergehn, werden für ihn zum Zeichen; sie deuten auf ein andres hin, sie fordern zur Deutung heraus, sie sind bedeutend. Die Fähigkeit Benjamins, im kleinsten Gegenstand den größten Zusammenhang wahrzunehmen, das Gegenständliche als Hieroglyphe aufzufassen und durch deren Entzifferung das Zuständliche, das gesellschaftlich Wirkende aufzudecken …‘6.

‚Die Stadt wie ein großes Weihnachtspaket.‘  –  Es ist ‚der Blick des Allegorikers, der die Stadt trifft‘7. Die Tannenbäume an den Straßenecken der vorweihnachtlichen Stadt lösen die Imagination eines grün verseigelten Weihnachtspakets aus. Das Packet birst eines schönen Tages. Was verborgen war, quillt hervor: der Weihnachtsmarkt, aber mit den schönen Dingen, die sich da anbieten, zugleich ‚die Armut‘. Und wie auf dem Weihnachtsteller neben dem wohlhabenden Marzipan sich die proletarischen Äpfel und Nüsse zeigen, so jetzt zur Weihnachtszeit, die armen Leute … in den bessern Vierteln‘. Die Stadt offenbart sich über die Kinder und Leierkastenspieler als Ort sozialer Klassen, von Arm und Reich.

Das drängt sich für das Kind zusammen in die Stunde vor der Bescherung (‚die wie ein Pfeil im Herzen des Tages zittert‘), da es allein vom dunklen Zimmer des Vorderhauses in die Hinterhöfe blickt, deren Fenster ihm als emblematische Inbilder des Lebens der armen Leute erscheinen, ‚der Einsamkeit, des Alters und des Darbens‘, aber doch ‚hin und wieder‘ ‚begnadet‘ durch das Kerzenlicht eines Weihnachtsbaumes, der ‚Nadeln und Geäst‘, wie es heißt, ‚opfert‘, um nur noch ‚ein nahes und unnahbares Sternbild‘ zu sein. Die Erfahrung des Kindes nähert sich hier dem, was Benjamin andernorts im Phänomen der ‚Aura‘ zu begreifen sucht: die ‚einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag‘8; ‚Diese Bestimmung hat für sich, den kultischen Charakter des Phänomens transparent zu machen. Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare: in der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes.‘9  Die hier gemeinte Nähe ästhetischer Erfahrung zur religiösen wird in Benjamins Weinachtgeschichte gestützt durch die unerwartet religiösen, ja ‚kultischen‘ Termini ‚begnadet‘ und ‚opfert‘. Er ist eine Art von Epiphanie mitten in der Bürgerwelt, aber ganz im dunklen Vorraum der offiziellen ‚Bescherung‘, die den Baum zur manifesten Glorie nahen Glanzes bringt und im gleichen Augenblick seines Geheimnisses beraubt ‚entfremdet‘.

An der Schwelle zwischen beidem liegt noch eine Erfahrung, die der Titel der Geschichte unmittelbar im Blick hat: ‚Der Weihnachtsengel‘. Es ist das Spüren einer ‚fremden Gegenwart im Raum‘, nun dem des Kindes selbst. Es ist nichts zu sehen, nur zu spüren, ‚nichts als ein Wind‘. Der Anhauch wird Wort in den Versen eines Weihnachtsliedes: ‚Alle Jahre wieder…‘. Die Worte des Liedes fangen den Wind auf wie ein Segel die Brise, Verse als Falten. Es ist, wie wenn sich aus diesem Zusammentreffen von fremdem Hauch und bekanntem Lied ein ‚Engel‘ bildete, die Figur eines Boten mit himmlischer Botschaft. Aber diese Verse, die den Anhauch aufzufangen scheinen, beendigen ihn im gleichen Augenblick, ‚der Engel, der in ihnen begonnen hatte, sich zu bilden‘, verflüchtig sich im Augenblick des Aussprechens schon. ‚Der Weihnachtsengel‘ ist eine allerflüchtigste Erfahrung. Vielleicht könnte man auch sagen, sie ist wie ein Traum, der in Windeseile von einem Ereignis ausgelöst wird, auf das er zuläuft, um mit ihm zugleich zu Ende zu sein. Dieses Ereignis wäre hier das Weihnachtslied, das dem Kind in den Sinn kommt. Es ist ein Lied, das nicht im Gesangbuch steht, aber zum festen Repertoire des geistlichen Volksliedes zu dieser Zeit gehört. Es ist wie ein Korn, das absichtslos ausgestreut wurde und hier in dieser Kindheitserinnerung, ja offenbar im geistigen Leben Walter Benjamins merkwürdig aufgegangen ist.

Benjamins ‚Der Weihnachtsengel‘ ist eine Geschichte der Zeit, der Jahreszeit des Winters in seiner bürgerlichen Verfassung. Und darin eingelegt ist es eine nach Zeit und Stunde und Augenblick terminierte Geschichte einer intimen Erfahrung. Die Mystik dieser Erfahrung ist keine Naturmystik des Winters und seiner Landschaft, sie ist eine Mystik der Stadt, ihrer kulturellen Jahreszeit. Sie geht nicht zurück hinter die Phänomene der bürgerlichen Weihnachtskultur, um in ihrem kirchlichen Kern niederzuknien, sondern geht ihnen nach und auf den Grund. In dieser profanen Aufmerksamkeit erfährt sie etwas, wovon man nur träumen kann. Benjamins spät (1940) geschriebenen ‚Geschichtsphilosophischen Thesen‘ enden mit den Sätzen: ‚Den Juden wurde die Zukunft (…) nicht zur homogenen und leeren Zeit, Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.‘10  Hört man in dem ‚Christuskind‘ des Weihnachtliedes das ursprünglich Messianische mit, so konnte die beschriebene mystische Erfahrung eine Sekunde der Annäherung sein, die sich im gleichen Augenblick aber zurückziehen musste, weil es das Ende der Welt gewesen wäre: ‚Erst des Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, dass er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft.‘11

Mit der Figur des Engels verbinden sich bei Benjamin Erfahrungen des ‚Ephemeren‘, der ‚Aktualität‘ als flüchtiger Berührung.12  In der Ankündigung der Zeitschrift ‚Angelus Novus‘ heißt es zum Schluss: ‚Werden doch sogar nach einer talmudischen Legende die Engel – neue jeden Augenblick in unzähligen Scharen – geschaffen, um, nachdem sie vor Gott ihren Hymnus gesungen, aufzuhören und ins Nichts zu vergehen.‘13  Der Anflug des Weihnachtsengels in jener Berliner Bürgerstube um 1900 hat diese mystische Flüchtigkeit.“

Ein Geschenk von Alex Stock, Poetische Dogmatik, Ekklesiologie, 2. Zeit, Paderborn 2016, S. 129-133.