Was tun Frau oder Mann, wenn ihnen ihr Körper kurzzeitig abhandenkommt? Sie sehen in einen Spiegel. Sobald sie Mühe haben, sich im Spiegelbild selbst zu erkennen, korrigieren sie mit einer flinken unauffälligen Bewegung das Detail, das ihr Wiedererkennen fraglich erscheinen lässt und: Glück gehabt, der Körper ist wieder da.

Was tun Frau oder Mann, wenn ihnen der Körper eines anderen abhanden zu kommen droht, wie etwa bei einer Reise, oder wirklich abhandengekommen ist, wie bei einer/m Toten? Sie stellen ein Foto auf, tragen es in einer Brieftasche bei sich oder lassen es auf dem entsprechenden Grabstein anbringen. Ein solches Lichtbild wird sogar dazu benutzt, um einem anderen zu beweisen, dass man der oder diejenige ist, die körperlich zu sein man vorgibt, nämlich bei einer Ausweis- oder Passkontrolle.

Diese Bildpraxis der Menschen ist uralt. Sie reicht in unserem Falle „weit vor die gräkorömische Kultur“1 zurück und vermischte sich mit der Zeit mit christlichen Bildpraktiken. Meist unterlaufen sie das Radar offizieller Bilddoktrin (Ikone, Lehrbild). Diese Bilder waren “personale[] Bilder“2, häufig sogenannte Tafelbilder. Man verwendete sie bei Prozessionen oder Wallfahrten. „Sie waren uralt oder himmlischen Ursprungs, wirkten Wunder, orakelten und siegten.“3

Derartige Bilder erhielten ihre Authentizität aus einem „Traditionsbeweis“, wie z.B. aus einer Offenbarungsschrift, oder aus einer „Entstehungslegende“ oder häufig auch aus einer Visionslegende, wie z.B. aus einem Traum. Auch Kult- bzw. Wunderlegenden begründeten ihre Authentizität und damit „übernatürliche Wirkkraft“. Solche Bilder gaben Toten, Kaisern oder Heiligen Sitz und Stimme. Sie hatten charismatische Eigenschaften, konnten in einer Schlacht zum Sieg verhelfen, Minderheiten oder Gebäude beschützen. Sie galten als Nothelfer u.v.a.m.4

Das Besondere dieser Bilder ergibt sich allerdings nicht nur aus ihrer Wirkkraft (dynamis) und der ihnen eigenen authentischen Bildlichkeit, sondern dadurch, dass man sie „wie Personen behandelt“5. Das heißt, es gibt um die Bilder herum bzw. mit den Bildern so etwas wie ein liturgisch-theatralisches Zeremoniell, das mit der Anwesenheit des Bildes so umgeht wie mit der dargestellten, aber abwesenden Person.

Besonders deutlich wird dies bei Kaiserbildern, die vor Schlachten die Anwesenheit des abwesenden Kaisers beglaubigt zeigten. Man erwies ihnen Ehrenbezeugungen, zog in ihrem Namen in die Schlacht, deren Sieg durch die bildliche Anwesenheit garantiert und deren Niederlage konsequenterweise auch durch die Verletzung bzw. Zerstörung des Bildes zum Ausdruck gebracht wurde.

Seit Konstantin hat sich dieses Beispiel direkt mit christlicher Verbildlichungspraxis vermischt. Das Kreuz wurde als Zeichen in diese Zusammenhänge eingeführt und das sowohl als Christuszeichen, als auch als „Bildständer“6  für ein Kaiserbild. Damit wurde eine Verbindung zwischen Bild und Institution hergestellt, die deutlich macht, dass es dabei nicht auf eine quasi magische Bildpraxis ankam. Im Gegenteil, wenn beispielweise Bilder konsekriert wurden, dann galt dies nicht den Bildern (nebenbei bemerkt auch nicht den Malern) selbst, sondern diese „gaben ihre Macht an die Institution ab“7.

In der Folge konnte die Praxis um derartige Bilder auch mittels technischer Verfahren wie Kopie8  oder Lichtbild9  verlängert werden. Nicht zuletzt diese Tatsache lässt die hier skizzierte Bildpraxis als Vorläufer der aktuellen Bildpraxis der Kirchen erkennbar werden, wie sie sich technisch online per Zoom und ähnliche Plattformen realisiert, die durch die Covid-19-Pandemie und darauffolgende hygienische Beschränkungen eine zentrale Stellung erlangt hat.10

Entscheidend für diese Deutung ist die Kombination von authentischen Bildern, wie sie heute als Lichtbilder bzw. Bewegtbilder mit Kameras erzeugt werden, und liturgische-theatralische Verabredungen, deren noch so einfacher Vollzug reale Abwesenheit in bildliche bzw. online Anwesenheit überbrückt.
Der markanteste Unterschied zwischen der alten Bildpraxis und der aktuellen besteht im Unterschied zwischen analoger und digitaler Übertragung.11

Die Authentifizierung der Bilder, die vormals durch Visionen, Wunder, Texte, Legenden geleistet werden musste, ist nun allein der technischen Reproduzierbarkeit durch eine Kamera überantwortet. Sie könnte im Härtefall, wie bei einem Pass, durch biometrische Daten gestützt werden.

Lässt man die Authentizität technisch (re)produzierter Bilder gelten, fällt jedoch auf, dass die liturgisch-theatralische Verabredung, das Bild der Person wie eine Person zu behandeln, entfallen bzw. ganz auf das Betrachten des technisch reproduzierten Bildes reduziert ist. Auf dieser Seite des Bildprozedere ist damit aber zugleich jeglicher körperliche Vollzug abhandengekommen.

Zur o.g. Überbrückung der Abwesenheit der bildlich dargestellten Person und ihrer Wirksamkeit fehlt also ein wesentlicher Teil. Es fehlen die Körper. Sie sind verschwunden. Um eine Anwesenheit von bildlich dargestellten abwesenden Personen zu erreichen, müssten liturgisch-theatralische Verabredungen erfunden und vollzogen werden. Mit anderen Worten, es müssten Körper dem technisch (re)produzierten Bildgeschehen entsprechend hergestellt, rekonstruiert oder aktiviert werden.

In seinem „Buch über Körperpolitik“ (A Book of the Body Politic12) kommt der französischen Soziologe Bruno Latour auf das 12. Kapitel des 1. Korintherbriefes (1 – 26) des Apostels Paulus zurück. „Hier sind die Teile nicht Seite an Seite einem Rahmen, der sie alle überspannt, untergeordnet“ (Here parts are not side by side under a frame that overarches all of them). Eine solches Prinzip der hierarchischen Unterordnung wäre organisationstheoretisch schlicht überholt (a bad way mode of organisation). „Hier bei Paulus überlappen die Teile einander“ (Here in Saint Paul parts are overlapping with one another).13  Die einzelnen Teile gehen vielfältigste wechselseitige und veränderbare Austauschverhältnisse ein, die sich mit Achtsamkeit umeinander beschreiben lassen (each part takes care of all the others14). In der Lesart von Bruno Latour werden Körper zusammengesetzt (composing) aus „bits and pieces“15 .
Latour nennt diesen Vorgang „bodybuilding“16.

Worin könnte ein Bodybuilding in unserem Zusammenhang bestehen? Gehen wir von einer Erfahrung aus, die das Problem noch im analogen Zusammenhang herausstellt und doch ins Zentrum der Fragestellung trifft, die sich online zuspitzt. Während des Abschlussgottesdienstes des Kirchentages im Jahre 2017 auf den Elbwiesen der Lutherstadt Wittenberg fand eine Abendmahlsfeier statt. Auf der Hauptbühne zelebrierte der leitende Liturg die Abendmahlsliturgie. An 250 Tischen, die auf der gesamten Wiese verteilt waren, standen Pfarrerinnen und Pfarrer mit ihren Teams aus allen Teilen des Landes. Sie sollten die Gaben an die jeweils umstehenden Glaubenden verteilen.

Bei strahlendem Sonnenschein waren die Tische festlich mit Birkenzweigen geschmückt. Die Pfarrerinnen und Pfarrer trugen Talare. Der Liturg auf der Hauptbühne in beträchtlichem räumlichen Abstand zu den anderen Mitfeiernden wurde direkt auf mehreren Videoleinwänden wie auch übers Fernsehen übertragen.17  Als der die Einsetzungsworte sprach, standen die Pfarrerinnen und Pfarrer vor ihren Abendmahlstischen auf der Wiese herum, wussten sichtbar nicht so recht, was sie tun sollten und schlugen häufig leicht verschämt um sich blickend ein Kreuz über den Gaben, bzw. je nach Bekenntnis schlugen sie etwas verschämt kein Kreuz.

Was geschah? Alle Beteiligten waren körperlich anwesend, Seite an Seite auf der Wiese verteilt, einem sie alle leitenden Rahmen untergeordnet. Aber sie waren im Moment der Einsetzungsworte (von Scham unterstrichen) plötzlich körperpolitisch auseinandergefallen bzw. verschwunden, abwesend. Genau das ist auch bildpolitisch auf den TV-Bildschirmen passiert. (Da wirkt eine Übertragung gnadenlos wie ein Vergrößerungsglas.) Durch die große räumliche Distanz fielen hier analog und da digital die Erfahrung von Abwesenheit zusammen.

Was würde in so einer konkreten Situation Bodybuilding heißen? Durch welche liturgisch-theatralische Verabredung und Praxis könnte man Abwesenheit und Anwesenheit überbrücken?

Die einfachste Lösung bestünde darin, dass alle Pfarrerinnen und Pfarrer mit dem leitenden Liturgen gemeinsam die Einsetzungsworte laut sprechen und ihr Kreuz über den Gaben schlagen oder nicht.18

Ein weiterer Schritt im Sinne des Bodybuilding bestünde darin, dass alle anwesenden Glaubenden die Einsetzungsworte laut mitsprechen. Durch ihr Mitsprechen würden sie einen Körper im Sinne des 1. Korintherbriefes zusammensetzen und dabei zugleich ihre eigene körperliche Anwesenheit zum Ausdruck bringen, aktivieren und somit herstellen.

Sollten gleichzeitig die Menschen an ihren Fernsehbildschirmen sich nicht nur als Zuschauerinnen und Zuschauer verstehen wollen, sondern als Mitfeiernde, müssten sie dies an ihren jeweiligen Orten ebenfalls tun und auf diese Weise ein die Bildschirme durchschreitendes Bodybuilding aktiv praktizieren. In unserem Falle: Die Einsetzungsworte mitsprechen.

Auf diese Weise würde auch bei sogenannten online-Gottesdiensten, wie auf der Plattform Zoom u.a., eine körperliche Anwesenheit der Feiernden und somit eine Gemeinschaft hergestellt werden können. Dazu ist die körperlich aktive, aktuelle Mitwirkung aller Glaubenden nötig. Theologisch müsste sie als radikale, weil körperliche Aktualisierung der Taufe verstanden werden, die das virtuelle Bild ergänzt, also erst vervollständigt.

P.S.
Was mit Vergrößerungseffekt online signifikant sichtbar und spürbar wird, die Trennung zwischen Körper und abgebildeter Person, deutete sich in unserem Beispiel auf den Elbwiesen Wittenbergs durch eine große räumliche Distanz bereits an.

Abschließend und aus aktuellem Anlass soll hier diese Trennung überwindende Praxis des Bodybuilding noch einmal ins Analoge zurückgewendet werden.

Im Zusammenhang des Ökumenischen Kirchentages wird zur Recht über die Gastfreundschaft beim Abendmahl zwischen der katholischen und den evangelischen Kirchen gestritten. Gegen die praktische Erfahrung der Trennung bedeuten diese theologischen Auseinandersetzungen nichts, außer der Erhärtung eines machtpolitischen status quo.

Was wäre, wenn die Glaubenden aller Konfessionen sich angewöhnten, die Einsetzungsworte einfach mitzusprechen? Und dies nicht als Demonstration, auch nicht als Protest, sondern einfach wie das Vaterunser: sine ire et studio. Und dies sowohl bei den Mahlfeiern der eigenen Konfession als auch in denen der jeweils anderen.

Vor allem für die Teilnehmenden der jeweils anderen Konfession, aber nicht nur, wäre dies einfache Mitsprechen und das sich daran Genüge sein lassen (müssen) Praxis und Erfahrung eines Bodybuilding nach 1 Kor 12., was den status quo bereits durchschreitet …