„Für ein armes Theater“ heißt ein Artikel des polnischen Theaterregisseurs und –Theoretikers Jerzy Grotowski aus dem Jahre 1967. In diesem Artikel geht es nicht um Krippenspiele. Aber er kann in mancherlei Hinsicht wie eine Anleitung für Krippenspiele gelesen werden. Armes Theater, théâtre pauvre, bedeutet für Grotowski, schrittweise zu eliminieren, „was sich als überflüssig erwies, wir fanden heraus, dass Theater ohne Schminke, ohne eigenständige Kostüme und Bühnenbild, ohne abgetrennte Aufführungsbereiche (Bühne), ohne Beleuchtungs- und Toneffekte usw. existieren kann.“1

Das, was Grotowski in der Arbeit seines Theaterlaboratoriums in Opole, im Südwesten Polens, entdeckte, ist allermeist die Grundvoraussetzung von Krippenspielen. Aus Geldmangel und auch aus Mangel an Fachpersonal entsteht diese Situation. Und sie sollte im Sinne Grotowskis eben nicht als Mangel, den man also mit Behelfslösungen vertuschen sollte, sondern als schöpferische Herausforderung genommen werden.

In diesem Sinne gilt: Lieber armes Theater, als dilettantisches Theater. Zumal das Krippenspiel seiner Herkunft nach in einem franziskanischen Zusammenhang von Armut steht, was in unserem Falle, die bewusste Einfachheit der Darstellungsmittel bedeutet.

Die einfachste Form eines Krippenspieles ist die abschnittsweise gelesene Lesung der Weihnachtsgeschichte nach Lukas und die jeweils gesungene Antwort der Gemeinde und /oder Chor mit den entsprechenden Kirchenliedern von „Vom Himmel hoch da komm ich her“ über „Kommet ihr Hirten, ihr Männer und Frau‘n“, „Ihr Kinderlein kommet“, „Ich steh an deiner Krippen hier“ bis zu „Stille Nacht“ und schließlich „O du Fröhliche“.

Und schon bei dieser szenisch noch nicht ausgearbeiteten Form des Krippenspiels deutet sich aus dem liturgischen Zusammenhang eines Gottesdienstes, der immer responsiv oder antiphonisch gebaut ist, an, worauf man theatralisch nicht verzichten kann. Mit Grotowski gesagt und das oben begonnene Zitat weiterführend: „Es [Theater] kann nicht existieren, ohne die Schauspieler-Zuschauer-Beziehung: eine perzeptuelle, direkte, ‚lebendige‘ Gemeinschaft.“2

Im nächsten Entwicklungsschritt eines Krippenspiels wird dies sichtbar. Dieser Schritt besteht darin, die zu den Lesungen gehörigen Situationen als Tableaus, also Bildern aus Menschen, zu bauen. Mit einfachen zeichenhaften „Kostümen“ bekleidet, vervollständigt sich Lesung für Lesung das Bild. Die Krippe steht schon da. Maria, Joseph ziehen ein oder treten einfach auf und bleiben stehen. Mit einem schlichten Umhang, Hut oder Stab kommen die Hirten hinzu, ihre Zahl ist sehr variable, viele Leute können mitmachen; schon vorher der/die Engel…

Ähnlich funktionieren die Passions- bzw. Osterspiele in ihrer einfachsten Form, dort sind die Kreuzwegstationen bzw. die entsprechenden liturgischen Teile der Osternacht mit der gesungenen Lesung des Evangeliums in verteilten Rollen der Ausgangspunkt. Sogar das Abendmahl und die Taufe können als performative Wiederholung der entsprechenden laut gelesenen Lesungen verstanden, entwickelt und gefeiert werden.3

Sobald aber derartige szenische Formen, die mit dem amerikanischen Regisseur Peter Sellars eher Ritualisierungen als Inszenierungen sind, sich weiterentwickeln und damit Schauspielerinnen und Schauspieler ins Spiel kommen, gelangt unsere Grotowski-Lektüre an ihren neuralgischen Punkt.

Denn die Subtraktion theatralischer Zeichen bedeutet zugleich eine Konzentration: „[W]ir betrachten die persönliche und szenische Technik des Schauspielers als den Kern der Theaterkunst“.4

Dieser für Grotowski zentrale Satz bedeutet aber in seiner Anwendung auf die Praxis des Krippenspieles eine deutliche Grenze. Denn so gut wie nie werden Krippenspiele von Schauspielern und Schauspielerinnen gespielt. Soll aber die Praxis des Krippenspiels als Laientheater nicht zu einer Karikatur von Theater werden, bei der alle so tun, als ob sie Theater spielen könnten, gebührt diesem Punkt erhöhte Aufmerksamkeit.
Denn natürlich kann mit darstellerischen Laien nicht gearbeitet werden, wie mit Schauspielerinnen und Schauspielern, die ihr Leben lang an ihrer Technik feilen. Also muss auch an dieser Stelle mit einer äußersten Einfachheit der darstellerischen Mittel gearbeitet werden, sozusagen zum Schutz der Spielerinnen und Spieler.

Kurz gesagt können Laien auf einer wie auch immer gearteten Bühne, oder allgemeiner gesagt, in der Öffentlichkeit, nichts Anderes darstellen, als das, was sie im Alltag tun. Selbst das muss geübt werden, um es zu stabilisieren, sonst zerfällt es in der Aufregung.

Diese Feststellung trifft sich mit der Kritik des englische Theaterregisseurs Peter Brook an Grotowski: „Grotowskis Arbeit und unsere haben Parallelen und Berührungspunkte. Darüber und über Sympathie und Respekt kamen wir zusammen. Aber das Leben unseres Theaters unterscheidet sich in jeder Hinsicht von dem Grotowskis. Er leitet ein Laboratorium. Er braucht Publikum nur gelegentlich, in kleiner Zahl. Er steht in einer katholischen Tradition – oder in einer antikatholischen; in diesem Falle treffen sich die beiden Extreme. Er schafft eine Form des Gottesdienstes. Wir arbeiten in verschiedenen Ländern, verschiedenen Sprachen, verschiedenen Traditionen. Unser Ziel ist nicht eine neue Messe, sondern eine Verbindung im elisabethanischen Sinne – wir wollen das Private und das Öffentliche verknüpfen, den Bereich des Intimen mit dem der Masse, das Verborgene und das Offenkundige, das Gewöhnliche und das Magische. Dazu bedürfen wir einer Menge auf der Bühne und einer Menge, die zuschaut – und mitten auf dieser Bühne voll von Menschen bieten einzelne ihre intimsten Wahrheiten einzelnen im Zuschauerraum voll von Menschen dar und teilen so mit ihnen eine gemeinsame Erfahrung.“5

Man kann aber eben nur Erfahrungen teilen, die man selbst gemacht hat. Erfahrungen herstellen ist ein eigener Beruf, der eines Schauspielers oder der einer Schauspielerin. Erfahrungen „als ob“, sind nur für Insider, gern Familienangehörige, berührend. Für Außenstehende oder Zuschauer sind sie peinlich bzw. liefern diejenigen, die so tun als ob, schutzlos der Öffentlichkeit aus. Praktisch sollten Leute auf der Bühne also nichts tun, was sie nicht können, denn das verwandelt sich zu einem so-Tun-als-ob und wirkt unfreiwillig komisch.

In der Konsequenz dieser Haltung steckt bei Grotowski etwas Theaterkritisches, etwas, das „die meisten unserer gewöhnlichen Vorstellungen vom Theater“ untergräbt.6

Dieser Gedanke des Untergrabens sowie der einer Subtraktion der Theatermittel rücken den Entwurf des armen Theaters in die Nähe der Gedanken zu einem kleinen Theater, wie sie der französische Philosoph Gilles Deleuze im Gespräch mit den italienischen Theaterregisseurs Carmelo Bene entwickelt.

Darin wird der Vorgang der Subtraktion ausgeweitet auf die „Subtraktion der starren Machtelemente, die eine neue Potentialität des Theaters freisetzt, eine nicht-repräsentative Kraft, die immer im Ungleichgewicht sein wird“.7 „Alle Machtelemente zu subtrahieren, zu streichen, in der Sprache und den Gebärden, in der Repräsentation und im Repräsentierten“macht aus dem armen Theater, théâtre pauvre, ein kleines oder minderheitliches Theater, théâtre mineur, das die Machtelemente des Theaters selbst subtrahiert.

Im Zusammenhang des Krippenspiels bedeutet dies, nicht so zu tun, als ob es Theater wäre, und im theologisch-kirchlichen Sinne, nicht repräsentativ zu agieren. Das „Theaterzeichen“9  eines solchen nicht repräsentativen Theaters ist die leere Krippe.

Was dies konkret bedeutet, kann man gut zeigen an der „Messe des pauvres“, der Armenmesse des französischen Komponisten Erik Satie. Die Messe des pauvres ist das einzige liturgische Werk des Komponisten. Es wurde zwischen 1893 und 1895 komponiert und erst 1929, also nach dem Tod Saties im Jahre 1925, veröffentlicht.10

Anlass und Grund dieser Komposition sind unklar: Liebeskummer, eine mystische Krise… Die Messe ist zu Saties Lebzeiten nicht aufgeführt worden. Es stellt sich sogar die Frage, ob sie überhaupt für Aufführungen gedacht ist. Darauf deuten Spielvorschriften wie die Folgende über dem 3. Satz: Avec un grand oubli (Mit großem Vergessen) oder die Spielvorschrift über Satz 4: Même affirmation mais plus intérieur (dieselbe Behauptung aber mehr innen), oder der Titel des letzten Satzes: Prière pour le salut de mon âme (Gebet für mein Seelenheil).11

Wie immer hat Satie „keine der traditionellen Formen wie Sonate, Variation, Fuge, Rondo oder was es sonst sei, verwendet. Es gibt keine Durchführungstechnik, keine Verarbeitung, also auch keine Entwicklungsform. Von Anfang an herrscht das Prinzip der Wiederholung, der Reihung.“12 Satie arbeitete eher mit einer „Baukastenmethode“13. Hinzu kommt die Entwicklung von „Klangmusik“, einer „Selbstständigkeit von Klang“. Dabei geht es „um unstrukturiertes Klingen in Form von Klangketten, Klangkontinuen, die oft in Kontrast zu Passagen treten, die melodisch oder rhythmisch strukturiert sind“14.

„In der Messe des Pauvres verwendet Satie die gleichen Kompositionsprinzipien, die er in den vorhergehenden Stücken benutzt hat. Das neue an diesem Stück ist jedoch die Fixierung auf die Orgel sowie in den beiden ersten Sätzen das Einfügen von Text. Im ersten Satz sind die Worte Kyrie eleison und Christe eleison in einem gesonderten System und mit einer eigenen Melodielinie für Bässe oder höhere Stimmen notiert. Im zweiten Satz, der nur eine einzige Zeile lang ist, hat die Melodie zu Dixit meo Sede ad dexteris meis keine eigene Linie, sie ist die Oberstimme der Orgelakkorde und damit nicht solistisch hervorgehoben. Es ist die Frage, ob Satie die Worte überhaupt zum Singen dazu schreibt. Möglicherweise genügt es auch, sie einfach beim Spielen oder Hören hinzuzudenken, so wie bei den späteren Klavierstücken die Texte auch nicht gesprochen werden dürfen. Da Satie keine Besetzungsvorschriften für die gesamte Messe – etwa in der Überschrift – gibt, da die Besetzung auch im Verlauf der Sätze wechselt (zu Anfang Orgel mit Text, dann nur Orgel, zum Schluss Klaviersatz, d.h. ohne Orgelpedal), tut man wohl gut daran, die Frage nach der Art der Aufführung oder der Aufführbarkeit der Messe nicht so wichtig zu nehmen.“15

So ist sie auch nicht zu Lebzeiten Saties aufgeführt worden. Teile der Messe wurden 1929 auf einem Konzert in Brüssel gespielt. Die gesamte Messe wurde erst am 14. März 1939 in der Église de la Sainte Trinité in Paris unter der Leitung von Olivier Messiaen aufgeführt.16

Die Messe des pauvres von Erik Satie entspricht keinem traditionellen liturgischen Formular. Ein Gloria als dritten Satz, das Saties Bruder Conrad erwähnt, gilt als verschollen; es würde die Messe zu einer Missa brevis gemacht haben.17

Aber so finden wir folgende Satzfolge der Messe des pauvres vor:
1 ohne Überschrift18
2 Dixit domine19
3 Prière des Orgues20
4 Commune qui mundi nefas21
5 Chant Ecclésiastique22
6 Prière pour les voyageurs et les marins en danger de mort, à la très auguste Vierge Marie, mère de Jésus23 
7 Prière pour le Salut de mon âme24 .

Ob es nun aus biographischen Gründen oder wegen eines nichtauffindbaren Manuskriptes (Gloria), ob in kompositorischer Absicht oder nur dem unvollendet Sein geschuldet, oder, was wahrscheinlich ist, einer Gemengelage aus alldiesem plus einer Prise (früh)dadistischen Ulks, dessen Satie durchaus fähig war25 : Diese Messe des pauvres unterwandert jedes Modell, sei es strukturell, historisch, institutionell26  oder musikalisch.

So fand sie auch keinen Eingang in die kirchenmusikalische Praxis. Doch unerwartet erklingt sie zuweilen auf Theaterbühnen. Der Schweizer Theaterregisseur Christoph Marthaler erarbeitete mit seinem Ensemble in der Spielzeit 2016/17 an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz einen Abend mit dem Titel „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“27.

Ein leerer Museumsraum mit Oberlicht. Transportkisten werden hereingerollt. Darin sind Puppen, die sich als Menschen erweisen, die beginnen sich zu erinnern, sich zu verselbstständigen. Sie singen, tanzen, machen merkwürdige Kunststücke, werden verschämt wieder herausgerollt, umrangiert… Schließlich bevölkern sie die Szene.

In einer Situation im letzten Drittel der Aufführung stehen die Spielerinnen und Spieler vereinzelt den kahlen Wänden zugewandt und kichern vor sich hin. Ein Klavier auf dem vom Zuschauerraum aus rechten vorderen Bühnenrand beginnt, Akkorde zu spielen. Die Spielerinnen und Spieler drehen sich um, verharren in leicht bizarren Posen und starren schalkhaft ins Publikum. Einer setzt sich an ein Klavier auf der linken Bühnenseite. Beide Klavierspieler wechseln sich ab, wenn sie zugleich spielen ergibt sich oft ein kleines Echo. Dann beginnen die Spielerinnen und Spieler leise zu singen: Kyrie eleison, Christe eleison

Da erklingt auf der Bühne zart, was sonst keinen Ort hat:

Messe des pauvres