Die Frage danach, wie eine Gemeinschaft als neue Schöpfung (création commune) zu umreißen ist, erscheint konkret als ein Komplex von Fragen. Etwa der Frage danach, wie eine Gemeinschaft ohne Herrschaftsregime1 zu beschreiben ist. Was also eine Gemeinschaft anderes ist als etwas, was sich durch Abgrenzung definiert, als etwas, das durch Zusammenschluss stärker sein will als eine andere Gemeinschaft.

Anders formuliert: Was kann Gemeinschaft anderes sein als eine Seinsgemeinschaft, eine Blutsgemeinschaft oder Volksgemeinschaft? Was kann Gemeinschaft anderes sein als das Aufgehen des Einzelnen in ihr; ein/e Einzelne/r, die/der ihre/seine Freiheit und sich selbst aufgibt, zugunsten einer homogenen, das Individuum in sich auflösenden, totalen und damit tendenziell totalitären Gemeinschaft? Was kann Gemeinschaft anderes sein als eine Mitglieder-, Interessen-  oder Zweckgemeinschaft?

Den in diesen Fragen skizzierten Konzepten und Realitäten von Gemeinschaft ist gemeinsam, dass sie alle sich selbst ins Werk setzen. Sie haben Substanz und Wert in sich, sind in sich abgeschlossen und funktionieren über Einschluss oder Ausschluss. Beides wird durch sie selbst bestimmt. In diesen Gemeinschaften verwirklicht sich Gemeinschaft “als ihr eigenes Werk"2.   

Was kann eine Gemeinschaft aber anderes sein als eine Gemeinschaft, die sich selbst ins Werk setzt? Eine Gemeinschaft, die nicht auf etwas ausgerichtet ist als auf ihr Werk?

Eine solche Gemeinschaft müsste als eine werklose oder entwerkte Gemeinschaft beschrieben werden. Hierin der Übersetzung des eigenartigen französischen Wortes désœuvrement3   folgend, das sowohl eine Tätigkeit, eine Entwerkung, und einen Zustand, Werklosigkeit, meint.

Werke zu schaffen4, Produktionswerte herzustellen, wäre nicht Aufgabe einer solchen Gemeinschaft, ebenso wenig jegliche praktische Bewerkstelligung, die Erfüllung administrativer Zwecke oder die politische Vertretung von Interessen. Eine solche Gemeinschaft müsste sich also beständig selbst entwerken und die Ausbildung von Herrschaftsformen unterwandern, in dieser Hinsicht werklos sein.5

Für eine solche Gemeinschaft lassen sich zwei Merkmale grundlegen:

„1) Die Gemeinschaft ist keine beschränkte Form der Gesellschaft, ebensowenig, wie sie nach der kommuniellen Verschmelzung strebt.

2) Im Unterschied zu einer sozialen Zelle untersagt sie sich, ein Werk zu schaffen, und sie hat keinerlei Produktionswert zum Ziel.

Wozu dient sie? Zu nichts, wenn nicht dazu, den Dienst am Anderen bis in den Tod hinein gegenwärtig zu halten, damit der Andere nicht einsam zugrunde geht, sondern sich dabei vertreten findet, wie er gleichzeitig einem Anderen diese Stellvertretung gewährt, die ihm zuteilgeworden ist. Die Stellvertretung im Sterben ist das, was die Kommunion ersetzt“.6

Versuchen wir einmal – Probe halber – die Kirche als werklose Gemeinschaft zu skizzieren:

Wenn die Kirche keine beschränkte Form der Gesellschaft ist, dann grenzt sie also niemanden aus. Ganz im Sinne der Stellvertretung im Sterben, die jeden Menschen angeht, müsste sie für alle Menschen offen sein. Kirche wäre dann Gemeinschaft, insofern sie gegenüber allen Menschen eine Solidarität im Sterben praktiziert. Ein derart dem Tod eines jeden Menschen gezollter Respekt zielt auf den Respekt vor seinem Leben, als reinigende Umkehrung derer gedacht, die keine Gemeinschaft haben. Kirche wäre als allgemeine, jedem Menschen in seinem Tode solidarische Gemeinschaft, geschenkte Gemeinschaft, umsonst.

Als eine derartige werklose Gemeinschaft würde sie permanent ihr traditionellen (Be-) Gründungsbegriffe samt den in ihnen eingeschlossene Erfahrungen und Vollzüge entwerken. Gemeinschaft wäre geschenkte Gemeinschaft der Liebe, im Sinne des reformatorischen sola gratia.

Wenn Gemeinschaft nicht nach kommunieller Verschmelzung strebt, dann müsste sie ein „Zusammen-Sein“, „Gemeinsam-Sein“ oder „Mit-Sein“, als singulär-plural-sein erfinden und gestalten:

„Fast ununterscheidbar vom ‚co‘ der communauté [Gemeinschaft], trägt es doch mit sich ein deutlicheres Indiz des Abstandes im Herzen der Nähe und der Intimität. Das ‚Mit‘ ist trocken und neutral: weder Kommunion noch Atomisierung, lediglich das Teilen eines Ortes, aller höchstens der Kontakt: ein Zusammen-Sein ohne Zusammenfügen“.7

Der Einzelne bliebe singulär, einzigartig. Jeder Impuls eine(n) Einzelne(n) als Teil einer Menge oder Masse wahrzunehmen, würde umgangen. Im Gedankenbild von Jean-Luc Nancy besteht die einzige Gemeinsamkeit im Bindestrich. Ontologisch gesprochen “ist” Gemeinschaft nicht anders als im Bindestrich oder in der Präposition “mit” bzw. “co”. Es bleibt immer die Spur eines Abstandes.

Es bleibt die Spur des Todes. Sie könnte theologisch direkt ins Herz dessen führen, was traditionell Taufe (Röm 6,3) und Abendmahl (1 Kor 5,7) genannt wird, nur eben entwerkt: ohne organisatorischen Eintritt, ohne familiale Verwechslung, ohne bürgerliche Sozialisation, bevormundende Heilsverfügung oder gefühlige Zusammengehörigkeit im Sinne von stärker/mehr/ größer – Sein – als. Also: "Über sich selbst heraus [ge]öffnet"8.

Wird die kommende Kirche eine werklose Gemeinschaft im Sinne einer neuen Schöpfung sein? Ihre Umrisse sind noch kaum zu erkennen.
 
 

 


1 I Unter Kaiser Konstantin hatte sich die Kirche von einer tolerierten zu einer privilegierten und schließlich zur herrschenden Institution entwickelt. Sie differenzierte sich im Laufe der Jahrhunderte in unterschiedliche administrative Regime. Mit der Teilung der Kirche in Ost- und Westkirche unterschieden sich von der Kirche imperialer Administration katholischer Prägung verschiedene Kirchen nationaler Administration orthodoxer Prägung. Mit der Reformation kamen Kirchen landesfürstlich-ministerialer Administration evangelischer Prägung dazu. Vereinsadministrative Formen sogenannter Freikirchen sind abhängig von diesen Figuren gebildet und entwickeln von einer bestimmten Größenordnung an kommerzadministrative Formen großsektenhafter Prägung. Als solche sind sie derivate Nebenformen konstantinischen Christentums. Bei ihnen werden lediglich die Mittel der Herrschaftsausübung vom Juristischen ins Kommerzielle verlegt. Derzeit sind diese Formen in ihrer direkten Nähe zu Herrschaft besonders klar in den USA, in Brasilien und in Nigeria zu beobachten. Zur Untersuchung ihrer rhetorischen und daraus folgenden ästhetischen Formen vgl. den Blog – Eintrag vom 25.11.2018.
2 I Jean-Luc Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, Zürich, Berlin 2007, S. 25. Vgl. Ders.: Demokratie und Gemeinschaft. Im Gespräch mit Peter Engelmann, Wien 2015, S. 47-63. Siehe auch ders.: Die verleugnete Gemeinschaft, Berlin 2017; dieser Band fasst die Überlegungen Nancys zum Thema Gemeinschaft zusammen.
3 I Siehe auch Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 69.
4 I Auf einen problematischen Aspekt des Begriffes Werklosigkeit/ désœuvrement verweist Georges Didi-Huberman im Zusammenhang von Kunst und Kunstwerk (Georges Didi-Huberman, Peuples exposés, peuples figurants, Paris 2012, S. 100-111, insbes. S. 103). Huberman entwickelt seine Untersuchungen zur Gemeinschaft am Begriff Volk/Völker anhand des künstlerischen Umgangs mit “Volk” unter dem Stichwort seiner Ausstellung bzw.  Darstellung durch Statisten. In unserem Zusammenhang lässt sich Didi-Hubermans Ansatz in Beziehung auf den Begriff des “Volkes Gottes” setzen und bietet somit die Möglichkeit einer weiteren begrifflichen Entwerkung.
5 I Ohne den Begriff der Werklosigkeit zu gebrauchen, beschreibt Peter Sloterdijk die Transformationen von Gemeinschaft vom Volk Israel am Sinai an bis zur heutigen Situation der Kirchen als “Metamorphosen der Mitgliedschaft” (Peter Sloterdijk, Im Schatten des Sinai, Frankfurt/M. 2013, S. 52ff). Diese Studie kann in unserem Zusammenhang gelesen werden als Beschreibung von Entwerkung im Sinne eines Erwachsenwerdens sowohl des Einzelnen als auch der Gemeinschaft selbst. Sloterdijk beleuchtet viele Aspekte der Werkhaftigkeit von Gemeinschaft und ihre Funktionsweisen im Laufe der Geschichte.
6 I Maurice Blanchot, Die uneingestehbare Gemeinschaft, Berlin 2007, S. 25.
7 I Jean-Luc Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, S. 31. Vgl. Ders., singulär plural sein, Zürich-Berlin, 2005, insbs. S. 57-62.
8 I Jean-Luc Nancy, Die verleugnete Gemeinschaft, a.a.O., S.23.