In Samartien ist Krieg! Wieder ist dieses von den alten Griechen und Römern so genannte Gebiet zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, östlich der Weichsel und westlich der Wolga heute ein Schlachtfeld Europas.

Einer, dem das „Land Samartien“ besonders am Herzen lag, war der Dichter Johannes Bobrowski. Er selbst kommt aus dieser Gegend und hatte dort die Verheerungen des 20. Jahrhunderts erlebt. Daher kommt das Thema seines Schreibens als „so etwas wie eine Kriegsverletzung“1. Der „erste Anlass, die Landschaft zu schildern, hat sich durch die Kriegs- und Nachkriegserlebnisse dahin erweitert, dass ich nun Landschaft und Menschen schildern wollte, um meinen deutschen Landsleuten etwas zu erzählen, was sie nicht wissen“, worin ich aber „sehr viele Erfahrungen habe“.2

Der Dokumentarfilmregisseur Volker Koepp hat das Thema Bobrowskis, „Neigung [zu] erwecken“3, als einen Auftrag angenommen und ist auf seinen Spuren gereist. In seinen Filmen, sehen wir Landschaft und Menschen, wir sehen sie nicht nur, wir begegnen ihnen.4  Das ist vor dem Hintergrund des heutigen Krieges besonders berührend und steigert die Dringlichkeit ins Allgemeine: die Menschen zu sehen.5

Was das mit Ostern zu tun hat, kann man in einem Gedicht von Johannes Bobrowski lesen:
 
Ostern
Dort noch Hügel,
die Finsternis, aber
die Steige sind recht, aus der Ferne
die Ebenen nahn, mit dem Wind
herüber ihr Schrei.
 
Über den Wald. Der Fluß
kommt, die Birkenschläge
gehen an die Mauer, Türme,
Gestirn um die Kuppeln, das goldne
Dach hebt an Ketten ein Kreuz.
 
Da
In die finstere Stille
Licht, Gesang, wie unter
der Erde erst, Glocken, Schläge,
der Stimmen Hähnegeschrei
und Umarmung der Lüfte,
schallender Lüfte, auf weißer
Mauer Türme, die hohen
Türme des Lichts, ich hab
deine Augen, ich hab deine Wange,
ich hab deinen Mund, es ist
erstanden der Herr, so ruft,
Augen, ruft, Wange, ruf, Mund,
ruf Hosianna.6
 
In der Komposition von „Landschaft und Liturgie, in der Opposition von finsterer Stille und Licht, Gesang, Osterumarmung, Ostergruß“7 realisiert sich Bobrowskis Lebensthema in diesem Gedicht. Und dazu lässt er seine Leserinnen und Leser eintreten in eine Landschaft.

„In den ersten beiden Strophen baut sich eine Landschaft auf, bezogen auf einen wandernden Blickpunkt. Es wird nicht gesagt, dass hier jemand in einer winddurchwehten Nacht, zunehmend Weitblick ins Land gewinnend, zu einer Kirche hinaufsteigt, deren Mauern, Türme, deren goldene Kuppel, vom Kreuz überragt, er nacheinander zu Gesicht bekommt. Erst ein solcher Blickpunkt aber erlaubt es dem Leser, den sukzessiven Aufbau der Landschaft (noch Hügel / die Steige / aus der Ferne die Ebenen nahn / über den Wald / der Fluß kommt / die Mauer / Türme / Kuppeln / das Dach hebt an Ketten ein Kreuz) zu realisieren. Die subjektive Seh- und Hörerfahrung erscheint als archaische Selbstbewegung und Selbstartikulation der Dinge, der Natur und der Architektur. Die Position des sehenden Subjektes ist ausgespart: sie ist dem Leser des Gedichtes angeboten. Wenn er sie übernimmt, rücken in der Imagination die zitierten Landschaftsfragmente auf ein Bild hin zusammen.“8

Auf die gleiche Weise lässt die Komposition des Gedichtes seine Leserinnen und Leser in die Liturgie eintreten und damit in wesentliche Erfahrungen der Feier einer Osternacht.

„Das zeilenfüllend die dritte Strophe intonierende ‚Da‘ verweist – wie das biblische ‚und siehe!‘  – auf ein Ereignis, die Durchbrechung der ‚finstere[n] Stille‘ durch ‚Licht, Gesang‘.
Gesang: leise und dumpf anhebend (‘wie unter der Erde erst, Glocken, Schläge‘), heller lauter werdend (‚der Stimmen Hähnegeschrei‘), im Echo wiederhallend (‚und Umarmung der Lüfte, schallender Lüfte‘ in Opposition zum einsamen Windschrei der Ebenen in der 1. Strophe). 
Licht: die im Finstern der ersten Strophe bereits gesichteten Mauern und Türme werden ‚weiß‘ und ‚Türme des Lichts‘. Es ist das Licht der Morgenfrühe (‚Hähnegeschrei‘ konnotiert über den metaphorischen Bezug zu ‚Stimmen‘ hinaus auch den Tagesanbruch; schon nach sehr alten liturgischen Texten findet die Osternachtfeier ihren Höhepunkt und ihr Ende ad gallicantum), vielleicht auch (die enge Koppelung mit ‚Gesang‘) das liturgische Licht der Kerzen.
Von den ‚Türme[n] des Lichts springt der Vers (Verszäsur) in die intime Nähe des ‚ich hab / deine Augen, ich hab deine Wange, / ich hab deinen Mund, es ist / erstanden der Herr, so ruft / Augen, ruft, Wange, ruf, Mund‘. Wie ostkirchliche Gläubige am Ende der Osterliturgie einander hin und her umarmen und den Ostergruß einander zurufen, wird in der Fügung der Worte und Rhythmisierung der Verse als Vorgang sinnlich wahrnehmbar, so wie im ersten Teil dieser Strophe schon die ansteigende Bewegung von Gesang und Licht nicht nur benannt, sondern im metrisch syntaktischen Aufbau selbst zur Darstellung gebracht wird.“9

Doch das Gedicht schließt überraschend, irritierend: Als Antwort auf den Ostergruß: Der Herr ist auferstanden! folgt nicht das übliche: Halleluja, sondern: Hosianna. Dieser Schluss hat manche literaturwissenschaftliche Interpretation dieses Gedichtes ratlos zurückgelassen.10  Nicht so Alex Stock, dessen Lektüre wir hier folgen. Den Schlüssel seiner Lektüre findet er in einem Verfahren, das bereits bei Klopstock und Hölderlin Anwendung fand und bei dem „die Stärke des Einzelwortes eben so viel gilt, wie der Zusammenhang des Satzes“11. Das Verfahren nennt sich „harte Fügung“12.

„In drei Strophen ist das Gedicht gegliedert, gruppiert in zwei gleich lange fünfzeilige und eine längere vierzehnzeilige. Die Verse sind von unterschiedlicher Länge, ohne Reim und ohne festes metrisches Schema in freien Rhythmen gebaut. Syntaktische Gliederung und Versgliederung überschneiden einander, Sätze gehen über das Versende hinaus (Enjambement), enden bzw. beginnen im Versinnern (Verszäsur). Die Konstruktion der Sätze folgt nicht der normalen Prosasatzfolge; reguläre Elemente, vor allem Satzprädikate, sind häufig ausgelassen (Inversion/-Ellipse). Ein Text mit solcherart metrisch-syntaktischen Eigenschaften, ein poetischer Text also, ‚in dem die Frequenz an Inversionen hoch ist, bei dem unregelmäßige Metren, d.h. kein alternierendes oder daktylisches Metrum vorherrscht und dessen Verslänge variiert‘, wird literaturwissenschaftlich als ‚Text harter Fügung‘ bezeichnet“. Eine solche „harte Fügung“ setzt „Worte und Wortgruppen“ nebeneinander und lässt die dabei entstehenden Fugen offen, so dass „sie unterschiedliche semantische Beziehungen aufnehmen können“. Auf diese Weise „ergibt sich ein mehrsinniger Text, mehrsinnig aber nicht im Sinne vager Vieldeutigkeit, sondern polyphoner Spannung“.13

Derart polyphon gelesen lassen sich die Schlussworte der Schlusszeilen der drei Strophen – die Worte „Schrei“, „Kreuz“ und „Hosianna“ –  als „Elemente aus dem sprachlichen Feld der biblischen Passionsgeschichte“ erkennen. Seit seiner Kindheit war Johannes Bobrowski mit der „Sprache der Bibel, im Sprachgestus der Übersetzung Luthers“14, vertraut. Hört man nun das Gedicht mit dem biblischen Text der Matthäuspassion zusammen, ergeben sie eine Reihe weiterer Anklänge.15

Neben ihrem Sinn im Gedicht eröffnen diese Worte über Assonanzen „kaum hörbare Anspielungen auf die Hauptszenen der Passionsgeschichte“. Die Reihenfolge der anklingenden Zitate „folgt dem Gang der biblischen Geschichte vom Einzug in Jerusalem bis zum Tod am Kreuz“, allerdings „in Form einer Umkehrung, so dass das ‚Hosianna‘ mit dem die biblische Karwoche beginnt, am Schluss des Gedichtes erscheint“.16

„Nach der Art einer Kontrapunkttechnik wird in diesem Gedicht gegen die Hauptstimme, deren Thema ‚russische Ostern‘ ist, die leise Unterstimme der Passionsgeschichte geführt, wobei es durch die gegenüber der biblischen Abfolge durchgeführte Motivumkehrung nicht nur im Ganzen, sondern auch im Einzelnen zu unerwarteten semantischen Dissonanzen kommt: Ostergesang und Verleugnung, Osterumarmung und Verräterkuss. An seinem originären biblischen Ort ist ‚Hosianna‘ der Jubelruf zur Begrüßung des Messiaskönigs in seiner Stadt Jerusalem, aber es ist zugleich der höchst zweideutige Auftakt der Passionsgeschichte.“17

Szenisch gesehen geht der aktuelle politische Brennpunkt dieser kontrapunktisch harten Fügung von „Ostern“ jedoch noch einen Schritt weiter: „Es ist erstanden der Herr“ kann nur ausrufen, wer mit dem Auferstandenen dem König auf einem Esel zuruft und keinem anderen!