Das Gedenken und Jubilieren der 500 Jahre Reformation wird unterwandert von der Jahreszahl 1917. Wobei ‚Luther 1917‘ im Rausch des Ersten Weltkrieges davon nichts mit bekam. Die vergessene Vorgeschichte der eigentlichen Unterwanderung von 1917 findet sich in einem Tagebucheintrag des Dadaisten, Reformations- (und Erste-Weltkriegs-) Kritikers und Homiletikers2 Hugo Ball. Er notierte am 7. Juli 1917 im Schweizerischen Mogadino:

„Seltsame Begegnisse: Während wir in Zürich, Spiegelgasse 1 das Kabarett hatten, wohnte uns gegenüber in derselben Spiegelgasse, Nr. 6, wenn ich nicht irre, Herr Uljanov-Lenin. Er musste jeden Abend unsere Musiken und Tiraden hören, ich weiß nicht, ob mit Lust und Gewinn. Und während wir in der Bahnhofstraße die Galerie eröffneten, reisten die Russen nach Petersburg, um die Revolution auf die Beine zu stellen. Ist der Dadaismus wohl als Zeichen und Geste das Gegenspiel zum Bolschewismus? Stellt er der Destruktion und der vollendeten Berechnung die völlig donquichottische, zweckwidrige und unfassbare Seite der Welt gegenüber? Es wird interessant sein zu beobachten, was dort und was hier geschieht.“ 3

In unmittelbarer jahreszeitlicher Nähe der Reformationsbegängnisse im damaligen Kriegsdeutschland fand im damaligen Russland die Große Sozialistische Oktoberrevolution statt.  Eine spätere Praxis dieser Revolution – die Sowjetunion hatte nach dem Zweiten Weltkrieg an der Evangelischen Kirche des damaligen Deutschland eine Zwangsprovinzialisierung exekutiert – führte 1969 zur Gründung des Bundes der Evangelischen Kirche in der DDR. Im Ringen um die Existenzweisen einer „Kirche im Sozialismus“ machten die ostdeutschen Christinnen und Christen in ihren Kirchen Erfahrungen zwischen rüder Repression und friedlicher Revolution.

Diesen im Detail sehr unterschiedlichen persönlichen und institutionellen Erfahrungen eignet ein zukunftsweisendes, ins „Donquichottische“ reichendes Potential.  Das lässt sich jedoch nur aktualisieren, wenn man von dem Gebaren der Rechthaberei und der Besserwisserei absieht. Das entscheidende Codewort für eine solche Aktualisierung heißt: „minderheitlich werden“.

Dabei gilt es „das Minderheitliche als potentielles und schöpferisches Werden“ vom „Mehrheitliche[n] als homogenes und konstantes System“ zu unterscheiden. Minderheitlich bedeutet, ein schöpferisches „Werden zu ermöglichen“, über das sich nicht „wie über ein Eigentum verfügen“ lässt, das vielmehr von seinen Möglichkeiten her zu denken ist. Es geht darum, ein Werden zu aktivieren, in das man selbst eintreten muss, ein Werden, „das den ganzen Menschen affiziert“.4

„Minderheit und Mehrheit sind nicht nur quantitativ einander entgegengesetzt. Mehrheit impliziert eine ideale Konstante, ein Standardmaß, an dem sie sich misst und bewertet.“ Die Mehrheit setzt ein „Rechts- und Herrschaftsverhältnis voraus“. Sie spricht im Namen „eines Wesens des Menschen, einer reinen Vernunft, eines universellen Subjektes“, einer Doktrin oder eines Systems.5 Ein Minderheitlich-Werden hingegen beginnt immer dort, wo jemand ein klein wenig abweicht vom Modell der Mehrheit, wo eine Lücke entsteht, eine Irritation, ein Widerspruch, ein Moment der Unordnung, lío.

Es liegt auf der Hand, dass sich die Erfahrungen der Christinnen und Christen und ihrer Kirche im totalitären System der DDR als Erfahrungen eines Minderheitlich-Werdens sinnvoll und wertschätzend deuten und zur Sprache bringen lassen.

Was darüber hinaus ein Minderheitlich-Werden für die heutige gesamtdeutsche Kirche, die in ihren maßgeblichen Teilen von einem mehrheitlichen Gestus geprägt ist, bedeuten könnte, wird klarer, wenn das Wort „minderheitlich“ französisch gelesen wird: mineur. Noch deutlicher tritt der theologisch-spirituelle Zusammenhang hervor, wenn man es italienisch-lateinisch hört: minor. Die Franziskaner nannten und nennen sich bis heute Minoriten: die Minderen.

Es ist übrigens der über jeglichen religiösen Verdacht erhabene Gilles Deleuze, der im Austausch mit einem italienischen Theaterregisseur auf diese theologische Spur des Minoritären führt: „Die Theologen sind groß (majeur, mehrheitlich), aber gewisse italienische Heilige sind klein (mineur, minderheitlich), Heilige durch Gnade: der heilige Joseph von Copertino, die Irren, die heiligen Idioten, der heilige Franz von Assisi, der vor dem Papst tanzt […] Das ist das Werk der Gnade…“6

Die Entdeckung der Begriffe Minderheitlich/Minderheitlich-Werden beginnt bei der Sprache und hat damit einen direkten homiletischen Bezug. Bei einer Untersuchung der literarischen Sprache Kafkas entdeckt Gilles Deleuze den Begriff der kleinen Literatur (littérature mineure) und in ihrer Folge die kleine Sprache (langue mineure).7

Versucht man, das Verhältnis einer minderheitlichen Sprache zur mehrheitlichen Sprache zu bestimmen, wird erkennbar, wie eine Praxis des Minderheitlich-Werdens funktioniert. Es geht dabei um ständige Grenzverletzungen der Standards einer Sprache, um eine ständige Unterwanderung ihrer Machtverhältnisse, um eine ständige Variation ihrer Doktrin. Es geht um ein Stottern am Rande des Unsagbaren und um die Erfindung einer neuen Sprache – einer minderheitlichen Sprache – in der Mehrheitssprache. So wie Kafka als Prager Jude deutsch schreibt, oder Beckett als Ire französisch oder wie in den Schwarzen Vierteln Amerikas eine neue Sprache (black English) entsteht: Immer im Werden, variierend, spielend, subversiv, erfinderisch. Es geht also um den „unterschiedlichen Gebrauch derselben Sprache“8. Ein „minoritäre[r] Gebrauch“9 der Sprache besteht darin, alles Mehrheitliche, Macht –  bzw. Marktkonforme, Repräsentative und Eigentumshafte zu unterwandern, zu durchkreuzen und zu variieren.

Eine Hellhörigkeit für das Minderheitliche, Minoritäre, Minoritische zu entwickeln und diese im Denken und der Sprache, in der kirchlichen Theorie und Praxis, zum Zuge kommen zu lassen, darin besteht die Aufgabe der Jahreszahl  1917 im Reformationsjubiläumsjahr 2017 und ihre ökumenische Chance.  Zugleich besteht in dieser Aufgabe die Lektion von 1989, jenem in der 17er Jubiläumsreihe stotternden Jahr. Eine Ironie der Geschichte.