Lange bevor Patti Smith bekannt und mit dem popkulturellen Prophetinnen-Titel Godmother of punk1 geehrt wurde, begann sie als Dichterin auf den Spuren des von ihr bis heute verehrten Arthur Rimbaud. Das Singen war für sie zunächst vor allem eine Möglichkeit, ihre Gedichte vorzutragen.

1970 schrieb Patty Smith ein Gedicht mit dem Titel Oath und las es bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt im Februar 1971 in der St. Marks Church in New York City. Dort fand das renommierte Poetry Project statt. Im Publikum saßen Andy Warhol, Allen Ginsberg, Jim Carroll, Sam Shepard und andere Dichter der New Yorker Downtown Szene.

Vor allem der Beginn von Oath sollte berühmt werden:
Christ died for someone’s sin, but not mine

Patty Smith rechnete in diesem Gedicht mit ihrer rigoristischen religiösen Erziehung ab. Sie lässt Sätze folgen wie:
Christ, I’m giving you the goodbye,
firing you tonight
oder:
Adam placed no hex on me.

Diese Zeilen schockierten. Doch immer wieder trug Smith ihr Gedicht vor, allein, wie beim ersten Mal, später in musikalischer Begleitung (Gitarrenrückkoppelungen u.ä.). Doch sie schien gefühlt zu haben, dass dieses Gedicht noch etwas vor sich hatte. Sie nahm es weder in ihren ersten noch in ihren zweiten Gedichtband auf.

In einem spontanen Moment während eines Konzertes in einem kleinen Club in Kansas City – Patty Smith hatte bereits zwei Musiker um sich geschart. Sie praktizierten, was sie fieldwork nannten, d.h. sie „spielten sehr einfache Songs“, die „im Prinzip auf drei Akkorden [basierten], so dass ich darüber improvisieren konnte“ – tauchte auf einmal ein einfacher Song von Van Morrison auf, fast wie ein Kinderlied: Gloria. Sie spielten es immer wieder.

Etwas später, als sie nach einem zweiten Gitarristen suchten, dehnten sie Gloria beim Probespiel auf 40 Minuten und mehr aus, um zu sehen, wer als erster aussteigen würde… Als dann eine Bassgitarre gekauft wurde, Patti Smith sie in einem Proberaum spielen wollte und die tiefe E-Saite zupfte, begann sie dazu nach einer Weile spontan zu rezitieren:

Jesus died for sombody’s sins
But not mine
Melting in a pot of thieves
Wild card up my sleeve
Thick, heart of stone
My sins my own, they belong to me
Me
[…]

Ohne es im Voraus überlegt zu haben, mündete ihre Rezitation ins Gloria.

Ein Song war entstanden und er entwickelte sich weiter. Schließlich blieben nur sechs Zeilen des originalen Gedichtes Oath übrig. Ende 1974 wurde es ins Live-Programm aufgenommen. Für ein Radio Konzert kam ein Schlagzeuger zur Gruppe. Mit ihm war der Übergang von Dichterlesung zur Rock ’n‘ Roll Band vollzogen.

Im August 1975 ging Patti Smith mit ihrer Band ins Studio, um das erste Album aufzunehmen. Sie wollte dafür cover -Versionen von anderen Songs auf ein Minimum reduzieren: „Auf meiner Platte versuchte ich so viel von mir selbst zu offenbaren, wie ich konnte“. Trotzdem war allen klar, dass Gloria auf dem Album seinen Platz erhalten sollte.

Horses erschien am 13. Dezember 1975 mit Gloria (In Excelsis Deo) als erstem Titel. Einen Monat später kam er auf einer Single heraus. Beide wurde von der Presse gefeiert. Doch die Reaktionen auf Gloria waren differenziert und oft auf die erste Zeile bezogen: Jesus died for somebody’s sins, but not mine. War das ein atheistischer Aufruf? Eine Fortschreibung von Nietzsches Gott-ist-tot? Oder einfach eine punk Provokation?

Immer wieder wurde Patti Smith dazu befragt und sie antwortete immer wieder. Bereits in einem Interview von 1973 erzählte sie von ihrer Rebellion gegen ihre strenge Erziehung bei den Zeugen Jehovas: „Mein Vater lehrte uns, nicht einfach ein Bauer in Gottes Schachspiel zu sein. Er fluchte oft gegen Gott und schwang blasphemische Reden. Diese Seite habe ich von ihm. Der religiöse Teil kommt von meiner Mutter, vermute ich. Sie war eine religiöse Fanatikerin.“

In ihrem ersten Interview anlässlich einer Lesung des Gedichtes Oath waren aber auch andere Töne zu hören, humorvolle, ironisch, spielerische: „Wenn ich diese schlechten Dinge über Gott oder Christus sage, meine ich das nicht so. Ich weiß nicht, was ich meine. Es zeigt nur eine neue Sicht auf die Dinge, eine neue Art hinzuschauen. Ich liebe es, etwas von zehn oder fünfzehn unterschiedlichen Blickwinkeln her zu betrachten. So gibt es Leuten die Möglichkeit, blasphemisch zu sein durch mich.“

Ungefähr dreißig Jahre später resümierte Patti Smith die Tatsache, dass andauernd Leute zu ihr kamen und sagten: „Du bist eine Atheistin und glaubst nicht an Jesus!“. Sie antwortete, dass sie „sehr wohl an das Konzept Jesu“ glaube, aber Freiheit wolle: „Ich wollte frei von ihm sein, ich war 20 Jahre alt als ich das schrieb, es war eine Art jugendliches Manifest“. Mit anderen Worten: „Ich wollte nicht gut sein, aber ich wollte auch nicht, dass er sich um mich zu sorgen hatte. Ich wollte nicht, dass er Verantwortung für mein Falschtun oder meine jugendlichen Erkundungen übernimmt. Ich wollte frei sein. So ist dies wirklich ein Statement für Freiheit“.

Ein weiterer Diskussionspunkt, den Gloria auslöste, hatte eine Art gender twist. Die wiederholenden Sequenzen des gloria steigerten sich zu einer party-Ekstase, während der alles erlaubt ist. Das Ich der Sängerin verlässt gelangweilt eine location nachdem sie eine „süße junge Frau“ bei einem Blick durchs Fenster entdeckt, ihr folgt, „sie zu der ihren macht“, schließlich nach ihrem Namen fragt und zur Antwort einen Gloria Refrain als vervielfachten Namen erhält, der wie „Marie“ und „Ruth“ klingt und sich ins „Ding Dong“ des nahen Glockenturms mischt wie ein klangliches und zugleich sexuelles made her mine. Zum Ende singen die Glocken das Gloria und die Gedichtzeilen: Jesus died for somebody’s sins/ But not mine. Gloria (repeat to end).

Zu dieser „ungewöhnlichen gender Dynamik“ befragt, sagt Patti Smith im Jahre 2005, dass sie es immer geliebt habe, „transgender songs“ zu singen. Dies sei etwas, was sie von Joan Baez gelernt habe, nämlich Songs zu singen, die aus einer männlichen Perspektive geschrieben wurden. „Meine Arbeit reflektiert nicht meine eigenen sexuellen Vorlieben, sie reflektiert das Faktum, das ich mich als Künstlerin vollkommen frei fühle.“

Jahre lang beendete Patti Smith ihre Konzerte mit Gloria. Es wurde eine Hymne. Doch im Jahre 1977 sollte sich ihr Verhältnis zu diesem Song für immer ändern, ohne dass sie ihn gespielt hätte. Nach dem sechsten Lied ihres Konzertes in Tampa im Januar 1977 fiel Patti Smith 15 Fuß tief von der Bühne und brach sich mehrere Nackenwirbel. Nach diesem Ereignis, das ihren Tod hätte bedeuten können, dachte sie von Neuem über Gloria nach und beschuldigte sich, „das Göttliche beleidigt zu haben“. Sie habe „Gottes Finger gefühlt“. Sie fühlte, dass dieser Sturz und ihr Überleben Gottes Art gewesen sei zu sagen: „Du lässt nicht nach, an meine Tür zu klopfen. Ich werde die Tür öffnen und Du wirst hineinfallen“.

„Ich sagte: Jesus died for somebody’s sins but not mine, und ich glaube immer noch daran. […] Ich habe nicht gesagt, dass ich Christus nicht liebte oder nicht an ihn glaubte. Ich wollte lediglich die Verantwortung für die Dinge, die ich tue, selbst übernehmen. Ich bin ein one-to-one-girl und ich habe immer gedacht, mit Gott über mich selbst zu kommunizieren. Und ich fühlte, dass das einer der Gründe war, warum ich von der Bühne gefallen bin.“

Als Patti Smith auf die Bühne zurückkehrte, spielte sie den Song nicht mehr, bis sie am 10. September 1979 in Florenz ihr letztes Konzert vor einem 16-jähringen Rückzug von der Bühne spielte und sie dieses größte ihrer Konzerte mit dem einstigen Abschlusssong „Gloria“ eröffnete. Allerdings sang sie anstelle des gewohnten but not mine : Jesus died for somebody’s sins, why not mine.

Diese “kleine Veränderung bahnte sich über lange Zeit an“, sagte Patti Smith nach ihrer Rückkehr auf die Bühne im Jahre 1995. „Ich war sehr in das Christentum verstrickt seit meiner Jugend und bin skeptisch gegenüber dem kirchlichen Dogma groß geworden… Als ich älter wurde, habe ich das Neue Testament genauer studiert, besonders über Pasolini. Seine Worte, die Christus als einen Revolutionär porträtierten, erleuchteten mich. Ich verstand, dass Jesus Christus uns die einfachsten und größten Ideen gab: einander zu lieben, Gott zugänglich für alle Menschen zu machen und den Menschen einen Sinn von Gemeinschaft zu geben, damit sie niemals allein sein würden.“

Gloria in excelsis Deo.

Bei ihrem ersten Konzert nach 16 Jahren sang Smith Gloria nicht. Aber in den folgenden Jahren erschien der Song wieder auf der setlist – original line intact.2

Als Patti Smith 2014 im Vatikan auftrat, antwortete sie „auf die Frage, warum eine Sängerin, die ihre erste Platte mit Jesus died for someone’s sins, but not mine (Jesus ist nicht für meine Sünden gestorben) beginnen ließ, vor dem Papst singt: I had a strong religious upbringing, and the first word on my first LP is Jesus. I did a lot of thinking. I’m not against Jesus, but I was 20 and I wanted to make my own mistakes and I didn’t want anyone dying for me. I stand behind that 20-year-old girl, but I have evolved. I’ll sing to my enemy! I don’t like being pinned down and I’ll do what the fuck I want, especially at my age … oh, I hope there’s no small children here! 3 Ich bin nicht gegen Jesus, aber ich war 20 und wollte meine eigenen Fehler machen und nicht, dass irgendjemand für mich stirbt. Ich stehe hinter diesem 20-jährigen Mädchen, aber ich habe mich weiterentwickelt […].“5

In seiner Zuspitzung und dichterischen Hellsichtigkeit lässt sich der Song Gloria als das Gegenstück von Augustins Konstruktion der Erbsünde und ihre Folgen6 lesen.

Augustin hat seine Lebenserfahrungen in ihrem Verhältnis zur Sünde in seinen Confessiones beschrieben.7 Auch er geht besonders auf die Erfahrungen seiner Jugend ein, die youthful explorations, wie Patti Smith sie nennt. Bei beiden spielt sexuelle Praxis eine zentrale Rolle und beide stellen einen Bezug zu Jesus als Sündenerlöser und zu Adams Fall her.

Die Reflexion und Bewertung ihrer Erfahrungen verläuft jedoch in entgegengesetzten Richtungen: Augustin schließt seine in den Confessiones geschilderten Erfahrungen theologisch immer mehr ab, verfolgt schließlich eine kirchliche Machtstrategie und erhebt einen objektiven Anspruch auf die persönliche Wahrheit seiner Erfahrung.

Patti Smith hingegen schließt immer weiter auf, stellt sich ständiger Nachfrage und neuer Erfahrung. Ihre Wahrheit bewegt sich zwischen but not mine und why not mine dynamisch hin und her. So kann sie sich bis hin zum Gegenteil ihrer ersten Zuspitzung öffnen.

Der Prozess des Denkens und der Erkenntnis von der eigenen Erfahrung aus ist bei Augustin eingebettet in eine spirituelle Praxis. Seine Confessiones lassen sich als Gebet lesen. Bei Patti Smith ist dieser Prozess die künstlerische Praxis eines ekstatisch wilden, rebellischen Lobgesangs: Gloria in excelsis Deo. Ihr Gloria lässt sich als eine garage-rock liturgische Praxis hören, denen gegenüber die popularmusikalischen Versuche kirchlicher Art wie Kaufhauspop klingen.

Patti Smith‘s harte Attacke auf die Sünde und ihr Plädoyer für eine Praxis der eigenen Verantwortung schlägt eine Lichtspur in Augustins Schatten. Es gibt weitere zu entdecken:

In seinem 1968 erschienenen Buch „Die Gewalt der Friedfertigen. Auf der Suche nach einem dritten Weg“, verbindet Frère Roger erstmals Tagebuchaufzeichnungen und Reflexionen. Gerahmt von zwei Tagebuchnotizen, in denen er von seinen eigenen Kämpfen spricht, findet sich folgender Gedankengang:

„Was man früher als geistliche Führung bezeichnete, setzt ebenfalls ein vollkommenes Sich-Aufschließen voraus, aber in Anwesenheit eines Menschen.
Wer könnte von sich selber sagen: In mir ist nicht, was nicht ausgesprochen wäre, sei es in der Beichte, sei es einem zuverlässigen Menschen gegenüber? Wer kann sagen, alles ist aufgedeckt; mir ist diese Eigenschaft der Transparenz bekannt? Nur sehr wenige. Hier kommt es darauf an, dass man in die Schule Christi geht, und lange Jahre sind notwendig, um zu dieser Klarheit zu kommen. Wenn das Auge licht ist, ist es der ganze Leib auch.
Die Helligkeit unseres Blickes, die Durchsichtigkeit unseres inneren Lebens werden zum beherrschenden Prinzip unseres ganzen Wesens, ja selbst des Leibes. Dieser Leib, mit dem wir sehr wohl jeden Tag rechnen müssen, dieser Leib, den man bisweilen mitschleppen muss, ist der Träger unseres inneren Lebens. Er ist der Träger Christi. Das Licht Christi dringt ein, wenn wir ehrlich und aufrichtig sind, entschlossen, uns beharrlich geöffnet zu halten.
Für den, der Tag um Tag diese Transparenz in sich erneuert, kommen Stunden des Friedens und mit ihnen eine Freude.
Diese Existenzscham (honte d’exister) vergeht, wenn sie auch trotz allem sehr hartnäckig ist. Sie zeigt, je nach dem konkreten Augenblick, sehr wandelbare Aspekte. Sie hemmt die gesamte Kommunikationsfähigkeit und zerstört lebendige Kräfte. Sie ist ein Leiden ohne Nutzen. Im christlichen Raum erhält sie bisweilen Nahrung durch den Widerspruch der dort gefällten Urteile. Mehr denn jeder andere neigt dieser Raum recht oft dazu, alles unter dem Aspekt der Schuld zu sehen.
Auf dem Weg über die Transparenz gewinnen Misserfolge, Hemmungen und Unfähigkeiten eine andere Klärung.
Selbst die Angst, die eine Quelle heftigster Impulse ist, wird aufgehoben. Oft entspringen aus ihr Zorn oder Liebe, Härte oder Weichheit. Mit der Angst ist es wie mit einem Nebelvorhang, durch den man hindurch muss: Sie verlangt, dass man sie entschlossen durchsteht und ihr nicht ausweicht. Sie trägt ihre Lösung in sich selbst. Und je mehr diese Transparenz in uns wohnt, desto mehr breitet sich in unserer Umgebung Friede und Besänftigung aus.“8

Mit Existenzscham, la honte d’exister, nimmt Frère Roger einen Begriff auf, der durch eine ähnliche Formulierung von Primo Levi historisch-politisch konkretisiert werden und damit seine psychologische und mögliche theologische Verkettung9 aufschließen kann: die Scham, ein Mensch zu sein, la honte d’être un homme.

In seinem Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“10 beschreibt Primo Levi mit der Scham, ein Mensch zu sein das „gemischte Gefühl“, was nach der Erfahrung der Vernichtungslager der Nazis bleibt, ohne dabei die Opfer für die Henker zu halten: „Scham, dass Menschen derartiges tun konnten, Scham, dass wir es nicht haben verhindern können, Scham, dies überlebt zu haben, Scham, erniedrigt oder herabgewürdigt worden zu sein.“11

Der französische Philosoph Gilles Deleuze kommt darauf in seinem Buch „Was ist Philosophie?“ zurück: „Und die Scham, ein Mensch zu sein überkommt uns nicht nur in den von Primo Levi geschilderten Extremsituationen, sondern auch unter minder bedeutsamen Umständen, angesichts der Niedertracht und Vulgarität der Existenz, die die Demokratien heimsucht, angesichts dieser Existenzweisen und dieses marktgerechten Denkens, angesichts der Werte, Ideale und Ansichten unserer Epoche. Die Schmach der uns gebotenen Lebensmöglichkeiten kommt von innen zum Vorschein. Wir fühlen uns nicht außerhalb unserer Epoche, im Gegenteil: wir schließen unaufhörlich schändliche Kompromisse mit ihr. Dieses Schamgefühl ist eines der mächtigsten Motive der Philosophie. Wir sind nicht für die Opfer verantwortlich, vielmehr vor den Opfern.“12

In diesem Sinne ist Philosophie „Widerstand gegenüber der Gegenwart“. Die Schöpfung von Begriffen – Deleuze’s Definition von Philosophie – unterwandert nicht nur die Dummheit13, sie „verweist in sich selbst auf eine zukünftige Form, sie verweist auf eine neue Erde und auf ein Volk, das es noch nicht gibt.“14

Jesus died for sombody’s sins, but…