(F1) – Homiletischer Imperativ
I
Als der junge Helmuth James von Moltke im Jahre 1927 die Lebensbedingungen im nur dreißig Kilometer von Kreisau entfernten niederschlesischen Bergbaugebiet zahlenmäßig zu untersuchen half – zu der Zeit lebten in dieser Gegend doppelt so viele Menschen pro Quadratkilometer wie im Ruhrgebiet „auf einem vom Bergbau unterhöhlten, absackenden, nassen Grund, so dass viele Familien buchstäblich in Löchern hausten“1 – , wurde er schnell zum aktiven Teil einer schlesischen Bürgerinitiative.

Er besuchte die Menschen in ihren Elendsquartieren, sprach auch die verantwortlichen Politiker, Unternehmer und Organisationen und plante konkrete Vorhaben zur Verbesserung der Lebensumstände. Eine konkrete Aktion war für die Sommerferien geplant, aber auf einer Mitgliederversammlung der Initiative im Juni 1927 sagte Moltke schließlich: „Aber ‚ich‘, sagte er, ‚ich habe die Aktion verschoben‘, statt den Plural ‚wir‘ zu verwenden, wie es doch an dieser Stelle angemessen wäre. Das rutschte ihm so raus. Das kam ihm aus der Seele – würde der Breslauer Professor Eugen Rosenstock-Huessy, ein anderes Mitglied der schlesischen Bürgerinitiative, gesagt haben.“2

Der eigenwillige Sprachphilosoph Eugen Rosenstock-Huessy3 hatte 1924 seine „Angewandte Seelenkunde“ veröffentlicht und hielt es für platte Konvention, die Sprache lediglich als „Verständigungsmittel“ zu betrachten. „In der Wirklichkeit des Sprechens leiste die Sprache wesentlich mehr. Sie diene nur in den wenigen Angelegenheiten des bereits Vollbrachten, also des realen Perfekts, der Verständigung, ihre Hauptleistung vollbringt sie als Medium der Seele  und gehorche den ‚Gesetzen einer elementaren seelischen Grammatik‘.

Denn bevor wir an irgendein ‚Perfekt‘ denken können, sprechen wir in seelischer Erschütterung das neue plötzliche, unausdenkbare, im Gefühlssturm hereinbrechende Erlebnis aus: Die Sprache macht das Unsagbare sagbar, dazu ist sie da! Und dann anverwandle sich die Seele in ihren verschiedenen, gleichsam grammtischen ‚Aggregatzuständen‘ die Erschütterung, und ‚konjugiere‘ sie ‚durch‘; sie konjugiert, sagt Rosenstock, den Menschen durch.4

Und der Clou seiner Entdeckung ist, dass sich dieses Durchkonjugieren nicht nur am sprechenden Individuum und in Wörtern und Sätzen äußert, sondern dass es auch eine Wirkung hat. Tiefe Erschütterungen – aber Vorsicht, sagt Rosenstock, ‚auf jedes echte Erlebnis kommen tausend Nieten!‘5– treten in ihren Nachbeben in die Menschheitsgeschichte ein. Das Unsagbare, vom ersten Seelenmodus sprachlich verwandelt und durchkonjugiert bis ins reale Perfekt, wo es objektiv erzählbar wird, ist nach Rosenstock also ein eigentlich faktenproduzierendes Phänomen.“6

Von hier aus ist das ‚Ich‘ des jungen Moltke zu verstehen: „Wenn dich ein Erlebnis erschüttert, fühlst du dich angerufen. Das Vermittlungsorgan ist der Vokativ deiner Seele. Jetzt erst bist du wer, sagt Rosenstock, jetzt hast du einen Namen, und kaum hast du diesen Namen, entnimmst du ihm, wie einen Ruf, einen an dich persönlich gerichteten An- oder Aufruf, das heißt, in diesem Augenblick, ist deine Seele dabei, das reale Präsenz zu realisieren, das es nur in diesem Nu zwischen der Vergangenheit und Zukunft geben kann, einen winzigen Augenblick, der in der Rosenstockschen Seelengrammatik die Bezeichnung ‚Imperativ‘ trägt.

Alles Weitere ist kinderleicht zu verstehen. Kaum vernommen, ‚zwingt dich der Druck des Auftrages, von dir als ‚ich‘ zu reden‘7 ,Helmuth James‘ ‚ich‘ zeigt weder einen grammatischen Fehler noch eine gräfliche Fehlleistung an, sondern ein Subjekt unter Druck.“Und zwar unter dem Zeitdruck, die momentan erfüllte Gegenwart sprechend zu realisieren.

Es ist nur ein winziger Schritt, von Rosenstocks Imperativ hin zu einem homiletischen Imperativ.Seine Zeit ist das „Heute Gottes“. Ohne das Erlebnis bzw. die Erfahrung eines homiletischen Imperatives zu predigen, heißt Sprache zum bloßen Verständigungsmittel herab zu setzen.

Die reale, faktenschaffende Kraft, die Rosenstocks Imperative auszulösen im Stande sind, lässt sich am späteren Leben Helmuth James von Moltkes maßgeblich erkennen. Ihre homiletischen Bezüge sind so gut wie unerforscht. Als einzigartige Dokumente finden sie sich in den Abschiedsbriefen von Helmuth James und Freya von Moltke10.

II
Gilt die Rosenstock‘sche Erlebnis-Trefferquote von eins zu tausend für‘s Homiletische, so sind die möglichen Konsequenzen folgende: den zu predigenden Texten ein hohes Erlebnispotenzial zu unterstellen, den konkreten eigenen Erlebnissen mit ihnen etwas zu zutrauen (und sie nicht durch irgendwelches Gewohnheitsdenken auszusortieren), insgesamt weniger zu predigen und in jedem Falle deutlich kürzer.

Sich kurz bei der Einschätzung eines Erlebnisses zu irren, kann vorkommen. Sich lang zu irren, deutet untrüglich auf Selbstbezug. Dieser ist ein Automat des Geredes und verdunkelt die legitime homiletische Möglichkeit des Scheiterns.

Außerdem befreit die Unterscheidung der verschiedenen Sprechakte im Gottesdienst diese wechselseitig aus den Klauen des Geredes. Wenn nicht alles Gesprochene im Gottesdienst Predigt ist, schaffen klare Unterscheidungen in Sprache und Sprechen Platz für die Predigt (und ihre Imperative). Sie befreien die anderen gesprochenen Teile zugleich von predigthaften Zerredungen.

Zum Beispiel ist eine Begrüßung keine Predigt, sondern ein Gruß, ein willkommen heißen, Zeichen von Gastgeberschaft.  Gebete sind keine Predigten, sie haben schlicht einen anderen Adressaten und brauchen nur wenige Worte. Etwaige Einführungen in die biblischen Lesungen sind keine Predigten, sie wecken Geschmack auf die zu lesenden Texte. Auch Fürbitten sind keine Predigten, sondern vertrauen ihrem Adressaten etwas an. Ebenso wenig sind Abkündigungen Predigten; wenngleich in ihnen Sprache als Verständigungsmittel, also als Information, am ehesten zum Zuge kommt.

Gerede hat in Gottesdiensten, zu denen auch Andachten zählen, nichts zu suchen! Sollte leeres Gerede dort Einzug halten, so hilft nur eines, sobald man es bemerkt: Schweigen, Singen oder Lesen. Schweigen, Singen und Lesen schaffen Platz für Erlebnis. Hierin besteht die größte Herausforderung für den „Wortkult“ des Christentums in Zeiten des Geredes: Wort wird nur Wort, wenn es gesungen werden kann; Wort wird nur Wort, wenn es geschwiegen werden kann.11

Lesen12, lautes Lesen, öffnet sich einem Erlebnis durch übende Praxis. Mit der Zeit finden die Worte ihre Verbindung zu Stimme und Körper der Lesenden und die Sprache öffnet sich für ihre Schichtungen oberhalb und unterhalb von Sinn. Dann kann ein Erlebnis hindurch. Aus dem Text heraus auf die Hörenden hin oder in den Text hinein von den Hörenden her.

(F 2) – Der Mensch ist ein liturgisches Tier
I
Mit der Machtergreifung Hitlers 1933 verließ Eugen Rosenstock-Huessy Deutschland und wanderte aus in die USA. Dort verfasste er Ende der 40er Jahre für die Zeitschrift einer Benediktiner-Abtei einen Beitrag zum Thema „Liturgisches Denken“. Rosenstock hatte seine angewandte Seelenkunde in der Liturgie wieder erkannt. Oder soll man sagen, er hatte ihren eigentlichen Ort in der Liturgie gefunden?

Im erschütternden Aufruf seines Imperativs hatte Rosenstock-Huessy das Erklingen eines Namens erkannt, der zu einem Auftrag wird. In seinem Aufsatz zum Liturgischen Denken knüpft er an die allgemeine Erfahrung des Namennennens an: „Wenn ein Kind seinen Namen vernimmt, wird es unwiderstehlich zur Bewegung gezwungen. Ich kann meinen Namen nicht hören, ohne irgendwie in Bewegung zu geraten. Jede mächtige Liebe gibt dem Geliebten einen neuen Namen, und kraft dieses Namens beginnt er sich zu bewegen.“13

Mit dieser Erfahrungen setzt die erste Figur liturgischen Denkens ein: „Die Seele muss ‚du‘ genannt werden, bevor sie jemals ‚ich‘ antworten kann, bevor sie je von ‚uns‘ reden kann und schließlich ‚es‘ analysiert! In diesen vier Figuren – du, ich, wir, es – geht das Wort durch uns. Das Wort muss zuerst unseren Namen rufen. ‚Dich meine ich‘, hören wir.“14Im Unterschied zu unserer alltäglichen grammatischen Praxis, hat das Du – liturgisch gedacht – Vorrang vor dem Ich, Wir und Es. Liturgie ist also vor allem auf Wechselseitigkeit und Antwort – Reziprozität und Responsivität – angelegt.

Die für liturgisches Denken entscheidende Umstellung des Denkens, Sprechens und Handelns von Ich auf Du ändert den Blick auf den Menschen und die Welt. Sie stellt ihn von Natur auf Kreatur um. Rosenstock erläutert diese Öffnung des Blicks anhand alter Segnungsgebete. Sie sprechen beispielsweise Salz und Wasser als Kreaturen an, entheben sie damit dem abstrakten Bereich der Natur – das heißt hier: der reinen Chemie,  der „Hölle des H2O“15– und stellen sie in den konkreten Bereich der Schöpfung, des Lebens. Noch deutlicher wird diese Umstellung, wenn Wein als „creatura potus“ als „Kreatur Getränk“ angesprochen wird.

„Es ging mir auf, dass mir nicht zwei austauschbare Worte, sondern zwei völlig verschiedene Sprachen vorlagen. ‚Die Naturen der Dinge‘ abstrahieren von der geschichtlichen Stunde des offenbaren Sprechens. ‚Creatura potus‘ erheischt einen ausgesprochenen Verzicht auf Abstraktionen. Weshalb? Dieses Getränk ist ja schon durch verschiedene Stufen gegangen; einige von ihnen weist die Vernunft der Natur zu, wie die Anpflanzung des Weines, das Schneiden und das Düngen, das Bespritzen mit dem Schwefel. Einige andere werden von der Vernunft der sozialen Tat zugeordnet, wie die Lese, das Füllen in die Fässer und Flaschen und manches andere mehr. Aber im Lichte der ‚creatura potus‘ fällt unser akademischer Unterschied zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen in sich zusammen. Im Angesichte Gottes führen wir, seine Gläubigen,  – wenn wir dem Wein Recht getan haben – diese Kreatur des Weins ebenso sehr zu seiner Bestimmung, wie es der Boden, der Regen, die Luft, die Sonne zu tun pflegen. Wir sind nicht Gott, sondern eine der Kreaturen auf der Wiese Gottes, auf der alle Kreaturen hier unten ihn loben, indem sie nicht ihren Angelegenheiten nachgehen können, ohne zugleich die Anliegen der anderen mit zu fördern.

Mit anderen Worten: wenn der sterbliche Mensch die anderen Kreaturen zu ihrer Bestimmung führt, hindern wir nicht, sondern vollenden wir eher ihr ‚Vor-gehen‘, zu jener Kreatur, die sich im Prozess befindet, geschaffen zu werden. Die Geschichte, die sozialen Vorgänge, die menschlichen Gebräuche des Winzers oder der Salzförderers, oder die Techniken des Erbauers einer Pumpe dürfen nicht als willkürliche Taten des Willens betrachtet werden. Sie können Stufen im Fortgang der Schöpfung selbst sein.“16

Von hier aus öffnet sich der Blick auf den Menschen. Er oder sie ist nicht auf sich zurück geworfen als Objekt der Zoologie, der Genetik oder der Psychologie. Liturgisch gedacht ist der Mensch „creatura hominis“. In dieser Genitiv-Konstruktion gewinnt der/die Mensch eine Orientierung: „Im Ausdruck creatura hominis bin ich als jener Teil von mir angeredet, der noch kommen wird.“17

Als creatura hominis angesprochen bist du nicht, „der du bist, sondern dir wird berichtet, wer du sein wirst. In diesem Moment ist der/die Angesprochene der/die Kommende, der/die noch zu erschaffen ist.  Liturgisch gedacht ist der Mensch „antwortende[s] Plasma in der Hand [s]eines Schöpfers“18.

Liturgie ist also Fortgang der Schöpfung als Prinzip, creatio continua als Vollzug, Neue Schöpfung als Erfahrung.

II
Die Basis des liturgischen Handelns ist die einfache Schönheit der Schöpfung: Gehen ist gehen und nicht Stolzieren; Grüßen ist grüßen und nicht gedanklich auf Linie Bringen; Blicken ist blicken und nicht Bedeuten; Singen ist singen und nicht Vorführen von Stimmausbildung; zu Essen Geben ist zu essen geben ebenso wie zu Trinken Geben zu trinken geben ist: in der festlichen Schlichtheit des Miteinanderteilens einer Mahlzeit. Jemanden berühren ist jemanden berühren in aller Vorsicht und Zartheit.

Worte, Gesten, Handlungen im Gottesdienst haben einfache Alltagsvollzüge als Grundierung: stehen, atmen, begrüßen, willkommen heißen, gehen, lesen, sprechen, ein Stück Brot teilen, über den Kopf streichen, die Stirn mit Wasser benetzen, sich die Hand reichen, einander ansehen, sich umarmen, sich küssen…

Ihr einfacher liturgischer Vollzug hat solche alltäglichen Vollzüge als gestisches Echo und macht sie daran anknüpfbar. Das Besondere von in der Liturgie verwendeten Worten, Gesten, Zeichen und Vollzügen gegenüber ihrer Alltäglichkeit entsteht in ihrer Pflege (cura), einer übenden, sich selbst unterwandernden Aufmerksamkeit.

Im Laufe der Zeit lernt der Körper Alltagsworte und Alltagsgesten im Gottesdienst zu sprechen und auszuführen, ohne dass sie Alltag sind. Im Laufe der Zeit lernt es der Körper Gottesdienstworte und Gottesdienstgesten im Gottesdienst zu sprechen und auszuführen, ohne dass sie Gottesdienst sind.  Worte und Gesten werden Geschenk, einfach, umsonst.

Wie immer formalisiert, ritualisiert, verdichtet liturgische Sprache und Handlung ist, ihr liegt doch ein einfacher alltäglicher Vollzug zu Grunde. Wenn eine liturgische Handlung diese gestische Verbindung zu ihrer Alltäglichkeit verliert, höhlt sie aus, sie verstockt.

Hält sie jedoch die Verbindung zur alltäglichen Praxis, können sich alltägliche und liturgische Handlung gegenseitig formen. Gelegentlich fallen sie als Intensitäten zusammen und man erkennt sie plötzlich als neue Schöpfung mitten im alltäglichen Leben.

Im Januar 1945 schreibt Helmuth an Freya von Moltke: „Du bist mein 13tes Kapitel des ersten Korintherbriefes. Ohne dies Kapitel ist kein Mensch ein Mensch. […] Ohne Dich hätte ich ‚der Liebe nicht‘. Ich sage gar nicht, dass ich Dich liebe; das ist gar nicht richtig. Du bist vielmehr jener Teil von mir, der mir alleine eben fehlen würde. Es ist gut, dass mir das fehlt; denn hätte ich das, so wie Du es hast, diese größte aller Gaben, mein liebes Herz, so hätte ich vieles nicht tun können, so wäre mir so manche Konsequenz unmöglich gewesen, so hätte ich dem Leiden, das ich ja sehen musste, nicht so zuschauen können und vieles andere. Nur wir zusammen sind ein Mensch. Wir sind, was ich vor einigen Tagen symbolisch schrieb, ein Schöpfungsgedanke. Das ist wahr, buchstäblich wahr. Darum, mein Herz, bin ich auch gewiss, dass Du mich auf dieser Erde nicht verlieren wirst, keinen Augenblick. Und diese Tatsache, die haben wir schließlich auch noch durch unser gemeinsames Abendmahl, das nun mein letztes war, symbolisieren dürfen.“19