Martin Luther war fast zwanzig Jahre seines Lebens Augustiner(-Eremit). Die prägende Kraft einer solchen Lebensform hat sich unter die Adiaphora des Gedenkens und Jubilierens der 500 Jahre Reformation verkrümelt. Dabei könnte sie als Schlüssel zu Luthers Glauben, Denken und Reformieren gelesen werden. Auf den Namenspatron dieses Ordens bezogen kommt man an einer Schlüsselstellung kaum vorbei. In diesem Sinne blieb Martin Luther Zeit seines Lebens Augustiner. Oder sollte man sagen, er wurde Augustinist und die Lebensform schrumpfte zur Überzeugung?

Über Martin Luther und die Reformation ist Augustinus von Hippo oder Aurelius Augustinus oder Augustin – wie man will – bis heute auf eine ungeklärte Weise im christlichen und nachchristlichen Denken gegenwärtig. Ungeklärt ist die Gültigkeit Augustinischer Prägungen in der heutigen Theologie, unaufgeklärt sind ihre Wirksamkeiten im kirchlichen Leben, unklar sind ihre Auswirkungen in der säkularen Welt.

Der Philosoph Peter Sloterdijk schlägt vor, Luther anlässlich seines Jubiläums zu befragen, ob „seine Theologie die Hauptaufgabe seiner Zeit, die Befreiung vom Augustinismus, bewältigt2“  habe. Bei der Fragestellung ist die Antwort von vornherein klar. Sie lautet: Nein.

Denn bis heute habe das Denken Augustins das Denken des christlichen Abendlandes nachhaltig ‚verdunkelt‘. Mit der Verknüpfung von Erbsünde und Sexualität verbreitet er eine beständige Verdächtigung des Körpers. Seine doppelte Prädestination malt eine seltsame Grundierung bis in das vorherrschende Wirtschaftssystem unserer Tage hinein.

Vor allem aber mit der Sicht des Menschen als ein ‚unheilbar korruptes‘3  Wesen hat Augustinus „eine Fundamentalinquisition gegen die menschliche Eigenliebe“4  zu einer der „Konstanten der abendländischen Mentalitätsgeschichte“5  gemacht. Die Reformatoren haben diese Konstante nicht nur aufgegriffen, sondern ins Zentrum gerückt.

Augustinus „wollte sich nicht damit zufriedengeben, den außerparadiesischen status quo der Menschen demütig zu Kenntnis zu nehmen. Er drängte darauf, den Fall tiefer zu motivieren, indem er ihn zu einem Entfremdungsdrama zwischen Mensch und Gott überhöhte.“  Er tat dies, indem er den Fall „aus seiner mythischen Vergangenheit“ herauslöste, „um ihn im Leben jedes einzelnen zu reaktivieren“6 . „Den Hebelpunkt für seine Lehre von der  anhaftenden Erblichkeit der Sünde findet Augustinus im Generationsprozess: Wie das zweigeschlechtliche Leben als solches ist die Sünde eine sexuell übertragbare Krankheit. Mehr noch: Der Modus der Übertragung, der Geschlechtsakt, beinhaltet die Wiederholung der ersten Sünde, weil er nicht ohne superbia, das heißt nicht ohne die überhebliche Selbstbevorzugung des Geschöpfes vor seinem Schöpfer, zustande kommt.“7  Und für Augustinus ist dieser „Hochmut der Übertretung schlimmer, als die Übertretung selbst“8.

Wo „die Gegenseitigkeit [der Gottesbeziehung] verloren und die Liebenswürdigkeit des Menschen sich in Nichts aufgelöst hat“, da sollte das Reich der Gnade beginnen. Doch „die Liebe Gottes hat jetzt nicht mehr den Charakter einer allgemein und bedingungslos teilhabegewährenden Zuneigung, sondern den einer stark selektiven, herablassenden Begnadigung“9.

Was war geschehen? Aus der philosophischen „Analyse des Wahrheitsanspruchs und der Bedingung von Werturteilen“ hatte Augustinus eine Gotteskonzeption entworfen, in die er „anthropomorphe Motive der biblischen Sprache“ eintrug und sie „mit seiner neuen Gnadenlehre“ zuspitzte. „Jetzt ist Gott souveräner Himmelskaiser. Als Herr der Welt kann er befehlen, was er will. Er hat sich nicht nach einsehbaren Grundsätzen zu richten. Als allmächtiger Kaiser gebraucht er Menschen und Verhältnisse als Instrumente. Nicht sie sind es, die handeln, sondern er handelt durch sie. Die Gnadenwirkung ist unfehlbar und unwiderstehlich.“10

Während die philosophischen Analysen „die freie Beurteilung der Welt ermöglichen sollten, hielt Augustin nun die Freiheit zwar noch verbal fest, zerstörte aber die Bedingungen ihrer Möglichkeit.“ Beide „Tendenzen konnte man getrennt weiter entwickeln, und man hat es getan. Deswegen wurde die Wirkungsgeschichte Augustins nicht die Geschichte eines ruhigen Ausbaus des Gewonnenen, sondern eine endlose Reihe von Konflikten: Der Mainzer Erzbischof Rhabanus Maurus ließ den Mönch Gottschalk öffentlich auspeitschen, weil er an Augustins Prädestinationslehre festhielt. Luther, Calvin und Jansenius beriefen sich auf Augustin mit mehr Recht, als ihre katholischen Gegner wahrhaben wollten.“11

Wie aktuell die Fragen sind, auf die Augustin damals zu antworteten suchte, wird deutlich, wenn man sich ihrer historischen Bedingungen erinnert. „Die Gnaden- und Erbsündenlehre Augustins ist ein sekundärer Mythos, der festhält, dass die von Augustin erfahrene Welt des untergehenden römischen Reiches ein Defizit an Rationalität aufwies. Schon immer wies die bislang erfahrbare Welt die verschiedensten Defizite an Rationalität auf. Was bei Augustin in eine halb mythische, halb rationale Sprache drängte, war das historische Defizit der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert. Es zeigte sich in folgender Form: Die Grenzbedrohung durch die Wanderstämme führte zur Aufblähung des militärischen Apparats. Bei steigendem Finanzbedarf des Staates sanken die Steuereinnahmen wegen des Produktionsrückgangs und des Währungsverfalls. Die Kriege und Requisitionen störten die Landwirtschaft, das Handwerk und den Handel. Um dennoch die Bedürfnisse der Armee und der großen Städte zu befriedigen, baute der spätantike Staat ein System von Dienstleistungen auf. Er nahm den Charakter eines Zwangsstaates an, indem er das Berufsleben quasi-militärisch organisierte. Es kam zu einer Verarmung des Bürger- und Bauerntums. Die Gesellschaft polarisierte sich zunehmend in die Ganz-Reichen und die Armen. Um die Zwangsregelungen zu überwachen, wurde ein riesiger Beamtenapparat notwendig, der wiederum die Staatsfinanzen belastete“12

Auf der Folie seiner eigenen Biographie hatte Augustinus das Christentum nach der konstantinischen Wende in einer durch eine globale Krise herausgeforderten Situation gedacht. Dabei hatte er sich von unterschiedlichen Denktraditionen anregen lassen und sich von anderen schonungslos abgegrenzt. Diese Mischung birgt bis heute Sprengstoff, wobei die Strategien von Christentum als Herrschaft eine Kontinuität darstellen.13

Die Fragen, auf die Augustin in seiner Zeit antwortete, stellen sich immer wieder neu. Wie lautet die Antwort derer, die heute das Erbe Martin Luthers für sich reklamieren, auf die Frage Peter Sloterdijks nach der Befreiung vom Augustinismus?

Einer, der das Erbe Augustins für sich beansprucht, stellte mit der Geste seines Rücktritts die Kombination von Christentum und Herrschaft in Frage. Ob er wollte oder nicht: er unterwanderte sich selbst.
Eine andere Praxis der Unterwanderung ist Lesen. Was Augustinus betrifft war Martin Luther uns Heutigen in dieser Hinsicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein ganzes Stück voraus. Ob er sich als Lesender selbst unterwanderte?