In seinem atemberaubenden Essay über den österreichischen Dichter Georg Trakl, „Vor Feuerschlünden“, hat der DDR-Schriftsteller Franz Fühmann seinen Leserinnen und Lesern „Erfahrungen mit Trakls Gedicht[en] mitzuteilen versucht“. Er hat dabei entdeckt: „dies Mitteilen war wiederum neue Erfahrung“ und zwar die eigene. Fühmann erkannte darin einen Widerspruch im Verstehen. Der besteht darin, dass „je mehr wir von einer Dichtung verstehen, um so strahlender, ein dunkles Feuer, […] ihr unerhellbares Geheimnis hervor[tritt]“.1

Die deutsche Sprache sei „so hellsichtig gewesen, dem Substantiv ‚Wort‘ zwei Plurale zukommen zu lassen: ‚Worte‘ und ‚Wörter‘“. Dieser Umstand lässt Fühmann allerdings nicht nur auf einen, sondern auf zwei Singulare schließen, nämlich auf den Fall „zweier verschiedener, wenn auch gleichlautender Singulare“. Folglich weist Fühmann „den Begriffsausdruck ‚Wort‘ als Einzahl zu der Mehrzahl ‚Worte‘ dem Bereich der Dichtung“ zu, „streng im Unterschied zu einem Singular ‚Wort‘ mit dem Plural ‚Wörter‘“, den er als „als Instrument des wissenschaftlichen Zugriffs“ versteht.

„Diese Konsequenz aber bedeutet nichts anderes, als zwei in den Grundelementen gleichlautende und dennoch wesensverschiedene Sprachen anzunehmen, eine Sprache der Wissenschaft und eine der Dichtung, zwei Sprachen, die in den identisch erscheinenden Bausteinen derart verschieden sind, dass etwa die Adjektive ‚rot‘ und ‚gelb‘ in der Wissenschaftssprache als eindeutige Wörter, nämlich als Namen für die Netzhauteindrücke bestimmter elektromagnetischer Welle, in der Sprache der Dichtung hingegen als ambivalente, trotz jeweils klarer Begriffsbestimmung nie ausschöpfbare Worte anzusehen sind: ‚rot‘ – das ist der Name für den Netzhauteindruck einer Frequenz von 4 mal 1014 Hertz; und ‚rot‘ sagt die Einheit von Leben und Tod.“3

Immer wieder kommt Fühmann bei Analysen von Gedichten Georg Trakls auf die Mehrdeutigkeit, ja Widersprüchlichkeit der Worte zurück und arbeitet sie als verschiedene nebeneinanderliegende Betrachtungsmöglichkeiten heraus. Sie können ineinander umschlagen und eine Bewegung erzeugen „die einen Kosmos in sich birgt“.

Was Trakl zuweilen als Schwäche ausgelegt wurde, als eine „Not des Sagens“, die sich vor allem in unterschiedlichen Fassungen seiner Gedichte wiederfindet, versteht Fühmann als „seine Stärke“: „der traumsichere Gebrauch des dichterischen Wortes als Elementarbaustein aller Gedichte, des Wortes im Sinnes des Plurals ‚Worte‘, dessen Wesen die widersprüchliche Einheit menschlicher Erfahrung ist. Daher ist jede Interpretation von Dichtung so lange auf einem rechten Weg, als sie mindestens eines der Elemente jener Widerspruchseinheit zu fassen vermag, was zugleich verlangt, sich des Anspruchs zu entheben, allein die richtige zu sein.“ Dichtung lässt sich eben nicht als „Transportmittel“ einer „in Wörtern ausdrückbaren Erkenntnis verstehen“.4

Denn das hieße „Poesie in Rationalität aufzulösen, das Vieldeutige eindeutig zu fassen, also ein Gebilde aus Worten in eines aus Wörtern zu überführen“. Ein Gedicht zu lesen, bedeutet für Fühmann aber „die Bilder, die seine Worte sagen, als leibhaftige Bilder zu sehen“, was so etwas ist, „wie ein Samenkorn eines Filmes“ zu sehen, „ein in sich geschlossen Vollendetes, und zugleich offen als Freibrief für einen Traum“.5

„Nun träumen wir aber nicht nur Bilder, wir träumen auch Gefühle und Körpersensationen, und wir träumen auch Begriffe, oder vielmehr das, was dem an ein Wort mit der Mehrzahl ‚Wörter‘ gebundenen Begriff ‚Begriff‘ beim Wort mit der Mehrzahl ‚Worte‘ entspräche, denn wir müssen gestehen, dies Äquivalent nicht zu haben. Wir könnten uns auf ‚Bedeutung‘, vielleicht auch auf ‚Sinn‘ einigen, wenn wir damit die konkrete Vieldeutigkeit, die Beladung eines Wortes mit aller Erfahrung zu verstehen gewillt sind und nicht nur auf eine Einzelbedeutung als einzig richtige Auslegung zielen. Aber eben: die konkrete Vieldeutigkeit, die trotz ihrer Fülle so unverwechselbar genau wie das Wort ist das ihre Fracht auf schmalstem Raum trägt und gefügt in die Ganzheit des Gedichtes zu dieser Gesamtheit beiträgt wie von ihr geprägt wird.“6

So liest Franz Fühmann übrigens auch die Bibel. Er beschreibt seine Lektüren in einem eindrücklichen Essay: „Meine Bibel; Erfahrungen“, der kurz nach dem Text über Trakl (1982) veröffentlicht wurde.7  Natürlich bleiben ihm auch die biblischen Spuren im Werk Trakls nicht verborgen. Im Gegenteil.

„Wir sollten uns daran erinnern, dass unsere Kultur im Christen- wie im Heidentum der Antike wurzelt und dass ein Wort mit der Mehrzahl ‚Worte‘ von beider Bedeutung beladen ist, wenngleich meist die historisch spätere vorherrscht: ‚Brot‘; ‚Wein‘; ‚Leib‘; ‚Seele‘; ‚Geist‘; ‚Himmel‘; ‚Hölle‘; ‚Erde‘; ‚Mann‘; ‚Weib‘; ‚Fleisch‘; ‚Engel‘; ‚Teufel‘; ‚Mensch‘; ‚Tier‘; ‚Gott‘.“

Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt,
Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen,
Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt,
Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen:
Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld.
Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl.
Es wohn in Brot und Wein ein sanftes Schweigen
Und jene sind versammelt zwölf an Zahl.
Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen;
Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal.

Und Fühmann liest:
„Jene zwölf sind die Jünger, wer wollte daran zweifeln, aber jene zwölf können auch wir sein, und auch Sankt Thomas ist unter uns.
Übrigens ist dieses Gedicht nicht, wie so oft geglaubt, im Krieg entstanden, es ist 1912 geschrieben, und weitaus ergiebiger als ein Streiten darüber, wie weit es Trakls christliches Bewusstsein belege, wäre eine Besinnung darauf, wie weit sein Gedicht mit der Schrift differiert, der zufolge das Prüfen der Wundmale nicht am Ölberg, in der Nacht der Gefangennahme Christi, sondern, wie Johannes berichtet, acht Tage nach der Auferstehung geschah; in einem Haus mit verschlossenen Türen, verschlossen aus Furcht vor Spähern und Häschern, und statt der Zwölf waren es ihrer elf; einer, Judas Ischarioth mit Namen, hatte sich erhängt, nach einem Lohn von dreißig Silberlingen für den Verrat an seinem Herrn. – Rotes Geld, auch unter den zwölf. – Die lyrische Gleichzeitigkeit dreier Passionsstationen sagt nicht nur die Gegenwart aller Geschichte zur Zeit des Lesers, sie schmilzt auch die beiden fünfzeiligen Hälften dieses zehnzeiligen Gedichts zu jener Einheit von Gegensätzen zusammen, die keine Montage schroff geschiedener Gegenüber, sondern die Einheit des Widerspruchs ist: ein Gedicht von der einen Menschheit, und ein jeder als ihr Teil sie ganz, wenn auch in verschiedenen Maßverhältnissen. – Der eine der zwölf verriet seinen Meister; der andere verleugnete ihn, ehe der Hahn dreimal krähte, und noch der treueste Jünger schlief.

Eine christliche Botschaft, gewiss, doch nur dies? – Wir halten es für müßig darüber zu rechten, denn diese Zuordnung erschöpfte den Vers nicht, erschlösse ihn nicht einmal: Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen – hat der Leser dieses ‚wohnt‘ gesehen? – der Zugang zu Trakls Gedicht erfolgt weit besser als durch eine Etikettierung, die nur Geläufiges registrierte und in Aha-Erlebnissen schwelgte, durch ein Schauen der Bilder: Hier wäre seine Botschaft des Schweigens, das wohnt. – Kann der Leser es sehen? – der deutsche Sprachgebrauch kennt das Bild des herrschenden Schweigens, der herrschenden Stille – uns erscheint, da wir derlei hören, immer ein Thronsaal, es kann auch ein Versammlungsraum sein, und auf dem erhöhten Platz eine hagre, mitunter auch aufgedunsene Gestalt im Schwarz spanischer Hoftracht, die soeben mit dem Fuß aufgestampft und geschrien hat, das Maul zu halten, und eine niedergedrückte Menge wagt nicht mehr zu atmen: Das Schweigen herrscht. – So herrschen Zucht und Ordnung. […] Bei Trakl wohnt das Schweigen […] ‚Wohnen‘ ist ein ausnehmend mythisches Wort, es sagt ein Verweilen an einer Stätte, da man sein eigenstes Wesen zu entfalten vermag (dass man gezwungen sein kann, an einer ungeliebten Stelle sein Dasein verbringen zu müssen, ist schon ein Zweites), und es ist ein ausnehmend brüderliches Wort, durchweht vom Atem einer Gemeinschaft, die das Recht auf ein Selbstsein nur als Rücksicht auf das der Andern verwirklichen kann. Im ‚Wohnen‘ wohnt Friede […] Wo das Schweigen wohnt, will es nicht herrschen, es will die andern nicht schweigen machen, es begehrt nur eine Stätte, zu sein. – Wer sein Wesen nicht teilen will, mag es meiden, wer es teilen will, mag sich zu ihm gesellen, und dann wird auch gesprochen, wenn Worte nottun, auch Musik kann da sein, Flüstern, Klänge, sogar Lärm, wenn es sein muss, nur eines nicht: Zwang.

Eine christliche Botschaft? – Für Eiferer kaum, doch mögen die Christen das unter sich ausmachen, Trakls Vers bleibt, was er ist: vielbedeutende Dichtung, die jedem gehört, der sich um sie müht.
Auch die schwierigsten Bilder, wenn man sie sehn kann, beginnen sich dadurch zu öffnen, wenngleich sie sich nicht im Anblick erschöpfen: nie ausschreitbarer Innenraum.“8

Wie gesagt: Franz Fühmann liest die Bibel in dieser Weise. Er liest sie als Buch der ‚Worte‘ wie den „Feuerregen“ eines Gedichts. Ein Verstehen kann dann nur so etwas wie ein „Schauer des Begreifens der eigenen Sachen, des Erfahrens“ sein, eben ein „Verstehen im Sinn des Pfingsten: ‚Wie kommt es, dass wir sie hören, jeder in der eigenen Sprache, in der wir geboren sind?‘“9