Die Erfindung eines sermo humils in deutscher Sprache war für den Dominikanermönch, den man Meister Eckhart zu nennen gewohnt ist, im Vergleich zu Dante anders motiviert. Eckhart’s bevorzugte deutsche Ausdrucksform war die Predigt. Und so überraschend es auch erscheinen mag, für Meister Eckhart war eine Predigt so etwas wie eine Denkwerkstatt. Seine deutschen Predigten stehen seinen lateinischen Vorlesungen und Schriften in nichts nach.1  Er ging nicht nur im Sprechen, sondern auch im Denken neue Wege, teilte sie seinen Predigthörerinnen und  -hörern mit und traute sie ihnen somit zu.

Folglich war auch sein Rückgriff auf Augustin von eigener Art. Die Schriften und Theorien, die Dantes Widerspruch herausforderten, ließ Eckhart schlicht beiseite. So spielte die augustinische „Logik des Schreckens“ (Kurt Flasch), also seine Erbsünden- und Gnadenlehre, so gut wie keine Rolle. Meister Eckhart diente vielmehr die augustinische Trinitätslehre als Referenz.2  Eckharts Lassen als Zugang zu Augustin kam einer Unterwanderung gleich. Diese Strategie sollte Konsequenzen haben, denn auf der Gnadenlehre beruhte auch die kirchliche Gnadenverwaltung… 3

Was geschah? Eckhart entwickelte eine Philosophie des Christentums, indem er „nicht nur die Abhängigkeit der Welt von Gott, sondern auch die innerste Natur der Gottheit (Trinität) und ihre Beziehung zur Menschheit (Inkarnation)“4 zeigen wollte. Eckharts zentrales Beispiel ist das „Verhältnis des Gerechten zur Gerechtigkeit“5. Dieses Verhältnis soll nicht mehr nach dem Inhärenzmodell beschrieben werden, Gerechtigkeit also nicht bloß als „Eigenschaft an der Seelensubstanz des Gerechten“6  gedacht werden.

Diese Denkfigur war Eckhart durch die neue Quellenlage und Lektüre des Aristoteles um 1200 obsolet geworden. Wenn schon von Inhärenz, also „von einem In-Sein die Rede sein soll, dann ist der Gerechte eher in der Gerechtigkeit. Jedenfalls kann er nicht außerhalb ihrer sein oder getrennt von ihr. Die Gerechtigkeit geht ihm als seine innere Norm und als seine wahre Natur voraus, nicht zeitlich, sondern als sein Grund. Der Gerechte hat an der Gerechtigkeit teil. Eckhart gebraucht in diesem Zusammenhang den platonischen Grundbegriff der ‚Teilhabe‘, aber der genügt ihm nicht: Die Gerechtigkeit ‚spricht‘ sich selbst aus im Gerechten. Das Gerechte ist ‚das Wort‘ der Gerechtigkeit. ‚Gerechtigkeit’ ist dynamisch; sie wäre nicht, was sie ist, wenn sie nicht gerecht machte […] Dies Wort erzeugt den Gerechten, sofern er gerecht ist. (Auf dieses ‚sofern‘ kommt viel an, wie Eckhart später in der sogenannten Rechtfertigungsschrift erläuterte).“ 7  

Meister Eckhart entwickelt hier eine Wort-Gottes-Theologie bei der das Wort als schöpferisches Prinzip Gottes selbst sich dem Menschen schöpferisch, erzeugend mitteilt. Das Wort erzeugt. Und das heißt: „Sofern wir gerecht sind, sind wir die Gerechtigkeit, und dann kennen wir sie auch. Sofern wir gerecht sind, nimmt die Gottheit uns in sich auf; wir werden ihre Söhne [und Töchter]. Zwischen der erzeugenden Gerechtigkeit und dem erzeugten Gerechten ist eine Verschiedenheit der Personen, nicht der Natur: Wir sind ein anderer (alius) als die gebärende Gerechtigkeit, nicht etwas anderes (aliud). Es gibt eine Verschiedenheit von erzeugender Gerechtigkeit und erzeugten Gerechten, denn nichts erzeugt sich selbst. Aber wir sind eins mit der Gerechtigkeit, sofern wir gerecht sind. Ich und der Vater sind eins. Dies ist die fortwährende Menschwerdung Gottes, auf die die historische Menschwerdung Christi hingezielt hat. Die Gottheit = Gerechtigkeit kann nicht zerteilt gedacht werden. Wenn sie sich mitteilt, teilt sie sich ganz mit. Daher ist ganz in jedem Gerechten und ganz außerhalb seiner. Zwischen der Gerechtigkeit und dem von ihr ‚geborenen‘ (nicht ‚gemachten‘) Gerechten – sie bilden ein Leben, kennen nicht den Abstand von Handwerker und Instrument – besteht eine wechselseitige Beziehung“.8

Diese Ausformung von Dynamik und Wechselseitigkeit im Denken Eckharts entfalteten eine besondere Kraft in seinen deutschen Predigten. Denn die „deutschen Texte, meist einzelne Predigten, kein Corpus von Handschriften, sprachen in einem nicht akademischen, also breiteren Lebenszusammenhang: Sie formulierten einen neuen, nicht mehr feudalen, nicht mehr benediktinisch-monastischen Weltbegriff, einen neuen Begriff des Menschen und der Religion. Sie griffen die Armuts- und die Frauenbewegung auf, die seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts die kulturelle und kirchliche Gesamtsituation umgestaltet hatten. Eckharts Predigten drücken eine neue, nicht mehr hierarchisch fixierte Sichtweise aus, die Stadtbürger und Frauen als die ihre anerkennen konnten. Gleichzeitig mit Dante und Lull erklärte ihnen Eckhart, dass Adel nicht an Blut, Familienbesitz und feudales Lebensgefühl gebunden sei; es lag jetzt an jedem selbst, ob er ‚edel‘ war. Eckhart radikalisierte die Armutsidee, um einer neuen Autonomie zu Wort und Realität zu verhelfen: Der Mensch soll verzichten, nicht nur auf Macht und Geld, nicht nur auf kollektives und privates Eigentum, sondern auf alle äußeren Rücksichten, auf Herkommen und Ansehen, aber auch auf jenseitige Belohnungen. Er soll nicht um Lohnes, aber auch nicht um Gottes willen tun, was er tut. Er soll alles lassen, die Welt, sich und Gott. Alle gegenständlichen Fixierungen, zu denen auch die ‚Tugend‘, das eigene Ich und der jenseitige Gott gehören, soll er fallen lassen, damit er lebe. ‚Leben‘ heißt aristotelisch: sich aus sich selbst bewegen, sein Ziel in sich selbst haben. ‚Leben‘ heißt: aus einheitlichem Grund handeln; Leben ist von Leben nicht verschieden. Wer diese ‚Armut‘ realisiert, findet ‚Gelassenheit‘: Die Mittel-Zweck-Konstruktionen verlieren Lebensbedeutung. Die technokratische Selbststilisierung endet. Ich wirke ohne Warum.“9

‚Armut‘ und ‚Gelassenheit‘ sind zwei entscheidende Worte des Eckhart‘schen sermo humilis. In ihnen vereinen sich philosophische Präzision und lebenspraktische Anknüpfung. Beides findet sich in seinen Predigten.10   Sie stellen nicht nur in ihrer Augustinrezeption bis heute kaum zu überschätzende homiletische Herausforderungen dar. In ihrer Wirkung, insbesondere in Bezug auf die Verwendung der deutschen Sprache als Predigtsprache, erhielten sie einen verheerenden Dämpfer durch die Verurteilung einiger Thesen Meister Eckharts durch Papst Johannes XXII im Jahre 1329 in Avignon.

Wie Meister Eckhart den sermo humilis von der Armut aus einer unterwandernden Lesart des Augustinus entwickelt, lässt sich besonders an seiner Predigt 52, Beati pauperes spiritu, zeigen.

Vermutlich hat Meister Eckhart diese Predigt um 1320 in Köln gehalten. Köln war seinerzeit eine der reichsten deutschen Städte. Die „größte soziale und ökonomische Expansion, die Europa vor der Industrialisierung erlebt hatte“, ließ das Problem der Armut deutlich sichtbar hervortreten. Armut konnte nicht länger als „der sozusagen ‚normale‘ Zustand einer erbsündigen Menschheit“ betrachtet werden. Franz von Assisi hatte Jesus als einen Armen wieder entdeckt und zur Geltung gebracht. Doch: „wie weit war die Armutsidee zu treiben?“11

Meister Eckhart unterscheidet zu Beginn seiner Predigt zwischen äußerer und innerer Armut. Er lobt die äußere Armut: „Sie ist hoch zu loben, in einem Menschen, der sie um der Liebe unseres Herrn Jesus Christus willen frei erwählt hat.“12  In seiner Predigt soll es aber um die innere Armut gehen.

Von der Seligpreisung in Matthäus 5 ausgehend, ohne weiter auf bibelwissenschaftliche Fragen einzugehen, gliedert Meister Eckhart seine Predigt in nüchterner Klarheit in drei Teile. Arm sind wir, indem wir nichts wollen, nichts wissen und nichts haben.13

Zunächst mag lediglich die Reihenfolge von wollen, wissen und haben überraschen. Man würde das Haben an erster Stelle erwarten und auf die äußere Armut beziehen. Doch nicht so Meister Eckhart. Er eröffnet mit einem Zitat von Albert von Köln den Horizont seiner Überlegungen: die neuplatonisch- augustinische Tradition. Augustin hatte in De Trinitate VIII 3 und in den Confessiones IX den Denkweg vorgezeichnet: „Sieh die Körperwelt an und negiere sie. Komme zur Geistseele und negiere sie, dann siehst du Gott. Sieh das gute Brot und den guten Freund. Nimm die Einzelbestimmungen ‚Brot‘ und ‚Freund‘ weg, halte nur das Gutsein fest und du begreifst Gott“14

Augustin hatte die einschränkenden Einzelbestimmungen negiert, um zum Unbeschränkten zu gelangen. Meister Eckhart geht in dieser Richtung noch weiter als Augustin. Er geht über die Gegensätze und Entgegensetzungen hinaus. „Negiere auch den Gegensatz zwischen Gott und dir. Das kannst du, denn du stehst immer in deinem ersten Grund. Dieser ist unendlich einfach; alles, was in ihm ist, ist er selbst. Also bist du, sofern du dort bist, selbst dieser erste Grund, aus dem Gott und die Welt  und du, als Einzelwesen, hervorgehen. In diesem ersten Grund bist du, dort brauchst du nichts, begehrst folglich nichts. Begehren, Verlangen, Anstreben, dies alles setzt voraus, dass das Gute außer dir ist. Du bist aber im Guten. Du bist das Gute. […] Lebendig ist, was seinen Zweck in sich hat, nicht in einem anderen.“  Darin geht Meister Eckhart auf das aristotelische Konzept der Entelechie zurück und radikalisiert auch das folgendermaßen:  „Der Mensch soll weder sich selbst leben noch der Wahrheit noch für Gott. In der Einheit ist er diese selbst; er hat kein Außen mehr; er kennt keinen Zweck und benutzt nichts als Mittel. Er gibt jede Zweckorientierung auf. Er lebt, um zu leben, oder besser: Er lebt ohne Wozu.“15

Wan daz ist armuot des geistes, daz er alsô ledic stâ gotes und aller sîner werke16   „Denn das ist Armut des Geistes: Abgelöst leben von Gott und seinen Werken, so dass Gott, wenn er in der Seele wirken will, selbst die Stätte ist, worin er wirken will – und das tut er gern. Denn findet Gott den Menschen in seiner Armut, dann nimmt Gott sein Wirken in sich selbst auf; er wird die eigene Stätte seiner eigenen Werke, denn Gott ist ein Tätiger, der in sich selbst wirkt. Hier nun, in dieser Armut, das erreicht der Mensch das ewige Sein, das er einst gewesen ist, das er jetzt ist und das er immer bleiben wird. Doch da entsteht ein Problem: Der heilige Paulus sagt: ‚Alles, was ich bin, das bin ich durch die Gnade Gottes‘.17   Aber meine Rede steigt höher hinauf – höher als Gnade, als Sein und Erkennen, als Wollen und Verlangen – wie kann dann das Wort des heiligen Paulus wahr sein? Hierauf lautet die Antwort: Das Wort des Paulus ist wahr. Er brauchte die Gnade, denn die Gnade Gottes bewirkte in ihm, dass das Zufällige an ihm in sein Wesen ein ging. Als die Gnade endete, weil sie ihr Werk vollbracht hatte, da blieb Paulus das, was er war. Also lehren wir, der Mensch solle so arm dastehen, dass er keine Stätte sei und keine Stätte habe, in der Gott wirken könnte. Wo der Mensch noch eine solche Stätte behält, dort hält er am Unterschied fest. Darum also bitte ich Gott, dass er mich ablöse von Gott…18 Her umbe sô bite ich got, daz er micht quit mache gotes19

Immer wieder kreisen die Gedanken hier um etwas, das mit sich selbst identisch ist. Und dies nicht mit sich selbst als mit etwas anderem hinzugekommenen, oder erst durch das Hinzukommen von etwas anderem. In der Sprache Meister Eckharts heißt das: „Ez ist selbe daz selbe“. In mittelalterlich lateinischer Übersetzung ipsum per se. Kurt Flasch nennt es „selbig“.20

Eckhart geht mit dieser Denkfigur auf den aristotelischen und neuplatonischen Nous als einem gottmenschlichen Intellekt zurück. Demnach ist unser Intellekt in sich Leben und Seligkeit, „nicht erst durch anderes Hinzukommendes“. Er ist keine Eigenschaft, oder Vervollkommnung. Der Intellekt weist keine Bestimmungen auf und zergliedert sich nicht in etwas oder etwas anderes. Er ist nicht dinghaft noch verdinglichend. Er ist „tätige Verneinung“, privatio, „beroubet-Sein“.

Eckhart ging in diesem Verständnis des Intellektes auf Plotin und Augustin zurück. „Aber Eckhart verstärkte diese Motiv, gestützt auf Aristoteles, die Aristoteleserklärer Averroes, Albert und Dietrich von Freiberg. Seine Armutspredigt enthält eine Philosophie des Christentums, der Beseligung und des Intellekts auf aristotelisch-averroistischer, durch Albert und insbesondere durch Dietrich vorbereiteter Basis.“21  Auf das Pauluszitat: „Durch die Gnade bin ich, was ich bin“ bezogen, heißt das folgendes:

Die Gnade formt „unsere geistig-willentliche Außenbetätigung, alles, was dem möglichen Intellekt, intellectus possibilis, untersteht, also Wollen und Handeln, alle dinghafte Weltbeziehung. Unser Umgang mit Dingen steht akzidentieller Vervollkommnung offen. Die Gnade hat ihr Feld. Aber sie ist eingeschränkt auf den ‚möglichen Intellekt‘, auf den rezeptiven Geist, den intellectus possibilis. Der ‚tätige Intellekt‘, intellecuts agens, braucht sie nicht. Er ist das, was wir immer schon waren. Er ist keiner weiteren Vervollkommnung fähig. Er hat keine Eigenschaften. Ihm ist das Haben das Sein. Er ist der Kern unseres Wesens, und da Gnade die Natur nicht zerstört, sondern voraussetzt, kann Gnade sich nur auf die intellektuelle und willentliche Außenbeziehung des Menschen richten. Dafür ist sie unentbehrlich […] Die Gnade hilft uns zufallsausgesetzten Menschen zu dem, was wir als wesenhaft tätiger Intellekt zufallsüberlegen von Ewigkeit sind.  Der ‚tätig Intellekt‘, Intellectus agens, setzt das Wesen der Seele in die Ewigkeit. Hat die Gnade ihr Werk getan, dann überformt der tätige Intellekt, der oberhalb der einzelnen Seelenkräfte steht, den ganzen Menschen. Dieser, ein bestimmtes Individuum, Paulus zum Beispiel, ist dann zu dem geworden, was er immer schon war.“22

Im Horizont seiner Untersuchungen zur „Dekonstruktion des Christentums“ kommt Jean-Luc Nancy auf die Predigt 52 von Meister Eckhart zu sprechen.  Schon die Ausgangsfrage seiner Analyse dieser Predigt zeigt die Pointe von Eckharts homiletischer Praxis als Denkwerkstatt in der spirituellen Praxis als Gebet. Denn: „Kann man von (de) Gott sprechen (parler) ohne sich an (à) Gott zu richten (s‘adresser)?“23