Unter der Überschrift „Vatertränen, nur zu denkende“1 beginnt der Philosoph Hans Blumenberg einen Gedankengang mit folgender Feststellung:  Im Unterschied zu den natürlicherweise mit dem Tod des Vaters endenden Vater-Sohn-Konflikten, endet der „im Garten Gethsemane ausgetragene“ Vater-Sohn-Konflikt mit dem Tod des Sohnes. Der Schrei Jesu am Kreuz Eli, Eli… sei „der denkbar größte aller Vorwürfe gegen einen Vater“.2

Es sei „merkwürdig, dass niemals Anstoß daran genommen wurde, wie hier ein Vater von seinem Sohn verlangt, sich ihm und vor ihm der Passion preiszugeben“ und diese “fühllos entgegenzunehmen scheint, nachdem er bei der Jordantaufe dem Sohn zugesprochen hatte, er sei der Vielgeliebte seines Wohlgefallens.“3

Und Blumenbergs Überlegung kulminiert in der Frage: „Mussten die Menschensöhne seit je danach gefragt werden oder sich fragen, wie sie mit der Vaterlast leben konnten und können, ist hier der Gottvater zu fragen, wie er mit der Passionslast des Sohnes hat weiter ein Gott sein können. Ist es möglich zu denken, dass dies es war, was ihn tötete? Wir setzen uns in Tränen nieder . . .  – über jeden Tod. Auch über diesen?“4

Mit dem Anruf Eli bei Matthäus (Mt 27, 46) und Markus (Mk 15,34) wird Gott nach Blumenberg „fast wie ein Fremder“benannt. Der Ruf „hat die Wahrheit eines Schreis, der noch an den ‚toten Gott‘ gerichtet sein könnte. Wenn nicht sogar erst recht an diesen“6. Dem konnte nur ein letzter, wortloser, wilder Schrei noch folgen7  (Mt 27, 50, Mk 15, 37).

Ein Echo in extremis findet dieser Schrei in einem nachgelassenen Gedicht des Dramatikers Heiner Müller. Es trägt den Titel „Römerbrief“ und setzt bei Paulus ein:

Seit er vom Pferd fiel weiss er wo Gott wohnt
Dem alle gleich sind und der keinen schont
Der nicht das Leben lebt nach seiner Schnur
Denn Gott ist der Erfinder der Natur
Wenn Mann mit Mann sich paart und Frau mit Frau
Zum Beispiel zürnt er denn er zählt genau
Mit Blitzen sagt er dir was sich gehört
Sein Brot der Sünder der den Weltlauf stört
Sein Hunger braucht dass Menschen Sünder sind
Vom Priester bis zum ungebornen Kind
Sohn tötet Vater was bei Heiden Brauch
Seis mit der Keule seis mit Opferrauch
ER schlachtet seine Nachgeburt den Sohn
Der Tod am Querholz unserer Sünden Lohn
Die seine Nahrung sind und seine Lust
Der Racheengel wohnt in seiner Brust
Der uns am Kreuz vertrat als Sündenbock
Die Novität aus Gottes Wunderblock
Als er aus unsrer Schuld die Wurzel zog
Mit allen Vieren weil die Hoffnung trog
Auf Leben ohne Tod Vater warum
Sei letzter Schrei Der Adressat blieb stumm
Erhob er unsre Sünden ins Quadrat
[…]8

„Der Text ist eine theologische Zumutung.“9  So beginnt der Münchener Literaturwissenschaftler Clemens Pornschlegel seine Analyse des Gedichtes. Heiner Müller schrieb es im Bewusstsein seiner schweren Erkrankung etwa ein Jahr vor seinem Tode im Dezember 1995.

Im Herzen des Christentums sieht dieser Text nicht „Vergebung, Annahme und Erlösung der Welt“, sondern „eine gigantische Schuld- und Sündenvermehrung“ am Werk. „Er straft die Vorstellung eines liebenden, verzeihenden Gottes Lügen“.10

„Wenn das Gedicht eine aufmerksame Lektüre verdient hat, dann, weil der aus fünfzehn paarreimenden Vierzeilern bestehende Text – dessen Form mithin auf die ambrosianische Kirchenliedstrophe zurückgreift – dennoch keine einfache Verwerfung des Christentums darstellt; auch keine blasphemische Parodie, sondern eine ebenso empörte wie verstört-verstörende Auseinandersetzung mit den Unglaublichkeiten der christlichen Dogmatik, wobei zwei Fragen im thematischen Zentrum stehen: die Frage nach der Schuld und die Frage nach der Erlösung.“11

Heiner Müllers „Römerbrief“ ist markiert von drei Perspektivwechseln. Es beginnt mit der der Bekehrung des Paulus (Strophe 1) – wobei Müller auf seine „eigene Gottes- und Todesbegegnung anspielt“12 – und geht dann sofort über in die „kritisch distanzierte Darstellung der christlichen Mythologie“. Dabei formuliert er „in der neutralen dritten Person“ (Strophe 2-13) und folgt den Motiven des Römerbriefes (Kapitel 1, 2 und 7) und „Einwänden aus der Religionskritik“.13

„Überraschend mündet das Gedicht zuletzt dann (Strophe 14 bis 15) in eine direkte Anrede des Vater-Gottes und schließt mit einer harschen Anklage, die das Ich an den Vater-Gott des Jüngsten Tages adressiert, in einer Art von invertiertem Gebet, das aus der Erfahrung der irdischen Nacht – „Nichts war nichts ist und nichts wird jemals gut“ – ins göttliche ewige Licht gesprochen ist. Unklar bleibt, wer genau hier die Position des Sprechers einnimmt: ob es sich um die Stimme Jesu oder die des lyrischen Ich handelt, oder ob das lyrische Ich die Position Jesu hier für sich übernimmt und sie neu interpretiert, in der Geste einer radikalen Korrektur der imitatio Christi.“14

[…]
Der Sohn hat Stimmrecht Vater schluck dein Schwert
Es ist die Wunden die e schlägt nicht wert
Du bist es nicht der hier das Urteil fällt
Denn du hast nicht gelebt in deiner Welt
Ich hab dir Vater etwas mitgebracht
In deinen ewigen Tag aus meiner Nacht
Nicht war nichts ist und nichts wird jemals gut
Siehst du das Kreuz es wartet auf dein Blut

Mit diesem Schluss stimmt Heiner Müller in den letzten Schrei Jesu ein und eröffnet auf diese Weise einen zweiten Blick auf das Gedicht. Es geht ihm nicht „um die Denunziation dogmatischer Figuren des Christentums“, sondern um die „spezifisch jüdisch-christliche Modellierung dessen, was Sigmund Freud in seiner Abhandlung über das ‚Unbehagen in der Kultur‘ einmal das ‚Schuldgefühl in der Menschheit‘ genannt hat“.15

Es ist das, was Paulus im Römerbrief die harmatia nennt, dass „niemand je ohne Schuld bleibt“, einer Schuld, deren „Urheber und tatsächlicher Verursacher“ niemand anderer ist, als der Vater-Gott selbst.16
„Wie aber soll man sich einen allmächtigen Schöpfer-Gott denken, der zuerst ein Wesen nach seinem Bilde schafft, dessen Natur dann aus dekadent wider-göttlicher und schuldhafter Wider-Natur besteht? […] Was soll man von einem Gott halten, der nicht einmal den stellvertretenden Tod seines Erlöser-Sohnes, der sein Leben – als agnus Dei – hingegeben hat für die Sünden der Welt, zuletzt gelten lässt und die Schuld dadurch nur unendlich ausdehnt?“17

Die entscheidende Pointe erfährt Heiner Müllers Gedicht in seiner apokalyptischen Zuspitzung:

Auch seine Endlösung heißt Selektion
Mit seinen Malen der geschundne Sohn
Darf auf der Bank des Richters sitzen der
Sein Mörder ist […]

„Entscheidend ist hier der Begriff der Selektion. Für Heiner Müller benennt er zum einen das ungerechtfertigte kapitalistische Übel des verurteilenden Ausschlusses von Millionen von Menschen zugunsten weniger Auserwählter, das Wegstoßen der Armen von den Fleischtöpfen der Reichen, zum anderen – symmetrisch dazu – die Vernichtungspraktiken der politischen Erlösungsreligionen des 20. Jahrhunderts, welche die gnadenlose Selektion offen bejaht und sie als irdische Apokalypse realisiert haben, als säkulare, technische Imitation des apokalyptischen Gottesgerichts und der mit ihm versprochenen Einrichtung der phantastischen Neuen Welt – ‚und der Tod wird nicht mehr sein, nicht Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein (Offb 21.4).“18

Die einzige Antwort auf den Schrei Jesu findet Heiner Müller bei Dostojewskij. Sie heißt: Gnade. „Gnade – als Geschenk der Liebe – lässt sich politisch allerdings nicht organisieren, sofern keine politische Ordnung sich auf etwas stützen kann, was die Ordnung des Gesetzes prinzipiell unterläuft.“19  Man könnte auch sagen: unterwandert.

Von hier aus lässt sich die letzte Strophe des Gedichtes:

Ich hab dir Vater etwas mitgebracht
In deinen ewigen Tag aus meiner Nacht
Nichts war nichts ist und nichts wird jemals gut
Siehst du das Kreuz es wartet auf dein Blut

auch anders lesen: „Als Appell für die radikale Immanentisierung der göttlichen Erlösung durch die Erfahrung des Kreuzes, durch die der Menschensohn, nicht aber der transzendente Vater-Gott gegangen ist. Erst die Erfahrung des Leidens setzt jene Gnade frei, die ultimative Verurteilungen aufheben kann.“

Hans Blumenberg liest und denkt noch anders über den „wilden Schrei“ hinaus: Lukas hatte diesen ans Unerträgliche grenzenden Abgrund seinen Lesern offenbar nicht zumuten wollen. Er verdeckte ihn mit einer Anspielung auf den einunddreißigsten Psalm und legte Jesus ein anderes Wort in den Mund: Vater (Lk 23. 46).20

Deutet Lukas damit darauf hin, dass Gott von der Passion seines Sohnes nicht unberührt geblieben sein konnte, dass er durch die Passion seines Sohnes selbst ein anderer geworden wäre?

Der ‚Vater danach‘ – „wenn sich dem Menschen die Verlassenheit einer Passion nicht soll wiederholen können“21  – wäre nur noch mit jenem anderen Wort der lingua aramaica anzusprechen, auf den Lukas anspielt: Abba  (Mk 14.36). Sollte Jesus „der Lehrer des Vatersagens zu Gott“22  gewesen sein? Eli  wäre die Anrede des ‚Vaters davor‘ gewesen.

Den Zeitgenossen Jesu „soll, Philologen zufolge, die Anrede Abba zu respektlos vertraulich geklungen haben, als wenn heute einer übersetzte ‚Papa Gott‘ oder das ‚Herrengebet‘ beginnen ließe mit ‚Papa unser‘. […] Die Polarität zwischen Eli und Abba muss stark empfunden worden sein, bevor die Urgemeinde das von Jesus sakralisierte Abba in ihre Gebetssprache übernahm.“23

Johannes kennt diesen Abgrund nicht. Er ist nach seinem Bezeugen der Einzige, der die Prophetie Jesu, dass die Jünger zerstreut würden, jeder in das Seine, und ihn verlassen, nicht erfüllt. Johannes stand unter dem Kreuz „und weiß vom letzten Aufschrei nichts“24.

Oder: er hat ihn in die Erhabenheit einer innergöttlichen Kommunion erhoben. Von ihr gewinnt man einen visuell echohaften Eindruck, wenn man die Dreifaltigkeitsikone des Andrej Rubljow (1425) betrachtet. Sie zeigt Stabilität, heitere Erhabenheit. Wie im Text des Johannes fallen hier Davor und Danach ineinander. Aber zugleich ist alles in Bewegung:

„Die Bewegung geht vom linken Fuß des rechten Engels aus, setzt sich in der Neigung seines Kopfes fort, geht auf den mittleren Engel über und zieht unwiderstehlich den Kosmos in sich hinein: den Fels, den Baum, und löst sich in der aufrechten Position des linken Engels auf, wo sie Ruhe findet […].25  

Der russischen Filmregisseur Andrej Tarkowskij hat dieser Bewegung einen ganzen Film gewidmet: Andrej Rubljow (1966/69).

Im letzten Teil des Films behauptet dort ein Sohn, Boriska, das Geheimnis seines Vaters – das Geheimnis des Glockengießens – anvertraut bekommen zu haben. Alle anderen Glockengießer der ärmlichen Gegend sind an der Pest gestorben. So soll er denn die Glocke für den Großfürsten gießen. Eine Grube wird ausgehoben, Lehm für die Form gesucht… bei jedem Detail ist der Junge wählerisch und präzise. Schließlich wird die Glocke gegossen. Viel Volks kommt herbei, um dem Ereignis beizuwohnen.

Vorsichtig und ängstlich wird schließlich die Erdform abgeklopft. Die Glocke kommt zum Vorschein. Allem Ansehen nach ist sie gelungen. Doch wird sie klingen? Über Holzgestänge und Seile wird die große Glocke langsam erhoben. Schließlich hängt sie frei über der Grube. Man sieht den großen Klöppel.

Als der Großfürst zu Pferd eintrifft mit geladenen Gästen, wird der junge Glockengießer vorgestellt, er soll das Zeichen zum Läuten der Glocke geben. Scheu erhebt er seine Hände. Ein stämmiger Alter steigt zum Klöppel hinab und beginnt ihn langsam hin und her zu schieben. Schließlich ertönt der tiefe Klang der neuen Glocke. Erst vereinzelte Schläge, dann regelmäßig. Nach einer Weile stimmen die Glocken vom gegenüberliegenden Kloster ein in ein großes festliches Geläute.

Das gesamte Geschehen wurde immer wieder stumm beobachtet von einem Mönch. Es ist Andrej Rubljow, der Ikonenmaler. Er hatte sich geweigert eine große Wandmalerei des Jüngsten Gerichtes zu malen. Er wolle das Volk nicht mehr verängstigen mit solchen Schreckensbildern und rezitierte an ihrer Stelle das Hohe Lied der Liebe in der weißen Kathedrale.

Die gnadenlose Grausamkeit des Tartarensturms bricht über das Volk herein wie das Gericht, das er hätte malen sollen. Andrej selbst wird verwickelt als er ein schwachsinniges Mädchen vor ihrem tartarischen Vergewaltiger rettet und ihn erschlägt. Zur Buße malt er nicht nur nicht mehr, sondern spricht nicht mehr mit den Menschen. Er schweigt…

Noch während des Läutens der Glocke bricht Boriska erschöpft zusammen und weint einsam im Schlamm. Andrej geht zu ihm, legt seinen Kopf auf seine Knie und sucht ihn zu trösten. Doch der Junge ist untröstlich:

Boriska: Mein Vater, das alte Vieh, hat mir das Geheimnis doch nicht anvertraut. Er ist gestorben und hat es nicht weitergegeben! Er hat es mit ins Grab genommen, der alte Gauner.
Andrej: Du siehst, wie es geht. Nun weine doch nicht! (Er schluchzt selbst). Lass uns zusammen fortgehen. Du wirst Glocken gießen, ich werde Ikonen malen. Lass uns zum Dreifaltigkeitskloster gehen. Zusammen. Was für ein Festtag für die Leute! So eine Freude hat er geschaffen, und jetzt weint er? Nun gut, jetzt ist es gut, nun es wird schon werden.26

Der gesamte Film Tarkowskijs ist in bräunlichem Sepia gedreht. Doch nun erscheinen in Farbe Ausschnitte von verschiedenen Ikonen Andrej Rubljows…

die berühmte Dreifaltigkeitsikone, Farben, Falten, die Köpfe der Engel…

die geschundene Ikone mit dem Kopf des Erlösers…

der untere nicht mehr bemalte Teil der Tafel.

Es beginnt zu regnen, Wasser läuft das Holz hinab.
Es erscheint eine Regenlandschaft.
Ein Fluss.
Am Ufer stehen Pferde.