Im Konzert der Praktiken des Auferstandenen Christus, wie sie das Neue Testament überliefert, findet sich eine Geste, die bis zur Unkenntlichkeit überdeckt wird von einer staatlichen Hygiene-Vorschrift unserer Tage.

Sie kulminiert im Satz des Johannesevangeliums: „Rühre mich nicht an“, wie Martin Luther übersetzt (Joh 20, 17).

In seinem kleinen Buch „Noli me tangere“ ist der französische Philosoph Jean-Luc Nancy dieser Ostergeschichte (Joh 20, 11-18) nachgegangen und hat sie ausgehend von ihren von Malern realisierten bildlichen Darstellungen untersucht.1  Zwei entscheidende Gedanken seien hier herausgehoben: der komplexe Zusammenhang des Nicht-Berührens und der des Fortgehens.

Nancy analysiert aus der Betrachtung der verschiedenen Gemälde die Geste des Nicht-Berührens „als singuläre Kombination von Distanzierung und Zärtlichkeit, von Segen und Liebkosung“ und somit als ein Berühren, das derart ist, dass es „auf Abstand“ hält.2

„Berühre mich nicht, halte mich nicht fest, versuche weder zu halten noch zurückzuhalten, sage jeder Anhängerschaft ab, denke an keine Vertrautheit, an keine Sicherheit. Glaube nicht, es gäbe eine Versicherung, so wie sie Thomas wollte. Glaube nicht, auf keine Weise. Aber bleibe in diesem Nicht-Glauben standhaft. Bleibe ihm treu. Bleib meinem Fortgang treu, Bleib dem allein treu, was in meinem Fortgang bleibt: dein Name, den ich aussprechen. In deinem Namen gibt es nichts zu ergreifen, nichts dir anzueignen, sondern es gibt dasjenige, was vom Unvordenklichen her bis hin zum Unerreichbaren an dich gerichtet ist, vom grundlosen Grund, der immer schon im Aufbruch ist.“3

Das Möchte-nicht des Berührens geht direkt über in den Vorgang des Fortgehens, der ihm unmittelbar folgt, bzw. aus ihm hervorgeht: „Möchte nicht, denk nicht daran. Tue es nicht nur nicht, sondern, auch wenn du es tust (und vielleicht tut es Maria Magdalena, vielleicht liegt ihre Hand bereits auf der Hand dessen, den sie liebt, oder auf seiner Kleidung, oder auf der Haut seines nackten Körpers), vergiss es sofort. Du hältst nichts, du kannst nichts halten noch festhalten, und dies ist, was du lieben und wissen musst. Eben dies ist ein Wissen aus Liebe. Liebe, was dir entkommt, liebe den, der fortgeht. Liebe, dass er fortgeht.“4

Das Fortgehen selbst ist aber kein einfaches Weggehen, sondern ein beständiges Aufbrechen. Fortgehen eröffnet ein beständiges Spiel zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Es begründet eine Präsenz als „ein[] unendlich erneuerte[s] oder verlängerte[s] Verschwinden[]“5.

„Berühre mich nicht, halte mich nicht zurück, denke weder mich zu ergreifen noch mich einzuholen, denn ich gehe hin zum Vater, das heißt immer noch und immerdar hin zur Mächtigkeit selbst des Todes und ich entferne mich in ihr, ich schwinde in ihrem nächtlichen Glanz an diesem Frühlingsmorgen dahin. Ich gehe bereits fort, ich bin nur in diesem Aufbruch, ich bin der Aufbrechende des Aufbrechens, darin besteht mein Sein, und mein Wort lautet: ‚Ich, die Wahrheit, gehe fort.‘“6

Bildlich, medial entspricht dieser Geste – außerhalb der Szene, in der sie sich abspielt und die Jean-Luc Nancy untersucht hat – am ehesten die sogenannte Rückenfigur.

Sie hat eine lange Tradition in der europäischen Malerei.7  Am bekanntesten ist sie uns von den Bildern Caspar David Friedrichs. Die Rückenfigur in Friedrichs Werk ist die Figur des Erlebens dessen, was das Bild zeigt. Rückenfiguren erscheinen „allein, als symmetrische Paare oder in Gruppen“ und sind „die beinahe obsessiven Signaturen von Friedrichs Erlebniskunst“.8  Quelle und Ziel einer solchen Kunst ist „nicht etwa ein religiöses Dogma oder eine moralische Überzeugung“, sondern „eine Erfahrung“. Sie nimmt nicht Bezug auf eine „konstative Bedeutung, auch nicht Bedeutungsvielfalt“, sondern auf ein menschliches Subjekt und sein Erleben, seine Erfahrung.9

Dabei lädt die Rückenfigur die Betrachtenden dazu ein, sich mit ihr zu identifizieren, verunmöglicht dies aber zugleich. Rückenfiguren sind Teil der Landschaft, die sie betrachten und bleiben ihr doch fremd. Sie blicken in eine Landschaft wie in eine Vergangenheit, die im Moment des Sehens zu einer Vision von etwas Zukünftigem wird. Rückenfiguren verwickeln uns in ihr Erlebnis des Sehens.

„Die Rückenfigur intensiviert unser Gefühl für die Vorwärtsrichtung unsers Bilderlebnisses. Sie scheint unseren Blick in die Richtung ihres eigenen zu lenken, ein Blick, den wir in den Bereich des Anderen verlegen. Natürlich ist unser Erleben lediglich die Richtung, die unserer körperlichen Erfahrung entspricht: wir sehen von unserem Gesicht aus.“10

Auf Caspar David Friedrichs berühmtem Gemälde „Das Kreuz im Gebirge“ von 1807/8 ist Christus als Rückenfigur dargestellt. Der gekreuzigte Christus kehrt uns den Rücken zu und blickt in eine Landschaft, die wir nicht sehen können.11

Auf das Fortgehen als Auferstandener übertragen, verkörpert Christus die zentrale Signatur der Friedrich‘schen Rückenfiguren, den Wanderer.