Konsequent wie kaum ein anderer hat sich der französische Philosoph Gilles Deleuze dem Fernsehen verweigert: „Man wird zwangsläufig reingelegt, in Besitz genommen oder vielmehr dessen, was man hat, beraubt.“1

Keine Interviews. Kein Porträt. Nach zwanzig Jahren beständigen Nachfragens antwortete Deleuze schließlich seinerseits mit einer Frage: „Und wenn wir es versuchten?“2

Claire Parnet, „eine Freundin von Gilles“3, früher seine Studentin, dann Koautorin der „Dialoge“ (1977), entwickelte die Idee eines ABC: Zu jedem Buchstaben des Alphabets ein Begriff.

„Das ABÉCÉDAIRE ist kein Interview, keine Unterhaltung, kein Gedankenaustausch. Überlassen wir das dem Fernsehen, das immerzu neue Vermittler oder Zwischenhändler hervorbringt, all diese kleinen Meister der Wahrheit, die diese berühmten Debatten bevölkern, die deshalb auch gar keine sind.“4 Das ABÉCÉDAIRE ist eine „Fürsprache“.

„Die Fürsprache ist das Einfangen, ein zweiseitiges Einfangen in diesem Fall; das hat nichts mit einer Seelenverwandtschaft zu tun oder sonst etwas. Der erhoffte Effekt, der, wie ich glaube, auch erreicht worden ist, war nicht, dass Gilles als Person auf die Fragen von Claire Parnet, dieser anderen Person antwortet, sondern dass es eine Interferenz gibt zwischen Werk und Leben von Gilles; eine Überlagerung, die für ihn nicht darin bestand, sein Leben zu erzählen.“5

Im Winter 1988 und im Frühjahr 1989 wurden die Filmaufnahmen gemacht. Mit dem Regisseur Pierre-André Boutang war vereinbart, das ABÉCÉDAIRE erst nach dem Tod von Deleuze, also posthum zu zeigen. Schließlich ergab sich Mitte der 1990er Jahre die Möglichkeit, das ABÉCÉDAIRE in Ausschnitten zweiwöchentlich auf ARTE zu zeigen. Der Gedanke an eine Serie oder einen Fortsetzungsroman gefiel Deleuze und er willigte ein. Erst nach dem Tod von Deleuze konnte das ABÉCÉDAIRE fertiggestellt werden und als Video erscheinen (1996). Eine Fassung mit deutschen Untertiteln und deutschem Voice-over, herausgegeben von Valeska Bertoncini und Martin Weinmann, erschien 2009.6

Was für eine Art von Fernsehen ist da entstanden? Und wie ist es gebaut?

„Die Wohnung von Gilles hatte zwei Stockwerke. Wir wählten sein großes Bibliotheksbüro im Erdgeschoss aus und entschieden, ihn in diesen Sessel zu setzen. Es gab da diesen kleinen Spiegel; das war ein gutes Mittel, Claire ins Bild zu bringen, ohne sie zu viel zu zeigen. Hinter Gilles befanden sich zwei oder drei Gegenstände, die stellte ich um. Nur den Hut habe ich hinzugefügt; ich hatte eine Magritte im Kopf… Anfangs hatten wir keine Vorstellung von der Dauer, und die Filmrollen häuften sich. Wir filmten in 16mm, also immer 11 Minuten. Wir mussten uns also jedes Male erinnern, wo wir stehen geblieben waren, nachladen, fortfahren… Einmal angefangen, mussten wir das bis zum Ende durchziehen. Da gab es einen Kameramann, einen Mann für den Ton und einen dritten Mann an der Beleuchtung, einer Art Elektriker. Ich verzog mich in eine Ecke, in der ich mich zugleich mit Claire und dem Kameramann verständigen konnte.“7

„Wir hatten uns vorher abgesprochen. Rücksicht war das Prinzip. Jeder plötzliche Zoom war absolut zu vermeiden; man musste zurückweichen wie auf Schienen. […] Bei der Wahl der Bildausschnitte haben wir uns schnell auf das Wesentliche beschränkt: Sobald die Beziehung zwischen Claire und Gilles hergestellt war, beschlossen wir auf ihm zu bleiben – sonst wäre dieses ständige Hin und Her zu zwanghaft geworden. Beim Licht mussten wir uns sehr zurückhalten. Zu flach darf es nicht sein, aber es darf den, der spricht auch nicht blenden. […] Ich hatte immer den Wunsch, dass der, den ich filme, möglichst wenig davon merkt.“8

Zusammenfassend könnte das entscheidende Stichwort einer immer wieder neu zu findenden Antwort auf die Frage nach dem Wie ein solches Fernsehen der Fürsprache zu bauen wäre, lauten: Vereinfachen.

Im Zweifel Vereinfachen hieße zum Beispiel: Den gegebenen Ort zu respektieren bzw. als solchen zu nutzen. So wenig technische Mittel wie möglich einsetzen, jedenfalls keine technischen Effekte und Tricks um ihrer selbst willen. Keine technisch, ästhetischen bzw. dekorativen Leerläufe (Kamerafahrten etc.). Hinzu kommt der wichtige Entschluss, die Herstellungsbedingungen, wie den Wechsel der Filmrollen, nicht zu verstecken, sondern sichtbar zu lassen. Manipulative Nachbearbeitungen möglichst zu unterlassen bzw. auf ein Minimum zu begrenzen. Manchmal können sogar ein Versprecher o.ä. „Fehler“ Teil eines lebendigen Prozesses sein und mehr erzählen als eine geglättete telegene Oberfläche jemals zeigen kann.

Auf den entscheidenden Grund für diese skizzierte Zurückhaltung im Umgang mit den technisch geradezu entfesselten Mitteln des modernen Fernsehens kommt Deleuze unter dem Buchstaben c wie culture zu sprechen:

„Gilles Deleuze: Wer sind eigentlich die Kunden des Fernsehens heute? Es sind nicht mehr die Zuhörer. Die Kunden des Fernsehens sind die Werbekunden. Das ist die wahre Kundschaft. Die Zuhörer kriegen das, was die Werbekunden hören wollen.
Claire Parnet: Die Fernsehzuschauer.
Gilles Deleuze: Die Fernsehzuschauer, ja. […] Die Werbekunden sind die wahren Kunden.
Pierre-André Boutang: Gilles Deleuze. Filmrolle Nummer sieben. […]
Gilles Deleuze: Die Werbekunden sind die wahren Kunden.“

Dem Werbefernsehen kann man sich nur verweigern, wie es Deleuze jahrelang tat. Es sei denn man geht anders herum an die Sache heran. Und das war Deleuzes Vorstellung vom ABÉCÉDAIRE: „Von seinem Wissen als Philosoph ausgehen, um Fernsehbilder zu erzeugen – und nicht umgekehrt.“9

Das heißt auch: Aufgehen, in dem, was man tut und dennoch zugleich ein bisschen Distanz wahren, eine Distanz, von der aus man sich beobachtet, von der aus man ein bisschen darüber lachen muss, dass man gefilmt wird.10