Der estnische Komponist Arvo Pärt hatte nach einem mehrjährigen Schweigen als Komponist seinen Stil der tintinnabuli (Glöckchen) erfunden. Als eines der Hauptwerke dieses Stiles gilt die Johannespassion.

Sie wird im Allgemeinen nach dem ersten Wort ihres Textes schlicht „Passio“genannt: Passio Domini Nostri Jesu Christi secundum Joannem / Die Passion unseres Herrn Jesus Christus nach Johannes. Dieser erste Satz ist Teil der liturgischen Rahmung der eigentlichen Passion zu Beginn mit einem Exordium und am Schluss mit einer Conclusio (Qui passus es pro nobis, miserere nobis / Der du für uns gelitten hast, erbarme dich unser).

Musikalisch orientiert sich Pärt an frühen Passionen, wie sie sich von intonierten liturgischen Lesungen ausgehend vom vierten Jahrhundert an ausdifferenziert haben.2  Das kompositorisch streng gearbeitete Werk basiert ausschließlich auf dem lateinischen Text des 18. und 19. Kapitels des Evangeliums nach Johannes (Joh 18, 1– 40; 19, 1– 30).

Eine Grundkenntnis der Geschichte vorausgesetzt, orientiert Pärt durch die Verwendung des lateinischen Textes die Hörerinnen und Hörer seiner Passion auf etwas Anderes als auf das inhaltliche Verstehen. Damit verwandelt er den Text jedoch nicht in ein unverstehbares Geheimnis (arcanum). Im Gegenteil, Pärt orientiert das Hören auf ein Klangerlebnis, das über bloßes kognitives Verstehen deutlich hinausgeht3. Er öffnet das verstehende Hören selbst für die Ober- und Untertöne jenseits des Sinns.

Diese Orientierung wird von Arvo Pärt in dreierlei Hinsicht entfaltet:

Am auffälligsten ist die Aufteilung des Evangelisten Johannes auf acht Stimmen, vier Gesangsstimmen (Sopran, Alt, Tenor, Bass) und vier Instrumentalstimmen (Violine, Violoncello, Oboe, Fagott).

Dann konzentriert Pärt die dramaturgische Situation auf die Zweierkonstellation Jesus – Pilatus und ordnet ihnen instrumental die Orgel zu.

In der Folge überträgt Pärt alle weiteren dramatis personae wie Petrus, die Türhüterin, einen Diener des Hohepriesters, den Verwandten des Malchus, auf den Chorus (turba). Dadurch wird das Volk, die anwesenden Menschen, direkt in den Verrat verwickelt und noch schillernder, bedrohlicher unberechenbarer als ohnehin im Johannesevangelium.

Auf diese Weise überträgt Arvo Pärt die musikalischen Prinzipien der Mehrstimmigkeit auf die Dramaturgie seiner Passio und den Umgang mit der gegebenen Gestalt des Textes. Mit dieser Praxis unterwandert Pärt die überlieferten einstimmigen Lektüreformen dieses Textes und stellt ihn in die Offenheit eines „singulär plural sein[s]“.

Être singulier pluriel sind drei hintereinander aufgereihte Worte. Zwischen ihnen besteht keine „bestimmte Syntax“. „Être ist Verb oder Hauptwort, singulier und pluriel sind Hauptworte oder Adjektive“. Alle lassen sich in der französischen Sprache kombinieren. Dennoch sind sie von einer absoluten Gleichwertigkeit bestimmt. Ihre derart offene „Artikulation“ lässt sich „unmöglich wieder zu einer Identität verschließen“. Als offene Wortreihung findet sie eine entsprechende Übersetzung in die deutsche Sprache am ehesten in: „singulär plural sein“.4

Diese offene Artikulation denkt das Sein als „Singular und Plural (bzw. […] singulär und plural) zugleich, ununterschiedener–  und unterschiedenermaßen“. Es denkt das Sein „auf singuläre Weise plural und auf plurale Weise singulär“. Damit ist keine „Prädikation des Seins“ gemeint, „als wäre es oder als habe es eine bestimmte Zahl an Attributen, und darunter jenes doppelte, kontradiktorische oder chiastische Attribut eines singulär-pluralen Seins“. Nein, es bildet „die Wesensverfasstheit des Seins“.5

„Singulär plural Sein heißt: Das Wesen des Seins ist, und ist nur, als Mit–Wesen (coessence). Aber ein Mit–Wesen oder Mit–sein  –  das Sein–mit–mehreren  –  bezeichnet seinerseits das Wesen des Mit–, oder auch, oder vielmehr, das Mit– (das cum,) selbst in der Position oder Art des Wesens. Eine Mit–Wesentlichkeit kann in der Tat nicht in einer Ansammlung von Wesenheiten bestehen, in der das Wesen der Ansammlung noch zu bestimmen bliebe: Auf sie bezogen würden die versammelten Wesenheiten zu Akzidenzien. Mit–Wesentlichkeit bedeutet wesentliche Teilung der Wesentlichkeit, Teilung als Ansammlung, wenn man so will. Dies könnte man auch auf die folgende Weise ausdrücken: Wenn das Sein Mit–sein ist, dann ist im Mit–sein das ‚Mit‘ das, was das Sein ausmacht, es wird diesem nicht hinzugefügt.“6

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„Jeder Mensch hat seinen eigenen Weg und sein eigenes Verhältnis mit seinem Schöpfer. Es beruht auf seinen eigenen Erfahrungen. Ihren Schmerz kann man in den Werken der großen Künstler finden. Obwohl es nicht immer Schmerz sein muss. Es kann auch Licht sein.

Schmerz ist die Abwesenheit von Liebe. Ganz gleich in welcher Richtung, ob die Liebe auf mich gerichtet ist, oder ob es meine eigene Liebe Ist. Dieser Schmerz ist in keiner Hinsicht derjenige, den man mit Depressionen verbindet. Depression ist eine Krankheit. Aber dieser Schmerz ist ein gesunder Schmerz. Er ermöglicht Gesundung.“ (Arvo Pärt)7

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Die Architektur der Berliner St. Matthäuskirche8  für eine Aufführung9  von Arvo Pärts Passio szenisch ernst zunehmen, bedeutet, diese Passion in einer Arena stattfinden zu lassen. So findet sich das Publikum in mitten einer klanglichen Bewegung wieder. Es muss den Klang des Chors, der von den Galerien herab singt, über sich ergehen lassen, während der Kreuzweg Jesu durch es hindurchführt.  Am Ende bleibt das Kreuz als Kreuzung zurück. Es verwandelt sich zu einem Ort des Übergangs, wenn das Publikum die Kirche wieder verlässt.

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P.S. Ich habe geträumt, dass im Moment des Blacks am Ende der Passion – es wird davor sehr hell geworden sein – sich direkt vor den acht Evangelisten, die spiegelbildlich vier zu vier im Altarraum angeordnet musiziert haben, die Krypta der Fundamente der Matthäuskirche, (die es nicht gibt,) sich öffnen wie eine archäologische Baustelle und dort die Spuren eines alten Heilbades sichtbar werden. Vom einstigen Wasser kann man nur noch Ablagerungen erkennen und einige verrostete Gegenstände. Ein Mann in einem langen Mantel erscheint. Mit einem Feuerzeug entzündet er eine Kerze und versucht ihre Flamme mit Hand und Mantel schützend durch das Becken zu tragen. Zweimal bläst der Wind sie aus. Jedes Mal von Neuem beginnend gelingt es ihm beim dritten Mal, die Kerze brennend durch das Becken zu bringen. Erschöpft bricht der Mann zusammen.