Im Februar des Jahres 1968 traf sich der russische Filmregisseur Andrej Tarkowskij mit seinem Szenaristen in der Nähe von Moskau. Beide wollten die literarische Version eines Filmprojektes erarbeiten, worüber Tarkowskij schon seit längerer Zeit unter dem Titel „Der helle, helle Tag“ nachdachte.

Mit diesem ersten Titel nahm er Bezug auf ein Gedicht seines Vaters Arsenij Tarkowskij aus dem Jahre 1942. Das Filmprojekt sollte von „einer Mutter handeln, deren Geschichte wie die Geschichte aller Mütter zugleich gewöhnlich und außergewöhnlich sein würde… Es würden ihr Fragen gestellt werden und in ihre Antworten würden sich persönliche Erinnerungen des Autors mischen und vielleicht auch Passagen aus Dokumentarfilmen…“1 Der Film würde „menschliche Erfahrungen benutzen und imitieren“ und auf diese Art und Weise „die fundamentalen Antworten auf die Fragen herausfinden, die wir der Filmheldin stellen und damit zugleich den Zuschauern und uns selbst“2.

„Die Beichte“ war der Arbeitstitel, den die erste Fassung von 1968 trug. Und das Projekt wurde von der staatlichen Filmbehörde abgelehnt. Erst im Jahre 1973 konnte der Film ausgearbeitet und gedreht werden. Die Interviews, die Tarkowskij mit seiner eigenen Mutter geplant hatte, wurden durch Spielszenen ersetzt. 1974 erschien der Film unter dem Titel „Der Spiegel“ (Serkalo) in den Kinos. „Der Spiegel“ gilt als der am meisten subjektive unter den Filmen Tarkowskijs, was ihm die sowjetische Kritik drastisch vorwarf. Seine russischen Zuschauerinnen und Zuschauer schätzten seine Nähe zur russischen Seele.

Im Spiel der wechselnden Filmtitel von „Der helle, helle Tag“ über „Die Beichte“  –  vor der letzten Entscheidung noch der Titel „Martyrolog“, den Tarkowskij schließlich für seine Tagebücher verwandte – und „Der Spiegel“ gelang dem Regisseur ein cineastisches Gewebe aus Erinnerungen und Vergegenwärtigungen der berührendsten Art.

Das alte Holzhaus im Wald, von dem aus man auf einen Abzweig von Feldwegen blicken konnte, und jedes Mal, wenn jemand in Richtung des Hauses einschwenkte, vor allem die Mutter der beiden dort lebenden Kinder hoffte, dass es der Vater sei, der aus dem Krieg heimkehren würde. Die lichterloh brennende Scheune dem Hause gegenüber. Der Streit zwischen Vater und Mutter nach ihrer Trennung in Hörweite des in seine Phantasie flüchtenden Sohnes, nun in einer Stadtwohnung mit vorübergehend einquartierten Gästen aus dem spanischen Bürgerkrieg. Die Furcht der als Verlagslektorin arbeitenden Mutter vor einem übersehenen Druckfehler in der Ausgabe ausgerechnet von Stalins Werken. Der Blick in einen Spiegel und das plötzliche ansichtig Werden von sich selbst als alter Mensch. Eine Dokumentarszene vom Start des ersten sowjetischen Stratosphärenballons zur Musik aus Pergolsi‘s Stabat Mater: Quando corpus morietur/fac ut animae donetur/paradisi gloriae

„Im ‚Spiegel‘ wollte ich nicht von mir selbst erzählen, sondern vielmehr von den Gefühlen, die ich mir nahestehenden Menschen gegenüber empfinde, von meinen Beziehungen zu ihnen, meinem ewigen Mitgefühl für sie, aber auch von meinem Versagen und meinem Gefühle unaufhebbarer Schuld ihnen gegenüber. Die Ereignisse, an die sich der Held bis ins letzte Detail während seiner schwersten Krise erinnert, lassen ihn leiden, rufen in ihm Sehnsucht und Unrast hervor.“3

Für Tarkowskij ist es der „schöpferischen Akt“ – „zweckfrei und uneigennützig“ – ,  der zeigt, „dass wir nach Gottes Ebenbild erschaffen wurden“.4  Folglich wünschte er sich, dass die Menschen sich seine Filme „wie einen Spiegel“ anschauten, „in dem [sie] sich selbst erblick[en]“.5

Über derartige Umwandlungen, wie sie Tarkowskij in seinem Film „Der Spiegel“ künstlerisch vollführt, herrscht in der Christenheit ein alter Streit bis auf den heutigen Tag. Er führt immer wieder auf die sogenannte Alte Kirche zurück und lässt immer wieder nach der „Potentialität der altkirchlichen Denkentwicklung[en]“6  fragen, danach, wie sie wieder zu entdecken sei und heute fruchtbar gemacht werden könne.

In seiner Lektüre der Kirchenväter des zweiten bis vierten Jahrhunderts geht der französische Philosoph Michel Foucault diesen Denkentwicklungen nach. Im Band 4 seiner „Geschichte der Sexualität“ untersucht Foucault das, was das Fleisch gestehen kann.7  „Les aveux de la chair“, die Geständnisse des Fleisches, verfolgen die Organisation des physischen Lebens, der praktischen Existenz der frühen Christen anhand ihrer Schriften. Foucault hatte den Horizont dieser breit angelegten  Untersuchung in den vorigen Bänden abgeschritten: „La volonté de savoir“, Der Wille zu wissen, „L‘usage des plaisirs“, Der Gebrauch der Lüste und „Le souci de soi“, die Sorge um sich.

Die Geständnisse des Fleisches würden jedoch den komplexen und grundlegenden Gedanken des Verhältnisses „zwischen Schöpfer und Geschöpf“8 nie ganz ausblenden können. Bei der Formulierung ihrer Praxis griffen die ersten langsam zahlreicher werdenden Christen in erstaunlichem Maße auf ihre Umwelt zurück bzw. knüpften an Bestehendes an. So bei der Entwicklung von Vorschriften die Ernährung, Hygiene und den sozialen Umgang betreffend bis hinein in den Umgang mit nichtöffentlichen Praktiken innerhalb der Ehe und Familie und auch in Fragen vom Scham, Gewissen und Schuld des Einzelnen.

„Das ‚Fleisch‘ ist dabei als ein Erfahrungsmodus zu verstehen, d.h. als ein Modus der Erkenntnis und der Umwandlung (transformation) des Selbst durch sich selbst in Funktion zu einem bestimmten Verhältnis zwischen der Vernichtung (annulation) des Bösen und der Darstellung (manifestation) der Wahrheit. Mit dem Christentum ist man nicht von einem toleranten Verhaltenscodex sexuelle Handlungen betreffend in einen strengen, restriktiven oder repressiven Verhaltenscodex übergegangen. Man muss diese Prozesse und ihre Artikulation anders auffassen: Die Aufstellung eines sexuellen Verhaltenscodex, organisiert um die Ehe und die Fortpflanzung, war bereits vor und neben dem Christentum weit verbreitet. Das Christentum hat ihn im Wesentlichen übernommen. Erst im Laufe weiterer Entwicklungen und im Zuge der Ausbildung bestimmter Technologien des Individuums – poenitentielle Disziplin, monastische Askese – hat sich eine Form der Erfahrung (expérience) herausgebildet, die die Verhaltenscodes auf eine neue und ganz andere Art und Weise praktizierte und für die Führung des Individuums nutzte.“9

Die Praxis der metanoia bzw. poenitentia im Zusammenhang der Taufe ging einher mit der Entwicklung einer „Kunst der Künste“ (art des arts), der Kunst der geistigen Führung (direction spirituelle).10 Auch diese war von den Christen zunächst übernommen worden, bildete aber in monastischen Kontexten ihre christlichen Besonderheiten heraus.11

Im Zentrum der monastischen direction spirituelle stand der Gehorsam mit den Prinzipien der subditio (Unterwerfung), patientia (Geduld) und der humilitas (Demut). Im Austausch mit dem geistlichen Führer geht die „Suche nach der Wahrheit über sich selbst“ mit einem „Sich selbst absterben“12 einher. Der Horizont dieser Praxis, die in Mönchsregeln, Traktaten und Vorschriften ihren Ausdruck fanden, wird besonders deutlich in der Praxis der virginitas (Jungfräulichkeit):

„Die Jungfräulichkeit ist steril. Aber diese Sterilität gilt nur der fleischlichen Geburt, die [ihrerseits] auf zweierlei Art an den Tod gebunden ist: Zuerst ist er [der Tod] ihre Konsequenz und dann ist sie [die fleischliche Geburt] das Prinzip des ständigen dem Tode geweiht Seins. Als Verweigerung der Fortpflanzung (génération) ist die Jungfräulichkeit also eine Verweigerung des Todes, eine Unterbrechung  dieser unbestimmten Verkettung, die in der Welt begonnen hat, als der Tod in ihr erschienen ist, und die sich nun von Generation zu Generation, also von Tod zu Tod fortsetzt. […] Diese Serie, die mit dem Fall (chute) eröffnet wurde, wird hier unterbrochen. Die Macht des Todes findet nichts mehr, um seine Aktivität auszuführen. In dieser physischen Sterilität der Jungfräulichkeit ist also kein langsamer Fortgang in den Tod zu sehen, sondern ein Triumph über der Tod und die Ankunft einer Welt, in der der Tod keinen Platz mehr hat.“13

Wie ein Kontrapunkt zu dieser radikalen Weltverneinung in den Klöstern erscheint seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts die zunehmende  Zahl der Christinnen und Christen, die in Städten lebten.4  Man musste also die monastischen Werte und Praktiken denen zugänglich machen, die in der Welt lebten. Es musste eine Pastorale mit dem Ziel entwickelt werden, „bestimmte asketische Werte der monastischen Existenz, wie die Praktiken der Führung von Individuen, an das Leben in der Welt anzugleichen“15.

Diese Entwicklung vollzog sich parallel zu den Veränderungen der Verhältnisse zwischen dem Christentum, ihren sich ausbreitenden Organisationen, und dem Römischen Reich.  „Als zunächst anerkannte, dann offizielle Institution übernimmt die christliche Kirche immer einfacher und sichtbarer Funktionen in Organisation, Verwaltung, Kontrolle und Reglementierung der Gesellschaft.  Die imperiale Bürokratie ihrerseits sucht über die traditionellen Strukturen hinaus einen stärkeren Zugriff auf die Individuen.“16

Und genau an diesem Punkt wird ein paradoxer Effekt deutlich sichtbar: „die Praktiken und Werte, die für Lebensformen entwickelt oder intensiviert wurden, die ausdrücklich im Bruch mit der Welt und der zivilen Gesellschaft sich vollzogen, schickten sich an, nicht ohne Abmilderung und Modifikation, eine Rolle in institutionellen Formen zu spielen, die gestützt oder unterhalten wurden von Organisationen des Staates und allgemeinen politischen Strukturen.“17

Auf der einen Seite stehen asketische Ideale und Praktiken, die außerhalb der traditionellen Formen des Sozialen, ja sogar gegen sie entwickelt wurden. Auf der anderen Seite stehen sich aufeinander stützende kirchliche Organisationen und Strukturen des Staates. „Das Leben des Individuums in dem, was es als privat, alltäglich und singulär haben konnte, findet sich wieder als Objekt der Überwachung (vigilance) oder zumindest in Anspruch genommen von einer Sorge, die zweifellos weder dem ähnelte, was in den hellenistischen Städten vor sich ging, noch dem, was die ersten Christen Gemeinden praktizierten.“18

Es entstand eine Herrschaftsform, die die Menschen „ über (par) die Manifestation ihrer individuellen Wahrheit“ regiert. Michel Foucault nennt diese Herrschaftsform „die pastorale Macht“, le pouvoir pastorale.19

Mit der Pastorale übernimmt das Christentum wiederum eine althergebrachte Praxis. Foucault analysiert aus den Texten der Kirchenväter im Herzen der pastoralen Praxis der Kirche einen „Imperativ der Wahrheit“ bzw. ein „Ensemble von Imperativen“.20  Ein „Imperativ der doktrinalen Strenge“ (rigueur doctrinale), ein „Imperativ der Lehre“ (enseignement), ein „Imperativ der Kenntnis der Individuen (connaissance des individus) und ein „Imperativ der Vorsicht“ (prudence) lassen die pastorale Macht als eine Verbindung von „Ausbildung und Übermittlung von Wahrheit“ erscheinen.21

Die Wahrheit ist der entscheidende Operator der pastoralen Macht. Und dies in doppelten Form: „doktrinale Gleichförmigkeit“ (conformité), die man kennen und bekannt machen muss und „individuelle Geheimnisse“ (secrets), die man aufdecken muss, sei es um sie zu korrigieren, sei es um zu strafen (châtier).“22

„Die Bibel ist verschieden ausgelegt worden; […] Ist sie aber verschieden auslegbar, dann besteht das Christentum in der Sorge um den Frieden,  nicht in der Durchsetzung einer einzelnen Auslegungsweise.

Diesen historisch-theologischen Pazifismus verachtete Luther als die skeptische, friedensverliebte Theologie des Erasmus. Erasmus sah Kriege voraus; der Glaubensstreit hat sie bald tatsächlich gebracht. Luther warf ihm vor, er denke an den Frieden, nicht an das Kreuz. Erasmus hätte erwidern können: Das Kreuz, an das du denkst, ist das Kreuz des Gottessohnes, der nach drei Tagen wiederauferstehen konnte. Ich denke an das Kreuz der Hunderttausenden, die in Glaubenskriegen leiden und sterben.“23