Der Dada-Erfinder Hugo Ball hatte Anfang der 1920er Jahre in seiner Schrift „Die Folgen der Reformation“ (1919/24)1 überdeutlich die aus der Reformation hervorgegangene deutsche Verbindung von Thron und Altar für das Grauen des Ersten Weltkrieges verantwortlich gemacht. Um die Radikalität seiner Analyse ins rechte Verhältnis zu setzen, zeichnete er drei Heiligenleben des „Byzantinische[n] Christentum[s]“ (1923)2.

Im Orient, den Luther negiert hatte3, – bei Ball ist „die Zeit der Kirchenväter, des Urchristentums und der frühbyzantinischen Kirche“4 gemeint – würden sich die Quellen eines erneuerten Christentums finden lassen, wollte es nicht in noch schlimmere Verheerungen verwickelt werden.

Der prophetischen Klarsicht dieser These in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg steht eine tragische historische Realität gegenüber, die Hugo Ball nicht kannte. Die orientalischen Christen, namentlich die armenischen und assyrisch genannten, aramäisch sprechenden Christen, wurden im Schatten des Ersten Weltkrieges zielgerichtet und systematisch vertrieben und vernichtet. Und zwar unter wissender Billigung der deutschen Kriegsmacht in aller Grausamkeit ausgeführt vom damaligen verbündeten Osmanischen Reich.5

Eine erschütternde Folge dieser bis heute politisch geleugneten Vernichtung war ihre Vorbildrolle für die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg, eben der noch schlimmeren Verheerung. Kaum weniger erschütternd erscheint die grausame Fortsetzung der Minderheitenvernichtung unter islamistischem Vorzeichen einhundert Jahre später: heute.6

„Auch, wenn die Orientchristen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Christen weltweit nur einen kleinen Teil ausmachen, wäre ihr Verschwinden schwerwiegend, weil sie die noch lebenden Zeugen des christlichen Ursprungs sind.
Im Westen vergessen wir oft, dass es diese Gemeinschaften gibt und wir erinnern uns auch nur ungern an sie. Paradoxerweise werden sie in ihren eigenen Ländern oft verfolgt, weil sie vermeintlich den Westen repräsentieren. Während sie in der laizistischen Politik des Westens oft übersehen werden, weil sie Christen sind. […]
Wir müssen verstehen, dass die Christen nur abwandern, weil sie sich zum ersten Mal nach 14 – 15 Jahrhunderten des Widerstands nicht mehr wehren können. Den Christen bleibt nur noch eins: in den Westen zu gehen, den sie sich christlich erträumen und dann völlig säkularisiert vorfinden. Dort können sie zwar materiell überleben, aber nicht spirituell, weil ihnen das Umfeld für ihre Identität fehlt. Wirklich eine Katastrophe der Zivilisation. Es scheint sich abzuzeichnen, was kommen wird, nämlich, dass Identität entweder mörderisch ist, oder reine Folklore. Und das wofür die Orientchristen historisch standen, war ihre Mittlerrolle. Das Christentum ist bei ihnen entstanden, dann der Islam. Sie waren immer ein Teil davon. Aber unsere Welt will keine Vermittler mehr, kein sowohl als auch. Das signalisieren uns die Orientchristen. Deshalb ist ihr Drama von universeller Bedeutung.  Es zeichnet ein tragisches Bild der Welt von morgen. Umso unentschuldbarer ist unsere Gleichgültigkeit. […] Wenn sie sterben, sterben auch wir.“7

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Irgendwann zwischen dem 9. und den 12. Jahrhundert lebte ein Mann, irgendwo zwischen Konstantinopel, Damaskus oder Alexandrien. Dieser Mann wurde „in ein großes Becken aus rotem Marmor getaucht“. Das „Untertauchen im kalten Wasser“, das „reinigende Taufbad“ ließ ihn eine Atemlosigkeit als „glühenden Exzess seines Atems“ erleben. Der Art, dass er „für sein ganzes Leben auf jede sinnliche Flüssigkeit, jeden Wasserguss [verzichtete], als wolle er sich die Erinnerung an jenes Taufbad, in dem er neu geboren war, absolut rein, unverfälscht und einzigartig bewahren. Nie mehr wollte er trinken, nachdem er den Rausch dieses einzigen Eintauchens erlebt hatte“.8

Philotheos Sinaita ist der Name dieses Mannes und wir wissen wenig von ihm. Es ist nicht ganz einfach seine Spur aufzunehmen. Der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman stieß auf ihn in einem Dictionnaire de spiritualité aus dem Jahre 1854 und folgte dessen Verweis auf die Philokalie.

Diese in der Ostkirche weitverbreitete Schriftensammlung von etwa 36 Autoren, die zwischen dem 4. und dem 15. Jahrhundert lebten, wurde 1782 in Venedig zum ersten Mal herausgegeben von Nikodemus Hagiorita und Makarios von Korinth. Die Herausgeber selbst waren vermutlich erst wenige Jahre zuvor in einer Bibliothek auf dem Berg Athos auf diese Schriften gestoßen.9

In dieser Philokalie finden sich die nur wenige Seiten umfassenden vierzig Kapitel bzw. Absätze des Philotheos über die nepsis, die Nüchternheit oder die Wachheit. Weitere Schriften dieses Autors sind aller Wahrscheinlichkeit nach bei einem Brand im Jahre 1868 zerstört worden.10

Philotheos lebte nicht lange nach Johannes Klimakos11 und hatte seinen Namen – und damit das, was er in seinem innersten Wesen war: Ein Freund Gottes – in jenem Taufbad empfangen. Diese Erfahrung der Taufe hatte er in eine Praxis umgewandelt und dafür ein Wort erfunden, welches die Aufmerksamkeit des Philosophen Georges Didi-Huberman auf sich gezogen hatte. Philotheos war der „Erfinder des Wortes ‚photographieren‘“12.

Er lebte in der Wüste, dort, wo der brennende Dornbusch gestanden haben soll in der Nähe eines Ortes namens Batos.  „In der ockerfarbenen Wüste am Hang des Horeb vollendete er unablässig das reinigende Taufbad durch ein Bad im Feuer, wiederholte er die Atemlosigkeit während des einstigen Untertauchens im kalten Wasser durch die glühenden Exzesse seines Atems. Er versuchte von nun an, seine Augen in der gleißenden Flut des Sonnenlichtes zu ertränken. Stellte sich vor, ein Bild zu werden, indem er sich dem Licht aussetzte. Der einzige Weg, so dachte er, um zu sehen und selbst gesehen zu werden von dem, was er ‚Gott‘ nannte“.13

So erfand er eines Tages das Wort „photographieren“. „Er spürte seinen Körper und das Innere seines Körpers, als wäre es ein Tropfen blutroten Wachses, in den sich ein Siegel eindruckte. Dort in mir, dachte er, schreibt Gott durch das Licht sich ein, phôteinographeistai, ‚photographiert‘ sich. Und es ist dort, dachte er zugleich, dass ich ihn sehe. Und er öffnete seine Augen so weit, dass er sich vorstellte, alle Schleier für immer durchbrochen zu haben – die Augenlider, die Schleier der Sinne, die Trugspiegelungen, die Nacht selbst. In diesem Moment schien ihm, unter der Gewalt des Lichts Rauch aus seinem Körper auszuströmen, weil er von diesem Licht ‚photographiert‘ war, das Siegel des Lichts sich in seinem tiefsten Inneres eingedrückt hatte, und er selbst das Licht wurde, das er von Angesicht zu Angesicht geschaut hatte.“14

Die Erfindung des Wortes „photographieren“ bezog sich bei Philoteos also keineswegs auf die Herstellung visueller Gegenstände oder gar ihre technische Reproduktion, sondern auf eine Erfahrung, auf eine „einzigartige, nichtreproduzierbare Erfahrung“15. Diese Erfahrung entspricht nicht einem „Vergnügen der Bilder oder der Formen der Realität“, sondern der Erfahrung einer „reinen taktilen Intensität“16. Im Falle des Philoteos ist es die Intensität des Lichtes, „bei dessen Anblick zu sehen gleichbedeutend ist mit nichts mehr zu sehen“.

Philotheos war kein „Gelehrter der Wüste“, der uns mit „Tausenden von tiefgründigen Wahrheiten und Maßregeln überschüttet“ hat. „Er suchte keine Moral und keine Erkenntnis. Er begnügte sich damit zu sein“17, im Licht zu sein. Doch dieses Sein ist kein stillgestelltes, besitzendes, herrschendes oder repräsentatives Sein. Es ist ein Sein, das sich sinnlichen Erfahrungen von Intensitäten aussetzt, ein Werden.
Schon die Taufe des Philoteos war „kein Symbol der Aufnahme in die Kirche“, also ein Verwaltungsakt, „sondern ein Rausch, eine Erleuchtung und Überwältigung“.18 Nur Erfahrungen dieser Intensität lassen sich fortführen und bleiben im Werden.

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Die Geschichte des Begriffes Werden (devenir) geht zurück auf Heraklit und die griechische Tragödie. Im alten Griechenland ist die Verwendung dieses Begriffes kein Privileg der Philosophen, es ist Teil des städtischen Lebens. Dort sind sowohl die sogenannten phallophorischen Prozessionen als auch die Rolle der Pythia Ausdruck der Suche nach einer Positivität des Werdens. Was also die Tragödien auf der Theaterbühne zeigen, ist das Werden in Aktion (des devenirs à l’œuvre).

„Das, was Heraklit dem Konzept des Werdens hinzugefügt hat, und was aus ihm wahrscheinlich einen singulären Denker seiner Zeit gemacht hat, ist eine Bejahung (affirmation). Mit ihm ist das Werden nicht mehr die Quelle von Furcht und Unsicherheit, sondern von Zustimmung. Diese Bejahung macht aus dem Werden die Textur des Lebens selbst und damit wird das Sein (être) zum Sein des Werdens (l’être du devenir). Durch Heraklit ist das Sein zugleich nicht: es ist ganz und gar Werden und nur parallel ist es Sein: Sein des Werdens. Das bedeutet, dass das Werden weder irgendetwas außerhalb des Seins – transzendent – ist, noch das es irgendeine Bedingung des Seins gäbe – wie ein a priori, das außerhalb des Werdens existiert.“19

Der Heraklitleser Friedrich Nietzsche hat mit seiner sogenannten Ewigen Wiederkehr dem Werden den Aspekt von Bewegung hinzugefügt. „Das was wiederkommt und dem Sein unaufhörlich als Wiederkehr erscheint, ist Werden (des devenirs). Nietzsche fügt dem heraklitischen Konzept eine unzeitgemäße bzw. gegenzeitliche (intempestif) Bewegung hinzu, die das Sein in allen Teilen durchquert, in der Art einer Ewigen Wiederkehr.
Die Ewige Wiederkehr ist die Bewegung (mouvement) des Werdens über das Sein hin, das sich seiner Erscheinung nach wie ein Spiel, ein Würfelspiel, organisiert. Die Wiederkehr ist das Sein des Werdens, wie das Sein sich nur als sein Werden behauptet (s’affirme).

Bei Nietzsche ist das Werden (les devenirs) eine Bewegung der behauptenden Bejahung (affirmation) und der Schöpfung (création). Werden setzt im Verhältnis zum Sein ein Bewegungsspiel in Gang, das gegen jegliche unveränderliche und ewige Wahrheit (vérité immuable et éternelle) spielt […]  Spiel des Seins und des Lebens in überschwänglicher Bejahung des Werdens“20.

Von Heraklit über Nietzsche wird das Werden als „reine Bewegung“ beschrieben, die das Sein durchkreuzt und bedingt“21. Gilles Deleuze geht noch einen Schritt weiter und verschmilzt nun Sein und Werden. Werden durchquert und modifiziert nicht mehr nur das Sein, sondern das Werden wird jetzt zur Bedingung des Seins selbst.

Damit verschiebt sich die ontologische Grundvoraussetzung von einem mehr oder weniger statischen Sein in Richtung Bewegung, Differenz, Werden. „Das Sein ist eine Summe von Werden (devenirs). Diese immer offene Summe unterwirft das Sein heterogenen und chaotischen Variationen […] Es ist konstituiert durch ein Ensemble des Anders-Werdens (devenirs-autres), dessen Intensität eine beständige (perpetuelle) Metamorphose autorisiert.“22

Diese ständige Veränderung wird von Deleuze ganz konkret beschrieben: „Der Counter-Tenor lebt [singend] ein Frau-Werden, während der Tischler in Ausübung seines Handwerks ein Holz-Werden lebt“23.
Oder berühmt geworden: „Die Wespe und die Orchidee geben das Beispiel. Die Orchidee erweckt den Anschein, ein Bild der Wespe zu formen, aber in Wirklichkeit ist es ein Wespe-Werden der Orchidee und ein Orchidee-Werden der Wespe, zweifach: das, was jede wird, verändert nicht weniger die, die wird. Die Wespe wird in dem Moment Teil des Reproduktionsapparates der Orchidee, in dem die Orchidee zum Geschlechtsorgan der Wespe wird.“24

Es ist die öffnende oder aufschließende Kraft (puissance) eines Werdens zu einem anderen, sein eigenes Anders-Werden, das es von jeglicher Herrschaft (pouvoir)25 absetzt, die ein Sein lediglich repräsentiert. Deleuze beschreibt diese Unterwanderungsbewegung als Selbst-Befremdung (rendre étranger à soi-même) bzw. ein Abziehen von allem, was mit Herrschaft zu tun hat (soustraire tout ce qui relève du pouvoir) und nennt dieses Vorgehen minderheitlich (mineur).26

Man wird also minderheitlich, um im Werden zu bleiben.