In einer traumartigen Filmszene irrt ein Mann durch die Straßen einer Stadt. Die Häuser sind verfallen, Zeitungen, Hausrat liegen herum. Er kommt an einem Schrank mit einer großen Spiegeltür vorbei, zögert, kehrt zum Schrank zurück, beginnt die Spiegeltür zu öffnen und sieht als sein Spiegelbild das Bild des anderen, dem er versprochen hatte, die Welt zu retten, indem er eine Kerze durch ein Wasserbecken trägt.1

In einer anderen Traumsequenz eines anderen Filmes sieht eine junge Frau in einen Spiegel. Nach einer Weile erkennt sie sich selbst als die alte Frau, die sie später mit ihren beiden kleinen Kindern übers Feld laufen sieht.2

Hoffmann sitzt in einer Theaterloge und sieht eine Aufführung von Mozarts Don Giovanni. Als er dicht hinter sich einen Atemhauch und das Knistern eines seidenen Gewandes spürt, sieht er in einen kleinen Spiegel an der Logenwand. „Der Spiegel zeigt ihm das Antlitz der Donna Anna. Donna Anna, ganz in dem Kostüm, in welchem er sie auf der Bühne sieht!“3

Nach qualvollen Minuten starren Wartens, entschließt er sich, sie anzusprechen: „Wie ist es möglich, Sie hier zu sehen?“ „‘Hier? Nichts könnte einfacher sein. Haben Sie denn nie – und sei es im Traum – diese Gewissheit verspürt, dass alles möglich sei: Dass jeglicher Wunsch unzweifelhaft in Erfüllung ginge? Und wirklich, finden Sie alles, was es auch sei, in Erfüllung gegangen, wenn Sie der Wahrhaftigkeit dieser Gewissheit einmal nachgehen.‘“ „‚Aber nur im Traum‘“, schränkt er ein. „‚Ist der Traum denn nicht ebenso wahr wie die Wirklichkeit?‘ lächelt sie…“4

Spiegel kommen auf die eine oder andere Art in allen Filmen des russischen Regisseurs Andrej Tarkowskij vor. Sie können als sein kinematographisches Programm verstanden werden.5

Aber eines ist sicher: Tarkowskij interessiert sich nicht für die glatte Oberfläche der Spiegelbilder unserer glitzernden Konsumwelt. Die bespiegeln nur sich selbst. Tarkowskijs Spiegel reflektieren das Leben, sie versiegeln Lebenserfahrung als Zeit. So kann man sie als Zuschauerin oder Zuschauer seiner Filme wieder ansehen und an den Erfahrungen teilhaben. Die Oberfläche dieser Spiegel ist nicht auf Hochglanz poliert, im Gegenteil. Manche Spiegel sind beschlagen, spiegeln nur undeutlich, geradezu durchlässig, offen. Manche Spiegel sehen auch heraus, fahren blicklich auf den Betrachter zu.

Die filmbildtheoretische Grundlegung Tarkowskijs kann man in seinem großen Film „Andrej Rubljow“ (1966/69) anschauen. Dieser Film erzählt die Geschichte des gleichnamigen russischen Ikonenmalers aus dem 15. Jahrhundert. Der berühmte Malermönch sieht sich nicht in der Lage, eine verabredete große Wandmalerei des Jüngsten Gerichtes zu realisieren. Man dürfe das Volk mit diesen Darstellungen nicht erschrecken. Wie ein jüngstes Gericht bricht der Tartarensturm real über die Russen herein. Andrej erschlägt einen Tartar, der ein taubstummes junges Mädchen bedroht, wird auf diese Weise schuldig und legt ein Schweigegelübde ab. Erst als es einem jungen Glockengießer gelungen war, eine Glocke zu gießen, bricht Andrej sein Schweigen und malt Ikonen. Der gesamte Film ist in Schwarzweiß gedreht, nur zum Ende wird es farbig, wenn die Kamera die berühmten Ikonen Andrej Rubljows ganz nah abtastet, darunter die Dreifaltigkeitsikone und die versehrte Ikone des Heilandes.

Ikonen werden nicht in der Zentralperspektive, sondern in der umgekehrten Perspektive gemalt. In seinem Buch „Die versiegelte Zeit“ kommt Tarkowskij darauf zu sprechen: „In diesem Zusammenhang erinnere ich mich einer interessanten Ansicht, die Pawel Florenskij in seiner Arbeit ‚Ikonostase‘ (Die Ikonenwand) äußerte, wo er über die ‚umgekehrte Perspektive‘ schrieb. Er widerspricht hier der weitverbreiteten Ansicht, wonach diese Perspektive in der alten russischen Malerei darauf zurückzuführen sei, dass die Russen damals noch nicht die bereits von Leon Battista Alberti erarbeiteten und von der italienischen Renaissance aufgegriffenen optischen Gesetze gekannt hätten. Nicht ohne Grund meint Florenskij, dass man bei einer Beobachtung der Natur zwangsläufig die Perspektive entdecken müsse. Allerdings war es möglich, dass man sie zeitweilig gar nicht nötig hatte und sie daher vernachlässigte, bewusst übersah. Die umgekehrte Perspektive der altrussischen Malerei drücke daher, anders als die Renaissance-Perspektive, das Bedürfnis aus, jene geistigen Probleme besonders zu beleuchten, vor denen die altrussischen Maler im Unterschied zu ihren italienischen Kollegen des Quattrocento standen. (Übrigens besagt eine These, dass Andrej Rubjow sogar selbst in Venedig gewesen sein soll und in diesem Falle darum wissen musste, dass sich die italienische Malerei mit dem Problem der Perspektive auseinandergesetzt hatte).“6

Nun ist es nicht die umgekehrte Perspektive im direkten Sinne, die Tarkowskij für seine Filmbilder inspirierte, wenngleich er regelmäßig Ikonen zitiert, also zeigt. Es ist die diesen Bildern inhärente Zeitbewegung, wie sie der russische Mathematiker und Theologe Pavel Florenskij herausarbeitet, die Tarkowskij auf seine Arbeit mit gefilmten Bildern überträgt.

Die Tatsache, dass die umgekehrte Perspektive der Ikonen es z.B. erlaubt, Dinge, Hausansichten, Gesichter, Kleider, Personen in mehreren Ansichten gleichzeitig zu zeigen, was einem als Betrachter sofort auffällt und in Darstellungen der Zentralperspektive regelwidrig ist, erinnert Florenskij an Traumbilder. Im Vergleich zur Wirklichkeit ist es so, dass ein Traumbild „gerade andersherum abläuft, als wir es erwarten könnten, wenn wir von der Vorstellung der Kantschen Zeit ausgehen“7. Im Traum eilt die Zeit dem Moment des Erwachens entgegen und dreht auf diese Weise das gewohnte Verhältnis von Wirkursache und Zielursache um.

Was im Moment des Erwachens passiert, wird besonders deutlich, wenn man an das Geräusch eines Weckers denkt. Der real klingelnde Wecker entspricht einem anderen schrillen Geräusch im Traum. Auf beiden Ebenen ist das jeweilige Geräusch Teil einer logischen Verknüpfung von Ereignissen und Bildern, die an diesem Punkt zusammenlaufen. Der Schnittpunkt ist markiert von zwei Gleichzeitigkeiten, die in spiegelbildlichem Verhältnis zueinanderstehen.

„Also eilt im Traum die Zeit – und zwar beschleunigt – der Gegenwart entgegen, gegen die Bewegung der Zeit des Wachbewusstseins. Sie ist umgestülpt, und folglich sind zugleich mit ihr auch alle konkreten Bilder umgestülpt. Das heißt aber, dass wir in das Gebiet des imaginären Raums übergewechselt sind. In dem Moment wird dasselbe Phänomen, das von hier aus – vom Gebiet des wirklichen Raumes – als wirkliches wahrgenommen wird, von dort aus – vom Gebiet des imaginären Raums – selbst als imaginär gesehen.“8

In diesem Sinne sind Ikonen Fenster.9  Sie zeigen „Kristall[e] der Zeit in einem imaginären Raum“10  oder mit anderen Worten: einen „ontologisch spiegelbildlichen Reflex der Welt“11. Mit Hilfe dieses ästhetischen Konstruktionsprinzips von Ikonen erarbeitet Tarkowskij seine gefilmten Bilder.

Unmittelbar nach der eingangs geschilderten Begegnung mit dem Spiegelschrank auf der Straße findet sich der Mann in einer riesigen Kirche wieder. Diese Kirchen – es ist die Kirche des ehemaligen Zisterzienserklosters San Galgano in der Toskana – ist eine Ruine, sie hat kein Dach und ist nach allen Seiten offen.

Der Mann ist allein. Stimmen betender Frauen sind zu hören. Er geht quer von einem Seitenschiff durch das Hauptschiff in das gegenüberliegende Seitenschiff. Man sieht in die leere Kirchenruine.

Eine Frauenstimme spricht: „Herr, siehst Du, wie er leidet? Warum sprichst du nicht zu ihm?“ „Stell Dir vor, er würde meine Stimme hören“, antwortet eine Männerstimme. „Lass ihn deine Gegenwart spüren!“ bittet die Frauenstimme. „Sollte er sie spüren, würde er ihr nicht vertrauen“, antwortet die Männerstimme.

Der Mann konnte die Stimmen nicht hören, spürte aber, dass irgendetwas vor sich ging. Er raucht und schaut sich um. Kinderstimmen sind zu hören. Der Mann sieht nach oben. Man hört einen Vogel auffliegen.

Gegen Ende des Films wird er sein Versprechen einlösen und eine Kerze durch das Wasserbecken in Bagno Vignoni tragen…