Wenn während der sogenannten Lutherdekade und somit auch während des letzten Jahres 2017 ein genuin lutherisches Thema gänzlich ausfiel, dann war es Luthers endzeitlicher Furor. Das beängstigende finale Grollen am Himmel ist verstummt. Und niemand hätte das angemessener zum Ausdruck bringen können als der berühmteste Student der Universität Wittenberg – nämlich: Hamlet. Und zwar mit Worten aus der Überlieferung Heiner Müllers: Mein Drama findet nicht mehr statt.1

Das ist postdramatisch.

Postdramatisch in dem Sinne, in dem sowohl griechisches Theater als auch christlicher Gottesdienst schon immer postdramatisch sind, nämlich „Nach der Tragödie“2; man könnte auch sagen nach der Katastrophe oder nach dem Opfer.

Und postdramatisch im lutherischen Sinne, der darin besteht, dass die lutherische Interpretation des paulinischen ex auditu mit der Übersetzung „aus der Predigt“ einer radikalen Verschiebung vom Wer zum Was gleichkommt3 und somit eine entschieden entdramatisierende4 Praxis darstellt:

Wo Drama war, soll Lehre werden.

Die Rezeptionen theatralischer und ästhetischer Theorien in theologischen Diskursen ändern an der Praxis in den Gottesdiensten und Predigten wenig. Das liegt zumindest teilweise daran, dass sie mit der Praxis in den Theatern kaum verbunden sind und daher stets etwas bemüht und wie von außen herangezogen wirken.  –

Das, was seit einigen Jahren „Postdramatisches Theater“ genannt wird und seine prominenteste theoretische Ausformung von Hans Thies Lehmann5 erfuhr, müsste theologische Theateraffinitäten schlagend als ein Missverständnis erweisen. Denn postdramatisches Theater kritisiert zuallererst die Dominanz des Wortes auf der Bühne und damit eine Hierarchie der künstlerischen Mittel einschließlich der Konzentration des Dramas auf einen psychologischen Konflikt.

Wieder hat der berühmteste Student der Universität Wittenberg die passenden Worte: Ich spiele keine Rolle mehr. Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen. […] Ich spiele nicht mehr mit.6

Um diesem liebenswerten aber doch Missverständnis zwischen Theaterwissenschaft und Liturgiewissenschaft/Homiletik zu entkommen, müsste man das Dramatische eines Gottesdienstes postdramatisch rekonstruieren. Man müsste also danach fragen, wo das Drama geblieben ist. In mindestens zwei Feldern lohnt es sich, zu suchen.

Das eine Feld ist die Musik und hätte seine zentrale Referenz bei Bachs Matthäuspassion und ihre für unseren Zusammenhang exemplarische szenische Realisierung an der Berliner Philharmonie von 20107 unter der Leitung von Simon Rattle und dem amerikanischen Regisseur Peter Sellars.8

Das andere Feld ist das Bild.

Der amerikanische Kunsthistoriker Joseph Leo Koerner hat vor mehr als zehn Jahren während eines einfachen Seminares eine Entdeckung gemacht. Koerner war dabei, seinen Studenten die Doppeldeutigkeit des berühmten Gemäldes „Das Kreuz im Gebirge“ (1807/08) von Caspar David Friedrich zu erläutern.

Die Doppeldeutigkeit bestand darin, dass Friedrich das Bild als Altarbild malte und die Auftraggeberin es in ihrem Schlafzimmer anbrachte. „Im Zuge der Reformation und der Aufklärung sei an die Stelle der organisierten Religion als dem Ort spiritueller Transzendenz das private Erleben von Kunst und Natur getreten.“9 Zur Veranschaulichung hatte Koerner das Bild während seiner Erläuterungen als Dia an die Wand des Seminarraumes hinter sich projiziert. Er nutzte dazu einen „Überblend – Diaprojektor“ und hatte den linken Projektor bedient.

Zum Vergleich und als Beleg seiner These schaltete er den rechten Projektor ein und projizierte ein weiteres Kruzifix an die Wand: die ebenfalls berühmte Predella des Altargemäldes von Lucas Cranach in der Wittenberger Stadtkirche von 1547.

Cranach habe hier sein Kruzifix bewusst aus der Predigtszene herausgelöst und weder eine historische Kreuzigung, noch eine Wundererscheinung oder ein geschnitztes Kruzifix dargestellt, sondern er habe in diesem zentralen Bild der Reformation einen ersten Schritt markiert, der in Friedrichs Landschaft ende. „Hatte die Reformation das Heilige in der abgesonderten Sphäre des inneren Glaubens angesiedelt, so erkundete die Romantik die dadurch entstandene Leere.“10

„Als ich jedoch“ – so schildert Joseph Leo Koerner – „auf meinem Podest einen Schritt nach rechts trat, um auf die Stelle zu deuten, wo Cranach diese epochale Enthebung des Kreuzes dargestellt hat, geschah etwas Unerwartetes. Während ich auf das Kreuz zeigte, warf meine Hand genau da einen Schatten auf das an die Wand projizierte Bild, wo Luther seine Finger zu Christus hin ausstreckt. Und auf einmal schien alles miteinander zu verschmelzen. Prediger und Lehrer, Kanzel und Podest, Predigt und Vorlesung, Pfarrgemeinde und Studenten, fensterloser Chor und abgedunkelter Hörsaal. Alles schien Teil ein und desselben Gefüges zu sein. Und hier wie dort, als nach wie vor intendierter Bezugspunkt der Aufmerksamkeit, stand etwas im Zentrum, das – an der Wand hinter mir ebenso wie in Cranachs und Friedrichs Gemälde – auf fast unheimliche Weise projiziert statt unmittelbar verfügbar zu sein schien: das Bild, um das es ging, die Ikone Gottes.“11

In seinem im Jahre 2007 erschienenen und zehn Jahre später (2017) in die Deutsche Sprache übersetzten Buch „Die Reformation des Bildes“ schildert Koerner die Entdeckung seines Seminares und kommt immer wieder auf sie zurück: Der Finger von Joseph Leo Koerner hatte „unbeabsichtigt auf das Bild des Gekreuzigten gedeutet.“12

Diese Geste führt Koerner zu der Erkenntnis, dass Cranachs und Friedrichs Kruzifixe „paradigmatische Instrumente“13 einer künstlerischen Praxis sind und als solche „Ikone und Ikonoklasmus zugleich“14.

Beide Künstler hatten sich als historischer Voraussetzung bilderstürmerischer Attacken zu erwehren, der eine durch die Wittenberger Bilderstürmer um Karlstadt, der andere durch Napoleon. „Beide verwendeten das Kruzifix, um dem Hammerschlag Einhalt zu gebieten, der ihnen Raum gegeben hatte, und ihn zugleich zu wiederholen: Cranachs Bild, indem es das Heilige von einer Welt der Fakten reinigte; Friedrichs Bild, indem es das Heilige in einer verarmten Welt aufspürte.“15

Das Kruzifix „stellt nicht einfach nur in einer von Bildern gereinigten Kirche ein sakrales Bild wieder her. Es verharrt vielmehr selbst in einem Zustand des Enthobenseins und bekräftigt mit bildnerischen Mitteln, dass das, was es zeigt anderswo und unsichtbar ist. Doch während es sein Erscheinen in dialektischer Weise negiert, behauptet es dennoch beharrlich seinen Platz.“16

Diese „Gleichzeitigkeit des Bilderbesitzens und Bilderzerstörens“ bezeichnet Koerner mit einem Wort des französischen Soziologen Bruno Latour als iconoclash. Latour hatte den Begriff iconoclash für eine gemeinsam kuratierte Ausstellung am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe geprägt.17

Wie schon bei Joseph Leo Koerner, so spielt auch bei Bruno Latours Konzept des iconoclash die Hand eine wichtige Rolle. Latour definiert iconoclash als „das, was ein tritt, wenn Ungewissheit über die genaue Rolle der Hand besteht, die bei der Produktion eines [Bildes] am Werk ist: Ist es eine Hand mit einem Hammer, die im Begriff ist zu denunzieren, zu entlarven, aufzudecken, bloßzustellen, zu enttäuschen, zu entzaubern, Illusionen aufzulösen, Luft rauszulassen? Oder ist es im Gegenteil eine achtsame und vorsichtige Hand, mit offener Handfläche, wie um Wahrheit und Heiligkeit zu ergreifen, herauszuholen, hervorzulocken, in Empfang zu nehmen, hervorzubringen, aufzunehmen, aufrechtzuerhalten, zu sammeln?“ 18

Nicht zufällig, findet sich eine solche Ungewissheit über die Rolle der Hand in vielen Bildern selbst abgebildet. Joseph Leo Koerner las die Predella des Cranachaltares auf diese Art und er hatte prompt seine eigene Hand im Spiel.

Der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman deutet derartige Phänomene19 als Montage. Mit der Deutung des iconoclash als Montage  lässt sich unsere postdramatische Rekonstruktion des Dramatischen im christlichen Gottesdienst auf dem Feld des Bildes entfalten. Zugleich markiert sie den Übergang vom Bildlichen ins Performative. (Siehe den oben rechts stehenden Bildausschnitt.)

„Zu was wird hier der Körper Christi? Auf diese Frage könnte man antworten, dass der Glaube und die Andacht eine Montage erfordern die aus dem angebeteten Leib einen buchstäblich ‚unglaublichen‘, einen zugleich zerteilten (zerstückelten, auseinandergerissenen) und wieder zusammengesetzten Organismus macht: einen wie in einem Rebus oder in einem Traum fortwährend verschobenen und verstellten Körper. Die Montage dramatisiert und fokussiert den Blick, indem sie neue organische Hierarchien erfindet. So ist das offene Herz hier der Teil, der beinahe monströs für das Ganze steht; […] Die dramatische ‚Nahaufnahme‘ dringt bis ins Innere des Leibes vor, sie wird zur paradoxen Endoskopie eines abwesenden Körpers. Gleichzeitig erfindet die Montage unerhörte Zusammenhänge, indem sie den Organismus der Passion überall ausbreitet. Sie zwingt den Blick zu einem Zickzackkurs von einer Figur zur nächsten, um aus jeder isolierten Figur die exegetische Figur aller anderen Figuren zu machen.“20

Die Arbeit der Montage bringt Bewegung ins Wahrnehmen und Denken. Sie dramatisiert: erzeugt Reibung und Konflikt. Didi-Hubermann fasst diese Bewegung als oszillierende Bewegung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit zusammen. Er geht soweit, in dieser Bewegung das Konstitutivum des Glaubens zu sehen:

„Vermutlich gibt es keinen Glauben, ohne das Verschwinden eines Körpers. […] So hört Christus niemals auf, sich zu manifestieren, zu verschwinden und schließlich sein Verschwinden selbst zu manifestieren. Fortwährend öffnet er sich und verschließt sich wieder. Fortwährend kommt er zum Greifen nahe und zieht sich wieder zurück bis ans Ende der Welt. Beispielsweise, wenn er in seinem demütigen Tod und seinem Begräbnis entschwindet, aber bald darauf in seiner glorreichen Auferstehung zurückerscheint. Seine Auferstehung bedeutet zugleich aber auch, in einer dialektischen Wendung, dass mit ihr die Zeit eines erneuten Verschwindens beginnt, die nun aber durch den Glauben ausgezeichnet ist: die menschliche Zeit, die Zeit der Gemeinschaft und der Liturgie, in der seine Abwesenheit zum Warten auf seine Wiederkehr […] wird.“21

Mit der Montage überträgt Didi-Huberman eine Kategorie des Kinos auf die Malerei zurück. Er nimmt damit nicht nur den Gedanken von Gilles Deleuze auf, dass das Bewegungsbild des Kinos das Denken selbst in Bewegung bringt – Deleuze sagt, dass die eigentliche Projektionsfläche eines Filmes das Gehirn sei, le cerveau, c’est l’écran  – sondern auch den Gedanken von Deleuze, dass sich in einem Bild die Zeit selbst bewegt:

„…Es scheint mir offensichtlich, dass ein Bild nicht in der Gegenwart ist. Das was in der Gegenwart ist, ist lediglich das, was ein Bild ‚repräsentiert‘, aber nicht das Bild selbst. Das Bild selbst ist ein Ensemble von Zeitverhältnissen, durch die die Gegenwart nur hindurch fließt, sei es als vielfältige Gemeinsamkeit, sei es als kleinster gemeinsamer Teiler. Die Zeitverhältnisse sind nie in der gewöhnlichen Wahrnehmung zu sehen, aber sie sind im Bild, sobald es schöpferisch ist. [Ein Bild] macht die Zeitverhältnisse fühlbar, sichtbar, die nicht auf die Gegenwart reduzierbar sind.“22

Iconoclash: die Gleichzeitigkeit von Bilderbesitzen und Bilderzerstören oder die Ungewissheit über die Rolle des Hand. –
Montage: zugleich zerteilen und zusammenfügen oder aus jeder isolierten Figur die exegetische Figur aller anderen machen. –
Bewegung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit: manifestieren, verschwinden, schließlich das Verschwinden selbst manifestieren oder fortwährend öffnen und wieder verschließen. –
Bewegung der Zeit: ein Ensemble von Zeitverhältnissen, durch die die Gegenwart hindurch fließt oder Zeitverhältnisse, die nicht auf die Gegenwart reduzierbar sind. –

Mit diesen Begriffen lässt sich vom reformatorischen Bild ausgehend rekonstruieren, wie das Dramatische im Gottesdienst postdramatisch gedacht werden kann. Welchen Effekt unsere Begriffsvorschläge auf gottesdienstliches bzw. auf liturgisches Denken haben können, skizziert folgendes Beispiel.

Nehmen wir nur die liturgischen Zeitbegriffe: advent, anamnesis /zikkaron, kairos, archè /bereschit, telos (synteleia) und setzen sie in Bewegung; Zunächst als einzelne Zeitbewegungen aus unterschiedlichen Richtungen auf einander zu bzw. voneinander weg; Dann als zusammengesetzte, wechselseitige Bewegungen; Schließlich mit jeweils unterschiedlichen Geschwindigkeiten und unterschiedlichen, wechselnden Gegenwartsbezügen… eben als Ensemble von Zeitverhältnissen, durch die die Gegenwart hindurch fließt, die sich aber nicht auf die Gegenwart reduzieren lassen. Eine von hier aus entwickelte Dramaturgie des Gottesdienstes gleicht eher einem Strudel als einer Linie oder einem Faden…

Der Komponist und Theaterregisseur Heiner Goebbels  reflektiert in seinem gleichnamigen Buch eine „Ästhetik der Abwesenheit“. Er geht dabei von seiner praktischen Theaterarbeit aus. Für die liturgische Praxis lassen sich einige Stichworte von Heiner Goebbels lesen und kommentieren:

Abwesenheit kann „als Verschwinden des Schauspielers/Performers aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit“ konkretisiert werden, was ein „Verschwinden von der Bühne“ einschließen kann23.

Warum steht eigentlich im evangelischen Gottesdienst immer jemand vorne? Mit steigender Tendenz steht die Pfarrerin oder der Pfarrer – wenn Wege weit sind, sogar bei kürzeren Liedteilen – ständig im Altarraum herum. Inklusive so komischer Situationen, dass er/sie sich selbst die liturgisch vorgesehenen Antworten gibt. Die unbemerkte Komik derartiger Situationen wird dadurch verstärkt, dass sie bestritten wird: jeder/jede ist gegen Klerikalismus, den die Amtstheologie ja auch nicht hergibt, dennoch wird mit steigender Tendenz liturgisch klerikal agiert, nicht nur in Großgottesdiensten.

Ein Psalm könnte von der Gemeinde aus gebetet werden. Ein Großteil der Eingangsliturgie ebenfalls, Gebete… Da vorne könnte Platz gelassen werden. Wie soll jemand ankommen, wenn sein Platz ständig besetzt ist?

Abwesenheit kann konkretisiert werden „als Aufspaltung der Präsenz auf alle beteiligten Elemente“ oder mit anderen Worten „als eine Polyphonie der Elemente“.24

Wenn etwas zu sehen ist, dann muss es nicht noch einmal gesagt werden. Auch wenn etwas zu hören ist oder gesungen wird, muss es nicht noch einmal gesagt werden. Mit gesagt ist hier auch: erklärt gemeint. Dies gilt im Gottesdienst vor allem für Vollzüge, wozu auch die Sakramente gehören. Sie haben eine eigene Kraft. Also: wenn etwas getan wird, muss es nicht noch einmal gesagt werden.

Nun gibt es im evangelischen Gottesdienst einen relativ hohen Wortanteil. Und auch da gilt es die unterschiedlichen Sprechakte sprachlich und sprechend zu unterscheiden: ein Gebet ist keine Predigt, eine Fürbitte keine Deklaration. Die unterschiedlichen Teile eines Gottesdienstes als unterschiedlich zu praktizieren, ihnen etwas zuzutrauen, hieße sie polyphon zu gestalten. Dazu gehört selbstredend auch die Beteiligung anderer Personen und das heißt immer auch: Körper. Körper an der Polyphonie der Elemente eines Gottesdienstes zu beteiligen, eröffnet ein weites Denk- und Übungsfeld.

Abwesenheit kann „als Entstehung von Zwischenräumen/Räumen der Entdeckung/Räumen, in denen Emotionen, Imagination und Reflexion sich ereignen können“25 konkretisiert werden.

Stille. Stille im Gottesdienst muss eine gewisse Dauer haben, damit sie sich herstellen und als Zwischenraum agieren kann. Dazu müssen ihr Anfang und Ende klar gestaltet sein, damit Stille nicht wie ein Fehler wirkt.

Abwesenheit kann „als Abschied von Expressivität“26  verstanden werden.

Dieser Gedanke erlaubt uns, einen Blick auf die hochgradig unterschätzte Praxis der Lesungen in einem Gottesdienst zu werfen. Abgesehen davon, dass Lesen geübt sein will, kann ein vermeiden expressiven Lesens so verstanden und praktiziert werden, dass der oder die Lesende möglichst den Text selbst wirken lässt und nicht illustrierend oder erklärend liest.

Der legendäre Theaterregisseur Klaus Michael Grüber sagte folgendes zu seinen Schauspielern: „Es ist ja immer so, wenn ihr mir das Wort frei bietet, dann bin ich dankbar, weil ich dann daraus etwas machen darf. Wenn ihr’s schon einbettet, in jede Schattierung geht, dann habe ich nur das Nachkauen von irgendetwas. Und ich möchte nicht, dass ihr mir meine Phantasie, das wenige, raubt, oder irgendwie diktatorisch einengt…“27

Eine Ästhetik der Abwesenheit plädiert für ein „leeres Zentrum“ und dies in zweierlei Hinsicht, nämlich für eine „leere Bühne“ und für die „Abwesenheit dessen, was wir das ‚Thema‘ oder die ‚Botschaft‘ eines Stückes nennen“.28

Dieser Gedanke ist vielleicht der am meisten provozierende für einen oder eine Theologin. Doch er legt den Finger in die Wunde. Man kann unsere fünf Punkte zum Thema Abwesenheit so zusammenfassen, dass in der Freistellung der genannten Teile oder Vorgänge eines Gottesdienstes das eigentliche Drama für die Gemeinde, für die einzelnen Zuschauenden entsteht und eben nicht vorgeführt wird.29

Strategien der Abwesenheit schaffen Platz oder eröffnen Räume für etwas Unerwartetes, etwas, das man eben noch nicht weiß, kennt, gehört oder gesehen hat. Heiner Goebbels nennt diese Abwesenheit „die Anwesenheit des Anderen, als eine Begegnung mit einem ungesehenen Bild, einem ungehörten Wort oder Klang; als eine Begegnung mit den Kräften, die der Mensch nicht kontrollieren kann, die sich seinem Zugriff entziehen.“30

Im Gegensatz zu Identifikationen mit dem Bühnengeschehen und den darin auftretenden Personen mit dem Ziel von Selbstbestätigung (wie sie die gängige Fernsehästhetik praktiziert), eröffnen Strategien der Abwesenheit künstlerische Erfahrungen. Heiner Goebbels nennt sie „Erfahrung[en] durch Alterität“.31

Liturgische Praxis als Erfahrung von Andersartigkeit zu verstehen, bedeutet, sich auf einen Erfahrungsbegriff zu beziehen, wie ihn das französische Wort expérience vorschlägt. Expérience meint nämlich Erfahrung und Experiment zugleich, also Erfahrung mit offenem Ausgang. Ein Gottesdienst eröffnet schönstenfalls Erfahrungsräume. Dann entsteht Drama .

Und wenn Liturgie und Predigt unbedingt und dringend etwas vom Theater rezipieren sollten, dann ist es das Erfinden von Experimentierräumen, von Probesituationen, in denen man die Dinge übt – lautes Lesen zum Beispiel – und auch absurdeste Sachen einmal ausprobieren kann, selbst oder gerade dann, wenn man sie im Gottesdienst nicht macht.