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Kategorie Blog: Blog Dietrich Sagert

Unterwanderungen – ein Blog von Dietrich Sagert

Denken gehört zu Predigt und Liturgie wie die Arbeit an Sprache und Manuskript und das Üben an Sprechen und Auftritt. Lesend macht sich das Denken auf den Weg. Es gewährt damit zugleich einem Begriff Einlass in seinen denkerischen Vollzug, der einer schlichten aber auch einer komplex lehrhaften Wiederholung meist entgeht: die Differenz. Jene kleinen Verschiebungen, Abweichungen, Unterwanderungen von dem, was man gewohnt ist – also immer nur erkennt, weil man es schon kennt – bilden den entscheidenden Unterschied zwischen Selbstreferenz und einer denkerischen Praxis, zwischen Selbstbespiegelung und einer spirituellen Praxis, zwischen Selbstdarstellung und einer homiletisch-liturgischen Praxis. Auf diese kleinen Unterschiede wird es ankommen!

Das Prinzip der Spiegelung der Artikel des Kleinen Katechismus Martin Luthers in seinen Katechismus- Liedern in umgekehrter Reihenfolge kommt hier an sein Ende. Als Beichtlied steht dem Text über die Zehn Gebote Luthers seine berühmte Nachdichtung und Vertonung des alttestamentlichen Psalms 130 „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“ gegenüber. Damit tritt dieser Kommentarreihe noch ein weiteres Register bei: Das Psalmlied.


Im Schatten

Die Spiegelung des Glaubensbekenntnis-Artikels aus dem Kleinen Katechismus und des Katechismus-Liedes Martin Luthers zum Abendmahl führt uns in einen Engpass. Der Glaube respektive das Abendmahl im Lied „Jesus Christus, unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt“ bleiben gefangen in im Modus der Katechese, des Erklärens und richtigen Bedeutens.


Wenn sich das Vaterunser in Luthers Tauf-Lied „Christ, unser Herr, zum Jordan kam“ spiegelt, stehen sich in der Form zwei Praktiken gegenüber: das Beten eines Gebetes und das Singen eines Liedes. Dies ist eine Konstellation, die sich als Öffnen des Denkens verstehen lässt.


Sagen, was man nicht weiß

In der Zufälligkeit der Spiegelung von Taufe und Vaterunser-Lied öffnet sich eine überraschende Perspektive. Sie besteht darin, dass sie die gewohnte und historische liturgische Kombination von Taufe und Credo – von „Du bist mein geliebtes Kind“ und seiner Antwort: „Ich glaube“ – was seinen Antwortteil betrifft, ändert in die Antwort: „Vaterunser“.


Im zweiten Gang finden sich das Glaubenslied und das Abendmahl einander gegenüber vor. Diese Spiegelung eröffnet überraschende Reflexionen. Zunächst gilt es festzustellen, dass Martin Luther das Glaubenslied „Wir glauben all an einen Gott“ direkt für den liturgischen Gebrauch geschrieben hat.


In der zweiten Runde unserer Kommentare zu Martin Luthers Kleinem Katechismus knüpfen wir an eine anfängliche Beobachtung an. Martin Luther hatte durch die Tatsache, dass er den Teilen seines Kleinen Katechismus Lieder an die Seite stellte, Lehre mit Praxis verbunden.
In der Reihenfolge nehmen wir Luthers Verweis auf die zehn Gebote im Letzten Teil des Kleinen Katechismus über die Beichte ernst und stellen das Katechismus-Lied über die Zehn Gebote der Beichte gegenüber, sozusagen als Spiegelung.


Nach dem Umweg über das Abendmahl und damit über die Gemeinschaft, zurück auf die Beichte zu kommen, heißt zunächst, wieder den Einzelnen in den Blick zu nehmen: Das Ich. Dies ist von der Taufe her als ein angesprochenes und antwortendes zu verstehen. Die Beichte wird hier sehr persönlich und praktisch ein Prozess des Zuhörens und Unterscheidens.
Der entscheidende Begriff ist das Öffnen. Er ermöglicht zwei Bedeutungsebenen.


Auf die Taufe müsste konsequenterweise der Teil über die Beichte folgen, aber Luther geht wieder einen Umweg über das Abendmahl. In der antiphonischen Komposition des Kleinen Katechismus wird es nun explizit mehrstimmig, polyphon. Aus wechselnden Ich und Du wird über das Für-Dich nun ein Wir. Und dieses Wir ist körperlich gemeint: hoc est corpus meum. Es schafft eine Körperbildung, die werklos ist, absichtslos und ohne Zweck: sola gratia.


Martin Luthers Umweg über das Vaterunser zur Taufe führt die antiphonische Komposition des Kleinen Katechismus, wenngleich sie bei ihm unausgesprochen bleibt, fort. Denn die Taufe als kirchliche Praxis ist zu aller erst ein Echo auf die Taufe Jesu. Er hat selbst nicht getauft. Aber zu seiner Taufe am Jordan kam zur johannäischen Taufe eine Stimme hinzu.


Umweg Vater Unser

Bevor Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus vom Glaubensbekenntnis zur Taufe kommt, macht er einen Umweg. Dieser Umweg ist zugleich ein Interpretament, das auch als Technik des minderheitlich-Werdens gelesen werden kann.
Auf unerwartet zärtliche Art und Weise wird hier das ‚Was‘ Luthers dem ‚Wer‘ eines Sprechers bzw. einer Sprecherin geöffnet.


Zwischen den Zehn Geboten als dem ersten Teil des Kleinen Katechismus von Martin Luther und seinem zweiten Teil, dem Glauben, liegen nicht nur die Wechsel der An- und Aussprüche von „Ich bin“ über „Du sollst“ zu „Ich glaube“.
Diese Wechsel setzen sich aber direkt in weiteren Wechseln fort, die ins Heute führen. Sie lassen sich mit drei Stichworten beschreiben: Praxis, Werk, Entwerkung.


Die Zehn Gebote

Blättert man in Martin Luthers Kleinem Katechismus, so fällt einem schnell sein strukturierendes Element auf: Die immer wiederkehrende Frage: Was ist das? Nach jedem Glaubenssatz stellt Luther diese Frage, um sie dann kurz und prägnant zu beantworten.
Aber bevor es sich um etwas handelt, nach dem man überhaupt mit „Was?“ fragen kann, gehen Menschen durch eine große Leere.


Seit Januar 2017 schreibe ich hier einen Blog. Die veröffentlichten Texte folgen Arbeitsthemen des Zentrums, sind an konkreten Veranstaltungen und Projekten orientiert oder folgen begleitenden Lektüren.
Im Jahr 2024 soll es um den „Kleinen Katechismus“ von Martin Luther gehen. Diese einst weit verbreitete Schrift soll darauf getestet werden, ob sie tatsächlich als „kleine“ bzw. minderheitliche Schrift gelesen werden kann.


Als ich im November 2021 begann, mich für meinen Blog näher mit den Festen des Kirchenjahres zu befassen, wollte ich versuchen, an die Schätze liturgischer, homiletischer und auch denkerischer Vollzüge heran zu kommen, die sich im Laufe der Zeit im Kirchenjahr abgelagert haben. Zugleich wollte ich versuchen, diese Schätze für heute zu lesen, sie mit heutigen Vollzügen und Themen in Verbindung zu bringen, ja manchmal zu konfrontieren.


Michaelis: Endspiel

Wie immer induziert man die gewaltigen Bilderwelten der biblischen Apokalypse bewerten mag, man kommt nicht umhin, in einschlägigen filmischen Großproduktionen ihre geldgierigen Nachfolger zu erkennen. Real und überaus beschämend ist ihr direkter Aufruf im Zusammenhang aktueller kriegerischer Handlungen.
Doch es gibt eine andere Tradition von Endspielen…


Das Fest der Verklärung Christi ist ein kleines Fest. Man könnte es minderheitlich nennen. Das kommt schon in den evangelischen Erzählungen von der Verklärung Christi darin zum Ausdruck, dass man ihrer ansichtig, nicht einmal Hütten bauen kann. Der verklärte Christus selbst schließt dies Ansinnen aus und verweist auf einen eher verschwiegenen Umgang mit dieser Erfahrung.


Dem alten Wort Heimsuchung haftet zumindest heute ein negativer, schicksalhafter Klang an. In der Bezeichnung des Festes der Maria meint es aber einfach Besuch.
Dieser Besuch der Maria bei Elisabeth nach der lukanischen Überlieferung ist ein Fest der Bewegung, das die Gastfreundschaft als liturgische Grundform umreißt.


Stöbert man in der Geschichte des Johannistages, dem 24. Juni als dem liturgischen Hochfest der Geburt Johannes des Täufers, so hat man den Eindruck auf einen Knoten von Überlieferungen gestoßen zu sein.


Auf den ersten Blick mag es überraschen, Ostern als die Geschichte einer Frau zu bezeichnen. Aber blickt man genauer hin, ist sie dies im doppelten Sinne, als die Geschichte, die eine Frau erlebt und als die Geschichte, die eine Frau erzählt. Als solche ist sie zudem „eine Geschichte erregter Körperbewegung“.
Wir folgen dem 20. Kapitel des Johannesevangeliums:


Von Alters her wird die Passion Christi „im wörtlichen Sinne begangen“. Pilger unterstreichen in ihren Berichten „ausdrücklich die körperlichen Anstrengungen, Mühen und Ermüdungen, die mit dieser Form des Begehens der Leidensgeschichte verbunden sind“.
In diesem körperlichen Zusammenhang ist der Gründonnerstag durch die Christusworte: „Dies ist mein Leib.“ und „Dies ist mein Blut.“ bis heute als ein besonders intimes Geschehen markiert.
Neben den Verwandlungen, die sich an das Mahl von Gründonnerstag anschließen bzw. von ihm ihren Ausgang nahmen, gilt es eine nicht aus dem Blick zu verlieren. Sie führt ins Herz unserer zeitgenössischen Existenz. Es handelt sich um die Verwandlung einer Gabe in eine Ware und zurück.


Als das Christentum zum ersten Mal raus auf die Straßen einer Großstadt ging, reklamierte es sein Recht zu erscheinen, eine bisher vernachlässigte Art der Epiphanie.
Das Besondere dieser Aktion, die man auch Demonstration oder Versammlung nennen könnte, besteht darin, dass ihre öffentlichen und damit politischen Bedeutungen „nicht nur durch den – geschriebenen oder gesprochenen – Diskurs aufgeführt werden, sondern dass sich dort Körper versammeln“.


Gibt es etwas Gemeinsames zwischen der Begegnung einer Frau mit einem Engel und der Begegnung einer Frau mit einem Bären? Für die Frauen hatte die Begegnung jeweils umstürzende Folgen, die jedoch unterschiedlicher kaum sein können.

Einen Sinn macht die Eingangsfrage allerdings nur, wenn man die Begegnungen nicht vertikal hierarchisch, also in Seins-Kategorien von oben nach unten, sondern horizontal denkt. Dazu müssen wir „unsere Aufmerksamkeit auf das richten was entsteht (se crée) bei der Begegnung zwischen Welten, die a priori in unermesslichem Maß voneinander abweichen“.


Epiphanias: Spurenlesen

Die Verwendung des Begriffes Spurenlesen eröffnet einen ungewohnten Hintergrund von Epiphanias, nämlich seine Naturgeschichte.
Sie beginnt bei der Spurensuche und die hat „eine Vorgeschichte, die wir mit den Tieren teilen“. Sie ist ein Erbe aus der Zeit von „vor rund zwei Millionen Jahren, da wir uns von sammelnden Fruchtfressern zumindest teilweise in Spurensucher und jagende Fleischfresser verwandelten“.


Weihnachten: Geburt

Es ist keine überraschende These zu behaupten, dass die Geburt zu „den häufigsten Motiven der europäischen Malerei“ zählt. Überraschender ist folgende Beobachtung: „Die Geburt, die [da] geschildert wird, ist kein gewöhnliches, sondern ein einmaliges, nicht darstellbares und widernatürliches Ereignis. Die christliche Theologie hat dazu beigetragen, die Geburt zu etwas Undenkbarem zu machen, indem sie sie aus jeglichem naturalistischen Rahmen heraustreten ließ, sie gegen die Natur auszuspielen wusste und sie als Wunder begriff.“


Adventisch denken

Denkt man über das Offene und das stets zu Kommende nach, kommt man im deutschen Sprachraum an zwei Polen oder auch Überschreitungen nicht vorbei. Die eine findet sich markiert in der dritten Strophe der Elegie „Brod und Wein“ von Friedrich Hölderlin: „So komm! dass wir das Offene schauen, / […] / Dorther kommt und zurück deutet der kommende Gott“. Die andere findet sich in dem Gedicht „Todtnauberg“ von Paul Celan: „die in dies Buch / geschriebene Zeile von / einer Hoffnung, heute, / auf eines Denkenden / kommendes / Wort / im Herzen“.

Vor dem Hintergrund dieses hier nur hingeworfen skizzierten Aufrisses, denkt Jean-Luc Nancy das Kommen (venue, venant) als „den Zustand von etwas, das dabei ist, zu kommen“.


Ewigkeit: Offene Zeit

In der Morgendämmerung des vergangenen Jahrhunderts fuhr ein feuerköpfiger junger Mann durch die Straßen von Paris. Meist trug er einen schwarzen Hut und hatte die Hosen in die Strümpfe gesteckt. Denn er fuhr nicht irgendwie: Er fuhr Fahrrad. Eines jener stilsicher einfachen Rennräder, die man auf alten Fotos sieht. Sie sind heute wieder angesagt.

Der feuerköpfige Radfahrer fuhr allerdings nicht nur Rad, um sich fortzubewegen. Seine Gedanken bewegten sich mit. Das Fahrrad wurde ihm zur Denkmaschine, genauer gesagt wurde es ihm zum Modell einer „Maschine zur Erforschung der Zeit“.


Vom Rande her

Vorabdruck aus dem Programm 2023

Als Martin Luther im Jahre 1523 in Wittenberg das Fronleichnamsfest abschaffte, tat er vor allem Zweierlei. Luthers theologische Argumentation angesichts dieser Tradition (ihrer Auswüchse sowieso), ist klar: Nach der Schrift ist das Abendmahl zum usus bestimmt, nicht zur visio. Sieht man jedoch die mit der visio verbundene Praxis genauer an, entdeckt man eine überraschende Aktualität:


Was ist Liturgie?

Liturgie ist vor allem Tun insofern sich in ihm eine Öffnung oder Verbindung zu einer gemeinschaftlichen Öffentlichkeit herstellen lässt.
Solches Tun beginnt mit dem Körper und schließt alles ein, was sich auf einer Bühne, in der Öffentlichkeit zeigen lässt. Dafür hat die griechische Tragödie Formen gefunden.

Das Christentum hat diese Formen verschiedentlich geschrumpft, ritualisiert, in Formeln verdichtet. Dieses Vorgehen birgt die Gefahr des Abschließens und folgenden Verkümmerns in Verwaltung. Denn das Entscheidende bleibt die Offenheit der Formen – sie müssen also geöffnet oder zumindest aufschließbar bleiben für ihre Drift in etwas, das man das Offene nennen kann.


I.
PAULUS: Ich spreche zu Menschen, die mir unbekannt sind. Das Ende tritt nicht ein. Niemand erbarmt sich unser.
Paulus weint
ENGEL: Warum weinen Sie? Sind Sie barmherziger als Gott?
PAULUS: Weshalb sind wir geboren worden?
Eine Zeit vergeht
ENGEL: Warum weinst du? Bist du barmherziger als Gott?
PAULUS: Wäre es besser für uns, wenn wir nicht geboren wären, wir alle, die wir Sünder sind?
Projektion des hingerichteten Pier Paolo Pasolini. Laute Autogeräusche. Wild umher leuchtende Autoscheinwerfer
STIMME: Warum verfolgst du mich?
Dunkel


Säkulare Liturgien

Sollten nicht nur Gedanken, sondern auch Praktiken aus ihren angestammten, mitunter verknöcherten Gehäusen ausgewandert sein?

Bei genaueren Hinsehen ließ sich etwas derartiges auf der kürzlich vergangenen Fußballeuropameisterschaft der Frauen in London beobachten. Dabei stellt sich die Frage nach Praktiken, die dort vollzogen wurden und die man als säkular liturgisch bezeichnen kann. Sie hatten nicht nur eine große Wirkung. Sie lassen ihre originär liturgischen Herkünfte erkennen obwohl sie verändert sind.

Worum geht es?


leiturgia

„Die Tragödie kam mit dem Kult von Helden rund um frühe Heldengräber auf. Chöre fanden sich beisammen und ihren Ruhm zu tanzen, reiche Gönner, um die Chöre selber einzuüben und über Monate zu unterhalten. Ein Grabmal, ein Altar – ein Tanzplatz, eine Orchestra. Nichts anderes hieß für viele hundert Jahre leiturgia, ‚Werk für die Leute‘“. Dann kam Krieg, das Geld ging aus, die Chöre mussten gestrichen werden, bis schließlich die Christen den Griechen „auch dieses schöne Wort und Tun entwenden“: Liturgie.

Geklaut, zur bürgerlichen Kasualie herabverwaltet oder als Dienstleistung kommerzialisiert lassen die Gänge an die Gräber nur schwer erkennen, dass ihre Spur ins Herz des Tuns der Christen führt: den Tod Christi und seine Praxis:


Dieser markante Satz des eigenwilligen Sprachphilosophen Eugen Rosenstock-Huessy speichert nicht nur die Grundlagen liturgischen Denkens. Er lässt sich in unserem Zusammenhang von Trinitatis als Lebenszeit lebensliturgisch zuspitzen.

Zumindest dann, wenn man sich der Frage stellt, dass „statistisch gesehen die häufigste Form einer Beziehung eines Menschen zu einem Tier darin besteht, es zu töten“.

In unserer Kultur ist das Phänomen geschickt hinter Worten verhüllt, die wir benutzen, um es zu verstecken.


Im Vorwort zu seinen „Meditationen über das Mysterium der Heiligen Dreifaltigkeit“ (1969) schreibt der französische Komponist und Organist Olivier Messiaen: „Die verschiedenen bekannten Sprachen sind vor allem ein Kommunikationsmittel. […] Die Musik aber drückt nichts direkt aus. Sie kann suggerieren, ein Gefühl, einen Seelenzustand auslösen, das Unterbewusste berühren, die Fähigkeiten zum Träumen vergrößern, und das sind unermessliche Kräfte: Sie kann absolut nichts ‚sagen‘, über nichts mit Genauigkeit informieren.“

Demnach geht es bei der Trinität also eher um so etwas wie Musik. In dieser Art müsste man sie auch denken bzw. ihre traditionellen Denkfiguren lesen und ihre Wirkung im Kirchenjahr untersuchen.


Im Nachvollziehen der Bewegungspuren in den einzelnen Stationen des Kirchenjahres haben wir bemerkt, dass zum linearen heilshistorischen Ablaufgedanken des Kirchenjahreskreises weitere Bewegungsräume hinzugetreten sind. Dabei kann offenbleiben, ob es sich um realräumliche Verschiebungen handelt oder um imaginär-räumliche bzw. innenräumliche, wie sie in der frühchristlichen Formel sursum corda verdichtet sind.

Bis zur Himmelfahrt waren die Bewegungen mit der Person Jesus Christus verbunden.

Pfingsten nun tritt ein neuer Akteur in diese Bewegungen ein: der Tröster, der Heilige Geist, der creator spiritus. Mit ihm bzw. ihr öffnet sich die Bewegung noch einer weiteren Dimension.


Ein anonymer kolorierter Holzschnitt der grafischen Sammlung Albertina in Wien aus der Mitte des 15. Jahrhunderts heißt „Christi Himmelfahrt“. Am oberen Bildrand sieht man zwei schwebende Füße. Sie tragen jeder ein Wundmal und sind von ihrer Mitte an von einem Gewand verdeckt, das in einer Ansammlung von Wolken verschwindet.

„Vermutlich gibt es keinen Glauben ohne das Verschwinden eines Körpers […] und die immense symbolische Bewältigung dieses Verschwindens. So hört Christus niemals auf, sich zu manifestieren, zu verschwinden und schließlich sein Verschwinden selbst zu manifestieren. “

Hierbei geht es um nichts geringeres als um die Einführung der Bewegung in theologisches Denken und damit zugleich auch in die liturgische Praxis.


In Samartien ist Krieg! Wieder ist dieses von den alten Griechen und Römern so genannte Gebiet zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, östlich der Weichsel und westlich der Wolga heute ein Schlachtfeld Europas.

Einer, dem das „Land Samartien“ besonders am Herzen lag, war der Dichter Johannes Bobrowski. Er selbst kommt aus dieser Gegend und hatte dort die Verheerungen des 20. Jahrhunderts erlebt. Daher kommt das Thema seines Schreibens als „so etwas wie eine Kriegsverletzung“.

Was das mit Ostern zu tun hat, kann man in einem Gedicht von Johannes Bobrowski lesen:


Mein Gott! – In seinem Text dieses Titels kommt der französische Philosoph Jean-Luc Nancy auf den Tod Gottes zu sprechen. Während seiner Meditation einer Predigt von Meister Eckhart (Q52) nimmt er die alltägliche rhetorische Praxis des spontanen Ausrufes „Mein Gott!“ auf als „eine kulturelle Ablagerung, ein winziges Überbleibsel der Christenheit, das sich durch die Sprache zieht“.

‚Mein Gott!‘ verweist auf ein Unsagbares: „nicht auf eine Sprache des Jenseits, aber auf ein Jenseits der Sprache, das die Sprache noch anzeigt.“

Am Karfreitag gedacht bzw. ausgerufen, ist „Mein Gott!“ das Echo eines Schreis. Wenngleich dieser Schrei eines Sterbenden zwar auch ein Jenseits der Sprache markiert, aber eines, das die Sprache nicht mehr anzeigt.


Passion: Entzug

m Vergleich zur Sehnsucht der ersten großen Fastenzeit des Kirchenjahres, dem Advent, gestaltet sich die zweite, die Passion, wie ein Entzug. Als Mimese der Leidensgeschichte Jesu zeichnet sie den Menschen in dieser Perspektive: „Memento, homo“, bedenke, Mensch.

Diese Formel geht zurück auf das „seit dem 7. J[ahr]h[undert] übliche Ritual der Büßeraustreibung“ und wurde seit dem 10./11. Jahrhundert „kommunalisiert“, also auf alle übertragen.

„Auf den Kopf zu wird da jedem gesagt und mit Asche besiegelt, dass dieser Schädel ein künftiger Totenschädel sein wird, dass er, der jetzt noch denken kann, dies nicht vergessen, sondern sich in Erinnerung rufen möge. Mit diesem Bedenksatz wird die Aschenbestreuung ein persönliches Memorial“ …


„Ich weiss nicht, wie alt ich war, vielleicht sieben, vielleicht zehn Jahre. Vor der Bescherung saß ich allein in einem dunklen Zimmer und dachte an das Gedicht ‚Alle Jahre wieder‘ oder sagte es. Was dabei eigentlich geschah, weiss ich nicht und der Versuch, es auszusprechen, würde nur eine Fälschung hervorbringen. Kurz, noch heute sehe ich in diesem Augenblick mich in jenem Zimmer sitzen und weiss, dass es das einzige Mal in meinem Leben war, dass ein seinem Gehalt nach religiöses Liedwort oder Wort überhaupt in mir eine unsichtbare oder nur flüchtige sichtbare Gestalt annahm.“


Advent: Sehnsucht

„Sehnsucht kommt aus dem Chaos … ist die einz‘je Energie … eine Sucht“ heißt es im spektakulären Titel „Sehnsucht“ der Berliner experimental Band „Einstürzende Neubauten“. Es wurde auf ihrem Album „½ Mensch“ (1985) veröffentlicht und gleicht nicht nur einem Schrei.

Dass eine derartige Sehnsucht etwas mit dem christlichen Advent zu tun bekommen könnte, erscheint zunächst befremdlich. Macht man sich jedoch klar, dass Advent jenseits aller bürgerlich-kirchlichen Besinnlichkeit vor allem einem Zeitsturm gleichkommt, hört sich das schon anders an.


Umbau

Lassen sich die Verpackungen von Christo und Jeanne Claude, hier der Triumphbogen in Paris (2021), oder der Reichstag in Berlin (1995), eigentlich als Strategien eines minderheitlich-Werdens lesen?

Interessierten sei das im Juli erschienene Buch „minderheitlich werden. Experiment und Unterscheidung“ (Leipzig 2021) empfohlen.

Am 23. August ist Jean-Luc Nancy in Straßburg gestorben …


Das Wort

Jütland, hoher Himmel, Dünen. Ein Mann steht dort im Dünengras. Er trägt einen Mantel über den Schultern und ruft in den Wind: Weh Euch, ihr Heuchler… Wenig später, beim unverhofften Antrittsbesuch des neuen Pastors auf dem Bauernhof Borgensgaard, erfahren wir: Es ist Jesus von Nazareth.

Sein Vater und seine Brüder rufen Ihn Johannes. Sie sind tief besorgt über seinen geistigen Gesundheitszustand, darüber, dass er sich für Jesus Christus hält, in Bibelworten zu ihnen spricht: Ich bin das Licht der Welt, und dazu Kerzenleuchter ins Fenster stellt.

Befremdlich erscheinen seine umherirrenden Bewegungen im Raum, die nicht recht in die Einrichtung des Hauses passen wollen …

 


Bildtheorien

In der Kinemathek in Lissabon hält der französische Bildtheoretiker Jean Louis Schefer im Jahre 1997 einen Vortrag mit dem Titel „Kinematographien“. Darin verfolgt er die Idee einer Genealogie der Bilder ausgehend von der Szene von Golgatha.

Auf den ersten Blick erscheint diese Idee nur sinnvoll innerhalb einer christlichen Bildtheorie. Im größeren Zusammenhang einer Geschichte der Bilder stellt sich diese Perspektive jedoch als experimentelle Herangehensweise heraus. Sie trifft ins Herz unserer ästhetisch-liturgischen Untersuchungen.
 
 


Im Laufe unserer Untersuchungen sind inzwischen eine Reihe von Bausteinen beschrieben, die in verschiedenen und auch erweiterbaren Kombinationen Möglichkeiten eröffnen, ein Mit-Sein herzustellen zwischen aufgezeichneten analogen Formen und einem anderen Analogen, was einer medialen Übertragung beiwohnt.

Dieses muss als solches rekonstruiert werden, wenn eine Übertragung mehr soll, also bloßes Zuschauen und Zuhören zu erzeugen.

Grundlage eines solchen Vorganges der Rekonstruktion ist die Erinnerung, bzw. Wiederherstellung einer gemachten Erfahrung. 
 


Etwas Markantes passiert die Zwischenräume zwischen Menschen und ist zugleich kennzeichnend für gottesdienstliche Vollzüge: das Singen. Insbesondere das gemeinsame Singen birgt die spezielle Erfahrung, sich als Einzelwesen zu erleben, das in einen klingenden Gruppenzusammenhang gestellt sich wiederfindet, ohne sich darin aufzulösen.

Gelegentlich deutet sich jedoch in den Zusammenhängen liturgisch-musikalischer Praxis in Gottesdiensten ein merkwürdiges Phänomen an. Die den Gottesdienst feiernde Gemeinde verwandelt sich plötzlich in ein Publikum und der Musikteil in ein Konzert.

Bei medialen Übertragungen wird dieser Effekt verstärkt. Insbesondere bei pandemiebedingtem Vorspielen von Gemeindeliedern: Je perfekter sie musiziert werden, umso konzertanter ist ihre Wirkung. Und als Publikum singt man eben nicht mit…
 


Bilder der Güte

Auf den Spuren von Arbeitsnomaden, die sich selbst nicht als homeless sondern als houseless bezeichnen, reiste die Filmregisseurin Chloé Zhao in die entlegensten Winkel der Vereinigten Staaten von Amerika. In ihrem Film Nomadland zeigt sie Bilder von Menschen unter denen sie, wo immer sie auch hinkam, Güte fand.

Wie wäre es, wenn die Bilder, die die gottesdienstliche Praxis von Christinnen und Christen zeigen, ‚Bilder der Güte‘ wären?

Dazu müssten sie etwas zeigen, was in der ästhetischen Praxis der Bildübertragung und ihrer technischen Basis tendenziell nicht vorgesehen ist.
 


In Bildern beten

In Andrej Tarkowskijs Film „Opfer“ von 1986 blättert der Protagonist Alexander, gespielt von Erland Josephson, in einem Bilderbuch und sagt: „Das ist wie ein Gebet.“ Angesichts der Bilder in diesem Buch – es sind Ikonen – verwundert diese Bemerkung nicht. Dennoch fügt Alexander unmittelbar hinzu: „Und dann ist all das verloren gegangen. Jetzt können wir nicht mehr beten.“

Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy beobachtet in seinen Untersuchungen „Am Grund der Bilder“, dass, „[j]e ungehemmter die Verbreitung von Bildern ist, je machtvoller ihre Wirkung, desto stärker ist auch der Verdacht der Täuschung, der Bilder seit jeher ausgesetzt sind“.

Im Bereich des Fernsehens und der stark bildgestützten medialen Plattformen zeigt sich eine unübersehbare Tendenz zur Homogenisierung von Bildern. Ihr gegenüber scheint eine erhöhte Wachsamkeit angebracht…
 
 


Gesten erfinden

Wenn ein Bildschirmbild und die zu seiner Aufnahme hergestellte Realität ihre Verbindung verlieren, erstirbt die Realität. Das geschieht zum Beispiel, wenn, damit auf dem Bildschirm ein gewünschtes Bild entsteht, in der Realität eine völlig absurde Pose eingenommen werden muss. Dann wird die Realität durch eine simulierte Scheinrealität ersetzt.

Wer bin ich also, wenn ich auf dem Bildschirm bin? Agiere ich so, wie es die jeweilige sogenannte Professionalität am Bildschirm über seine erfolgreichsten presenter, influencer verlangt? Unterwerfe ich mich ästhetisch dem Diktat der Klickzahlen?  Womit bin ich dann verbunden?

Mit dem verwendeten Medium bzw. seiner Plattform. Mit ihnen bin ich umso mehr verbunden, je weniger ich Übersetzungen für entsprechende analoge Verbindungen erfinde. Denn nur auf diese Weise kann versucht werden, die tendenzielle Geschlossenheit dieser Medien und ihrer Plattformen offen zu halten.
 


Einer Antwort auf die Frage danach, ob ein Bildschirm – österlich gedacht – schließlich ein leeres Grab ist, kann nur in Form eines Experimentes nachgegangen werden. Dies führt allerdings zu überraschenden praktischen Fragen.

Zunächst folgen wir der Bildspur, die Georges Didi-Huberman in seinem Text über die Metapsychologie des Bildes legt und gehen von der dazugehörigen Schilderung des zuletzt beschriebenen spezifisch christlichen Zusammenhanges zwischen Sehen und Glauben aus.

In diesem Falle ist das die Darstellung der Frauen am Grabe auf dem Auferstehungsfresko des Fra Angelico in der Zelle 8 des Klosters St. Marco im italienischen Florenz.
 

 


„Wo bin ich, wenn ich nicht in der Wirklichkeit bin und nicht in meiner Phantasie“? In unserer heutigen, von elektronisch-digitalen Medien dominierten Welt bin ich dann wahrscheinlich vor einem Bildschirm.

Aber wo bin ich, wenn ich vor einem Bildschirm bin? Was sich wie die simple Frage nach einer Ortsbeschreibung anhört, stellt sich als Frage nach einer Situation heraus, nämlich nach der Situation zwischen einem Projektor und einer Kamera.

Es ist ein Zwischenraum…

 

bodyb(u)ilding

Was tun Frau oder Mann, wenn ihnen ihr Körper kurzzeitig abhandenkommt? Sie sehen in einen Spiegel. Sobald sie Mühe haben, sich im Spiegelbild selbst zu erkennen, korrigieren sie mit einer flinken unauffälligen Bewegung das Detail, das ihr Wiedererkennen fraglich erscheinen lässt und: Glück gehabt, der Körper ist wieder da.

Was tun Frau oder Mann, wenn ihnen der Körper eines anderen abhanden zu kommen droht, wie etwa bei einer Reise, oder wirklich abhandengekommen ist, wie bei einer/m Toten? Sie stellen ein Foto auf, tragen es in einer Brieftasche bei sich oder lassen es auf dem entsprechenden Grabstein anbringen. Ein solches Lichtbild wird sogar dazu benutzt, um einem anderen zu beweisen, dass man der oder diejenige ist, die körperlich zu sein man vorgibt, nämlich bei einer Ausweis- oder Passkontrolle.

Diese Bildpraxis der Menschen ist uralt …

 


Worms liegt in Mexiko

Als Martin, der damals noch Luder hieß, 1483/84 im kursächsischen Mansfeld geboren wurde, unterbreitete Christoph Kolumbus dem portugiesischen König Johann II. seine Schifffahrtspläne. Sie führten wenig später zur Entdeckung Amerikas (1492).

Diese Weltentdeckung ließ Martin Luther Zeit seines Lebens „seltsam unberührt“.

Wenn Luther von den „Grenzen der Zivilisation“ sprach, meinte er Wittenberg. Als er sich im Frühjahr 1521 von dort aus nach Worms aufmachte, ahnte er nicht, in welche Zusammenhänge ihn die Entdeckung der Neuen Welt eigentlich stellen würde …
 


Konsequent wie kaum ein anderer hat sich der französische Philosoph Gilles Deleuze dem Fernsehen verweigert: „Man wird zwangsläufig reingelegt, in Besitz genommen oder vielmehr dessen, was man hat, beraubt.“

Keine Interviews. Kein Porträt. Nach zwanzig Jahren beständigen Nachfragens antwortete Deleuze schließlich seinerseits mit einer Frage: „Und wenn wir es versuchten?“

Es entstand die Idee eines ABC: Zu jedem Buchstaben des Alphabets ein Begriff.
„Das ABÉCÉDAIRE ist aber kein Interview, keine Unterhaltung, kein Gedankenaustausch. Überlassen wir das dem Fernsehen“ …

Mit diesem Eintrag ist die erste Staffel der "TV Serie", die mit dem Eintrag am 27. 11. 2020 begann, vorerst abgeschlossen. Sie wird nach einer kurzen Unterbrechung im März mit einer weiteren Staffel fortgesetzt. D.S.
 


Televisualität

„Fernsehen ist eine überwiegend kommerziell geprägte massenkulturelle und daher notwendig triviale Form. Es ist einerseits primitiv und oft vulgär, andererseits auf eine komplexe, teure und aufwendige Technik gegründet“.

Im Unterschied zu Medien wie der Schrift, dem Radio oder dem Film gibt es zum Fernsehen (und seinen medialen Hybriden) keine umfassende Theorie.

Ein Grund für diesen gewissen „Theoriemangel“ in Bezug auf das Medium Fernsehen liegt darin, dass das Fernsehen in seiner Praxis die gängige „Schrift- und Argumentationskultur“ und damit ihre „Fähigkeit zur Theoriebildung“ massiv untergräbt und „außer Kraft“ setzt, weil sich im Zentrum des Mediums Fernsehen spezielle Bilder befinden …
 


the dark side

Weihnachten des Jahres 1883 verbrachte der Student Paul Nipkow allein in seiner Studentenbude in Berlin. Dort saß er vor „einem kleinen Tannenbaum, an dem die Kerzen brannten, einer billigen Petroleumlampe und einem Reichsposttelephon“, was ihm ein Freund geschenkt hatte.

„Entweder beim Anblick der Christbaumkerzen, die ja flackern, oder beim Anblick des Telefons, das Alexander Graham Bell eben erste erfunden hatte“, fragte er sich, ob es nicht gelingen könnte, ebenso wie bei der Übertragung von Stimmen, auch Gesichter zu übertragen.

Mit der Erfindung der Nipkowscheibe wurde der Grundlage dessen gelegt, was wir Fernsehen nennen. Die Entwicklung eines „vollelektronischen Medium[s]“.

 


Nachrichten

Auf der Weihnachtstafel des sogenannten Isenheimer Altares hat der Maler Matthias Grünewald vorn einen hellen und dahinter einen dunklen Engel gemalt. Beide spielen eine Art Gambe. Sieht man die beiden so an, fällt es einem nicht schwer, sich diese Musiker*innen (Männlich oder weiblich? Gute Frage!)  im großen Orchester Paul Hindemiths vorzustellen.

Cello spielend würden sie sich dort einfinden. Bei der alte Weise „Es sungen drei Engel ein‘n süßen Gesang“ wären sie vielleicht auch kurz ein wenig überrascht, wenn „ihr“ Gesang wie eine Fanfare erklingt im ersten Satz, dem „Engelskonzert“, von Hindemiths Symphonie „Mathis der Maler“ (1934).

Eine solche Verwandlung erscheint noch eher naheliegend im Vergleich zu den Wandlungen der Engel, die der französische Philosoph Michel Serres in seiner „Legende der Engel“ (1995) beschreibt.
 


Während der Vorbereitungen zu seinem Filmprojekt Il Vangelo secondo Matteo (1964) entschloss sich der italienische Filmregisseur Pier Paolo Pasolini, den Worten des Matthäusevangeliums streng zu folgen. Auf der Suche nach Drehorten kommt Pasolini schließlich davon ab, in Palästina zu drehen. Dort seien kaum Einstellungen möglich, ohne einen Telefonmast oder eine Autostraße im Bild zu haben.

Wie schon in seinen vorigen Filmen suchte Pasolini nach einer „Authentizität, Armut und Würde archaisch gebliebener Menschen und Lebensformen, denen die historisch Wahrheit gestisch eingeprägt, ja: eingeschrieben steht“. Schließlich dreht Pasolini im armen Süden Italiens und hat seine Spieler auf der Straße gesucht.
 


In einer traumartigen Filmszene irrt ein Mann durch die Straßen einer Stadt. Die Häuser sind verfallen, Zeitungen, Hausrat liegen herum. Er kommt an einem Schrank mit einer großen Spiegeltür vorbei, zögert, kehrt zum Schrank zurück, beginnt die Spiegeltür zu öffnen und sieht als sein Spiegelbild das Bild des anderen, dem er versprochen hatte, die Welt zu retten, indem er eine Kerze durch ein Wasserbecken trägt.

Spiegel kommen auf die eine oder andere Art in allen Filmen des russischen Regisseurs Andrej Tarkowskij vor. Die filmbildtheoretische Grundlegung kann man in seinem großen Film über den Ikonenmaler Andrej Rubljow (1966/69) anschauen.

Nun ist es nicht die umgekehrte Perspektive von Ikonen im direkten Sinne, die Tarkowskij für seine Filmbilder inspirierte. Es ist die den Ikonen inhärente Zeitspiegelung …
 


Fortsetzung folgt

Wie „auf Taubenfüßen“ kommen die wichtigsten Fragen ganz leise und oft ganz zum Schluss. So ist es für unseren Zusammenhang auch in der zweiten Folge der legendären Histoire(s) du cinéma, Geschichte(n) des Kinos, von Jean-Luc Godard. Die Folge ist überschrieben mit dem Titel Une histoire seul, Eine Geschichte allein.

Man kann behaupten, dass in dieser Folge 1b eines von mehreren Zentren von einem paraphrasierten Paulus-Zitat markiert ist. Wiederholt erscheint es als Schriftbild in verschiedenen Zusammenhängen: l’image viendra au temps de la résurrection, das Bild wird zur Zeit der Auferstehung kommen.
 


Wenn ein Autor auch Filme macht und sogar Fernsehen, kann das missverstanden werden. Es kann aber auch zu Unterscheidungen führen, auf die es ankommt. Das ist der Fall bei Alexander Kluge. Er übt seine Tätigkeit in Film und Fernsehen dezidiert als Autor aus, und dies als literarischer Autor.

Denn als Alexander Kluge zu Zeiten des Aufkommens des privaten Fernsehens beschloss, im Fernsehen tätig zu werden, ging es ihm um die Verteidigung bzw. Fortsetzung des von ihm beschriebenen Autorenzusammenhanges mit seinen Leserinnen und Lesern im Sinne einer unabhängigen Öffentlichkeit. Und das bedeutet vor allem, „das Fernsehen offen zu halten für das, was außerhalb des Fernsehens stattfindet“.
  
In Fortsetzung des Blogeintrags „Zur Kritik konsumistischer Rede und ihrer ästhetischen Formen“ (25. 11. 2018), wird hier in den kommenden sechs Wochen eine Serie von Reflexionen zu Fragen des Umgangs mit Fernsehen und seinen medialen Hybriden erscheinen.
 


Offene Bücher lesen

Die Entstehungsgeschichte von Hölderlins Roman „Hyperion“ gibt einen Blick auf die Einschätzung vermehrter Lesepraxis gegen Ende des 18ten Jahrhunderts frei, der uns Heutige erstaunt. Er lässt uns eher an Fragen des Umgangs mit Computerspielen und sozialen Medien denken.

„Tatsächlich wurden gegen Ende des Jahrhunderts in bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kreisen so viele Romane gelesen, dass Pädagogen, Kulturkritiker und Kirchenleute über den befürchteten Kontrollverlust zu klagen begannen. Was geht nicht alles im Lesenden vor! Da gibt es Erregungen, Phantasien im Verborgenen.“

Auch Hölderlin wollte durchaus von dieser Welle profitieren, schon um sein fragiles Dichterleben finanziell zu grundieren. So griff er die populäre Form des Romans auf, um sie zugleich entscheidend zu öffnen und zu überschreiten…


Tönendes Mondlicht

Bis heute am bekanntesten geblieben ist Franz Fühmann – vielleicht der bedeutendste Schriftsteller der DDR – durch seine Nacherzählungen für Kinder. Immer wieder sind sie mit verschiedenen Bildarbeiten aufgelegt worden.
Ein groß angelegtes Projekt von Nacherzählungen alttestamentlicher Geschichten blieb ein lang gehegter Wunsch.

Fühmann näherte sich den unterschiedlichen Quellen unter dem Aspekt der großen „Menschheitserzählungen“. Er will die Originale nicht ersetzen, sondern zu ihnen „hinführen“ und bleibt dabei empfindlich für „Trübungen“, die die Stoffe im Laufe ihrer Überlieferung erfuhren, sei es durch Ideologie oder auch durch Konfession.  

Seine Nacherzählung des Marsyas etwa beginnt Fühmann wie ein Chronist…
 


Im Zusammenhang seiner Arbeiten zum mythischen Element in der Literatur und den damit verbundenen Nacherzählungen mythischer Stoffe, entwickelte Franz Fühmann den Plan, die Bibel für junge Leute zu adaptieren. Bereits 1972 erstellte er ein detailliertes Exposé, das sich in mehreren Überarbeitungsstufen in seinem Nachlass findet.

Als er zehn Jahre nach dem Erstellen des Exposés für den Neudruck der Erstausgabe von Luthers Bibelübersetzung im Reclam Verlag Leipzig einen Essay mit dem Titel: „Meine Bibel; Erfahrungen“ verfasste, gewährt Fühmann nochmals wertvolle Einblicke in seine Lektüren der Bibel. Parallel zum Essay entstand eine Nacherzählung mit dem Titel „Der Mund des Propheten“. 
 


Der Mond ist aufgegangen

In einem Vortrag aus dem Jahre 1975 erläutert der Schriftsteller Franz Fühmann anhand von drei sehr unterschiedlichen Beispielen das, was er „Das mythische Element in der Literatur“ nennt. Eines seiner Beispieltexte ist das „Abendlied“ von Matthias Claudius, das allseits bekannt ist als „Der Mond ist aufgegangen“.

Fühmanns Ausgangsfrage ist die Frage danach, woher die enorme Wirkung eines solchen Textes kommt. „Was ist es, dass einen da anrührt, bewegt, packt, fesselt, in Bann zwingt, ergreift, verwandelt, aufwühlt, verzaubert – was wirkt da […]?“
 


Worte oder Wörter?

In seinem atemberaubenden Essay über den österreichischen Dichter Georg Trakl, „Vor Feuerschlünden“, hat der DDR-Schriftsteller Franz Fühmann seinen Leserinnen und Lesern „Erfahrungen mit Trakls Gedicht[en] mitzuteilen versucht“.

Er hat dabei entdeckt: „dies Mitteilen war wiederum neue Erfahrung“ und zwar die eigene. Fühmann erkannte darin einen Widerspruch im Verstehen. Der besteht darin, dass „je mehr wir von einer Dichtung verstehen, um so strahlender, ein dunkles Feuer, […] ihr unerhellbares Geheimnis hervor[tritt]“.

Die deutsche Sprache sei „so hellsichtig gewesen, dem Substantiv ‚Wort‘ zwei Plurale zukommen zu lassen: ‚Worte‘ und ‚Wörter‘“. Dieser Umstand lässt Fühmann allerdings nicht nur auf einen, sondern auf zwei Singulare schließen, nämlich auf den Fall „zweier verschiedener, wenn auch gleichlautender Singulare“.


Umrisse

Die Frage danach, wie eine Gemeinschaft als neue Schöpfung (création commune) zu umreißen ist, erscheint konkret als ein Komplex von Fragen. Etwa der Frage danach, wie eine Gemeinschaft ohne Herrschaftsregime zu beschreiben ist. Was also eine Gemeinschaft anderes ist als etwas, was sich durch Abgrenzung definiert, als etwas, das durch Zusammenschluss stärker sein will als eine andere Gemeinschaft.

Anders formuliert: Was kann Gemeinschaft anderes sein als eine Seinsgemeinschaft, eine Blutsgemeinschaft oder Volksgemeinschaft? Was kann Gemeinschaft anderes sein als das Aufgehen des Einzelnen in ihr; ein/e Einzelne/r, die/der ihre/seine Freiheit und sich selbst aufgibt, zugunsten einer homogenen, das Individuum in sich auflösenden, totalen und damit tendenziell totalitären Gemeinschaft? Was kann Gemeinschaft anderes sein als eine Mitglieder-, Interessen-  oder Zweckgemeinschaft?
 


Der erste Clemensbrief an die Korinther ist eines der ältesten kirchlichen Dokumente. Darin wendet sich die „in Rom weilende Kirche Gottes” an die „in Korinth weilende Kirche Gottes”.

Um dieses am-Ort-Weilen auszudrücken, verwendet der Autor des Briefes nicht das griechische Wort, was einen ständigen, festen Wohnsitz bezeichnet, sondern im Gegenteil. Er schreibt paroikein, das Wort für „den vorübergehenden Aufenthalt des Exilanten, des Kolonisten oder des Fremden”. Es bezeichnet den „Aufenthalt des Christen auf Erden und seine messianische Zeiterfahrung”.
 


sub longum

Es gibt eine weit verbreitete liturgische und homiletische Praxis, die derart unscheinbar ist, dass sie nicht wahrgenommen, ja übersehen wird. Dabei könnte sie auch in nichtliturgischen Zusammenhängen eine kirchenweite, aktuell sogar gesamtgesellschaftliche Bedeutung haben.

Sie könnte nämlich den entscheidenden Unterschied markieren zwischen Selbstreferenz und einer denkerischen Praxis, zwischen Selbstbespiegelung und einer spirituellen Praxis, zwischen Selbstdarstellung und einer homiletisch-liturgischen Praxis.

In einem gänzlich anderen Zusammenhang hat der französische Kunstwissenschaftler und Philosoph Georges Didi-Huberman diese alte Praxis entdeckt und in den Blick genommen. Sie versteckt sich in einem Wort…
 
 


Befreiungen

Am 19. Januar 1944 erhielt Freya von Moltke einen überraschenden Anruf von Peter Yorck von Wartenburg. Yorck teilte mit: „Helmuth ist verreist“. Freya Moltke verstand. Ihr Mann, Helmuth James von Moltke, war verhaftet worden.

Er hatte einen Diplomaten per Telefon vor einer drohenden Verhaftung gewarnt. Nach einem kurzen Aufenthalt im Hauptquartier der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin, kam Moltke zunächst in „einen Gefängnistrakt des Konzentrationslagers Ravensbrück“. Im September 1944 wurde er nach Berlin Tegel verlegt und im Januar 1945 zum Tode verurteilt.

„Ich habe mein ganzes Leben lang, schon in der Schule, gegen einen Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit, der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten angekämpft, der in den Deutschen steckt und der seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat. Ich habe mich auch dafür eingesetzt, dass dieser Geist mit seinen schlimmen Folgeerscheinungen wie Nationalismus im Exzess, Rassenverfolgung, Glaubenslosigkeit, Materialismus überwunden werden.“


Der Tod, der Tod

Beim Hören der nachösterlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs fällt auf, wie schnell der Osterjubel, der aus der dramatischen, revolutionären Osterkantate „Christ lag in Todesbanden“ (BWV 4) aufsteigt, getrübt wird durch Worte und Töne der Verzagtheit und Trauer, ja der Todesfurcht.

Die Kantaten zum Sonntag Jubilate (BWV 12, 103, 146) etwa „befassen sich mit dem Schmerz ob des Abschieds Jesu von seinen Jüngern, mit den Prüfungen, die ihnen nach seinem Fortgang bevorstehen, und mit der Vorfreude, ihn einst wiederzusehen“.

Darin erklingt sicher auch etwas aus der Lebenserfahrung Bachs selbst. Zugleich kehren darin alte Überlieferungsstränge des memento mori wieder. Doch nicht zuletzt Martin Luthers Übernahme der mittelalterlichen Antiphon media vita in morte sumus (1456) und ihre Erweiterung um zwei Strophen in seinem Lied „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen“ (1524) bringt zumindest auch eine institutionelle Prägung dieser Tradition zum Ausdruck…
 


Auszug

aus: Dietrich Sagert, Lautlesen. Eine unterschätzte Praxis, Leipzig 2020:

Die hebräischen Texte, die wir Altes Testament zu nennen die Gewohnheit haben, hatten bis ins siebte Jahrhundert hinein die Besonderheit, nur als Konsonanten aufgeschrieben zu sein. So konnten nur diejenigen diese Texte lesen, die die zu den Konsonanten gehörenden und somit bedeutungsstiftenden Vokale kannten.

Der Erforscher von Aufschreibe-Systemen, Friedrich Kittler, nimmt den Umgang Jesu mit diesen Schriften als Indiz dafür, dass Jesus allen Menschen die Schrift zu lesen ermöglichen wollte. Nicht mehr nur eine eingeführte Elite sollte diese Texte lesen können und damit die Deutungsmacht über sie innehaben. Kittler pointiert und erkennt darin den eigentlichen Grund für die Hinrichtung Jesu. Daraus ergibt sich eine österliche Praxis…


Zu Gast

Der auferstandene Christus kommt, um im Innersten des Menschen ein Fest zu feiern. Er bereitet einen Frühling der Kirche: eine Kirche, die über keine Machtmittel verfügt und bereit ist, mit allen zu teilen, ein Ort sichtbarer Gemeinschaft für die ganze Menschheit. Er wird uns genügend Phantasie und Mut geben, um einen Weg der Versöhnung zu bahnen. Er wird uns bereitmachen, unser Leben dafür hinzugeben, dass der Mensch nicht mehr Opfer des Menschen sei.


Noli

Im Konzert der Praktiken des Auferstandenen Christus, wie sie das Neue Testament überliefert, findet sich eine Geste, die bis zur Unkenntlichkeit überdeckt wird von einer staatlichen Hygiene-Vorschrift unserer Tage. Sie kulminiert im Satz des Johannesevangeliums: „Rühre mich nicht an“, wie Martin Luther übersetzt (Joh 20, 17).

In seinem kleinen Buch „Noli me tangere“ ist der französische Philosoph Jean-Luc Nancy dieser Ostergeschichte (Joh 20, 11-18) nachgegangen und hat sie ausgehend von ihren von Malern realisierten bildlichen Darstellungen untersucht. Zwei entscheidende Gedanken seien hier herausgehoben, der komplexe Zusammenhang des Nicht-Berührens und der des Fortgehens.

Bildlich, medial entspricht dieser Geste – außerhalb der Szene, in der sie sich abspielt und die Jean-Luc Nancy untersucht hat – am ehesten die sogenannte Rückenfigur.


Passio

Der estnische Komponist Arvo Pärt hatte nach einem mehrjährigen Schweigen als Komponist seinen Stil der tintinnabuli (Glöckchen) erfunden. Als eines der Hauptwerke dieses Stiles gilt die Johannespassion. Sie wird im Allgemeinen nach dem ersten Wort ihres Textes schlicht „Passio“ genannt.

Musikalisch orientiert sich Pärt an frühen Passionen, wie sie sich von intonierten liturgischen Lesungen ausgehend vom vierten Jahrhundert an ausdifferenziert haben. Das kompositorisch streng gearbeitete Werk basiert ausschließlich auf dem lateinischen Text des 18. und 19. Kapitels des Evangeliums nach Johannes (Joh 18, 1-40; 19, 1-30).

Eine Grundkenntnis der Geschichte vorausgesetzt orientiert Pärt durch die Verwendung des lateinischen Textes die Hörerinnen und Hörer seiner Passion auf etwas Anderes als auf das inhaltliche Verstehen.
 


Im Jahre 1977 wurde das Berliner Olympiastadion, zum Schauplatz eines legendären Ereignisses: Unter dem Titel „Winterreise. Textfragmente aus Hölderlins Roman ‚Hyperion oder der Eremit in Griechenland‘“ besetzten es der Theaterregisseur Klaus-Michael Grüber und sein Ensemble der Berliner Schaubühne auf eine besondere Art und Weise und legten es in die Hände (oder besser: unter die Füße) der Wanderer, wie Hölderlin selber einer war, der Gefährdeten, am Abgrund Stehenden.

Und unter ihnen ein Fremder, ein Wanderer durch die Nacht, ein rotes Stirnband um den Kopf, im Anzug mit wärmenden Schichten darunter und Turnschuhen. Der sprach Hölderlin-Texte, die über die Stadionanlage hallten.

Ich ziehe durch die Vergangenheit wie ein Ährenleser über die Stoppeläcker, wenn der Herr des Lands geerntet hat. Da liest man jeden Strohhalm auf. Wie ein heulender Nordwind fährt die Gegenwart über die Blüten unseres Geistes und versenkt sie im Entstehen.
 


memorandum

Eines Nachts Ende April oder Anfang Mai des Jahres 1720 hatte der sardische Vizekönig Saint Rémys, dessen Verantwortlichkeiten vom König sehr reduziert gehalten waren, einen bedrückenden Traum. 

Einen Monat vor dieser Nacht war in Beirut ein Schiff mit Namen Grand-Saint-Antoine in See gestochen. Dieses Schiff befindet sich nun gerade vor Cagliari und bittet um Einfahrt und das Recht, an Land zu gehen. Da gibt der Vizekönig den Befehl, die Grand-Saint-Antoine solle sofort kreuzen, volle Segel setzen und in See stechen. Sollte sie diesem Befehl nicht nachkommen würde man das Schiff mit Kanonenbeschuss versenken.

Der französische Theatermann Antonin Artaud, der diese Geschichte berichtet, kommentiert: „Man muss doch die besondere Kraft des Einflusses bemerken, den dieser Traum auf Saint Rémys ausübte…“
 


Sie denken uns

Seit den Anfängen Europas erzählt man sich die Geschichte von einer Gruppe von Frauen aus dem mittleren Osten. Sie tauchen an der Grenze von Argos in Griechenland auf und bitten um Schutz. Man heißt sie willkommen nach dem Gesetz der Gastfreundschaft. Doch schon bald entspinnt sich ein Konflikt um den Empfang der Fremden.

Die Rede ist von der wahrscheinlich ältesten erhaltenen griechischen Tragödie: Die Schutzflehenden von Aischylos.

In den Augen der griechischen Dichterin Niki Giannari verfolgen die Schutzflehenden dieser Urszene die europäische Geschichte wie Gespenster. Sie erkennt sie nicht nur in den Geflüchteten aus dem syrischen und afghanischen Krieg im griechischen Flüchtlingslager auf Idomeni, nein: Des spectres hantent l’Europe / „Gespenster gehen um in Europa“. So nennt sie ihr Gedicht.
 


Hände

Der Film „Bildbuch“ des schweizer-französischen Filmregisseurs Jean-Luc Godard aus dem vergangenen Jahr hat eine gerade für seine deutschen Zuschauer auffällige Besonderheit. Godard spricht selbst Texte, was er seit Jahren tut, aber hier spricht er sie zum ersten Mal selbst auf Deutsch!

Und so beginnt der Film, wie auch der Trailer, (dem noch vorgeschaltet ist, dass er ein Versuch auf Deutsch sei,) mit einem grundlegenden Satz: „Da sind die fünf Finger, die fünf Seher, die fünf Erdenteile, ja, die fünf Feenfinger. Aber alle zusammen formen die Hand. Mit den Händen zu denken, ist die wahre Bestimmung des Menschen.“


Körperwerden

There ist nothing in heaven as the suffering of the humans lives (Patti Smith)

Glaubt man dem Bildgedächtnis der Christenheit, ist Körperwerden die Hölle. Ihre grundlegende Praxis besteht in einer verworrenen Kombination von Lust und Strafe. Sie verherrlicht dabei eine einzige körperliche Praxis, die Qual.

Wie sehr und auf welche Weisen dies geschieht und kulturprägend wirkt, lässt sich exemplarisch in Dantes „Göttlicher Komödie“ nachlesen und auf den Bildern eines Hieronymus Bosch ansehen, sobald man beide als „Dichter [bzw. Maler] der irdischen Welt“ (Erich Auerbach) betrachtet.

Zielsicher in seinem blasphemischen Furor hat der französische Theatermann Antonin Artaud den Grund für dieses Körperwerden als höllische Praxis in einer wahnhaft ausgeprägten Vorstellung des Gottesgerichtes ausgemacht. Folgerichtig trägt eine seiner letzten Schriften den Titel: „Schluss mit dem Gottesgericht“.


…ho logos…

Es ist nicht ungewöhnlich, das Johannesevangelium der literarischen Gattung des antiken Dramas anzunähern. Damit hätte der Beginn des Evangeliums die Form eines dramatischen Prologs. Ein Prolog gebe „einen Hinweis auf den folgenden logos“, schreibt Aristoteles in seiner Rhetorik. Ein Prolog zeige an, worum es im Folgenden gehe. Das sei so in Prosagedichten, wie zum Beispiel Heldenliedern. Und auch bei den Tragikern. Sogenannte dramatischen Prologe „geben Aufschluss über [den Stoff] des Dramas und, wenn nicht sogleich am Anfang, wie Euripides, so doch irgendwie im Prolog, wie auch Sophokles es tut“. Logos meint im ersten Falle eine Rede, im zweiten die Tragödie selbst.

In seinen Notaten zu medientheoretischen Untersuchungen des Johannesevangeliums geht der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler zwar vom Hintergrund dieser literarischen Formen aus, konzentriert sich jedoch auf „das Verhältnis des Wortes zum Fleisch und des Wortes zur Stimme, von logos zu sarx und logos zu phone“.

Den dafür entscheidenden Vers 14, ho logos sarx egeneto, kommentiert Kittler folgendermaßen: „Soll das heißen, Jesus sprach zwar aramäisch, dachte aber doch schon griechisch? Einfach weil er logos war?“
 


Die legendäre Inszenierung der euripideischen Bakchen von Klaus Michael Grüber 1974 an der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer ist mancher/m als die wichtigste ihre/seines Lebens in Erinnerung geblieben.

Für den Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann lässt Klaus Michael Grüber damit das „neuzeitliche Drama“ als eine „Welt der Diskussion“ hinter sich und schlägt den „Bogen zurück zu jener essentiellen Wirklichkeit der Bühne“, für die „der Augenblick des Sprechens alles ist“. Dort zählt der kostbare Augenblick, in dem der Körper, bedroht, in einem Raum der Szene zum Sprechen kommt. Es ist übrigens diese Konstellation, nicht die Narration (die dem Epos zukam), die auch das antike Theater entstehen ließ“. Lehmann sieht hier ein „Theater der Stimme“ am Werk. Die Stimme als „Nach-Klang“ des Geschehens.

In seinen Studien zum alten Griechenland kommt der streitbare Medienwissenschaftler Friedrich Kittler auf den Autor der Bakchen, Euripides, zurück und nennt ihn den „Urchristen“. Er habe „das Skript des Urchristentums, zumindest des paulinischen“ geschrieben.


Die Erkenntnis Bruno Latours, dass die religiöse Rede, also die Predigt, eine invention fidèle, eine wahrheitsgetreue Erfindung ist, hat eine ausgesprochen theatrale Seite. Sie führt in der Praxis von der stillen Lektüre über das laute Lesen in die Erfindung szenischen Spiels.

Dieser schöpferische Prozess lässt sich erzählpraktisch bis in die Evangelien zurückverfolgen. Wie Bruno Latour bemerkt, war die Botschaft der Auferstehung Jesu – vergleiche die frühesten paulinischen Formulierungen – derartig neu, befremdend mitzuteilen bzw. schwer zu erklären, dass man einen sichtbaren Anknüpfungspunkt dazu benötigte: das leere Grab.

 


„Für ein armes Theater“ heißt ein Artikel des polnischen Theaterregisseurs und –Theoretikers Jerzy Grotowski aus dem Jahre 1967. In diesem Artikel geht es nicht um Krippenspiele. Aber er kann in mancherlei Hinsicht wie eine Anleitung für Krippenspiele gelesen werden. Armes Theater, théâtre pauvre, bedeutet für Grotowski, schrittweise zu eliminieren, „was sich als überflüssig erwies, wir fanden heraus, dass Theater ohne Schminke, ohne eigenständige Kostüme und Bühnenbild, ohne abgetrennte Aufführungsbereiche (Bühne), ohne Beleuchtungs- und Toneffekte usw. existieren kann.“

Das, was Grotowski in der Arbeit seines Theaterlaboratoriums in Opole, im Südwesten Polens, entdeckte, ist allermeist die Grundvoraussetzung von Krippenspielen. 
 


 

Die berühmte Szene an der Krippe von Greccio gilt als das erste Krippenspiel in der Geschichte der Christenheit und Franz von Assisi als der Erfinder dieses Theaters. Was für die griechische Tragödie nach Aristoteles als mimesis beschrieben wurde, verwandelte Franziskus in eine imitatio der biblischen Geschichte.

Ein in mehrfacher Hinsicht überraschendes Experiment unternahm der Dramaturg und Dichter Hugo Ball im Juni des Jahres 1916. Mit der Aufführung eines Krippenspieles im Cabaret Voltaire nahm er die franziskanische Tradition von 1223 wieder auf.  Eine Tagebuchnotiz zehn Tage später über die Kindheit Jesu beendet er mit der Feststellung: „Die Dadaisten sind ähnliche Wickelkinder einer neuen Zeit“.

Der Bühnenbildner und Theaterregisseur Einar Schleef analysiert Bertolt Brecht in überraschendem Horizont: „Modellinszenierungen und Gottanwesenheit lassen Rückschlüsse auf Herkunft seiner Theatervorstellungen zu, die sich deutlich aus dem Krippenspiel herleiten, in dem die Verbindung von Gottanwesenheit und Modellinszenierung ihren Höhepunkt feiert. Vorbild des ‚Armeleutetheaters‘, das immer Waffe der Avantgarde bleibt, bei ihrem Sieg jedoch langsam in Puppenstubigkeit erstickt.“
 


Wie kommt einer der bedeutendsten Anthropologen dazu, von seiner Wissenschaft „als mindere Wissenschaft“ zu sprechen? Die Spur der Antwort auf diese Frage findet sich im Haupttitel des Veröffentlichungsprojektes, deren Untertitel die „Anthropologie als mindere Wissenschaft“. Der Haupttitel heißt:„Anti-Narziss“ und die Antwort wie folgt:

„Das Hauptanliegen des „Anti aber entlehnen wir meiner Disziplin doch hier einmal das ethnologische Präsens– auf folgende Frage zu antworten: Was ist die Anthropologie den Völkern die sie erforscht in begrifflicher Hinsicht schuldig?

Ein solcher Wechsel der Blickrichtung würde eben konkret bedeuten, im Anderen nicht immer nur die Maske zu entdecken, hinter der wir selbst stecken, sondern in ihr/ihm ein Bild zu sehen, in dem wir uns nicht erkennen. Somit bietet „jede Erfahrung einer anderen Kultur die Gelegenheit zum Experiment mit unserer eigenen Kultur“.

Für unseren Zusammenhang verbirgt sich in diesem Perspektivwechsel die antinarzisstische Kritik eines der zentralen christlichen Sakramente und trifft dabei ausgerechnet auf eines der übelsten Vorurteile, das diesem Sakrament je entgegengebracht wurde.


Körper

Ausgehend von den Schilderungen des Körpers des Auferstandenen in den Evangelien stellt sich immer wieder die Frage danach, wie der auferstandene, verherrlichte Körper vorzustellen sei und was sich daraus für eine körperliche Praxis der Auferstehung folgern lässt.
Dabei müsste es um die Frage gehen, „ob man eine Physiologie des verherrlichten Körpers formulieren kann“. Das hieße wiederum konkret, ein „Organ von seiner speziellen physiologischen Funktion zu trennen. Der Zweck der Organe, wie der jedes Werkzeugs, ist der ihrer Wirksamkeit; doch das bedeutet nicht, dass, wenn die Wirksamkeit schwindet, das Werkzeug nichtig wird. Das Organ oder das Werkzeug, das von seiner Wirksamkeit getrennt und sozusagen aufgehoben ist, erwirbt ebendeshalb eine ostensive Funktion, stellt die der aufgehobenen Wirksamkeit entsprechende Kraft zur Schau.“
Dieser ausgestellte Leerlauf ad maiorem Dei gloriam ermöglicht einen neuen Gebrauch der Körper. Wie bei einem Tänzer, »der die Ökonomie der Körperbewegung desorganisiert und zerstört, um sie intakt und zugleich transfiguriert in seiner Choreographie wiederzufinden.“
 


Ein Gastspiel

Hauptsatz der homiletisch-liturgischen Theorie und Praxis.

 


Paris. Ostern 1294

Der junge Dominikanermönch Eckhart ist Magister an der Universität in Paris. Zu Beginn des Semesters 1293/94 hatte er einen Vortrag zur Einleitung seines Kommentars über die berühmten Sentenzen des Petrus Lombardus gehalten und sich darin nicht lange bei den üblichen Schulweisheiten aufgehalten, sondern direkt zu Beginn Bibelauslegung mit Naturforschung kombiniert.

Ostern beginnt Eckhart seine Predigt über den ersten Korintherbrief des Paulus: »Christus ist als Osterlamm geschlachtet. So lasst uns denn ein Mahl halten« (5,7) ähnlich spektakulär. Nachdem er erklärt hatte, dass mit dem Mahl in Paulus‘ Text das Abendmahl dieses Ostergottesdienstes gemeint sei, kommt er auf Rhetorik zu sprechen.

 


Der Dada-Erfinder, Hugo Ball, hatte Anfang der 1920er Jahre in seiner Schrift „Die Folgen der Reformation“ überdeutlich die aus der Reformation hervorgegangene deutsche Verbindung von Thron und Altar für das Grauen des Ersten Weltkrieges verantwortlich gemacht. Um die Radikalität seiner Analyse ins rechte Verhältnis zu setzen, zeichnete er drei Heiligenleben des „Byzantinische[n] Christentum[s]“. Balls Blickrichtung ist von überraschender Aktualität.

Irgendwann zwischen dem 9. und den 12. Jahrhundert lebte ein Mann, irgendwo zwischen Konstantinopel, Damaskus oder Alexandrien. Philotheos Sinaita ist sein Name und wir wissen wenig von ihm. Eines Tages erfand er das Wort „photographieren“.

Damit bezog er sich keineswegs auf die Herstellung visueller Gegenstände oder gar ihre technische Reproduktion, noch weniger auf einen Verwaltungsakt. Vielmehr beschrieb er mit diesem Wort eine Erfahrung höchster Intensität, einen Rausch, eine Erleuchtung oder Überwältigung. Etwas, das ihn in die Bewegung eines Werdens versetzte, in der er zu bleiben beschloss.
 


Lautlesen

Bei seinen Untersuchungen der Quellentexte des alten Griechenland beobachtete Friedrich Nietzsche, dass Literatur zunächst gar nichts mit „litterae oder Lettern“ zu tun hatte. Zumindest bis Euripides, von dem überliefert ist, dass er zu den wenigen Athenern zählte, die eine Bibliothek besaßen, waren nämlich griechische Denker keine Schreiber. Denn ihre Verse fanden als „rhapsodischer Vortrag, lyrischer Tanzgesang oder dramatische Inszenierung grundsätzlich mündlich“ statt.

In der Folge bestand auch das Publikum nicht aus Leserinnen und Lesern, sondern aus Hörerinnen und Hörern. Und selbst das Lesen war ein lautes Lesen, das „den ganzen Körper und eine laute Stimme brauchte. Die fälschlich so genannte Literatur der Griechen war also eine wesentlich mündliche Körpertechnik“.
 


Lange bevor Patti Smith bekannt und mit dem popkulturellen Prophetinnen-Titel Godmother of punk geehrt wurde, begann sie als Dichterin auf den Spuren des von ihr bis heute verehrten Arthur Rimbaud. Das Singen war für sie zunächst vor allem eine Möglichkeit, ihre Gedichte vorzutragen.
1970 schrieb Patty Smith ein Gedicht mit dem Titel Oath und las es bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt im Februar 1971 in der St. Marks Church in New York City.
Vor allem der Beginn von Oath sollte berühmt werden:
Christ died for someone’s sin, but not mine
Diese Zeilen schockierten. Sie lassen sich in ihrer Zuspitzung und dichterischen Hellsichtigkeit als das Gegenstück zu Augustins Konstruktion der Erbsünde und deren Folgen lesen.
 


Römerbrief

Unter der Überschrift „Vatertränen, nur zu denkende“ beginnt der Philosoph Hans Blumenberg einen Gedankengang mit folgender Feststellung:  Im Unterschied zu den natürlicherweise mit dem Tod des Vaters endenden Vater-Sohn-Konflikten, endet der „im Garten Gethsemane ausgetragene“ Vater-Sohn-Konflikt mit dem Tod des Sohnes. Der Schrei Jesu am Kreuz Eli, Eli… sei „der denkbar größte aller Vorwürfe gegen einen Vater“.
Es sei „merkwürdig, dass niemals Anstoß daran genommen wurde, wie hier ein Vater von seinem Sohn verlangt, sich ihm und vor ihm der Passion preiszugeben“ und diese “fühllos entgegenzunehmen scheint, nachdem er bei der Jordantaufe dem Sohn zugesprochen hatte, er sei der Vielgeliebte seines Wohlgefallens.“
Und Blumenbergs Überlegung kulminiert in der Frage: „Mussten die Menschensöhne seit je danach gefragt werden oder sich fragen, wie sie mit der Vaterlast leben konnten und können, ist hier der Gottvater zu fragen, wie er mit der Passionslast des Sohnes hat weiter ein Gott sein können. Ist es möglich zu denken, dass dies es war, was ihn tötete? Wir setzen uns in Tränen nieder . . .  – über jeden Tod. Auch über diesen?“
 


Im Laufe der 70er Jahren des letzten Jahrhunderts arbeitete der kanadische Philosoph Constantin Boundas aus Ontario an seiner Doktorarbeit über Paul Ricœur. Bei einem Aufenthalt in Paris fielen ihm in einer Buchhandlung Schriften von Gilles Deleuze in die Hände. Er wechselte das Thema seiner Doktorarbeit.

Während eines erneuten Aufenthaltes in Paris im Jahre 1989 trifft er den Philosophen. Als Deleuze seine Arbeit an einem neuen Buch erwähnt, bemerkt Boundas, „dass Ricœur an einem ähnlichen Thema sitze, und bekommt zur Antwort: ‚Ja, aber Ricœur ist Christ‘“.

Was macht diese Aussage des französischen Philosophen über seinen Kollegen erwähnenswert?
 


In der pointierten Beobachtung des schweizer-französischen Filmregisseurs Jean-Luc Godard haben die Deutschen wegen der Schrecken, die sie eigenhändig während des Zweiten Weltkrieges verbreitet hatten, „selbst die Idee, Deutsch zu sein, verloren bzw. diskreditiert“.
Deshalb „hat ein Teil gewählt, amerikanisch zu werden, und der andere Teil, sich nicht zu bewegen.“

Bis heute hat dieses Statement Godards eine überraschende Aktualität. Nicht zuletzt lässt sich von ihm aus ein erhellendes Licht auf den Zustand wenigstens der evangelischen Kirchen in beiden Teilen Deutschlands werfen.
Die o.g. Amerikanisierung hat im Gegensatz zum Nichtbewegen zumindest eine Anfälligkeit, um nicht zu sagen Naivität, gegenüber Sprachformen und ihren ästhetischen Derivaten hervorgebracht, die man kommerziell oder auch konsumistisch nennen könnte.

 


 

Durch die evangelischen Kirchen unseres Landes geht ein Riss. Es fällt zunehmend schwer, die Erfahrungen der Christinnen und Christen in der ehemaligen DDR verständlich zu machen. Die Denkfigur des „Minderheitlich-Werdens“ eröffnet ein Feld der Wahrnehmung jenseits der eingeübten Frustrationen, die oftmals von mehrheitlichen Gesten herrühren.
Minderheitlich-Werden bedeutet nämlich nicht, mehrheitlich werden zu wollen, sondern im Werden zu bleiben.
Heino Falcke erinnert folgendes Bild: „Als uns 1980 Roger Schutz aus Taizé besuchte, kam es auf dem Domberg in Erfurt zu folgender Szene: Wir standen als Leiter des Gottesdienstes oben vor dem Dom, da löste sich aus der Gemeinde zu Füßen der Domstufen ein kleiner Junge und stieg ganz allein vor allen die Treppe hinauf. Wir hielten den Atem an. Das war ein wunderbares Symbol für uns Christen in der DDR – sich zu wagen, alleine aus der Menge heraus seinen Weg zu gehen.“


Martyr/olog

Seinen Tagebüchern stellt der russische Filmregisseur Andrej Tarkowskij eine Reihe idyllisch anmutender Schwarz-Weiß Fotographien aus seiner Kindheit voran. Viele von ihnen glaubt man als Filmbilder nachgestellt aus seinem Film „Der Spiegel“ zu kennen. Und man versteht, dass die Schönheit der erinnerten Bilder nicht deckungsgleich sein muss mit dem in ihnen erfahrenen Leben, deren Abbilder sie dennoch sind.

Die Differenz, die durch dieses Denken der Bilder geht, beschreibt Tarkowskij als Martyrolog, so der Titel seiner zweibändigen Tagbücher. Damit erinnert Tarkowskij an eine bis heute lebendige orthodoxe Tradition, die einen überraschenden Gegenwartsbezug enthält. Er besteht darin, Martyres auch im heutigen Leben zu bezeichnen und sie Bild werden zu lassen. Tarkowskij hat aber noch einen direkten Schnittpunkt mit dieser Tradition, der zugleich einen Blick in den Abgrund der orthodoxen Kirchen heute gewährt.

Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts ging Andrei Tarkowskij in Moskau auf die Schule für Jungen Nr. 554. Einer seiner Mitschüler hieß Alexander Wladimirowitsch Men. Über ihn würde später folgendes geschrieben werden:


Gastfreundschaft

Zu einer Zeit, als die Sehnsucht nach Freiheit in (Ost-) Europa und der Welt noch Phantasie und Widerstandskraft bei den Menschen freisetzte, gab es in Prag eine Untergrund-Universität. Gelehrte aus aller Welt ließen es sich nicht nehmen, auf verbotenen Zusammenkünften in Wohnungen Vorlesungen zu halten. Sie vertrauten auf die Kraft des Denkens, die herrschende Dummheit zu unterwandern, ja auszuhöhlen.


HELL Canto 14

Bei ihrer Wanderung durch den dritten Ring des siebten Höllenkreises gelangen Dante und Vergil an die Ufer des blutroten Stromes Phlegethon.
„Schweigend kamen wir dorthin, wo aus dem Wald ein kleiner Fluss kräftig heraus strömt, dessen blutrote Farbe mich jetzt noch erschaudern macht. […Er] ergoss sich abwärts durch den Sand. Sein Boden und die beiden Böschungen waren aus Stein, auch die Ränder daneben; daran erkannte ich, dass hier der Übergang war.“ So schildert Dante die Situation.
Und sein Begleiter, Vergil, erläutert, was sie sehen: „Mitten im Meer liegt ein verwüstetes Land, das Kreta heißt, unter dessen König die Welt einst unschuldig war. Dort ist ein Berg…
 


Stauffenberg: 7.00 Uhr Abfahrt zum Flugplatz Rangsdorff, Haeften ist schon dort. Kuriermaschine Richtung Rastenburg, Ankunft gegen 10.15 Uhr. 11.30 Vorbesprechungen. Haeften wartet, mit zwei mal 975 Gramm Plastiksprengstoff deutscher Herstellung mit je zwei englischen Übertragungsladungen. In einer Packung enthält die Übertragungsladung einen englischen Zünder für nominell 30 Minuten Zündverzögerung. In der anderen Ladung befindet sich nur ein Zünder mit derselben Verzögerungszeit. Um die Zünder zu aktivieren, habe ich eine Flachzange. Die Kupferhülsen werden zusammengepresst. In ihnen stecken die Glasampullen mit der Säure. Sie zerfrisst in der berechneten Zeit die Spanndrähte, die ihrerseits Spiralfedern mit Zündbolzen gespannt halten. Der Spanndraht darf nicht durch den Druck der Zange geknickt werden. Durch ein Schauloch wird festgestellt, ob die Feder gespannt ist. Dann wird ein Sicherungsstift entfernt und der Zünder in die Übertragungsladung eingesetzt. Im Idealfall werden alle drei Zünder aktiviert. Geplante Lagebesprechung mit Hitler: 13.00 Uhr in der Lagebaracke.


Quid me mihi detrahis?
Warum entziehst Du mir (mir) selber mich?
fragt Marsays den Apoll während ihm von dessen Schergen die Haut abgezogen wird. So überliefert es Ovid.
Diese Frage klingt wie das Echo auf einen anderen „Zweikampf“:
Quere dereliquisti me?
Warum hast du mich (dir) entbunden?
So könnte man die Frage des im Matthäusevangelium geschilderten Geschehens an das andere bei Ovid annähern und probehalber einmal übersetzen.
In seiner Übertragung des 22. Psalms greift der niederländische Dichter und Theologe Huub Oosterhuis diese Nähe auf und beschließ den Psalm:
„Doch warum hast du mich verlassen, als die Erde krachte und bebte, die Felsen zerbarsten, als ich nach dir schrie, warum hast du mich nicht getröstet? Als ich da hing, so hing, an meinen Pulsadern, lebend gehäutet.“
 


Unterwanderungen

Die Bachkantate für den Ostermontag (BWV 6) kreist um die Bitte „Bleib bei uns“, wie sie die Emmausgeschichte im Lukasevangelium (24, 13-15) berichtet. Diese Bitte der vom Tode Jesu traumatisierten Jünger an den unerkannten Spaziergänger – mit Heiner Müller müsste man daran erinnern, dass der Aufstand als Spaziergang beginnt – ist eine der charakteristischen österlichen Gesten.   
In Bachs Kantate werden die verschiedenen Aspekte dieser Geste klanglich gezeichnet.
 


Der helle, helle Tag

Im Februar des Jahres 1968 traf sich der russische Filmregisseur Andrej Tarkowskij mit seinem Szenaristen in der Nähe von Moskau. Beide wollten die literarische Version eines Filmprojektes erarbeiten, worüber Tarkowskij schon seit längerer Zeit unter dem Titel „Der helle, helle Tag“ nachdachte.
1974 erschien der Film unter dem Titel „Der Spiegel“ (Serkalo) in den Kinos. Für Tarkowskij ist es der „schöpferischen Akt“ – „zweckfrei und uneigennützig“ – ,  der zeigt, „dass wir nach Gottes Ebenbild erschaffen wurden“. Folglich wünschte er sich, dass die Menschen sich seine Filme „wie einen Spiegel“ anschauten, „in dem [sie] sich selbst erblick[en]“. 
Über derartige Umwandlungen, wie sie Tarkowskij in seinem Film „Der Spiegel“ künstlerisch vollführt, herrscht in der Christenheit ein alter Streit bis auf den heutigen Tag. Er führt immer wieder auf die sogenannte Alte Kirche zurück und lässt immer wieder nach der „Potentialität der altkirchlichen Denkentwicklung[en]“  fragen, danach, wie sie wieder zu entdecken sei und heute fruchtbar gemacht werden könne.
 


Liturgie und Drama

Wenn während der sogenannten Lutherdekade und somit auch während des letzten Jahres 2017 ein genuin lutherisches Thema gänzlich ausfiel, dann war es Luthers endzeitlicher Furor. Das beängstigende finale Grollen am Himmel ist verstummt. Und niemand hätte das angemessener zum Ausdruck bringen können als der berühmteste Student der Universität Wittenberg – nämlich: Hamlet. Und zwar mit Worten aus der Überlieferung Heiner Müllers: Mein Drama findet nicht mehr statt.

Das ist postdramatisch.

 


 

Endzeiten

Death Valley, Kalifornien.  Im Mai 1975 unternahmen der französische Philosoph Michel Foucault und zwei seiner Freunde einen Ausflug. Während eines zweitägigen Aufenthaltes am Zabriskie Point und in Höhlen, die an den Roden Crater erinnern, setzten sie sich einem Experiment aus. In dieser überwältigenden Wüstenlandschaft nahmen sie eine genau bemessene Dosis von klinischem LSD zu sich, hörten Musik von Charles Yves, Karl-Heinz Stockhausen, aber auch die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss und Stücke von Chopin. Sie waren tagsüber in gleißender Sonne unterwegs, sahen die Venus und den gesamten Sternenhimmel aufgehen bei Nacht.
In einem Interview vom Mai vergangenen Jahres erinnert sich der in Harvard promovierte Historiker Simeon Wade an diese schon damals hochumstrittene Erfahrung. Er sei besonders gespannt darauf gewesen, ob und wie sich Foucaults Denken verändern und erweitern würde. Konkret bezog er dies auf seinen Endpunkt, an dem Foucault den Menschen verschwinden sah „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“.

 


 

In manos tuas

Wofür interessiert sich jemand, wenn sie/er sich für eine produktive experimentelle Praxis, in der „sich das Manuelle nicht von den Ideen trennen lässt“, interessiert? 

Sie/er interessiert sich für Hände, Hände als „Bewusstsein einer Handlung“.

Albert Flocon war 1933 aus Deutschland nach Paris emigriert und hatte sich nach 1945 auf die Kupferstecherei konzentriert. Ende der vierziger Jahre versammelte er eine Gruppe von Graveuren um sich und bereitete mit ihnen eine Ausstellung in einer kleinen Galerie auf der Pariser Ile St. Louis vor. Die ausgestellten Gravuren kommentierend wollte Flocon einige Texte von Gaston Bachelard zitieren und nahm dazu mit ihm Kontakt auf. Bachelard, der eigenwillige Philosoph und Wissenschaftshistoriker, versprach einen eigenen Beitrag. Der gab schließlich auch den Titel der Mappe ab, die die sechzehn dem Handmotiv gewidmeten Drucke der Künstlergruppe beinhaltete:  À la gloire de la main – Zum Ruhm der Hand.

 


 

Rätsel mit und ohne L

Auf einer elliptischen Bühne sitzt ein Junge. Auf dem Boden der Bühne leuchten Kreise, Ellipsen, Linien. Kosmische Umlaufbahnen, Zeichnungen geometrischer Berechnungen?  Zuschauer sitzen in einer Arena um die Bühne herum. Am oberen Rand stehen schwarz gekleidete Sängerinnen und Sänger, die Gewänder rauschend eingezogen waren… 

Der Junge verharrt an seinem Platz. Trotz der Dunkelheit herrscht eine heitere Atmosphäre nicht zuletzt wegen seiner merkwürdigen Geräusche. Dann erhebt er sich und erzählt ein Rätsel. Nach jeder Zeile unterbricht er mit seinem merkwürdigen, hohen Geräusch, wobei er seine Hände und Arme ruckartig übereinander bewegt:

Ich weiß ein Wort, das hat ein L;

 


Wer da?

Der berühmteste Student der lutherischen Universität Wittenberg ist Hamlet. Glaubt man William Shakespeare, so hat Hamlet an Martin Luthers Universität in Wittenberg studiert. Als Luthers Schüler wird Hamlet im Allgemeinen nicht verstanden, obwohl einige seiner bekannten Sätze sich passgenau auf lutherische Positionen beziehen lassen.

So die einfache Frage „Wer da?“, mit der sein Stück beginnt. „Wer da?“ ist nämlich die entscheidende Frage auf die Aussage des Paulus im Römerbrief, der Glaube komme aus dem Hören, ex auditu.

 


 

El africano

Der spanische Dramatiker und Dichter Félix Lope de Vega Carpio (1562-1635) veröffentlichte im Jahre 1623 eine tragicomédia famosa mit dem Titel  El divino africano. Im Zentrum dieses Theaterstückes steht der Afrikaner Augustinus, der Bischof von Hippo. Zuzüglich zu den Confessiones, die die inhaltliche Grundlage des Stückes bilden, erfindet Lope de Vega ein Martyrium des Augustinus unter den Vandalen.
Ob ein solches Martyrium dem Leben, Denken und Wirken Augustins folgerichtig oder angemessen ist, kann allerdings bezweifelt werden. 

(Der folgende Text ist am 4. 12. 2017 stark  erweitert worden. D.S.) 
 


In dem kleinen toskanischen Städtchen Bagno Vignoni befindet sich, wie der Name schon sagt, ein altes Bad, ein Thermalbad. Es ist der Heiligen Katharina von Siena gewidmet und steht im Zentrum des Filmes „Nostalghia“ von Andrej Tarkowskij. In Tarkowskijs Film wohnen in einem an das Bad angrenzenden Hotel die Kurgäste. Unter ihnen ein russischer Dichter. Er erscheint als lustloser Typ, bis er den merkwürdigen ehemaligen Mathematikprofessor Domenico trifft, der seinerseits vom Ende der Welt besessen ist, mehr noch davon, die Welt zu retten. Zwischen beiden entwickelt sich eine doppelgängerhafte Komplizenschaft. Bei einer Begegnung in seinem Haus bittet Domenico den Russen um einen Gefallen. Er solle eine brennende Kerze von einem Ende des Heilbeckens zum anderen tragen, sie dürfe dabei nicht verlöschen.


OST

In einem Interview aus dem Jahre 1990, in dem es auf die Rolle der Kirchen in der ehemaligen DDR kam, sagte Heiner Müller: „Aber die Kirche konnte einfach Phantasieräume besetzen, die durch eine dilettantische Praxis vakant geworden waren“. Dieser Satz entfaltet seine aktuelle Brisanz vor dem Hintergrund eines anderen Gedankens von Heiner Müller, der das Preußen Kleists und in seiner Folge die ehemalige DDR als „eine Erdbebenzone“ beschreibt, „von Verwerfungen bedroht, angesiedelt auf dem Riss zwischen West- und Ostrom, Rom und Byzanz, der in unregelmäßigen Kurven durch Europa geht, blitzhaft sichtbar, wenn nach dem Verlust einer bindenden Religion oder Ideologie, die alten Stammesfeuer wieder gezündet werden“. 
Ein Seismograph dieser Erdbebenzone war Hugo Ball.
 


 

Der harsche Kritiker des Ersten Weltkrieges und Martin Luthers, was bei ihm beinahe auf eines hinauslief (!), Hugo Ball, war kein ausgiebiger Leser der Schriften Augustins. Auf der Suche nach der Sprache Gottes, die im Kriegsgeschrei von den Kanzeln der Kirchen Europas verschwunden war, hatte er seine Sprachexperimente auf der Dada-Bühne des Züricher Cabaret Voltaire mit Dionysius Areopagita verbunden und war zu der Erkenntnis gelangt, dass dieser Augustinus an Bedeutung für die Zukunft des Christentums überrage. Als er sich aber über den Verlauf seines Lebens Rechenschaft zu geben versuchte, die „Kurve seiner Konversionen“ nachzeichnete, begann Hugo Ball mit der Lektüre der Confessiones und stellte seinem redigierten Tagebuch „Die Flucht aus der Zeit“ von 1927 folgendes Motto des Augustinus voran:

 


 

(F1) – Homiletischer Imperativ
Als der junge Helmuth James von Moltke im Jahre 1927 die Lebensbedingungen im nur dreißig Kilometer von Kreisau entfernten niederschlesischen Bergbaugebiet zahlenmäßig zu untersuchen half – zu der Zeit lebten in dieser Gegend doppelt so viele Menschen pro Quadratkilometer wie im Ruhrgebiet „auf einem vom Bergbau unterhöhlten, absackenden, nassen Grund, so dass viele Familien buchstäblich in Löchern hausten – , wurde er schnell zum aktiven Teil einer schlesischen Bürgerinitiative.
 

(F 2)  – Der Mensch ist ein liturgisches Tier
Mit der Machtergreifung Hitlers 1933 verließ Eugen Rosenstock-Huessy Deutschland und wanderte aus in die USA. Dort verfasste er Ende der 40er Jahre für die Zeitschrift einer Benediktiner-Abtei einen Beitrag zum Thema „Liturgisches Denken“. Rosenstock hatte seine angewandte Seelenkunde in der Liturgie wieder erkannt. Oder soll man sagen, er hatte ihren eigentlichen Ort in der Liturgie gefunden?
 

luther minor

Martin Luther hat den deutschen Sprachimpuls entschlossen wieder aufgegriffen.  –  Erich Auerbach sah in der Praxis des sermo humilis ein pfingstliches Wirken –  Und ganz in diesem pfingstlichen Sinne hat Luther dem deutschen sermo humilis mit seiner Bibelübersetzung zu einem überwältigenden Durchbruch verholfen.

Luthers Bezugnahme auf Augustinus von Hippo kann auch dabei kaum überschätzt werden. Seine Mitgliedschaft im Augustinerorden der strengen Observanz war nicht nur seiner legendären Angst vor Gewittern geschuldet, sondern hing direkt mit seiner zentralen theologischen Frage nach dem gnädigen Gott zusammen.
 

 

ledic stâ

Die Erfindung eines sermo humils in deutscher Sprache war für den Dominikanermönch, den man Meister Eckhart zu nennen gewohnt ist, im Vergleich zu Dante anders motiviert. Eckhart’s bevorzugte deutsche Ausdrucksform war die Predigt. Und so überraschend es auch erscheinen mag, für Meister Eckhart war eine Predigt so etwas wie eine Denkwerkstatt. Seine deutschen Predigten stehen seinen lateinischen Vorlesungen und Schriften in nichts nach. Er ging nicht nur im Sprechen, sondern auch im Denken neue Wege, teilte sie seinen Predigthörerinnen und  -hörern mit und traute sie ihnen somit zu.

 


 

 


Los jetzt!

Dante hatte sich entschlossen, seine Commedia divina im volgare zu verfassen. Er erfand ein sermo humilis,  der verschiedene Sprachebenen nebeneinander stehen ließ. Für aufmerksame Klassiker unter seinen Lesern, bot dies durchaus Anlass zu Kritik. In seiner neuen Sprache begann Dante nicht nur seinen literarischen Ausdruck zu verändern, er las die Wirklichkeit neu:
Als Dante das Paradies durchwandert, gelangt er schließlich in den zehnten Himmel, das Empyreum, das ist „der unräumliche Raum Gottes und der Seligen“. Man hat die überwältigende Darstellung des Gustave Doré vor Augen, zumindest erinnert man sich sofort, wenn man sie wieder sieht:


sermo humilis

Der deutsche Literaturwissenschaftler und Romanist Erich Auerbach verfasste in seinem amerikanischen Exil, in dem er bis zu seinem Tod 1957 lebte, eine Studie zum sermo humilis. Darin beginnt Auerbach mit der Lektüre einer Predigt von Augustinus und stellt fest, dass „diese rhetorische Art des Ausdrucks im ganzen und alle ihre Formen […] der antiken Schultradition“ entstammen. Zu Augustins‘ Zeiten um 400 war „die ungebildete oder halbgebildete Ausdrucksweise, für antike Ohren peinlich ungriechische oder unlateinische Ausdrucksweise der urchristlichen Literatur“ nicht mehr bestimmend.


minderheitlich werden

Das Gedenken und Jubilieren der 500 Jahre Reformation wird unterwandert von der Jahreszahl 1917. Wobei ‚Luther 1917‘ im Rausch des Ersten Weltkrieges davon nichts mit bekam. Die vergessene Vorgeschichte der eigentlichen Unterwanderung von 1917 findet sich in einem Tagebucheintrag des Dadaisten, Reformations- (und Erste-Weltkriegs-) Kritikers und Homiletikers Hugo Ball. Er notierte am 7. Juli 1917 im Schweizerischen Mogadino:


Anderswo

Ein Leser mit notorischen Unterwanderungstendenzen ist der französische Philosoph Jacques Derrida. Unter den Referenzen seiner Lektüremethode, der Dekonstruktion, findet sich der Begriff der destructio von Martin Luther.  Die besondere Perspektive aber, die sich an dieser Stelle öffnet, besteht in der Tatsache, dass Jacques Derrida ein ausgiebiger Leser des Augustinus war.


Licht und Schatten

Martin Luther war fast zwanzig Jahre seines Lebens Augustiner(-Eremit). Die prägende Kraft einer solchen Lebensform hat sich unter die Adiaphora des Gedenkens und Jubilierens der 500 Jahre Reformation verkrümelt. Dabei könnte sie als Schlüssel zu Luthers Glauben, Denken und Reformieren gelesen werden. Auf den Namenspatron dieses Ordens bezogen kommt man an einer Schlüsselstellung kaum vorbei. In diesem Sinne blieb Martin Luther Zeit seines Lebens Augustiner. Oder sollte man sagen, er wurde Augustinist und die Lebensform schrumpfte zur Überzeugung?