Der harsche Kritiker des Ersten Weltkrieges und Martin Luthers, was bei ihm beinahe auf eines hinauslief (!), Hugo Ball, war kein ausgiebiger Leser der Schriften Augustins. Auf der Suche nach der Sprache Gottes, die im Kriegsgeschrei von den Kanzeln der Kirchen Europas verschwunden war, hatte er seine Sprachexperimente auf der Dada-Bühne des Züricher Cabaret Voltaire mit Dionysius Areopagita verbunden und war zu der Erkenntnis gelangt, dass dieser Augustinus an Bedeutung für die Zukunft des Christentums überrage.1 Als er sich aber über den Verlauf seines Lebens Rechenschaft zu geben versuchte, die „Kurve seiner Konversionen“ nachzeichnete, begann Hugo Ball mit der Lektüre der Confessiones und stellte seinem redigierten Tagebuch „Die Flucht aus der Zeit“ von 1927 folgendes Motto des Augustinus voran:
Frontosus esto, prorsus frontosus esto. Quid times fronti tuae, quam signo crucis armasti? / Sei ohne Scham, sei geradezu unverschämt, was fürchtest du dich, dazu die Stirn zu haben, die du mit dem Zeichen des Kreuzes bewehrt hast?
Dieses Motto stammt aus „Augustins Enarrationes in Psalmos, in Psalmum 68 (69), Sermon 1,12 [zu Vers 8], in: PL 36 (1861), 850f.“2 … und stellt einen überraschend mehrstimmigen Zusammenhang zwischen Hugo Ball und Augustinus her. Hugo Ball hatte nämlich in folgendem Tagebucheintrag ein Stirnspiel mit weitreichenden Folgen eröffnet:
Am 14. Mai 1921 notiert Hugo Ball: „Ob man sich ein Herz auf die Stirn tätowieren sollte? Alle Welt würde dann sehen: das Herz ist ihm in den Kopf gestiegen. Und da es ein tintenblaues Herz, ein sterbeblaues, ein agonisches Herz wäre, könnte man auch sagen: Der Tod ist ihm in den Kopf gestiegen. Wir brauchen nur aufzuschreiben, wie tief uns der Schrecken traf.“3
Auf der Stirn: ein Kreuz und ein Herz.4 Doch noch zugespitzter lesen sich die Stirnzeichen bei Hugo Ball so: „Die Sprache Gottes ist höchster Begriff. Wir begreifen nichts mehr. Wie sollten wir noch denken können? Des Übernatürlichen Kompass zeigt nach dem Herzen. Wir aber haben mit dem Herzen auch den Kopf verloren.“5
Mit dem Schrecken, den verlorenen Herzen und Köpfen ist bei Hugo Ball konkret die historische Erfahrung des Ersten Weltkrieges gemeint.6 Auf der Augustinisch grundierten und von Hugo Ball konkretisierten Stirnbühne dieses weltweiten Völkergemetzels hat Martin Luther einen unerwartet fulminanten Auftritt.
Im September vor einhundert Jahren schrieb Hugo Ball zur 400-jährigen Reformationsfeier: „Luther war es, der Deutschland durch seine auf Innerlichkeit, Weltabgeschiedenheit und Abstraktion gestellte Reform jäh isolierte. Luther war es, der den Pakt des Gewissens mit den Fürsten einging und sich gemeinsam mit ihnen gegen die halbverhungerten Bauern – Proletarier wandte. Er verhinderte die deutsche Bauern- und Volksrevolution. Er zerschnitt damit den Lebensnerv der deutschen Universalität. Er wurde der erste Begründer des heutigen Reiches, des Gottesgnadentums, der Selbstversenkung und Selbstüberhebung, Begründer der Staatsreligion, auf der die heutige Dynastie ruht […] Die aufständischen Bauern aber, skorbutmäulige, ausgehungerte, ausgesogene Kreaturen, die sich gar nicht so sehr gegen die Ablässe, als gegen die ganze Kutten- und Junkerwirtschaft zugleich wandten, führte Thomas Münzer. Man weiß, dass er „spurlos versenkt“ wurde durch eine Intrige Luthers […]; man weiß, dass Thomas Münzer seinen Streit gegen „das geistlose Fleisch zu Wittenberg“, wie er Luther nannte, so prinzipiell führte, wie nur etwa Bakunin seinen Kampf gegen das geistlose Fleisch der Staatssozialisten…“7
In einer Reihe von Artikeln in der „Freien Zeitung“, dem „Unabhängige[n] Organ für Demokratische Politik“ in der Schweiz hatte Ball Themen für ein Buch als seinen Beitrag „für die streitende Demokratie“8 vorbereitet. Mit dem Titel „Kritik einer deutschen Intelligenz“ kam es 1919 heraus. Darin zeigte sich Ball überzeugt: „Eine der schlimmsten Ursachen des Weltkrieges war die Reformation“. Die überarbeitete, vor allem gekürzte Neuausgabe seiner „Kritik“ trug dann auch den Titel „Die Folgen der Reformation“ (1924).
Die Hauptargumente seiner Streitschrift finden sich bereits in seinem Artikel zum 400sten Reformationsjubiläum: Die Isolation Deutschlands von einer zumindest europäischen Universalität, die Niederschlagung der Bauerkriege als erster deutscher Revolution und als Verdikt für alle weiteren und die Unterwerfung der Religion unter den Staat. Zweifellos haben diese Argumente bis heute an Wirkkraft behalten, wenn man sie auch ungern hört. Ihre Stoßrichtung lässt sich jedoch konkreter bestimmen: „1914: kaum eine offizielle Persönlichkeit, die sich nicht kompromittierte. Pastoren und Dichter, Staatsleute und Gelehrte wetteiferten einen möglichst niedrigen Begriff von der Nation zu verbreiten. […] Dreiundneunzig Intellektuelle bewiesen durch ein bombastisches Manifest, dass sie als Intellektuelle nicht mehr zu zählen sind.“9
Unter den agitatorisch hervorstechenden Intellektuellen dieses Manifestes finden sich bis heute berühmte Gelehrte, der Soziologe Max Scheler, der Theologe Ernst Troeltsch, der Philosoph, Nobelpreisträger und Gründer der Luthergesellschaft Rudolf Eucken10… Sie alle riefen von Kanzeln und Kathedern buchstäblich zu den Waffen.
Und bis heute finden sich in den Bibliotheken unserer Landes Mengen von Texten aller Art über diese Zeit, aber sie werden kaum zur Kenntnis genommen. Dabei kommt der Elan der deutschen Intellektuellen für den Ersten Weltkrieg einer „geistigen Mobilmachung“11 gleich. Sie führte allerdings direkt in einen Totentanz:
„So sterben wir, so sterben wir
Und sterben alle Tage
Weil es so gemütlich sich sterben lässt.
Morgens noch in Schlaf und Traum
Mittags schon dahin
Abends schon zu unterst im Grabe drin.
Die Schlacht ist unser Freudenhaus
Von Blut ist unsre Sonne
Tod ist unser Zeichen und Losungswort.
Kind und Weib verlassen wir
Was gehen sie uns an!
Wenn man sich nur auf uns verlassen kann!
So morden wir, so morden wir
Und morden alle Tage
Unsere Kameraden im Totentanz.
Bruder, reck Dich auf vor mir!
Bruder, Deine Brust!
Bruder, dass Du fallen und sterben musst.
Wir murren nicht, wir murren nicht
Wir schweigen alle Tage
Bis sich vom Gelenke das Hüftbein dreht.
Hart ist unsre Lagestatt
Trocken unser Brot
Blutig und besudelt der liebe Gott.
Wir danken Dir, wir danken Dir,
Herr Kaiser für die Gnade,
Dass Du uns zum Sterben erkoren hast.
Schlafe Du, schlaf sanft und still,
Bis Dich erweckt
Unser armer Leib, den der Rasen deckt.“12
Für diesen Totentanz sieht Hugo Ball den entscheidenden Grund in der Reformation gelegt und entwickelt dabei „eine Art konsequentialistische Moralphilosophie der Geschichte“: „Er reflektiert die Wirkungen gesellschaftlicher Ordnungen auf das Denken der Philosophen wie auch deren Einfluss auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Auch wenn diese Sicht auf philosophische Systeme oftmals eingeschränkt und daher auch ungerecht erscheint, so muss man Ball doch zugestehen, dass er die Philosophen ernster nimmt, als viele innerhalb und außerhalb dieser Disziplin es tun. Die gesellschaftlichen Folgen geistiger Entscheidungen sind für Ball ein Mittel der Ideenkritik; […] Aber welchen Status hat eine solche Argumentation? Einmal heißt es: ‚Wenn historische Folgen Beweis sein können‘; Ball beantwortet die dieser Bedingung implizite Frage nicht direkt, jedoch zeigt seine gesamte Vorgehensweise, dass historische Folgen für ihn wahrheitsrelevante Kraft haben.“13
So liest Hugo Ball das Augsburgische Bekenntnis als ein “Schanddokument deutscher Gewissensversklavung“: „Mit der Augsburgischen Konfession verzichteten Luther und Melanchthon vor Kaiser und Fürsten feierlich auf die individuelle Gewissensfreiheit, die das ursprüngliche Evangelium Luthers gewesen war. Die Confessio Augustana konstituierte eine neue (protestantische) Kirche, die in ihrem Verhältnis zur weltlichen Macht nur mit der byzantinischen Kirche zu vergleichen ist, sanktionierte im Namen Gottes den Absolutismus und setzte durch die Verleihung der höchsten geistlichen Würde an den Landesvater so viele protestantische Päpste ein, als es protestantische Fürsten gab.“14
In der Tat galt das Prinzip cuius regio eius religio für die Fürsten und nicht für die Untertanen; die mussten meist das Land verlassen, wenn sie eine andere Entscheidung gefällt hatten, als die vom Landesvater verordnete, wobei sie Hab und Gut verloren. Im Umkehrschluss waren die Beweggründe der Landesväter, zum Protestantismus zu wechseln häufig genug materieller Art, denn sie übernahmen das kirchliche Eigentum. Im Zuge der Religionskriege und der Bildung stehender Heere ließ sich der Gehorsam gegenüber dem summus episcopus fürstlicher Güte leicht auf den militärischen Gehorsam des Oberbefehlshabers übertragen, wurden doch beide Gehorsame von einer Person eingefordert.
Über viele Stationen wurde diese Herrschaftstechnik bis zum Ersten Weltkrieg perfektioniert. Und Ball ist schonungslos in seiner Analyse. Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant habe seinen kategorischen Imperativ an das preußische Pflichtideal verraten, bzw. dieses mit jenem gerechtfertigt. Als überführendes Beispiel dient Ball der Konflikt Kants mit Friedrich Wilhelm II. um seine Religionsphilosophie. Friedrich Wilhelm II. hatte Kant verboten, Veröffentlichungen oder Vorträge zur christlichen Religion zu halten und Kant hatte mit einem schriftlichen Versprechen eingewilligt und sich dabei auf seine Untertanspflicht bezogen und sein fürderhinniges Schweigen damit gerechtfertigt.
Im Zusammenhang der Gründung der Berliner Universität käme dem Landesfürsten zum obersten Bischof und obersten Militär noch der oberste Gelehrte, der rector magnificentissimus, hinzu. Ball sah in dieser Gründung eine „neue Residenzhochschule“ für „ein religiöses Militärportektorat, das alle Anlagen zeigte, die päpstliche Despotie des Mittelalters in furchtbarer Weise abzulösen, wenn nur ein geschickter Interpret sich fand“. Den sah er in Hegel, insbesondere in seiner Rede zu Feier der Augsburgischen Konfession im Jahre 1830.15
Kurt Flasch sieht in Hugo Balls „Kritik der deutschen Intelligenz“ ein bis heute „schwer zu verteidigendes Buch“ wenngleich es die Kriegsschriften seiner Zeitgenossen an „Verantwortlichkeit, Scharfblick und Erudition immer noch unendlich übertrifft“. Er fasst folgendermaßen zusammen:
„Balls Position von 1918 ist eine anti-autoritäre, christlich-anarchistische politische Philosophie, die gleichwohl neue Werte und eine ‚neue Hierarchie‘ fordert, aber eine Hierarchie, die auf Einsicht, Mitleid und Askese, nicht auf Gewalt und Kommando gegründet ist. Er kritisiert das – wie er sagt – ‚Kommandochristentum‘, vor allem das preußisch-protestantischer Tradition, aber auch das päpstlich absolutistischer Machart, wobei die römische Variante in der deutschen Geschichte weniger katastrophale Folgen angerichtet habe und insofern weniger Kritik verdient als die lutherische. Der deutsche Protestantismus habe die deutsche Mischung von Freudlosigkeit und Disziplin, von häuslicher Zwangserziehung und Obrigkeitsdenken erzeugt.“16
Nun hatte Hugo Ball selbst gespürt, dass er in seiner „Kritik der deutschen Intelligenz“ stark polemisch argumentiert hatte und hat sich als einen „Exaltado, Radikalinsky!“17 ironisiert. Die Reaktionen auf sein Buch ließen nicht auf sich warten, nur wenige teilten seine Analyse, wenn sie sie überhaupt zur Kenntnis nahmen; auch die überarbeitete Form des Buches als „Die Folgen der Reformation“ änderte daran nichts, im Gegenteil. Der schwerste und wirkungsvollste Vorwurf war der von Ball selbst befürchtete, der des Vaterlandsverräters.
Doch von heute aus kann man Hugo Ball’s Hellsichtigkeit nicht genug betonen, denn seine Kritik war nicht nur rückwärts gerichtet: „Es ist meine feste Überzeugung, dass der Sturz der preußisch-deutschen Willkürherrschaft […] nicht genügen wird, die Welt vor einem ferneren deutschen Attentat […] zu schützen.“18 Das sollte, wie wir heute wissen – Ball aber nicht mehr erlebte, er starb 1927 – keine 20 Jahre auf sich warten lassen.
In dieser Perspektive wollte Hugo Ball dem Heldenbild, das die Kriegsideologie des Ersten Weltkrieges bestimmt hatte, etwas entgegen setzen und suchte bei den „großen christlichen Kirchenvätern“, des „Urchristentums und der frühbyzantinischen Kirche“19.
1923 veröffentlicht Ball ein Buch über drei Heilige mit dem Titel „Byzantinisches Christentum“, das er als „eine Ergänzung“20 seiner „Kritik“ verstanden wissen will. Das Triptychon besteht aus Johannes Klimax – dem asketische Mönche mit der Himmelsleiter, Symeon dem Säulensteher und in der Mitte Dionysius, der sich Dionysius Areopagita nennt und in der Wissenschaft Pseudodionysius genannt wird. Hugo Ball nähert sich den Heiligen wie einem „Sprachschatz Gottes“21 und hält somit die Verbindung zu so unterschiedlichen Spracherfahrungen, wie Dada und der politischen Schriftstellerei.
Insbesondere in Dionysius entdeckte Hugo Ball „den Patron eines neuen, eines allegorisch feiernden und auf sanfte Weise heroischen Christentums. Dionysius rette die Wahrheit von Dada […]. Dieses Christentum ist radikal arm und radikal asketisch, vor allem aber ist es ekstatisch. Es lehrt, aus uns herauszutreten und uns auf ‚das Schöne selbst‘ zu beziehen. Es lehrt, alles als Symbol zu sehen. Es treibt uns in extreme Vereinzelung, nimmt uns aber zugleich wieder auf in den Reigen, in die himmlischen Chöre. Auch die Hierarchien sind Abbild der göttlichen Schönheit. Alle Rangunterschiede sind Distinktionen des Herzens, nicht der Gewalt, nicht der Organisation.“22
„Die Berge meiner Schwermut wollen wandern
Aus dieser Nacht in einen fernen Tag.
Von einem Gipfel rauschet jetzt zum andern
Im Traum verschluchzt, was mir am Herzen lag.
Indes den Schläfer schlug ein irrer Stern.
Geheimnisvolles Schreiten hat begonnen
Mein Morgen will erwachen und sich sonnen
Im Lande der Lebendigen des Herrn.
Schon fühlt die Höhe sich ins Licht getragen
Schon stürmet Vogelsang der weh entschlief.
Gelobt sei, der aus Finsternissen
Die Flüge meiner Sehnsucht zu sich rief.“23