Als Kind schon hatte Hermes die erste Lyra aus einem Schildkrötenpanzer gebaut. Er hat sie seinem Bruder Apollon geschenkt. Athene hat die Flöte erfunden. Sie wirft sie weg, weil sie findet, dass das Blasen der Flöte ihr Gesicht verunstaltet. Der Sartyr Marsyas, Silenos‘ – eines Begleiters des Dionysos – Sohn, findet die Flöte. Obwohl die Göttin ihn warnt, hebt er sie doch auf und bringt es bald zu solcher Kunst im Flötenspiel, dass er Apollon zum Wettstreit herausfordert.

Schiedsrichter soll der phrygische König Midas gewesen sein. Dieser war töricht genug, dem Marsyas und seinen Flöten den Sieg zuzusprechen, worüber Apollon so erzürnt wird, dass er dem Midas wegen seines schlechten musikalischen Gehörs ein paar Eselsohren wachsen lässt. In anderer Überlieferung fungierten die Musen als Schiedsgericht. Jedenfalls häutet Apollon Marsyas bei lebendigem Leibe. Er will ihn ergründen.

Quid me mihi detrahis?
Warum entziehst Du mir (mir) selber mich?
fragt Marsays den Apoll während ihm von dessen Schergen die Haut abgezogen wird. So überliefert es Ovid.1

Und wenn es keinen dringenderen Grund gäbe als diesen zufälligen – Marsyas am Vorabend des ersten nachösterlichen Sonntags quasi modo geniti (als wie die kleinen Kindlein) gelesen zu haben2 –  Diese Frage klingt wie das Echo auf einen anderen „Zweikampf“3:

Quere dereliquisti me?
Warum hast du mich (dir) entbunden?
So könnte man die Frage des im Matthäusevangelium geschilderten Geschehens an das andere bei Ovid annähern und probehalber einmal übersetzen.4

In seiner Übertragung des 22. Psalms greift der niederländische Dichter und Theologe Huub Oosterhuis diese Nähe auf und beschließ den Psalm: „Doch warum hast du mich verlassen, als die Erde krachte und bebte, die Felsen zerbarsten, als ich nach dir schrie, warum hast du mich nicht getröstet? Als ich da hing, so hing, an meinen Pulsadern, lebend gehäutet.“5

Darin treffen sich beide, Christus und Marsyas: „Ins heulende Warum tropfte Blut.“ Franz Fühmann scheut vor dem Abgrund dieser Frage in seiner Beschreibung der Schindung des Marsyas vor keinem Schnitt zurück.6

Im Anfang der tragischen Erfahrung (tragoudein) war der Schrei – eine heftige Beschwörung, die Erfahrung, seinen Körper zurückzulassen, ganz Seele zu werden und eine Reise zu tun, sprich sich den Göttern auszuliefern.

„Marsyas, der Apollon ärgerte – die Luft als die List der Erde gegen die Sonne, gegen Apollon, den Gott der Sonne. Marsyas produziert diese Luft mit seiner Flöte, die tönt und wunderschön klingt. Marsyas ist der Verkünder des Heilens, die tönende Luft. Wir können uns Musik nicht ohne Luft vorstellen. Töne sind eine Erscheinung des Lebendigen, die vielleicht hervorgerufen wird durch Zahlen. – Pythagoras. Der Wunsch des Lebens trat ein. Als die Musik die richtige Zahlenkombination hatte, öffnete sich die Luft. […]
Bei Marsyas interessiert mich die Flöte, die er zum Mundstück hat, so, dass Natur und Kunst zusammenkommen. Christus hat das auch geschafft.“7

So versetzt der Bühnenbildner, Regisseur und bildende Künstler Horst Sagert sein Sartyrspiel „Marsyas“8 denn auch in kosmologische Zusammenhänge: „Marsyas, Hochgeist eines Niemals, Erstling vor der Welt-Geburt, später ein Unsterblicher, ein Sartyr spielt auf der Doppelflöte im Wettstreit mit dem Gott Apollon“9:

„Da mein Auge noch nicht rund war,
als ich vielmehr war als möglich,
nicht unsterblich nicht verderblich,
sah mir das Zeitenlose
mit der Vorschau auf die Welten-Frühe
in die Augen!
– Es öffnete das Offene sich. –
Mir sah das Zeitenlose, weltenlose,
da mein Auge noch nicht rund war
in die Augen
und rundäugig und rundäugig und rundäugig hinaus!
Ein Vorschein kam hervor aus dinglosen Gesichten.
Der erste Augenblitz eröffnete
mit seinem Schein-Sein den Vor-Schein
zu Sein und Schein
in meinen Augen
zum rundäugigen Augenblick.
Aus höchster Vor-Welt,
in einem herkunftslosen Nein
löste sich
ein Niemals aus dem Niemals,
sich entsagend, anfangsreich,
verspannte
aus sich heraus
!einen Keim!
Einen Span, ein Spänchen
zu einem
NIMMERLEIN.
Es teilt in seinem Immer-Sein
das Immer im Immer
für eine Furt.
– Durch die wir gehen müssen. –  “10

Was in Marsyas‘ Schädel wie Schöpfungsfeuer brennt, muss man sich als einen Tanz vorstellen. Chöre aus Sartyren, Nymphen und Kentauren drehen sich in wechselnden Gruppierungen im Rhythmus der Sprache. Einander mal näher mal ferner. Sie rufen Marsyas und sich gegenseitig antwortend zu, wiederholen seine Eingebungen, spornen ihn an, übertreiben, karikieren. Sie singen, einzeln und auch alle zusammen.

Die Schöpfung sei nur ein unerlöster Ton, der in Marsyas‘ Atem erlöst und auf seiner Flöte verblasen wird. Die ekstatische Steigerung dieses Gedankens bei seiner Ausübung nimmt ständig zu an Intensität. Schließlich wirkt es nicht nur wie eine Herausforderung:

„Ich habe der Welt
den Himmel der Erde gebracht!
Apollon!
In ihm muss dein Licht sich vor mir beugen.
Es muss in deinem Sterne-Drehen
in meinem Wunsch aufgehen!
Muss auf diesem Stern
nach meiner Flöte springen!
Tönende Luft, die Lebenshaut der Erde,
ist die List, die ich mit Lust,
mit Liebes-Lust aus meiner Flöte blase.
Sonne, Apollon!“11

In Sagerts Stück kommt die Schindung selbst nicht vor. Aber nach der Schindung wird die vergoldete Flug-Haut angerufen12, jenes „ Flöten-Bläser-Fell, dem die Füße nicht mehr passen auf der Erde“ und das „dem Nacht-Licht seine Spur im Fluge“ gibt.13

Als plastische Arbeit Sagerts trägt sie folgenden Titel:  „Marsyas – Die Flughaut des Marsyas im Mondlicht (Auferstehung)“, Silber, vergoldet. Und ihr Titel ist zugleich ihre Perspektive. Es gibt eine ganze Serie mit kleinen Variationen aus dem Jahr 2000, fein ziseliert gearbeitet.

Auf diese Plastik läuft das Stück hinaus in seiner gehobenen Sprache, einem „Hölderlin-Ton der deutschen Antike-Begeisterten“. Er „setzt die lange Liste von neuzeitlichen Marsyas-Deutungen seit Tizian fort. Obwohl, eigentlich hat dies mit Ovid schon begonnen, bei dem unterhalb der Bestrafung des hybriden Flötenspielers (aus Kleinasien) durchscheint, dass er ihn für das Opfer eines willkürlichen und zudem trickbetrügerischen Olympiers hält“.14

„Abgestürzt ins Mondlicht“, „sichtbar ist der Ton erlitten“15 kommentiert lakonisch besagter Olympier und kommt zum abschließenden Urteil: „Das Unverschmähte-Ungetane im Wunsche nach Verschiedenheit, es ist zu jung in der Gestalt, um in meinem Hirn zu überleben.“16

Tönende Luft als lustvolle List der Erde, „der Lebens-Ton zum Schall der Gnade in der Luft“, wie Sagert an anderer Stelle17 sagt – dieser Gedanke ist altgöttlichen Gehirnen zu allen Zeiten zu jung gewesen, was wiederum heute der Erde zum Verhängnis werden kann.18

Doch diese Geschichte hat viele Nachspiele bzw. Nachleben. Die alte phrygische Legende erzählt, dass die abgezogene Haut des Marsyas in einer Quellgrotte nahe der Stadt Kelainai aufbewahrt wurde, wo ein Fluss mit rotem eisenhaltigem Wasser entsprang. Herodot berichtet davon, andere auch…

Der Schriftsteller Thomas Hettche erkannte jüngst nicht nur im Schreiben, sondern in jeder Lektüre eine Häutung!19 Die Lektüre, zumal die laute Lektüre des Fühmannschen Marsyas bestätigt diese These.

Neben seiner Plastik  weist Horst Sagert fast nebenbei auf ein weiteres Nachleben der Marsyas-Geschichte: „Die erste große Maschine, die erste Kulturmaschine ist die Orgel, die aus dem Blasebalg hervorgegangen ist.“20