Als ob er eine solche Gegenstimme aufgenommen hätte, schlägt Bruno Latour in seinem Buch „Existenzweisen. Eine Anthropologie der Moderne“ vor, die sogenannte Moderne mit anthropologischen Methoden zu untersuchen: „Nehmen wir eine Anthropologin, die es sich in den Kopf gesetzt hätte, das Wertesystem der ‚westlichen Gesellschaften‘ zu rekonstruieren – ein Terrain dessen genaue Abgrenzung in diesem Stadium nicht so wichtig ist. Nehmen wir weiterhin an, dass sie belehrt durch die Lektüre einiger guter Autoren, der Versuchung widerstanden hätte, ihre Forschungen bei den Modernen auf jene Aspekte zu beschränken, die oberflächlich den klassischen Gebieten der Anthropologie gleichen – Folklore, Dorffeste, kulturelles Erbe, unterschiedlichste Archaismen.“ Sie muss „ihre Aufmerksamkeit das Herz der modernen Institutionen richten – Wissenschaft, Ökonomie, Recht, Politik etc. – , nicht auf die Ränder, nicht auf die Relikte, nicht auf die Überreste, und sie muss jene Institutionen gleichzeitig alle als ein einziges verknüpftes Ensemble behandeln. Nehmen wir weiterhin an, was schwieriger ist, jedenfalls weniger verbreitet, dass sie weiß, wie man dem Okzidentalismus widerstehen kann, jenem Exotismus der Nähe. Der darin besteht, das zu glauben, was der Okzident, der Westen, über sich selbst sagt, sei es lobend, sei es kritisierend. Sie hat schon verstanden, dass die Berichte, die der Modernismus von sich selbst gibt, womöglich keinerlei Beziehung zu dem haben, was ihm zugestoßen ist. Kurzum, es handelt sich um eine wahre Anthropologin: Sie weiß, dass allein die lange und detaillierte Analyse der Handlungsabläufe sie dazu bringen kann, das wirkliche Wertesystem derer zu entdecken, unter denen sie lebt, die akzeptiert haben, sie aufzunehmen, und die darüber Rechenschaft ablegen in Begriffen, die sei selbstverständlich aufmerksam notieren wird, aber denen allzu viel Gewicht zu geben sie sich hüten muss. Man sieht: die allergewöhnlichsten Bestandteile der ethnographischen Methode.“[1]
In diesem Sinne und im Zusammenhang der Lektüren von „Laudato si‘“ und deren Fragen an das Christentum kommen nun einige konkrete Überlegungen und Analysen zu Wort:
So (I) findet der amerikanische Anthropologe Marshall Sahlins bei Augustinus deutliche Spuren eines Animismus im Sinne eines „Personsein[s] der Dinge“[2]. Und er nennt Augustinus einen „waschechten Animisten“[3]: „Obwohl Augustinus darauf beharrte, dass Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen hat, konnte er die Erde und den Ozean, die ‚Reptilien, die da leben‘, ‚die wehenden Winde‘, ‚die Lüfte und alles, was in ihnen lebt‘, den Himmel, die Sonne, den Mond und die Sterne, in einer überaus interessanten Unterredung fragen, ob sie Gott seien. Und sie antworteten, dass sie nicht Er seien. Die Reptilien sagten: ‚Wir sind nicht dein Gott. Suche weiter oben!‘ Auf die Himmelskörper sagten, die seien ‚nicht der Gott, den du suchst‘. Augustinus reagierte darauf folgenermaßen: ‚Und ich sagte zu all diesen Dingen, die vor den Türen meiner Sinne stehen: Sagt mir etwas von dem Gott, der ihr nicht seid, sagt mir etwas über ihn! Und sie riefen mit mächtiger Stimme: Er hat uns gemacht!‘[4] Augustinus suchte also letzten Endes vergeblich nach einem transzendenten Gott in einem Universum, das von Personen bevölkert war, die den Dingen immanent sind.“[5]
Bei Augustinus sieht Sahlins noch etwas, von einer Immanenz der Religion, die immer mehr zugunsten ihrer Transzendenz verschwand. Zwischen Mittelalter und Aufklärung, dem was Sahlins die „frühe Moderne“ nennt, einer „Art zweiter Achsenzeit“, schuf die westliche Zivilisation nach und nach „die voneinander getrennten und transzendenten Sphären der ‚Religion‘, ‚Politik‘, ‚Wissenschaft‘ und ‚Ökonomie‘“. Als transzendente Kategorien ist jede von ihnen in sich „differenziert“ und „autonom“, sie sind aber „funktional“ und „diskurstechnisch“ auch miteinander verbunden. Der Begriff der Religion, bis dahin von der Bekehrung der römischen Heiden dominiert, wurde durch Luther, die Reformation und ihre Folgen, umgestaltet. Durch die Arbeiten Machiavellis löste sich der Begriff der Politik aus der Religion heraus ebenso wie die Begriffe der Wissenschaft und der Natur durch die Arbeiten von Kopernikus, Galilei u.a. Der Begriff der Ökonomie, der radikalen Trennung eines „wissende[n} ‚Subjekt‘[es] von einem „äußeren ‚Objekt‘“ folgend erscheint dann in den Arbeiten von Adam Smith u.a. „Die Ausdehnung Europas und das Zusammentreffen mit immanentistischen Gesellschaften in der Zeit der frühen Moderne trugen schließlich dazu bei, ‚Kultur‘ als eigene autonome Sphäre zu konstituieren.“ Zwar gelang es dem „Genie von Giambatista Vico“, eine „immanentistische Perspektive in transzendenter Manier“ darzustellen, „wodurch es, wie unvollständig auch immer, möglich wurde, eine Wissenschaft der ‚Kulturen‘ in ihren eigenen Begriffen zu schreibe, aber: „Es ist wichtig zu beachten, dass Religion – anders als die Kulturen der Immanenz – seit dem 16. Jahrhundert von einer Infrastruktur zu einer Superstruktur geworden ist, wodurch es möglich wurde, dass das Narrativ der ‚Determinierung durch die ökonomische Basis‘ sowohl im traditionellen historischen Materialismus als auch bei neoliberalen Ökonomen (ganz zu Schweigen von allen weiteren Disziplinen) zum wissenschaftlichen Allgemeinplatz wurden.“[6]
Mit anderen Worten (II): „Das seltsame an unserem jüdisch-christlichen Erbe ist, dass es die Welt zweigeteilt hat: in irdische Materie und göttlichen Geist. Die Moderne brauchte dann nur noch Gott aus der Gleichung zu entfernen und der Mensch fand sich als Einzelgänger im Kosmos wieder, umgeben von dummer und bösartiger Materie. Das in der Literatur und Philosophie des 20sten Jahrhunderts allgegenwärtige Thema des kosmischen Alleinseins des Menschen im Universum, das vom Existentialismus zur Größe erhoben wurde, ist in Wirklichkeit von intriganter Gewalt.
Diese unschuldige Gewalt besteht in der Leugnung des Status anderer Lebewesen als Mitbewohner durch Blindheit und durch die Weigerung, die Existenzformen der anderen Lebewesen sehen zu lernen. So gesehen sind die großen Denker der Emanzipation, die Sartre und Camus vielleicht waren, paradoxerweise objektive und unbewusste Verbündete des Extraktivismus und der ökologischen Krise. Sie waren es, die den Mythos, wonach wir die einzigen Subjekte in einer Welt aus leblosen und absurden Objekten sind, in den Gründungsglauben des Späthumanismus verwandelt haben.
Die große Erfindung der Kosmologie der Moderne ist, dass sie als erste Weltanschauung postuliert, wir seien nicht verpflichtet, Rücksicht auf die Welt zu nehmen, die uns geschaffen hatte, auf die lebende Welt, mit der wir die Erde teilen, auf die Ökosysteme, die uns ernähren, auf die Milieus, die das Wasser hervorbringen, das wir trinken, und den Sauerstoff, den wir atmen. Wie seltsam unsere Geschichte ist.“[7]
Heute geht es also darum, den Menschen als „ein Lebewesen unter anderen“ sehen zu lernen. Das bedeutet zunächst eine veränderte Wahrnehmung und Aufmerksamkeit allem Lebendigen und seinen Grundlagen gegenüber. Der französische Philosoph Baptiste Morizot sieht in der aktuellen Klimakrise nicht so sehr eine Krise der Menschen auf der einen und eine Krise der anderen Lebewesen auf der anderen Seite, sondern vor allem eine „unserer Beziehungen zum Lebendigen“[8]. Als solche ist sie vor allen „eine Krise unserer produktiven Beziehungen zur lebendigen Umwelt, die sich im finanzgetriebenen Ausbeutungswahn des vorherrschenden Wirtschaftssystems zeigt“[9]. Sie ist daneben aber auch „eine Krise unserer kollektiven und existenziellen Beziehungen, unserer Verbindungen und Zugehörigkeiten zu den Lebewesen, die die Frage nach ihrer Bedeutung aufwerfen, Beziehungen, durch die sie zu unserer Welt gehören oder außerhalb unserer Wahrnehmungs- und Gefühlswelt sowie außerhalb der politischen Welt stehen“[10]. Dieser letztere Aspekt ist schwierig zu beschreiben. Morizot schlägt vor, ihn als „eine Krise der Sensibilität“[11] zu beschreiben.
„Im Kosmos der Moderne gibt es zwei mögliche Arten von Beziehungen: entweder natürliche oder gesellschaftspolitische, und die gesellschaftspolitischen Beziehungen sind ausschließlich den Menschen vorbehalten. Das impliziert folglich, dass man die Lebewesen im Wesentlichen als Kulissen, als Reservoir an Ressourcen ansieht, das für die Produktion zu Verfügung steht, als einen Ort der Erholung oder als eine emotionale und symbolischen Projektionsfläche. Als Kulisse und als Projektionsfläche haben sie ihr ontologische Konsistenz verloren. Etwas verliert seine ontologische Konsistenz, wenn man die Fähigkeit verliert, es als ein vollwertiges Wesen zu achten, das im Gemeinschaftsleben zählt. Das Ereignis, mit dem die Krise der Sensibilität beginnt, besteht darin, dass die lebendige Welt aus dem Bereich der kollektiven und der politischen Aufmerksamkeit, aus dem Bereich des Wichtigen und Bedeutsamen herausgefallen ist. Unter ‚Krise der Sensibilität‘ verstehe ich die Verarmung der Möglichkeiten, wie wir Lebendiges fühlen, wahrnehmen können, welche Beziehungen wir zum Lebendigen knüpfen können; eine Verringerung der Bandbreite an Affekten, Perzepten, Konzepten und Praktiken, die uns mit ihm verbinden.“[12]
Das vielleicht spektakulärste Symptom dieser Krise der Sensibilität zeigt sich im „Aussterben der Naturerfahrung“[13]. „Die Fähigkeit, Existenzformen und -stile anderer Lebewesen zu erkennen und zu unterscheiden, verschiebt sich massiv hin zu industriellen Produkten.“[14] Was konkret so viel heißt, dass wir westlichen Menschen mehr Markenlogos als Pflanzenarten kennen und Vogelstimmen als ‚weißes Rauschen‘ wahrnehmen oder als ‚erholsame Stille‘, also ohne reale Anwesenheiten.
Ein anderes Symptom dieser Krise der Sensibilität besteht darin, dass wir Tiere „zu Figuren für Kinder“ gemacht haben und damit unsere „Beziehungen zur Animalität und zu den Tieren […] „infantilisiert und primitivisiert“ haben. Dabei sind die Tiere teilen wir mit den Tieren nicht nur den Lebensraum und haben „die gleichen Aszendenten“.[15] Wir teilen mit ihnen „das Rätsel, ein Körper zu sein“. „Das Tier ist somit ein privilegierter Vermittler zum Urrätsel, dem Rätsel unserer Art des Lebendigseins. Das Tier weist eine unverständliche Andersheit auf und zugleich steht es uns ausreichend nahe, sodass Tausende Formen von Parallelen und Konvergenzen zu den Säugetieren, Vögeln, Tintenfischen und sogar Insekten spürbar sind. Sie ermöglichen es uns, Wege der Sensibilität für das Lebendige im Allgemeinen wieder zu errichten, gerade aufgrund ihrer Grenzposition, ihrer intimen Andersheit zu uns.“[16] In jüdisch-christlicher Tradition sind wir es gewohnt, Animalität nur als Bestialität zu Denken, die zivilisiert werden muss, dabei verkörpern Tiere schlicht eine „andere Art des Lebendigseins“[17].
Es gibt also Menschen und andere Tiere, die sich einen Lebensraum teilen. „Das Problem unserer systemischen ökologischen Krise muss, wenn es in seiner strukturellen Dimension verstanden werden soll, als ein Problem des Habitats, der Wohnstätte aufgefasst werden. Unsere Art des Wohnens selbst befindet sich in einer Krise. Und vor allem die grundlegende Blindheit gegenüber der Tatsache, dass Wohnen immer bedeutet, mit anderen Lebensformen zusammenzuleben, weil das Habitat eines Lebewesens nur die Verflechtung mit anderen Lebewesen ist.“[18]
An anderer Stelle beschriebt Morizot dieses Projekt des gemeinsamen Wohnens als eine Lebensform, die mit einer konkreten Geste beginnt. Sie ist darüber hinaus von im Gestischen Wortsinn herausragender Bedeutung: „Es geht nicht um eine jungfräuliche oder heile Natur im tiefen Wald, fern der Städte. Es geht nicht um eine vollständig organisierte, künstlich erzeugte Natur, wie sie die kapitalistische Industrialisierung und Ökonomie hervorbringen. Es geht um etwas anderes als die althergebrachte Natur: Lebendige Territorien sollten entstehen, wie zwar durch menschliche Aktivitäten gründlich geformt und verändert werden, aber in denen die Lebewesen die Macht nicht verloren haben ihre Sache in die eigenen Hände zu nehmen bzw. einander wieder die Hände zu reichen, das heißt neue Beziehungen zu den jeweils anderen Arte sowie zu den Menschen herzustellen, neue Verhaltensweisen, neue Entwicklungen zu erproben. Ungeachtet all dessen, was wir in unserer Geschichte an Verwüstungen angerichtet haben. Unsere neue Aufgabe besteht also darin, das komplexe Geflecht des Anthropozän zu ergründen, oder um eine fröhlich-apokalyptische Formulierung der Anthropologin Anna Tsing zu gebrauchen, in den ‚Ruinen des Kapitalismus‘ auf Spurensuche zu gehen.“[19]
Einen weiteren Zugang (III) unternimmt der italienische Philosoph Emanuele Coccia indem er die Frage nach der Welt neu stellt, und zwar „ausgehend vom Leben der Pflanzen“[20]. „Die Pflanzen sind die immer offene Wunde der metaphysischen Arroganz, die unsere Kultur definiert.“[21] Dabei sind sie die eigentlichen Erschaffer der Welt, in der wir leben. Und sie erschaffen die Welt auf ihre eigene Weise. Denn bei ihnen ist das Fehlen der Hände „kein Zeichen eines Mangels, sondern vielmehr Folge eines restlosen Eintauchens in eben die Materie, die sie unentwegt gestalten. Die Pflanzen werden eins mit den Formen, die sie erfinden: Alle Formen sind für sie Abwandlungen des Seins und nicht lediglich des Tuns und Handelns. Eine Form zu erschaffen, bedeutet, sie mit seinem ganzen Wesen zu durchschreiten, so wie man Zeitalter oder Phasen seines eigenen Lebens durchreitet. Der Abstraktion des Schöpfens und der Technik – beides kann Formen gestalten, sofern Schöpfer und Produzent des Umformprozessen ausgeschlossen bleiben – stellt die Pflanze die Unmittelbarkeit der Metamorphose gegenüber: Etwas zu erzeugen bedeute immer, sich selbst umzuformen. Den Paradoxien des Bewusstseins, das Formen nur dann zu entwerfen vermag, wenn sie sich vom Selbst und von der Realität, deren Modell sie sind, unterscheiden, stellt die Pflanze die absolute Intimität, die Einheit von Subjekt, Materie und Vorstellung gegenüber: Sich etwas vorzustellen heißt zu werden, was man sich vorstellt“.[22]
Zu Ostern des Jahres 2015 hatte der Philosoph und Biologe Cord Riechelmann das Wirken der Pflanzen christologisch gedeutet, als er von einer besonderen Begegnung berichtete. Er sei etwas abseits der ausgetretenen Pfade, an einem verkommenen Ufer, gegangen, als er von einem großen, schlanken, dunkelhäutigen Mann hinter einen hellen Vorhang gerufen wurde. Dieser geleitete ihn ohne Umweg über den Vater direkt zum Sohn. Jesus empfing ihn gut gelaunt und er brachte sein Anliegen direkt vor. »Ich wollte einfach wissen, wieweit dieser Satz des Jesus von den Lilien denn reiche, in dem es heißt: ›Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht.‹ Ja, erklärte Jesus darauf ganz ernst und ohne jede Ironie oder Erhebung, das sei tatsächlich eine entscheidende Stelle seiner Predigten über das Genießen der Pflanzen. Die Pflanze sei in ihrem Wachstum das reine Genießen, in jedem Stadium ihres Wachsens identisch mit ihrer Form, aus der sie nie fliehen könne, in der sie immer, wenn man so wolle, gefangen bleibe. Eine sich dem Sinn entziehende Befriedung, die seine Jünger nur wider Vater und Mutter in der Liebe zu ihm, Jesus, erreichen könnten.«[23]
Viele Fragen an die herkömmliche Schöpfungstheologie ebenso wie an die Theologie der Inkarnation, die sich im Laufe unserer Lektüren von „Laudato si‘“ aufgetan haben. Sie harren eilig auf Antworten. Werden die Vertreter dessen, was wir herkömmlich in ihren akademischen und kirchlichen Verfassungen Theologie zu nennen die Angewohnheit haben, den Mut und die schöpferische Kraft aufbringen, sich ihnen zu stellen?