Es ist nicht ungewöhnlich, das Johannesevangelium der literarischen Gattung des antiken Dramas anzunähern.1 Damit hätte der Beginn des Evangeliums die Form eines dramatischen Prologs. Ein Prolog gebe „einen Hinweis auf den folgenden logos“, schreibt Aristoteles in seiner Rhetorik. Ein Prolog zeige an, worum es im Folgenden gehe. Das sei so in Prosagedichten, wie zum Beispiel Heldenliedern. Und auch bei den Tragikern. Sogenannte dramatischen Prologe „geben Aufschluss über [den Stoff] des Dramas und, wenn nicht sogleich am Anfang, wie Euripides, so doch irgendwie im Prolog, wie auch Sophokles es tut“.Logos meint im ersten Falle eine Rede, im zweiten die Tragödie3 selbst.

Seiner literarischen Form nach steht der Prolog des Johannesevangeliums damit in einer bedeutenden Reihe von Anfängen, nämlich „des Anfangs von Ilias und Odyssee“ von Homer, des Anfangs von Hesiods Theogonie und der Anfänge der sophokleischen und euripideischen Tragödien“.4

In seinen Notaten zu medientheoretischen Untersuchungen des Johannesevangeliums geht der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler zwar vom Hintergrund dieser literarischen Formen aus, konzentriert sich jedoch auf „das Verhältnis des Wortes zum Fleisch und des Wortes zur Stimme, von logos zu sarx und logos zu phone“.5

Den dafür entscheidenden Vers 14, ho logos sarx egeneto, kommentiert Kittler folgendermaßen: „Soll das heißen, Jesus sprach zwar aramäisch, dachte aber doch schon griechisch? Einfach weil er logos war?“6

Oder bezogen auf Joh 5, 25 und damit einen heilsgeschichtlichen Bogen schlagend: „Jesus spricht: Amen, amen, ich sage euch, es wird die Stunde kommen – und sie ist jetzt da – in der die Toten die Stimme des Gottessohnes hören, und die hören, werden leben“7, kommentiert Kittler: „5, 25 Auferstehung als Gottsohnes Stimme (phonä), die die Toten alle hören, Ja, eine Griechenstimme. Deutung, phone = hyle des logos, wie Joh 1,14: logos ward sarx (Arist. / De gen an. V)“8.

Kittlers griechischer Anknüpfungspunkt für die Untersuchung des Verhältnisses von Wort zu Fleisch und Wort zu Stimme ist (wie in Klammern vermerkt) Aristoteles und sein „letztes, aber völlig neues Buch“9 De generatione animalium. Aristoteles schrieb dieses Buch darüber, „dass die Liebe physiologisch im Vollzug besteht“10, wie Kittler in seinem „überraschende[n] Porträt des Aristoteles“ auf „mythographisch kraftvollste[]“11  Weise ausführt.

Aristoteles habe von Platon gelernt, „dass es Form und Stoff gibt, Eidos und Hyle. Er hat darüber hinaus gelernt, dass das Eidos wesentlich Idee ist und am Götterhimmel fern von uns erstrahlt. Nur wie soll das Denken damit arbeiten?“12  In seiner Skepsis den Ideen gegenüber blieb Aristoteles „nur eines übrig: hier auf Erden Sachverhalte nachzuweisen, die das Verhältnis Eidos:Hyle an ihnen selber zeigen“13.

Dafür boten sich ihm drei Möglichkeiten. Er konnte sich an „Kunst-und-Technik“ halten, an die „Physis zwischen Mann-und-Frau“ oder aber „an unser Reden selbst“.14 Mit anderen Worten: „Vielleicht sind Form und Stoff ja in der S(PR)ACHE selbst verborgen und verschlungen“15? Aristoteles habe den logos (Rede) von der S(PR)ACHE im pythagoreischen Sinne „Singen Reden Zählen ineinander“ geschlungen16 abgelöst, nun müsse man „ihm Schritt um Schritt ablernen, wie sich Form und Stoff zur Sammlung namens Logos sammeln“17.

So hat Aristoteles erst einmal „versucht, alle Redeweisen aufzuzählen“. Dann hat er „erkundet, wie Sprache sich als doppelte Artikulation vollzieht, durch Phoneme und Morpheme, also sowohl in Stoff, wie Form“. Dann grenzt er das Sprechen gegen Lebewesen ab, „die zwar Geräusche senden, sie aber nicht zu Stimmen oder (besser gesagt) Silben verbinden“.18

„Das gliedert oder ordnet alle Tiere nach Maßgabe der Klänge, die sie empfangen oder senden. Wir würden diese Umwelten wohl Medien nennen. Dass Fische stumm sind (aphona), heißt, dass nur ihr Schwimmen selber ein Geräusch macht. Erst bei Insekten, die anders als die Bienen aufeinander hören, beginnt so etwas wie Musik. Dass aber Sokrates Zikaden Sänger nannte und Platon, der das aufschrieb, selber wie Zikaden zirpte, kann ihr klügster Schüler nur belächeln: Insekten schallen bloße Stummlaute (psophetika) heraus, indem sie Leibesglieder aneinander reiben, doch mehr nicht. Denn erst Tiere, deren ‚breite oder feine Zunge‘, den Luftstrom in Stimmlaute und Stummlaute zu ‚gliedern‘ vermag, kommen unserem Menschenwesen nahe: Sie haben jeweils wie die Griechen eine Mundart, einen ‚Dialekt‘, ‚durch‘ den sie miteinander ‚reden‘. Sokrates leichtfertige Behauptung, nur Menschen hätten Artikulation und von daher Dialekte, fällt dahin. Die Nachtigall singt anders als der Sprosser, anders aber auch als jede andere Nachtigall. Das kommt daher, dass ihre Liebeslieder gar nicht angeboren, wie die Schreie wilder Tiere sind. Sie werden jungen Hähnchen vielmehr, da ja Vögel Ohren haben, von den älteren beigebracht. Jedes Lied, das Nachtigallen oder Sprosser schmettern, besteht aus rhythmisch und melodisch hoch verschiedenen Melismen, sogenannten Strophen, die ihrerseits nur 30 oder 40 Muster wiederholen – ganz wie wir Menschen unsere etwa 60 Silben.“19

Zusammengefasst: „Es ist vor Liebe, dass wir sprechen, schreiben oder dichten, statt nur brünstig brüllend wie die Säugetiere zu begehren. Es ist vor Ferne, vor ‚Absenz‘, dass sich sogar Aristoteles, der Ontologe dinglicher Präsenz schlechthin, zum Mediendenken wandeln muss. So macht uns Eros, bittersüß, allererst zu Menschen. Nichtlaut, Stummlaut, Mitlaut, Stimmlaut bilden die vier ausgehörten Stufen einer Leiter, die über unser aller Mundart oder Muttersprache zuletzt bis zur Lautschrift namens Logos steigt.“20

Derart hatte also Aristoteles den „ungezählten Tieren“ zugehört „auf der Suche nach dem Dasein, dass uns ‚Sprechwesen (Parlêtres)‘ (Lacan) obliegt“21 und Kittler hat es ihm „Schritt um Schritt abgelernt“22. Auf die Nachtigall kommt er wiederholt zurück. Beim Lesen der sophokleischen Tragödie „Ödipus auf Kolonos“ zum Beispiel:

„Zu dieses rosseguten landes
schönstem ort auf erden
fremder
bis du kommen
dir schimmert kolonos da wo
am liebsten weilt
die nachtigall hell schluchzend unter grünen waldtälern
im weinfarbenen efeu
dem unbetretbaren laub gottes
mit tausenfacher frucht.
(Soph. O. C. 668-676)“

ist ihm folgendes aufgefallen: „Die Nachtigall im Hain singt, deshalb heisst sie einfach andon, ‚das Singende‘. Sophokles dagegen schreibt und dichtet, dass sie singt. Aus der sophokleisch leisen Vogelstimme entspringt Dionysos mit seinen Nymphen oder Ammen. Der Dichter singt und singt, damit aus Nymphen Musen werden, die wie er selbst um Aphrodites goldene Ankunft bitten“23.

Auf den Unterschied zwischen „Sang und Schrift“ kommt es ihm an und Aristoteles habe ihn „fast“ geahnt. „Weil Singvögel so wunderbar ‚gegliedert‘ singen, grenzt er [Aristoteles] ihre Mundarten vom ‚schriftlosen‘ Schreien aller Säugetiere außer uns ab. Deren ‚schriftlose Geräusche (agrammatoi psophoi) machen zwar auch etwas kund, sind aber keine Namen‘.“  Und Aristoteles nennt denn dieses gegliederte Schallen der Vogelzungen sogar einmal „Buchstaben (grammata)“.24

Erneut zusammengefasst verhalten sich also „die Einzellaute zur Einheit namens Silbe“ so wie „Stoffe oder Elemente zum Ganzen“. Aus „Silben als sinnlosen Stoffen“ zusammengesetzt, gelangt „jedes Wort zu einem Sinn“. Und schließlich: Die „Menschenstimme (phone)“ verhält sich „zum Logos ganz so analog“, wie die „Materie zur Form“.

Im „fünften, letzten und schönsten“ Kapitel seines Buches De generatione animalium bringt es Aristoteles dann auf den Punkt: Der Rede (logou) Stoff (hyle) ist die Stimme (phonen). Und Kittler wiederum formuliert: „Der Logos ist die Form der Stimme“.25

Was bedeutet diese Exkursion für die Lektüre des Johannesevangeliums?

„Wenn nun also in einer aristotelischen Lektüre des Johannes das Fleisch des logos seine hyle wäre, könnte mit Aristoteles dieses Fleisch als die Stimme oder die Stimmwerdung des logos angesprochen werden.“26

Dann müsste man Johannes 1, 4 auch als ‚Und das Wort ward Stimme‘ übersetzen können. In Kittlers Lektüre liegt die Pointe dieser Übersetzung in ihrem Hintergrund des Hebräischen. Denn Jesus gilt ihm als der, der allen Menschen die Schrift zu lesen ermöglichen wollte. Nicht mehr nur eine eingeführte Elite sollte die in Konsonanten geschriebenen Texte lesen können, d.h. die Vokale kennen und damit die Deutungsmacht über sie innehaben. Jesus machte die Vokale öffentlich und markiert den Wandel vom Konsonanten- zum Vokalalphabet.

In „Johannes 5, 37ff etwa wirft Jesus jenen, die ihm mangelnde Gesetzestreue und seine direkte Berufung auf Gott als seinen Vater vorwerfen, selbst vor, dass sie die Stimme (phone) des Vaters nicht gehört, noch die Gestalt (eidos) erkannt haben, in der er sich offenbart hat. ‚Ihr durchforscht das Geschriebene (tas graphas), weil euch scheint, in diesen hättet ihr ewiges Leben.‘ Die erkennen und vernehmen aber die stimmlich lautende Gestalt des Vaters in der Lehre des Sohnes nicht, weil sie nur auf die Konsonantenschrift starren.“27

Es finden sich weitere Beispiele. So geht Jesus in Joh 7, 1 während des Laubhüttenfestes in den Tempel und lehrt. Und die anwesenden Juden sind verwundert: „Wie kennt Jesus die Schrift (grammata, d.h. Hebräisch), da er sie doch nicht gelernt hat (memathakohs)?“28

„Schließlich aber ist, Johannes 17, 26, im Zusammenhang mit der Verkennung des Vaters die Rede davon, dass Jesus der Welt dessen Namen kundgetan habe ‚…  – worauf die Todesstrafe steht‘, wie Kittler lapidar bemerkt.“

Die Inschrift des Pontius Pilatus (Joh 19, 19-22) macht den Zusammenhang noch einmal klar: „Da haben wir die Sprachen des Imperiums: Armee latein, Kultur klar griechisch, und unlesbares Hebräisch (wie sie ja bloß Aramäisch sprechen) für diese ärmliche Provinz.“29

Und wenn wir nun Johannes 5, 25 noch einmal lesen: „Amen, amen ich sage euch, es wird die Stunde kommen – und sie ist jetzt da – in der die Toten die Stimme des Gottessohnes hören, und die hören werden leben.“30  – dann verstehen wir „die Auferstehung als Aufgehen von Gottsohnes Stimme“, die alle hören, „weil es Vokale gibt“.31 „Diese Stimme – und der Text als im griechischen Vokalalphabet geschriebener Text bezeugt es ja selbst – ist eine Griechenstimme. Sie erklingt jetzt, das heißt in dem Moment des Lesens.“32  Des lauten Lesens.