Am 19. Januar 1944 erhielt Freya von Moltke einen überraschenden Anruf von Peter Yorck von Wartenburg. Yorck teilte mit: „Helmuth ist verreist“1. Freya Moltke verstand. Ihr Mann, Helmuth James von Moltke, war verhaftet worden.
Er hatte einen Diplomaten per Telefon vor einer drohenden Verhaftung gewarnt. Nach einem kurzen Aufenthalt im Hauptquartier der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin, kam Moltke in „einen Gefängnistrakt des Konzentrationslagers Ravensbrück“.2 Es ging es nicht um Moltkes Aktivitäten im Widerstand. Die waren verborgen geblieben. Sie gerieten erst nach den Ereignissen am 20. Juli 1944 ins Visier der Gestapo. Moltke wurde im September 1944 nach Berlin Tegel verlegt und im Januar 1945 zum Tode verurteilt.
Im Oktober 1944 schrieb Moltke einen Brief an seine Söhne Caspar und Konrad über die Motive seines Widerstandes:
„Ich habe mein ganzes Leben lang, schon in der Schule, gegen einen Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit, der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten angekämpft, der in den Deutschen steckt und der seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat. Ich habe mich auch dafür eingesetzt, dass dieser Geist mit seinen schlimmen Folgeerscheinungen wie Nationalismus im Exzess, Rassenverfolgung, Glaubenslosigkeit, Materialismus überwunden werden. Insoweit und von ihrem Standpunkt aus haben die Nationalsozialisten recht, dass sie mich umbringen.“3
Im Laufe der Verhöre und Verhandlungen des Prozesses hatten sich Reflexionen und Verteidigungsstrategie Helmuth James von Molkes dahingehend weiterentwickelt und nicht zuletzt in der direkten Auseinandersetzung mit dem berüchtigten Nazi-Richter Roland Freisler zugespitzt, dass er und seine Gefährten schließlich „für etwas umgebracht werden, was wir a. getan haben und was b. sich lohnt“4.
„Das Schöne an dem so aufgezogenen Urteil ist Folgendes: Wir haben keine Gewalt anwenden wollen – ist festgestellt; wir haben keinen einzigen organisatorischen Schritt unternommen, mit keinem einzigen Mann über die Frage gesprochen, ob er einen Posten übernehmen wolle – ist festgestellt; in der Anklage stand es anders. Wir haben nur gedacht, und zwar eigentlich nur Delp, Gerstenmaier & ich, die anderen galten als Mitläufer und Peter & Adam als Verbindungsleute zu Schulenburg etc. Und vor den Gedanken dieser drei einsamen Männer, den bloßen Gedanken, hat der NS eine solche Angst, dass er alles, was damit infiziert ist, ausrotten will. Wenn das nicht ein Kompliment ist. Wir sind nach dieser Verhandlung aus dem Goerdeler-Mist raus, wir sind aus jeder praktischen Handlung raus, wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben. […] und wenn wir schon umkommen müssen, dann bin ich allerdings dafür, dass wir über diese Themen fallen. […] Und dann bleibt übrig ein Gedanke: Womit kann im Chaos das Christentum ein Rettungsanker sein? Dieser eine einzige Gedanke fordert morgen wahrscheinlich fünf Köpfe und später noch die von Steltzer & Haubach und wohl auch Husen. Aber dadurch, dass keiner dabei ist, der etwas anderes vertrat, keiner, der zu den Arbeitern gehörte, keiner, der irgendein weltliches Interesse betreute, dadurch dass festgestellt ist, dass ich großgrundbesitzfeindlich war, keine Standesinteressen, überhaupt keine eigenen Interessen, ja nicht einmal die meines [Landes?] vertrat, sondern menschliche, dadurch hat Freisler uns unbewusst einen ganz großen Dienst getan, sofern es gelingt, diese Geschichte zu verbreiten und auszunutzen. Und zwar m.E. im Inland und draußen. Durch diese Personalzusammenstellung ist dokumentiert, dass nicht Pläne, nicht Vorbereitungen, sondern der Geist als solcher verfolgt werden soll.“5
Die Erkenntnisfähigkeit und der Umgang mit den Erfahrungen des Lebens, die Moltke zu einem solchen Verständnis hat gelangen lassen, kommt in einem anderen brieflichen Gedankengang Moltkes zum Ausdruck. Zu den Belastungen der Arbeit Moltkes in der Abteilung Völkerrecht beim Oberkommando der Wehrmacht (OKW), den zunehmenden Spannungen in Widerstandskreisen um die Realisierung eines Attentates auf Hitler6 kam hinzu, dass Berlin im Jahre 1943 mehr und mehr bombardiert wurde.
So hatte Moltke während der Nachtangriffe vom 22. auf den 23. und den 23. auf den 24. November „nicht nur seine Dienststelle verloren, sondern war auch persönlich schwer getroffen durch den Tod seines Vetters Hans Carl von Hülsen und dessen Frau Editha. Ein Flugzeug war auf ihr Haus gestürzt. Erst nach Tagen konnten ihre Leichen geborgen werden.“7
Zu diesem Ereignis schrieb Moltke an seine Frau Freya: „Du fragtest, ob man das alles aushalten kann. Das ist gar nicht so schwierig. Viel schwieriger ist, dass man dabei nicht sich selbst verhärtet. Ich ertappe mich immerzu dabei. Am auffälligsten war es, als ich Teile von Editha und Hans Carl sah. Ich überwand meine Bewegung und mein Grauen, und dann ging es ganz leicht. Aber es ist eine falsche Reaktion. Man muss die Verteidigung der Gleichgültigkeit überwinden, man darf sich nicht panzern, sondern man muss es ertragen. Um den Tod und das Grauen zu ertragen, neigt man dazu, in sich die Menschlichkeit zu töten, und das ist die viel größere Gefahr, als dass man es nicht ertragen kann.“8
Zum Ertragen im Unterschied zum Verhärten kommt ein abgründiger Blick Moltkes für die tragische Komik einer Situation: „Gestern sah ich ein eindrucksvolles Bild: In einem der Trümmerhaufen, an denen ich vorbeifuhr, war anscheinen ein Geschäft für Faschingssachen gewesen. Deren hatten sich Kinder im Alter von 4-14 Jahren bemächtigt, hatten sich bunte Mützen angezogen, hielten Fähnchen und Lampions in der Hand, warfen Konfetti und zogen lange Papierschlangen hinter sich her, und in diesem Aufzug über die Trümmer. Ein unheimliches Bild, ein apokalyptisches Bild. – Ähnlich grauenerregend was das Bild der Leute, die aus der Turnhalle der Derfflingerstraße Zwangsweise unter Protest und Schreien in Autobusse verladen wurden, ohne dass sie den Bestimmungsort erfahren durften. Welch ein menschlicher Tiefstand.“9
– Die Füße der Geisttätigkeit, für die Moltke verurteilt wurde, waren seine tägliche Arbeit. Sie war der versuchte beständige Aufstand gegen den ‚menschlichen Tiefstand‘. Als Jurist war er ab Oktober 1939 „als dienstverpflichteter Zivilist in ein Befehls- und Verwaltungszentrum des ‚Dritten Reiches‘ eingetreten, dem er bis Januar 1944 angehörte“10. Moltke war Kriegsverwaltungsrat im Völkerrechtsreferat, welches zum Amt Ausland/Abwehr der OKW gehörte, das von Admiral Wilhelm Canaris geleitet wurde.
„Moltke wusste, in welche Szenerie er sich begab, als er sein Büro am Tirpitzufer [in Berlin] bezog. Durch Vorträge in Entscheidungsgremien und Gutachten für übergeordnete Dienststellen konnte er allzu schroffe Verstöße gegen das geltende Völkerrecht aufhalten oder mildern, ganz selten sogar verhindern. Bei allen konkreten Rechtsfällen dachte er in erster Linie an die von einer Aktion betroffenen Menschen. Wenn seine völkerrechtlichen Argumente gegenüber den Sachwaltern eigenen Herrenrechts nicht durchschlagen konnten, entwickelte er eine politisch-strategische Argumentation, die nach den möglichen politischen und militärischen Folgen einer rechtswidrigen Maßnahme fragte. […] So entwickelte er eine ausgeklügelte Doppelstrategie, in der er die Auslegung einer völkerrechtlich verbindlichen Aussage und die Frage der möglichen Folgen einer prinzipiellen Nichtbeachtung der völkerrechtlichen Normen für die deutschen Interessen miteinander verband.“11
Diese Aktivitäten betrafen konkrete Frage vom Umgang mit der Bevölkerung, Flüchtlingen, Geiseln, Gefangenen, Minderheiten u.v.a.m. in den von deutschen Truppen eroberten und besetzten Gebieten und erforderten eine umfängliche Reisetätigkeit. Mit zunehmender Aktivität des sogenannten Kreisauer Kreises verwandelte Moltke diese Reisen in konspirative Reisen, während denen er insgeheim auch ausländischen Widerstandsgruppen zu kontaktieren und im Ausland für die Interessen des deutschen Widerstandes zu wirken suchte.
Im Frühjahr 1942 unternahm Moltke eine solche Reise zusammen mit Dietrich Bonhoeffer. Beide reisten nach Norwegen und Schweden. In Norwegen traf Moltke vor allem Vertreter der Wehrmacht und Bonhoeffer Vertreter der Kirchen. Da Kirchenkampf und Widerstand in Norwegen mehr oder weniger ineinander übergingen, trafen sie einige Kirchenleute auch gemeinsam.
„Moltke und Bonhoeffer habe sich nach ihrer Reise in den Norden nicht wiedergesehen. Trotz großer Übereinstimmungen sind sie nicht zu einem näheren Kontakt in der Widerstandsarbeit gekommen. Es ist viel darüber spekuliert worden, warum diese beiden ‚Lichtgestalten‘ des deutschen Protestantismus sich nicht um gemeinsamen Widerstand verbunden haben. Gegenüber seinem Freund Eberhard Bethge hat Bonhoeffer gesagt: Es war anregend, aber ‚wir sind nicht einer Meinung‘.
Allgemein vermutet man, dass die Frage eines Attentates auf Hitler der entscheidende kontroverse Punkt war. Moltke, der einen Staatsstreich nicht nur befürwortete, sondern an den Vorbereitungen mitgearbeitet hatte, lehnte ein Attentat in erster Linie aus politischen Gründen ab. Angesichts der großen Treue der Deutschen zu Hitler, befürchtete er eine zweite Dolchstoßlegende. Auch zweifelte er moralisch daran, einen Neuanfang ausgerechnet mit einem Mord zu beginnen. Bonhoeffer dagegen hatte sich dazu durchgerungen, ein Attentat als verantwortliche Tat zu befürworten.
Wahrscheinlich beschäftigte Moltke und Bonhoeffer aber nicht nur diese Frage. Moltke wird die Gelegenheit genutzt haben, gegenüber Bonhoeffer Fragen einer Neuordnung Deutschlands nach einem Staatsstreich anzusprechen. Er wird die Notwendigkeit eines breiten Bündnisses mit Katholiken, mit Sozialdemokraten und Gewerkschaftern entfaltet haben. Und er wird die Kreisauer Ordnungsvorstellungen in der Wirtschaftsstruktur sowie ihre Vorstellung von einem basisdemokratisch-föderalistischen Staat und einem vereinigten Europa skizziert haben.
Bonhoeffer hatte zu diesen Themen bis dahin kaum etwas gesagt. Er pflegte keine Kontakte zur links-intellektuellen Szene. Die Produktionsbereiche von Industrie und Landwirtschaft waren ihm relativ fremd, zumindest nicht von größerem Interesse für ihn. Für ökonomische Probleme hatte er sich zwar vor 1933 interessiert, aber dann hatte der Kirchenkampf alle seine Kräfte in Anspruch genommen.
Hinzu kamen Unterschied in der Lebensführung. Bonhoeffer bewegte sich in erster Linie unter Theologen und kirchlichen Funktionsträgern, in der Familie und unter Wissenschaftlern. Moltke als protestantischer Laie dagegen lebte unter ‚Weltkindern‘ und war verantwortlich für einen landwirtschaftlichen Großbetrieb. Die Fragen von Sozial- und Gesellschaftspolitik beschäftigten ihn von Jugend an. Die Überwindung der Klassengesellschaft durch Begegnungen von Angehörigen verschiedener und weithin getrennter Schichten war ihm seit den Schlesischen Arbeitslagern ein Anliegen. Seine Freunde waren Christen, Juden, Atheisten, Idealisten und Materialisten, Konservative und Sozialisten. Ein weltlicher, geistiger und politischer Pluralismus war seine gewohnte Umgebung. Es dürften primär dieser verschiedenen lebensgeschichtlichen Prägungen, die verschiedenen Praxisfelder und die unterschiedlichen politischen Überzeugungen gewesen sein, die Bonhoeffer und Moltke nicht zusammenkommen ließen.“12
– Die Wurzeln der Geisttätigkeit, für die Moltke verurteilt wurde, lagen in Kreisau, dem Gut seiner Familie, in seiner Abwesenheit geführt von seiner Frau Freya.
Helmuth James von Moltke hatte 1934 das Gut in bedrohlich schlechtem Zustand übernommen und erfolgreich saniert. Die unterschiedlichen Facetten von Buchhaltung, Tierhaltung, Pflanzenkunde, Landwirtschaft, Maschinenkunde (u.a.) eines landwirtschaftlichen Betriebes inklusive ihrer menschlichen Verhältnisse, bis hin zur Besetzung des dazu gehörigen Pfarramtes, haben Moltke bis ins seine Haft hinein beschäftigt. Er studierte entsprechende Fachliteratur, besprach die Bilanzen mit seiner Frau, traf Entscheidungen, erfreute sich aber auch an Natur, Landschaft und Landwirtschaft schon durchs Erzählen. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Erfahrungen in seine Schrift über „Die kleinen Gemeinschaften“, die eine Vorbereitung der Arbeit des sogenannten Kreisauer Kreises darstellt, eingeflossen sind. Drei Treffen des sog. Kreisauer Kreises fanden jedenfalls direkt in Kreisau statt.13
„Kleine Gemeinschaften“, die für eine europäische Ordnung, wie sie Moltke entwickeln wollte unverzichtbar sind, sollen „eine Anzahl von Menschen zu einem ihnen gemeinsamen Zweck in einer solchen Weise zusammenfassen, dass sie die Verfolgung ihres besonderen Zwecks als in den Rahmen der großen Gesamtheit gestellt begreifen und sich für die Entwicklung ihres besonderen Interesses als für einen Teil des Lebens der Gesamtheit verantwortlich fühlen“14.
Mit ihrem Engagement für ein neues Kreisau/Krzyzowa nach 1989 schließt Freya von Moltke nicht nur in dieser Hinsicht einen Kreis. „Die Begegnungsstätte, deren Aufgabe es ja sein soll, Ideen der Demokratie, der Selbstverwaltung und der friedvollen europäischen Verständigung zu dienen, wäre durch die organische Verbindung mit seiner Umgebung zugleich mit konkreten Lebensproblemen vertraut. Nur so hat man die Chance, an diesem Ort ein Milieu zu entwickeln, wo der Bauer zum Professor hereinkommen kann, ohne sich zu genieren, dass er nach Gülle stinkt. Die beiden o.g. Aspekte, nämlich die Selbstverwaltung in kleinen Gemeinschaften und der Aspekt des Näherkommens von Intellektuellen und der arbeitenden Bevölkerung, entspringen den konzeptionellen Ideen des H. J. v. Moltke und seinem Lehrer Eugen Rosenstock.“15
Freya sah es „um der deutschen Seele willen“16 als Vermächtnis an, den deutschen Widerstand, insbesondere den sogenannten Kreisauer Kreis nicht dem Vergessen preiszugeben. Sie allerdings zu vereinnahmen, lag ihr in jeder Hinsicht fern.
Das galt auch für das zunehmende Interesse von kirchlich-theologischer Seite an Moltkes Praxis des Christentums. „‘Sie wollen ihn zum Sohn der lutherischen Kirche machen.‘ Zu Beginn habe der Glaube in seinem Widerstand gegen den Nationalsozialismus noch keine große Rolle gespielt; er habe sich erst ‚unter dem ständigen Druck seiner konspirativen Existenz‘ verstärkt. Zur Tiefe seines Glaubens, die ihn vor Freisler bestehen ließ, kam Helmuth, so Freya, nicht über die Kirche, sondern ‚als zutiefst geforderter Mensch‘.“17
Als Freya Helmuth zum ersten Mal sah, blieb ihr Herz stehen.18 Was damals in Helmuths Herz zu schlagen begann, beschrieb er in einem seiner letzten Briefe: „Und nun, mein Herz, komme ich zu Dir. Ich habe Dich nirgends aufgezählt, weil Du, mein Herz, an einer ganz anderen Stelle stehst als all die anderen. Du bist nämlich nicht ein Mittel Gottes, um mich zu dem zu machen, der ich bin. Du bist vielmehr ich selbst. Du bist mein 13tes Kapitel des ersten Korintherbriefes. Ohne dieses Kapitel ist kein Mensch ein Mensch. Ohne Dich hätte ich mir Liebe schenken lassen, ich habe sie z.B. von Mami angenommen, dankbar, glücklich, wie man dankbar ist für die Sonne, die einen wärmt. Aber ohne Dich, mein Herz, hätte ich ‚der Liebe nicht‘. Ich sage gar nicht, dass ich Dich liebe; das ist gar nicht richtig. Du bist vielmehr jener Teil von mir, der mir alleine eben fehlen würde. Es ist gut, dass mir das fehlt; denn hätte ich das, so wie Du es hast, diese größte aller Gaben, mein liebes Herz, so hätte ich vieles nicht tun können, so wäre mir so manche Konsequenz unmöglich gewesen, so hätte ich dem Leiden, das ich ja sehen musste, nicht zuschauen können und vieles andere. Nur wir zusammen sind ein Mensch. Wir sind, was ich vor einigen Tagen symbolisch beschrieb, ein Schöpfungsgedanke. Das ist wahr, buchstäblich wahr. Darum, mein Herz, bin ich auch gewiss, dass Du mich auf dieser Erde nicht verlieren wirst, keinen Augenblick. Und diese Tatsache haben wir schließlich auch noch durch unser gemeinsames Abendmahl, das nun mein letztes war, symbolisieren dürfen.“19