Im Laufe unserer Untersuchungen sind inzwischen eine Reihe von Bausteinen beschrieben, die in verschiedenen und auch erweiterbaren Kombinationen Möglichkeiten eröffnen, ein Mit-Sein herzustellen zwischen aufgezeichneten analogen Formen und einem anderen Analogen, was einer medialen Übertragung beiwohnt.
Dieses muss als solches rekonstruiert werden, wenn eine Übertragung mehr soll, also bloßes Zuschauen und Zuhören zu erzeugen.
Grundlage eines solchen Vorganges der Rekonstruktion ist die Erinnerung, bzw. Wiederherstellung einer gemachten Erfahrung.
Zum Beispiel war der Ausgangspunkt der Überlegungen mit einer jungen Pfarrerin einer Berliner Stadtgemeinde zu Karfreitag der Pandemiebeschränkungen und ihrer Unmöglichkeit analog Gottesdienst zu feiern, die Frage danach, wie das Kreuz anders in Erfahrung gebracht werden könnte als mit Worten in einer Predigt.
Bereits im voraufgegangenen Jahr hatte zu diesem Anlass das sogenannte „Gebet um das Kreuz“1 in Taizé als Anregung gedient. Ein großes Holzkreuz wurde im Altarraum so schräg aufrichtet, dass es nicht zu tief am Fußboden lag und man es leicht auf unterschiedlichste Arten und Weisen berühren konnte. Die Anwesenden waren eingeladen zum Kreuz zu kommen, es zu berühren wie immer sie wollten, vielleicht einen Moment bei ihm zu verweilen. Währenddessen sang der Chor etwas, in das man leicht einstimmen konnte. Pfarrer bzw. Pfarrerin standen diskret in der Nähe, für den Fall, dass jemand sprechen wollte oder einen Segen erhalten.
Wie konnte eine solche Erfahrung per online-Übertragung gemacht werden?
Wer an diesem übertragenen Gottesdienst teilnehmen wollte, konnte ein kleines einfaches Holzkreuz nach Hause gebracht bekommen bzw. sich selbst abholen. In der Kirche, also über das Kamerabild sichtbar, war das große Holzkreuz in die entsprechende Position gebracht. Als es zu dem Moment dieses Gebetes mit dem Kreuz kam, nahm die Pfarrerin gut sichtbar aber ohne große Erklärungen ein ebensolches Holzkreuz, was die Leute zu Hause hatten, legte es auf das große Kreuz in der Kirche und lud die Leute ein, ihr kleines Kreuz in die Hand zu nehmen, und es jeder für sich zu berühren oder eine Geste zu vollziehen, die ihm oder ihr angenehm erschiene, wie sie jetzt auch in der Kirche.
Ein anderes Beispiel: In einem liturgischen Werkstattzusammenhang entstand die Frage, wie man ein Taufgedächtnis etwa in der Osternacht über Worte hinaus erfahrbar machen könnte. Zur Grundlage wurde ein klassischer Text aus der Agende genommen und die bereits gemachte Erfahrung, in einer solchen Situation der Einladung eines Pfarrers gefolgt und nach dem Erinnerungsgebet an das mit Wasser gefüllte Taufbecken getreten zu sein, seine Hand ins Wasser getaucht und sich bekreuzigt bzw. sich ein Kreuzzeichen auf die Stirn gemalt zu haben.
Im liturgischen Experimentieren entfaltete der alte Text eine überraschende Lebendigkeit, als er an mehreren Stellen unterbrochen wurde durch großzügige Gesten des Wasserversprengens von Hand auf die Anwesenden.2
Bei einer online-Übertragung könnte diese Erfahrung rekonstruiert werden, indem die Teilnehmenden einer Einladung der Aufzeichnung folgen, sich eine Schale mit Wasser holen und sich mit nasser Hand oder Finger bekreuzigen oder einfach das Gesicht benetzen. Das zu solchen Gelegenheiten zugesprochene „Du gehörst zu Christus“ kann einfach in ein „Ich gehöre zu Christus“ umgewandelt werden.
Und damit erreichen wir eine Kernfrage derartiger Rekonstruktionen, die sich mit zunehmenden Situationen des minderheitlich-Werdens christlicher Gemeinden decken. Was kann man machen, wenn es keine Pfarrperson mehr gibt, oder sie eben nur über den Bildschirm übertragen werden kann?
Als Getaufte/r mitfeiern – als Praxis- bzw. Übungsaufgabe für analoge Situationen – und als Getaufte/r selber (mit-)machen – als Rekonstruktion des Analogen bei medialen Übertragungen.3
Eine komplexe Herausforderung stellt die Rekonstruktion von Abendmahlsfeiern bei medialen Übertragungen dar. Zugleich könnte ihre genauere Untersuchung ein besonders wichtiges Praxisfeld für Situationen des minderheitlich-Werdens inklusive ihrer komplizierten ökumenischen Dimensionen eröffnen.
Wie bereits unter dem Stichwort des bodybuilding4 angelegt, beginnt die Rekonstruktion des Abendmahles beim Mitsprechen der Einsetzungsworte. Was sich zunächst befremdlich anhört, kann seine Kraft finden in einer sich dahingehend ändernden Praxis in analogen Zusammenhängen.
Wenn also bei analogen Gottesdiensten, die Gemeinden sich angewöhnten, die Einsetzungsworte der Pfarrerin oder des Pfarrers einfach mitzusprechen, wie ein Vaterunser (beides sind schließlich Bibeltexte), könnte auf diese analoge Erfahrung bei online-Übertragungen zurückgegriffen werden.
Zum Mitsprechen der Einsetzungsworte könnte die grüßende Geste der leicht erhobenen Hand mit der offenen Handfläche zum Altar hinzukommen. Sie würde eine Geste aufnehmen und demokratisieren, wie sie bei sogenannten Konzelebrationen in katholischer Tradition üblich ist. Sie findet sich übrigens auch bei Aufnahme- oder Gelübdezeremonien in Klöstern, wo sie zum Ausdruck bringt, dass Aufnahme und Gelübde nicht nur Gott und dem oder der Verantwortlichen gegenüber sondern in den Zusammenhang der gesamten Gemeinschaft vollzogen werden.
Die ökumenische Dimension einer solchen schlichten Praxis ist offensichtlich. Wenn sie ökumenische Verbreitung fände, würde sie es ermöglichen, auf diese Weise als ökumenischer Gast, die/der also nicht kommunizieren darf, trotzdem praktisch durch das Wort mitfeiern zu können und somit den Erfahrungsraum zur Überwindung dieser theologischen Sackgassensituation zu erweitern.
Bei online-Übertragungen würde die Geste der Hand allerdings ersetzt werden müssen durch ein konkretes liturgisches Handeln an den vorbereiteten Gaben Brot und Wein, welches diese einfach in die Hand nimmt, oder auch – je nach Bekenntnis, aber auch einer eventuellen persönlichen Scham – ein Kreuz über sie schlägt.
In einer Familien- oder Gruppensituation auf der Rekonstruktionsseite der Übertragung könnte dies mit ein wenig Übung die natürliche Situation einer Hausgemeinde entstehen lassen, bei der die Gaben dann mit Spendeworten geteilt würden. Wenn jemand allein vor dem Bildschirm mitfeiert, müsste auf Spendeworte verzichtet werden oder man würde sie durch ein akklamatives „Christus spricht: nimm hin und iss“ bzw. „… trink“ ersetzen.
Bei derartigen Rekonstruktion sakramentaler Formen kommt es nicht auf die Imitation und somit schlichte Verdopplung dessen an, was auf dem Bildschirm geschieht (das ist insbesondere bei Zoom-Übertragungen schnell der Fall), sondern eben auf die rekonstruierte Praxis auf der anderen Seite der Übertragung.
Dieser Praxis muss eine gewisse ermündigende Eigendynamik zugestanden werden in dem Sinne, dass man nichts tut oder meint tun zu müssen, was einem peinlich oder unangenehm erscheint.
Im Zweifel hilft dabei eine Orientierung an den einfachen, den liturgischen Vollzügen zugrundeliegenden Alltagsvollzügen, wie man sie in den Evangelien nachlesen kann.
Bei der Rekonstruktion des Singens kommt es auf das Mitsingen an.5 Das bedeutet, dass auch die Personen, die in einer kleinen Gruppe oder allein von ihrem Bildschirm sitzen, eine Möglichkeit haben müssen, ohne schamhaft zu verstummen und auf die ihnen mögliche Art und Weise, mitzusingen.
Diese Herausforderung die gottesdienstliche Praxis anbetreffend steht in einem gewissen Widerspruch zu den Aktivitäten vieler Kirchenchöre, die gerade durch ihre Qualität viele Menschen anziehen und auch nichtgläubige und kirchenferne Personen ansprechen. Sie soll ja aber nicht das Maß aller Dinge behaupten. Festliche Gottesdienste sollen auch musikalische Feste sein in welchem Stile auch immer.
Die Herausforderung der Mitsingbarkeit könnte zugleich aber auch eine Aufmerksamkeit nach sich ziehen, die sich darauf richtet, bestimmte Choräle, einige liturgische Gesänge und auch neue Lieder so zu praktizieren, dass sie den Leuten vertraut genug sind, bzw. werden können, dass sie allein oder in geringer Anzahl gesungen werden können.
Jenseits von Fragen des Stils und Geschmacks, bieten die Gesänge von Taizé hier eine Orientierung. Sie sind unter dem Gesichtspunkt des Mitsingens entstanden und können sowohl einstimmig als auch mehrstimmig, mit und ohne Instrumente, also sehr einfach und auch festlich gesungen werden.
Wie wäre es zum Beispiel in dieser Perspektive, den Gesang des Vaterunser in aramäischer Sprache6 zu lernen und auf Kirchentagen u.ä. so zu praktizieren, dass er mitsingbar würde mit allen geschichtlichen, historischen, aber heute auch politischen Implikationen?
Auf derartige Weisen könnten Situationen des minderheitlich-Werdens und die Rekonstruktion religiöser Praxis bei online-Übertragungen vorbereitet und gestaltet werden.
Als Leitsatz sei daran erinnert, das digital vom lateinischen Wort für Finger kommt: „Da sind fünf Finger, die fünf Seher, die fünf Erdenteile, ja, die fünf Feenfinger. Aber alle zusammen formen die Hand. Mit den Händen zu denken, ist die wahre Bestimmung des Menschen.“7