Im Laufe der 70er Jahren des letzten Jahrhunderts arbeitete der kanadische Philosoph Constantin Boundas aus Ontario an seiner Doktorarbeit über Paul Ricœur. Bei einem Aufenthalt in Paris fielen ihm in einer Buchhandlung Schriften von Gilles Deleuze in die Hände. Er kaufte das Buch „Differenz und Wiederholung“ und ging in sein Hotelzimmer. Fünf Tage später hatte er es durchgelesen, „ohne sonderlich viel verstanden zu haben. Aber nichtsdestotrotz war ich fasziniert und überzeugt, dass es das richtige war“1. Er wechselte das Thema seiner Doktorarbeit.
Ende der 80er Jahre erhielt er den Auftrag des Verlages der Columbia University, „einen Band mit ausgewählten Arbeiten von Deleuze zusammenzustellen“. Während eines erneuten Aufenthaltes in Paris im Jahre 1989 trifft er den Philosophen aus diesem Anlass. Als Deleuze seine Arbeit an einem neuen Buch erwähnt, bemerkt Boundas, „dass Ricœur an einem ähnlichen Thema sitze, und bekommt zur Antwort: ‚Ja, aber Ricœur ist Christ‘“.2
Was macht diese Aussage des französischen Philosophen über seinen Kollegen erwähnenswert?
Deleuze zitiert Ricœur wiederholt sehr wertschätzend und an wichtiger Stelle.3 Aber sein Verhältnis zum Christentum ist ein anderes. Deleuze ist kein Christ. Und nicht nur in seinem Falle lohnt es sich, dies genauer zu beschreiben und zu bedenken. Deleuze lässt sich diesbezüglich als ein Philosoph verstehen, für den die Kritik der Religion noch nicht abgeschlossen ist. Und dies in doppelter Hinsicht und auf besondere Art:
Zum einen richtet sich diese Kritik „gegen die etablierten Kirchen, die sich einmal mehr befragen lassen müssen, ob ihre dogmatischen Kodifikationen der Befreiungsbotschaft gerecht werden, auf die sie sich berufen, und ob sie es sich theologisch leisten können, die hyperchristliche Kultur der Moderne aus ihrem Denk- und Fragehorizont auszuschließen“4.
Zum anderen richtet sie sich „gegen die säkulare Gesellschaft, die glaubt, das Religiöse den Kirchen überlassen zu können, und sich damit jeder Befreiungsdynamik beraubt“5.
„Die avantgardistische Moderne revoltiert gegen beides: gegen die kirchlichen Institutionen in ihrer Machtverliebtheit ebenso sehr wie gegen die säkulare Gesellschaft und ihre ‚Kultur‘, die jeden Gegenentwurf zur herrschenden Ordnung in Spektakel und Entertainment verwandelt.“6
Der Münchener Literaturwissenschaftler Clemens Pornschlegel nennt diese Religionskritiker „Hyperchristen“, übernimmt den Begriff aus der „A-theologischen Summe“ von Georges Bataille und beschreibt mit ihm Autoren wie Deleuze. Diese Autoren beziehen „sich in ihren Texten immer wieder auf Denkfiguren, Begriffe, Schriften und Praktiken des Christentums“. In ihren Texten „ist wiederholt – und alles andere als beiläufig – die Rede von Engeln und Heiligen, vom Paradies, von Todsünden, von der Inkarnation, vom Glauben, von der Präsenz des Göttlichen, vom Opfer, der Eucharistie, von der Versuchung durch das Böse, von der Auferstehung, vom Versprechen des Heils, von Erlösung, von Gnade, von der Ankunft einer neuen Brüderlichkeit“. Das Christentum bleibt „ein zentraler Bezugspunkt“ ihre Denkens.7
Gleichzeitig lehnen diese Autoren „jede Spielart eines institutionellen (Kirchen-) Christentums entschieden“ ab und verabschieden es.
„Die griechische Präposition ‚hyper‘ (‚oberhalb von, über etwas hinaus‘) verweist auf genau diese Ablösungs- oder Überwindungsbewegung von der alten ‚Religion‘. ‚Hyper-Christentum‘ beschreibt also zunächst einmal den doppelten Sachverhalt des fortwährenden Bezugs auf christliche Bilder, Texte, Vorstellungen und Denkfiguren bei gleichzeitiger Ablehnung oder Überwindung jeder Form von ‚religiösem Glauben‘ und der entsprechenden moralischen Lebenspraxis.“8
Diese „freie Benutzung der christlichen Mythen“ bei gleichzeitiger „Zurückweisung religiöser Institutionen“ beschreibt den Vorgang einer „sukzessive fortschreitenden Ablösung von der Religion“, der einem „Auszug aus der Entfremdung“ gleichkommt, bzw. „eine[m] Erwachsenwerden[]“.9
Der Begriff des ‚Hyperchristentums‘ zieht allerdings in Zweifel, dass „die mit dem Narrativ verbundene Vorstellung einer pfeilartigen einsinnig linearen Fort-Entwicklung von der christlichen Religion radikal weg- und in ein absolut Unbekanntes hinausführte“.10
Stattdessen geht der Begriff des ‚Hyperchristentums‘ von „der strukturalen Zusammengehörigkeit von christlicher Religion und emanzipatorischer Ablösungsbewegung von ihr aus, das heißt, er versucht die historische und systematische Korrelation zwischen Christentum und Überwindung der Religion zu benennen, zwischen Christentum und Atheismus“.11 „Die christliche Referenz bleibt für die emanzipatorische Bewegung aus der Religion notwendig, und zwar deswegen, weil es sie legitimiert, das heißt, weil es nach wie vor die legitimatorische Referenz auch jedes Anti-Dogmatismus und jeder Befreiung bildet: das, worauf man sich unweigerlich beziehen muss, wenn man gegebene Normen und Vorschriften für null und nichtig erklärt, wenn man sich die Freiheit der Transgression nimmt, gegebene Normen radikal in Frage stellt, die Ungerechtigkeit der Verhältnisse anprangert, das System der sozialen Knechtschaft bekämpft.“12
Der direkte hyperchristliche Bezugspunkt bei Gilles Deleuze ist eine seiner ersten Veröffentlichungen, der Aufsatz “Du Christ à la bourgeoisie“13 von 1946. Der Text ist Mademoiselle Davy gewidmet14 und bringt damit die Umstände seiner Entstehung ins Spiel.
Marie-Magdelaine Davy (1903-1999) ist eine Philosophin und Theologin. Deleuze traf sie in im Salon eines katholischen Schriftstellers, in dem sich die großen intellektuellen Figuren seiner Zeit trafen, so merkt es die Fußnote des Herausgebers der „Briefe und andere Texte“, David Lapoujade, an.15
Sie war „eine erstaunliche Persönlichkeit“, ein „verkappter Junge“, der bereits 1908 „ausschließlich Shorts und Hosen“ trug, gegen den Willen ihrer Familie mit achtzehn Jahren an der Sorbonne Philosophie und Geschichte studierte, am Institut Catholique de Paris ihren Abschluss in Theologie machte und 1941 dort ihren theologischen Doktor verteidigte. Daraufhin arbeitete Marie Magdelaine Davy als „Spezialistin für das 12. Jahrhundert und übersetzte die Werke von Wilhelm von Saint-Thierry, Pierre von Blois und Bernhard von Clairvaux“.16
Davy hatte das Schloss ihrer Großeltern im Umland von Paris „zu einem Ort gemacht, an dem sich Juden, Widerstandskämpfer, Arbeitsverweigerer und britische oder amerikanische Piloten sicher verstecken konnten“.17 Ebendort organisierte sie „zahlreiche kulturelle Veranstaltungen“, zu denen der Noch-Gymnasiast Gilles Deleuze zusammen mit einigen Freunden von ihrem Philosophielehrer Maurice de Gandillac eingeladen wurde.18
Schon hier fällt der junge Deleuze mit seiner Fähigkeit auf, „die philosophische Tradition zu entstauben und ihr neue Aktualität zu verleihen“. In der „finsteren Atmosphäre der Okkupationszeit“ schließt sich Deleuze nicht der Résistance an, obgleich er „in derselben Klasse wie der kommunistische Aktivist Guy Môquet ist, der von den Nazis erschossen wird“ und er sich mit „Entsetzen“ an die „Nachricht vom Massaker im dem Dorf Oradour-sur-Glane am 10. Juni 1944“ erinnert. „Statt sich im Widerstand zu engagieren“, bildet Deleuze zusammen mit einer Gruppe befreundeter junger Leute die Zeitschrift für Philosophie Espace.19 Dort erscheint sein Aufsatz „Von Christus zum Bürgertum“.
„Der gesamte Artikel zielt auf die die Entfaltung einer Dialektik von Innerlichkeit und Äußerlichkeit zur Aufwertung der letzteren ab. Deleuze stellt die Verinnerlichung, zu der Marschall Pétain die Franzosen aufgerufen hatte, dem Akt der Veräußerlichung eines in den Widerstand gehenden de Gaulle entgegen. Im modernen Erfolg des Bürgertums sieht Deleuze indes eine Fortführung sowie eine Akzentuierung des Verinnerlichungsprozesses. […] Auf höchst paradoxe Weise gelingt es so dem Bürgertum, die mit Christus anhebende Bewegung zu vollenden, indem es all das verinnerlicht, was jener einst von sich stieß: ‚Grundbesitz, Geld, Eigentum – alles, was zu bekämpfen er gekommen war, um es durch Werte des Seins zu ersetzen‘.“20
Deleuze hält die Verbindung von Christentum und Bürgertum dennoch nicht für zufällig (contingent).21 Das rückt seine Analyse in die Nähe zu Walter Benjamins Beobachtung zu einer „Kultreligion der unendlichen Schuld“, in die sich das Christentum verwandelt habe: „Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus umgewandelt“. Es verwandelte sich umso mehr in die „religiöse Struktur des Kapitalismus“22, als es „auf jeden prophetischen Gegenentwurf zur herrschenden Ordnung und auf jede revolutionäre, weltöffnende Perspektive verzichtete“23.
Gilles Deleuze hat die hyperchristliche Grundierung seines Werkes versteckt, indem er seine Schriften erst vom Jahre 1953 an zur Veröffentlichung frei gab. Dennoch ziehen sich hyperchristliche Motive durch sein Werk.
Besonders auffällig ist dabei, dass Deleuze auf der Figur Christus nicht nur besteht, sondern sie in Anspruch nimmt.
„Noch inmitten ihres Scheiterns hört die amerikanische Revolution nicht auf, ihre Fragmente weiter zu schleudern und auf der Linie des Horizontes etwas fliehen zu lassen; sie hört nicht auf, sich ins All zu katapultieren, die Mauer zu durchbrechen, das Experiment fortzusetzen, eine Brüderlichkeit in diesem Unternehmen zu finden, eine Schwester in diesem Werden, eine Musik in der stotternden Sprache, einen reinen Ton und unbekannte Akkorde zu sprechen. Was Kafka von den ‚kleinen Nationen‘ sagt, sagt Mellville bereits von der großen amerikanischen Nation, insofern sie das Patchwork aller kleinen Nationen sein soll. Was Kafka von den kleinen (mineures) Literaturen sagt, sagt Melville schon von der amerikanischen Literatur seiner Zeit: Weil es in Amerika nur wenige Autoren gibt und weil das Volk sie kaum beachtet, fehlen dem Schriftsteller alle Bedingungen dafür, es zum anerkannten Meister zu bringen. Umso mehr bleibt es, noch im Scheitern, der Träger eines kollektiven Sprechens, das nicht mehr zur Literaturgeschichte gehört, und umso mehr bewahrt er die Rechte eines kommenden Volkes oder eines menschlichen Werdens. Schizophrene Berufung: Selbst in seiner Katatonie oder Anorexie ist Bartleby nicht der Kranke. Er ist vielmehr der Arzt eines kranken Amerika, der Medicine-man, der neue Christus oder unser aller Bruder.“24
Was auf den ersten Blick überraschend wirkt, wirft Fragen auf: „Wie ist das Syntagma vom ‚neuen Christus‘ im Kontext des Deleuz’schen Denkens zu lesen? Welcher Sinn kommt dem Namen ‚Christus‘ zu? Was besagt das Attribut ‚neu‘? Und wieso Christus?“25
Diese Fragen führen in einen zentralen Motivzusammenhang des Denkens von Gilles Deleuze, den des Urteils (jugement) oder der Lehre vom Gericht (système du jugement), mit dem es unbedingt aufzuhören gilt (pour en finir avec le jugement):
„Das Urteil verhindert die Ankunft jeder neuen Existenzweise. Denn die neue Existenzweise erschafft (crée) sich durch die eigenen Kräfte, das heißt, durch die Kräfte, die sie zu ‚fangen‘ versteht, und sie steht als Wert für sich selbst, sofern sie die neue Verbindung zur Existenz bringt. Vielleicht ist dies das Geheimnis: zur Existenz bringen, nicht richten (faire exister, non pas juger). Wenn es so widerwärtig ist, zu richten und zu urteilen, dann nicht, weil alles gleich gültig wäre und alles aufs Gleiche hinausliefe, sondern – ganz im Gegenteil – weil alles, was etwas wert ist, nur dadurch entstehen, sich auszeichnen und von anderen unterscheiden kann, dass es dem Urteil trotzt. Welches Expertenurteil könnte in der Kunst über ein kommendes Werk urteilen? Wir haben die anderen Existierenden nicht zu verurteilen, sondern zu fühlen, ob sie uns bereichern oder nicht, das heißt, ob sie uns Kräfte geben oder uns zurückfallen lassen ins Elend des Krieges, in die kleinen Bilder des Traums oder die rigiden Zwänge der Organisation.“26
Deleuze unterscheidet zwischen der Figur Christus und dem Christentum. Für Christus und seine „elegante Immanenz“ bewies sich „die Ewigkeit zu aller erst im Leben“.27
Das bedeutet ein „stets erneuerte[s], decodierende[s] Christentum[]“, „das nicht Vorschriften und Gesetze unterwürfig befolgt, sondern freie Lebens-Praxis der freien Brüderlichkeit, ist, die auf jedes egoistische Ich zu verzichten weiß“. Diese Praxis widerspricht „der Tradition der imitatio Christi nicht, sondern schreibt sie auf radikale, decodierende Weise fort“28. Es „mobilisiert […] immer wieder den Imperativ der Bergpredigt: ‚Richtet nicht‘ (Lk 6, 34; Mt 7,1).“
„Der historische Christus wird von Deleuze der Endlichkeit und Immanenz zurückgegeben, während das Unternehmen der Befreiung und ’Erlösung‘, die Bewegung der absoluten Decodierung immer wieder neu zu wiederholen ist.“29
…
Kommt die philosophische Wertschätzung zwischen Gilles Deleuze und Paul Ricœur wegen ihres unterschiedlichen Verhältnisses zum Christentum einer „unmöglichen Konversation“ gleich?
„Beide haben sich von der philosophischen Tradition abgesetzt; beide haben das Nicht-Philosophische zugelassen; beide denken in Aporien, in Spannungen und bevorzugen das ‚und‘ – das gemeinsame Denken, die Verschränkung. Beide haben sich von Hegel abgewandt und begnügen sich nicht mit dem kantischen Formalismus; beide räumen Bergson einen besonderen Platz ein.“30
Das „Einverständnis“ zwischen beiden wäre wohl am besten beschrieben mit einem grundlegenden „Sein zum Leben“ nach Spinoza im Unterschied zum „Sein zum Tode“ Heideggers.31
Paul Ricœur allerdings war Christ. Er war befreundet mit Frère Roger und Gast der Communauté von Taizé von den Anfängen an. Lange Jahre verbrachte er das Osterfest in Taizé. Was er dort suchte? „Ich würde sagen, eine Erprobung dessen, was ich zutiefst glaube: dass das, was man gemeinhin ‚Religion‘ nennt, etwas mit Güte zu tun hat. Die Traditionen des Christentums haben dies ein wenig vergessen. Es gibt eine Art Einengung, Beschränkung auf die Schuld und das Böse. Ich unterschätze dieses Problem keineswegs; es hat mich über mehrere Jahrzehnte sehr beschäftigt. Aber ich kann nicht umhin, eines nachzuvollziehen: So radikal das Böse ist – es ist nicht so tief wie die Güte. Und wenn die Religion, bzw. die Religionen einen Sinn haben, dann den, den Bodensatz an Güte der Menschen freizulegen, ihn dort zu suchen, wo er vollständig versickert ist.“32
Jedes Jahr zum Jahreswechsel schickte Frère Roger ein kleines Gebet an Paul Ricœur. Als dieser am 20. Mai 2005 starb, fand man neben ihm auf seinem Nachttisch den Text von 2004: „Gott, du liebst uns. Weihnachten gibst du uns zu verstehen, dass die reine Freude des Evangeliums darin besteht, einer Einfachheit des Herzens entgegen zu gehen. Sie zieht eine Einfachheit des Lebens nach sich“.33