„Fernsehen ist eine überwiegend kommerziell geprägte massenkulturelle und daher notwendig triviale Form. Es ist einerseits primitiv und oft vulgär, andererseits auf eine komplexe, teure und aufwendige Technik gegründet“.1
Im Unterschied zu Medien wie der Schrift, dem Radio oder dem Film gibt es zum Fernsehen (und seinen medialen Hybriden) „keine Theorie, auch keine Mehrzahl von Theorien“, die darüber hinaus gehen, „mehr als einen isolierten Teilaspekt des Mediums“ zu erfassen oder dieses Medium „auf den Begriff“, auf „ein Modell“ oder auf „einen in der Einheit der Differenzen gefassten Blickwinkel“ festlegen würden.2
Der Weimarer Film- und Fernsehwissenschaftler Lorenz Engell stellt die verschiedenen theoretischen Ansätze und ihre Kontexte in einer einführenden Fernsehtheorie vor. Wir folgen ihr in unserer Lektüre stichwortartig und zusammenfassend mit der Perspektive, die Fragestellungen herauszuarbeiten, die für eine religiöse Fernsehpraxis zu reflektieren und zu entscheiden wären.
Ein Grund für einen gewissen „Theoriemangel“ in Bezug auf das Medium Fernsehen liegt darin, dass das Fernsehen in seiner Praxis die gängige „Schrift- und Argumentationskultur“ und damit ihre „Fähigkeit zur Theoriebildung und –diskussion“ massiv untergräbt und „außer Kraft“ setzt. Dies geschieht vor allem dadurch, dass sich im Zentrum des Mediums Fernsehen Bilder befinden. Und zwar Bilder, die weniger logisch als unlogisch mit einander verkettet und angeordnet sind.3
Zu Beginn der Erfindung des Fernsehens sollte lediglich „ein an einem Ort A befindliches Objekt an einem anderen Orte B“4 sichtbar gemacht werden können. Doch mit zunehmender technischer Entwicklung und Komplexität können nicht nur Bilder direkt (live) gesehen, also gesendet und empfangen werden, sondern sie können in ihrem Fluss auch unterbrochen werden, etwa durch Anrufe von Zuschauern, Werbung oder Programmhinweise. Andere Bilder (Fotographien, Filmbilder u.a.) können eingefügt werden.
Das Fernsehbild wird zu einem „Schalt-Bild“5. Es hebt somit seine „abbildlichen Ordnungen“6 auf und wird als „Fernsehbild selbst“7 sichtbar. Im „Programm- und Bilderfluss des Fernsehens“8 können alle eingefügten Bestandteile als solche mitgeführt werden und bilden schließlich eine eigene Realität.
Sowohl im Hinblick auf seine Form als auch in Bezug auf den selbstreflexiven Gestus des Fernsehens bietet sich die Serie als Denkkategorie dieses Mediums an. Als Fernsehformat legt eine Serie „eine Anzahl von Regeln fest, eine Formel, nach der Episoden zu bilden sind, und zwar so, dass die Varianz, die Anzahl verschiedener möglicher Episoden tendenziell gegen unendlich gehen kann“. Ähnlich wie bei der Improvisationstechnik des Jazz verfahren diese Improvisationen entsprechend der einmal gefundenen Formel so, „dass sich aus ihrer Abfolge dennoch ein zusammenhängendes Ganzes ergibt“.
„Die einzelnen Episoden entstehen im Nacheinander und werden auch in der linearen Abfolge wahrgenommen, aber sie bauen eigentlich nicht aufeinander auf.“ Dabei variieren sie „ein Prinzip, eben die jeweilige Formel, bis zur Unendlichkeit“. Haben sich die Vorgaben „in ihrer Variabilität und Fruchtbarkeit erschöpft“, endet die Serie. Eine Serie diskutiert ihre Formel nicht, sie entwickelt sie nicht, sondern sie erschöpft sie.9
Ein solcher „Bilderstrom“10 als unendliche „Variationen des Selben“11 zieht ein entsprechendes „Fernsehverhalten“ nach sich. Es besteht darin, „nicht zu handeln, nicht einzugreifen“.12 Einziger Ausweg: Schalten.
Einschalten, zuschalten, umschalten, abschalten als Funktionsweisen des Schalt-Bildes lassen eine Serie bei der Produktion und Rezeption der „Sichtbarkeit durch das Fernsehbild“ nicht einfach als „Variation desselben oder die Wiedergabe eines immer schon Vorfindlichen“ – also als Repräsentation – denken. „[Z]umindest der Möglichkeit nach“ handelt es sich bei einer Serie stets um das Auftauchen eines unbegründeten und unvorhersehbaren Neuen“13 etwa durch einen „Verschiebungseffekt, der sich zwischen zwei oder mehreren inkommensurablen Zeitreihen aufspannt“14.
Die eigenartige Realität, die das Schalt-Bild erzeugt, unterscheidet sich als „mediengefertigte“ Realität von der Realität draußen. Sie ist nicht mehr unter Rubriken wie Abbild oder Darstellung zu fassen. Vielmehr findet eine „Vermischung von Realität und Illusion“ statt, die durch „raffinierte Spiegelkonstruktionen“ unterstützt „Bildraum und Betrachterraum ineinander verschränken und fiktive Figuren in reale Settings hineinspiegeln“.15
Diese Vermischung „unterschiedlichster Realitätsbezirke“ und Bildwelten kehren die „Beziehung zwischen äußerer Wirklichkeit und dem Fernsehbild“ nicht einfach um, sondern „paradoxier[en]“ sie. Es entsteht eine „Hyperrealität“, in der sich die Unterscheidbarkeit von (Fernseh-)Bild und Wirklichkeit grundsätzlich infrage gestellt“ findet.16
Mit der Fernsehkultur entwickelt sich auf diese Weise „eine neue Form des öffentlichen Ereignisses“. Fernsehen berichtete nicht über ein „unabhängig von ihm stattfindendes Ereignis“. „Die Wirkung eines Ereignisses, inszeniert oder nicht, geht nicht mehr von ihm selbst aus, sondern von seiner logisch oder zeitlich eigentlich nachträglichen Überformung und Verbreitung durch das Fernsehen.“ Das Fernsehen ist also „immer schon sein Mitveranstalter“.17
Schließlich erzeugen die Fernsehbilder „die Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen, und die Bedeutungen, die wir ihnen entnehmen sollen, selbst“18. Sie simulieren Wirklichkeit als einen „Zustand, in dem über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Objektes oder einer kulturellen Formation nicht mehr entschieden werden kann“19.
Damit löst sich auch das Verhältnis zwischen Sender und Empfänger dahingehend, dass der Sender immer mächtiger gegenüber einem immer ohnmächtigeren Empfänger wird. Diese Tendenz hat Konsequenzen für die Raum- und Zeitverhältnisse, die das Fernsehen herstellt.
„Im Sinne des Gedankens vom Fernsehen als Schalt-Bild kann man hier auch an das Phänomen des Umschaltens von einem Ort der Übertragung, etwa einem Studio, zu einem anderen, etwa einem Ort des Geschehens denken. Ebenso fungiert hier das Einschalten eines (Bild-)Raumes in den (realen) Umgebungsraum, eines Außenraums also, der durch das Fernsehen in einen Innenraum, klassischerweise das häusliche Wohnzimmer, einzieht.“20
Einziehen bedeutet in diesem Falle reales Umgestalten wenn man an die Entwicklung der mit dem Fernsehgerät verbundenen Möbel, Einrichtungen und Verhaltensweisen denkt: „Öffentliche und private Bereiche vermischen sich“21.
In der Folge „bilden Hausgeräte, Wohnformen und Einrichtungen, Fernsehapparate, Rollenbilder, Supermärkte, Konsumpraktiken und –ideologien, Essgewohnheiten, Vorstadtarchitekturen und schließlich auch Fernsehformate und –ästhetiken eine komplexe und verteilte Einheit“22 mit allen sozial und politisch auszudifferenzierenden Implikationen.
Eine wachsende Vielfalt des Angebotes auf den verschiedenen Ebenen erfordert eine Auswahl. „Erst mit der Einführung der Fernbedienung findet das Fernsehen eine gültige Antwort auf den Selektionsdruck, der durch das Überangebot an verfügbaren Bildern, durch das Immer-schon-Vorhandensein aller Bilder an allen Orten entstanden [ist]. Die Fernbedienung zu betätigen [heißt] nun stets, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen, aus einem vor-ausgewählten Raum der Möglichkeiten durch nachfolgende Selektion tatsächliche Realisierungen vorzunehmen – und auch wieder zu revidieren, im Zurückschalten.“23
Auf die Spitze getrieben markiert der „Moment des Umschaltens“, insbesondere der eines „Umschaltens, das nicht auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem, sondern einfach nach irgendetwas anderem ist“, einen besonderen Punkt. An ihm scheint „das Fernsehen als Medium universeller Sichtbarmachung“ auf.24
Nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Strukturen sind durch die Fernbedienung zumindest momenthaft überbrückbar und erzeugen eine „große[] ausgedehnte[] Gegenwart“, die dadurch charakterisiert ist, Gleichzeitigkeit zu sein.25 Diese kann sich durch Um- und Zurückschalten sowohl auf „Zeitpunkte“ als auch auf „Zeitdauern bzw. –abläufe“ beziehen.26 Eine besondere Form der „Herstellung von Gleichzeitigkeit“27, mit der das Fernsehen „etwas vollkommen Neues leistet“28, ist die Direkt- oder Live– Übertragung.
Das Charakteristikum der Live-Übertragung ist „ein Zusammenfallen von Versuch oder Probe einerseits und Ergebnis oder Werk andererseits“29. Dies geschieht wieder durch Schaltvorgänge und Selektion und dies nicht erst auf der Ebene der Rezeption, sondern bereits auf der Ebene der Produktion: „Einzelne Aspekte und Anblicke eines Geschehens werden ausgewählt, und zwar in einem mehrstufigen Verfahren: Schon die Positionierung der Kameras trifft eine Auswahl, die dann die Kameraleute befähigt, ihrerseits laufend selektiv zu entscheiden, was sie vom Geschehen aufnehmen wollen. Diese Bilder nun findet der Regisseur im Übertragungswagen simultan vor und trifft wiederum eine Auswahl, die dann tatsächlich und in einer Abfolge arrangiert über den Sender geht.“30
Der „eigentliche Inhalt der Live- Sendung“ ist also nicht „die Fürstenhochzeit oder das Fußballspiel“ als solches. Es besteht vielehr darin „das Werden einer Form, die Entstehung oder Erzeugung einer sinnvollen kohärenten Abfolge aus an sich selbst bedeutungs- und beziehungslosem, ungeformtem Ereignis- oder Bildmaterial mit- und nachzuvollziehen. Formgebung und Mitvollzug ereignen sich ihrerseits zugleich mit dem Strom unverbundener, an sich selbst wenig verknüpfter Ereignisse“.31
Derartige Medienereignisse erzeugen also Zwischenfelder „zwischen traditionellen öffentlichen Zeremonien und Ritualen einerseits [und] Fernsehfiktionen andererseits“. Sie können als Übergänge „vom übertragenen Ereignis zum Ereignis der Übertragung“ verstanden werden. Das Ereignis der Übertragung ersetzt dabei tendenziell das ursprüngliche Ereignis und erzeugt die „Illusion einer Teilhabe“.32
Diese fernsehspezifische Teilhabe ist zunächst nicht exklusiv; es werden prinzipiell alle Zuschauer und Zuschauerinnen zugelassen und sie haben „stets die beste Sicht auf das Ereignis“. Andererseits können sie immer nur einen „bestimmten Ausschnitt oder Blickwinkel“ sehen. Das erzeugt eine „nächste Nähe zum Detail“ bei gleichzeitiger „unüberbrückbarer Ferne zum Gesamten“ des Ereignisses.33
„Was das Fernsehen kann, kann nur das Fernsehen“. Es kann ein „Ereignis aus aberwitzigen und unmöglichen optischen Perspektiven aufnehmen“. Es kann das Ereignis kumulativ ergänzen mit Kommentaren, Hintergrundinformationen. Es kann das „Live– Zentrum“ mit „[p]eriphere[n] Ereignisse[n]“ umlagern und überwuchern… „Dadurch reproduziert das Fernsehen nicht nur das Ereignis selbst, sondern zugleich genau das, wovon es sich abhebt und was es unterbricht, nämlich den Strom alltäglicher Vorkommnisse und damit der alltäglichen Zeit.“34
Es übernimmt die Kontrolle des Stromes alltäglicher Vorkommnisse und bindet die übertragenen Ereignisse immer stärker in einen Fernsehfluss“ mit seinen „endlose[n] Wiederholungen derselben Bilder“ in Nachrichtensendungen, Sonderberichterstattungen etc.
Auf diese Weise entscheidet das Fernsehen nicht nur über die Wichtigkeit von Ereignissen, indem sie sie überträgt oder nicht, es verstärkt bei gleichzeitiger „Entgrenzung“ der Bilder immer auch die reale Erfahrung der Zuschauerinnen und Zuschauer, die vor allem darin besteht, „nicht dort gewesen zu sein“.35