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Responsivität – dying son, dying earth

Denken gehört zu Predigt und Liturgie wie die Arbeit an Sprache und Manuskript und das Üben an Sprechen und Auftritt.
Lesend macht sich das Denken auf den Weg. Es gewährt damit zugleich einem Begriff Einlass in seinen denkerischen Vollzug, der einer schlichten aber auch einer komplex lehrhaften Wiederholung meist entgeht: die Differenz.

Jene kleinen Verschiebungen, Abweichungen, Unterwanderungen von dem, was man gewohnt ist – also immer nur erkennt, weil man es schon kennt – bilden den entscheidenden Unterschied zwischen Selbstreferenz und einer denkerischen Praxis, zwischen Selbstbespiegelung und einer spirituellen Praxis, zwischen Selbstdarstellung und einer homiletisch-liturgischen Praxis.

Auf diese kleinen Unterschiede wird es ankommen!Unterwanderungen – ein Blog von Dietrich Sagert

Zu Beginn der Lektüren von „Laudato si‘“ in diesem Blog stand die Überzeugung von Bruno Latour, die er als eine enorme Chance ansah: „Die Theologie kann zu ihrer Tradition zurückkehren, zu einem Gott, der Mensch wurde, der zur Erde, zur Schöpfung gehört. Er nimmt an der Schöpfung teil, er ist Zeuge und Betroffener aller Entwicklungen.“ Zum Schluss lesen wir sie erneut:

Die Chance besteht im Sinne von Anknüpfungspunkten, die die Traditionen christlichen Denkens bieten. Bei genauerem Hinsehen jedoch erfordern sie eine enorme theologische Arbeit, die aussteht.

Lesen wir den Satz Bruno Latours in dem Sinne, dass Gott Mensch wurde und als solcher zur Erde, zur Schöpfung gehört, an der Schöpfung teilnimmt, Zeuge und Betroffener aller Entwicklungen ist, so steht dieser Lesart ein christlicher Anthropozentrismus entgegen. Dieser setzt nicht nur den Menschen als nach dem Bilde Gottes geschaffen über die Schöpfung und hat zumindest praktisch dazu gedient, als Rechtfertigung des Raubbaus des Planeten Erde zu fungieren. Zugleich dient(e) dieser Anthropozentrismus dazu, den Menschen von seinem Körper zu trennen, den Mann über die Frau zu stellen und dem weißen Mann eine besondere Rolle mit den bekannten Folgen zuzugestehen. Der brasilianische Anthropologe Edouardo Viveiros de Castro hat diese Anthropologie als engelsförmig (angelomorph) beschrieben und sie in ihren eschatologischen und auch wirtschaftlich-technischen Zusammenhängen und Folgen dargestellt.

Lesen wir Bruno Latours Satz in dem Sinne, dass Gott Mensch wurde und somit selbst zur Erde, zur Schöpfung gehört, an der Schöpfung teilnimmt und Zeuge und Betroffener aller Entwicklungen ist, stellen sich weitere theologische Fragen. Zu deren Beantwortung wird es grundlegender Öffnungen im erstarrten theologischen und kirchlichen Verwaltungskanon bedürfen. Sie werden Perspektiv- und Paradigmenwechseln gleichkommen müssen, aber auch in Rückbesinnungen auf vergessene theologische Traditionen bestehen. Wir schließen diese Blogreihe mit einer schöpfungstheologischen Tiefenbohrung, bevor ein Stichwort vorgeschlagen wird, das zur Orientierung bei den nötigen Veränderungsprozessen dienen kann.

Der katholische Theologe Alex Stock beschreibt das schöpfungstheologische Grundproblem bei seiner Lektüre der Genesis. „Was die Menschheit da mit sich führt, ist ein literarischer Urwald, den zu erkunden auch Theologen reizen kann, was aber, wenn die Religionsneugier sich nicht verlaufen soll, einer gewissen Perspektive bedarf. Der Theologie ist vorab eine bestimmte Tradition zur Bearbeitung überstellt, von der her sie das menschlich Vergleichbare dann nach Kräften und Bedarf mitwahrnehmen kann. Diese Tradition ist die biblische und die daraus dann weiträumig hervorgegangene. Dem Dschungel entronnen gelangt man mit solcher Einschränkung freilich nicht geradewegs in einen monokulturellen Forst. Die biblische Kosmogonie ist in sich nicht einfach. Sie ist, jedenfalls im Horizont moderner Bibelkritik mindestens zweifach. Unterschieden werden der sogenannt priesterliche Schöpfungsbericht (Gen 1,1-2,4a) und der jahwistische (Gen 2,4aff). Bezieht man andere Texte (wie Ps 104; Spr 8, 22-31; Hiob 38f; Joh 1, Kol 1, 15-18) noch mit ein, so zeigt sich, dass die Hl. Schrift selbst kosmogonische Varianten enthält, die nicht ohne Weiteres auf einen Nenner zu bringen sind. Sie besteht offenbar nicht rigoros auf der Konsistenz einer einzigen wahren Geschichte. Der historischen Kritik bereiten diese Divergenzen insofern keine Schwierigkeiten, als sie sie geschichtlich orten und ortsansässig relativieren kann; das ist die innerbiblische Fortsetzung religionsgeschichtlicher Betrachtungsweise. Erst wenn man das solcherart kritisch gesichtete Corpus der Schrift als Offenbarungsurkunde betrachtet, entstehen hermeneutische Probleme. Ein bekannter Ausweg aus diesem Kompatibilitätsdilemma ist es, dass man das Differente als wechselnde Einkleidung einer gleichbleibenden Substanz versteht: Auf das Was kommt es an, also auf den Glauben an den Schöpfer der Welt, nicht auf das wechselnde Wie von Schöpfungsgeschichten. Die so geschlagene konfessorische Schneise erspart einige Mühe, verzichtet aber auch von vornherein auf Einsichten, die sich beim Durchgang durchs narrative Detail ergeben könnten. Die biblische Literatur selbst hält den Umweg über Geschichten für erkenntnisfördernd, eine Prämisse, die natürlich auf die Proben zustellen ist.“[1]  

Und natürlich stellt Alex Stock auf die Probe und eröffnet ein im Zusammenhang unserer Lektüren der Enzyklika „Laudato si‘“ überraschendes Feld, welches Émilie Hache reklamiert hatte, und an das Anknüpfungspunkte zu suchen, weiterführend erscheint: die Generation.

In seiner Lektüre der Schöpfungsgeschichte der Genesis kommen Alex Stock bei genauerem Hinsehen und Studieren der Überlieferungsschichten und Kommentare Zweifel daran, ob die „Oberbefehlstheologie“ der Priesterschrift „das plurale Geschehen von Gen 1 ganz erfasst“.[2] Denn die Untersuchung der verwendeten hebräischen Verben beschreibt komplexere Vorgänge und Handlungen des Schöpfers als den des Befehlens und Geschehens.[3] Sie eröffnet Zugänge, die eben „nicht alles schlagartig auf einmal“, „sondern nacheinander“[4] erscheinen lassen. Toledot (Gen 2, 4a)[5] ist dann das entscheidende hebräische Wort und meint nicht nur die Generation des bzw. der Menschen in ihrer genelogischen Geschichte, sondern in „Stammbaumanalogie“[6] auch Himmel und Erde. Himmel und Erde könnte man dann „wie in Hesiods ‚Theogonie‘ als Urpaar Denken, Gaia und Uranos, die den Kosmos in seiner göttlich-menschlichen Vielgestalt zeugen und gebären.“[7]  Doch Alex Stock formuliert hier eine entscheidende Differenz: „Aber so genetisch ist die Genese von Himmel und Erde hier nicht aufgefasst. Da ist kein Urahn oder Urpaar, die eine Prozess des kosmischen Zeugens und Gebärens in Gang setzen wie Adam und Eva oder Noah. Die toledot von Himmel und Erde folgen nicht einem biomorphen Modell und darin liegt die entscheidende Differenz zu den menschlichen toledot des Buches Genesis. Der Stammbaum Himmels und der Erde, dessen also, was allem Leben und Zeugen des Menschengeschlechts vorausgeht, ist von besonderer Art“.[8]  Er ist kein „autogenetischer Prozess“, sondern poiesis: „ein Vorgang des Machens, des Herstellens, Werktätigkeit“.[9]  Wie das genauer vorzustellen ist wird deutlich, wenn man das dominante worttheologische Konzept[10] nochmals in den Hintergrund stellt. Dann fällt nämlich auf, dass „merkwürdigerweise gerade da, wo man es am ehesten erwarten sollte, bei der Schöpfung des Menschen, des Wortwesens par excellence, die einfache Schöpfung durch das Wort fehlt“[11]. Anstelle des zu erwartenden Befehls steht der „ausführliche Satz: ‚Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen— (Gen 1,26)‘“.[12] „Sprechen erscheint hier als Mit-sich-selber-sprechen, das keines verbum externum an äußere Adressaten bedarf. Es ist dem Subjekt innerlich. Denken als inneres Sprechen, Überlegen, Erwägen zu verstehen, ist eine verbreitete und keinesfalls spezifisch philosophische und damit exegetisch immer so schnell abweisbare Vorstellung. Dass elohim, bevor er den Menschen realiter schafft, ihn erwägt, überlegt, denkt, zeichnet Gott als Subjekt aus, das, was es tut, zuvor bedenkt. […] Gilt dies für die Schöpfung des Menschen, so fragt man sich, ob man es nicht auch bei den anderen wajomer-Sätzen unterstellen darf, dass dieses ‚und Gott sprach‘ heißt ‚Gott dachte‘, er dachte bei sich ‚Licht‘, ‚es werde Licht‘, ‚Licht sollte sein‘, er entwarf ‚Licht‘, ‚und es ward Licht‘, der in Gott aufblitzende Gedanke ‚Licht‘ wurde wirklich im Finstern aufblitzendes Licht und Gott sah, was Licht wirklich war und das das, was als Gedanke in ihm aufgekommen war, Realität geworden, gut war, ‚und Gott schied das Licht von der Finsternis‘, er gab ihm Bestand und sicherte ihm einen abgetrennten Bereich gegenüber der Finsternis und nannte, was er realisiert hatte ‚Tag‘ und was verblieben war, nannte er ‚Nacht‘.“[13] 

Und Alex Stock schlussfolgert entscheidend: „Ließe sich das in der Handlungsstruktur eines jeden Schöpfungswerkes so denken, dass dem Schaffen und Machen, Scheiden und Anbringen, Sehen und Gut-befinden, Nennen und Segnen dieses innere Sprechen in Gott selbst, die denkende Ersinnung vorausginge, dass die Dinge also nicht aus explosionsartigen Befehlen eines absoluten Souveräns hervorgingen, sondern aus geistiger Erfindung?“[14]   

Diese Schlussfolgerung als Frage bejaht Alex Stock mit Verweis auf die Auslegung der Gottesrede über den Tempelbauer Bezaleel aus Ex 31, 1ff durch Basilius den Großen und die Bezüge zwischen Schöpfung und Weisheit im Alten Testament (Spr 8), im Johannesprolog und im ersten Kapitel des Römerbriefes. Er plädiert dafür – was in unserem Zusammenhang eine gewisse Dringlichkeit erlangt – diese alternative Lesart zum Anlass zu nehmen, „die verborgenen Prämissen der heutigen Exegese zu reflektieren“[15]:

„Worin hat es seinen Grund, dass trotz zugestandener textlicher Widerstände eine Theologie des Wortes als des reinen Befehles so favorisiert wird? Ist es eine sich urgeschichtlich verankernde voluntaristische Geschichtstheologie der unergründlichen Setzungen, der potentia Dei absoluta, der man sich schlicht zu unterwerfen hat? Eine sich im spätmittelalterlichen Nominalismus abzeichnenden Tendenz, der ‚Gott nicht so sehr als der alles ordnende Schöpfer‘, sondern vielmehr als der ‚absolute Herr‘ erscheint, hat großen Einfluss auf die Theologie der Reformatoren gehabt. Ist es eine prophetische Worttheologie, für die das ‚so spricht der Herr‘ der theologische Grundgestus schlechthin ist, den die christlichen Prediger mit der Vokation göttlicher Autorität in ihr eigenes Amt als das dem Schöpfer entsprechende Ebenbild übernehmen? Oder ist es die natürliche Theologie der Wortmenschen, die solo verbo ihren Lebensunterhalt bestreiten und nicht mit ihrer Hände Arbeit und sich, wie schon der Heilige Augustinus, ein gottwürdiges Wirken so nur als Reden, nicht aber als arbeitendes Schaffen vorstellen können … Die Reflexion der hermeneutischen Konditionen dient nicht dazu, diese oder jene Auslegung einfach aus dem Felde zu schlagen, sondern den Text aus den Zwängen unserer Zugriffe zu neuer Wirksamkeit zu befreien.“[16]

In seinen Untersuchungen zur Schöpfungstheologie, die wir hier in einem Punkt skizziert haben, folgte Alex Stock zwei methodischen Zugängen, die für einen Erkenntnisgewinn unerlässlich sind: Differenzen in überlieferten Texten nicht als „wechselnde Einkleidung einer gleichbleibenden Substanz“ [17] anzusehen, sondern als erkenntnisfördernde Umwege auf die Probe zu stellen und die Texte bzw. Überlieferungen „aus den Zwängen unserer Zugriffe zu neuer Wirksamkeit zu befreien“[18]. Eine solche „Reflexion der hermeneutischen Konditionen“ stellt jegliche geschlagene „konfessorische Schneise“[19] erst einmal in Frage bzw. sieht zumindest methodisch bis auf Weiteres von ihr ab.

In unserem Zusammenhang der verschiedenen Lektüren der Enzyklika „Laudato‘ si“ erinnert Stocks Zugang an denjenigen, den Edouardo Viveiros de Castro „mindere Wissenschaft“[20] genannt hat und bezieht ihn auf die eigene Tradition. Und das bedeutet eben konkret, in ihr nicht immer nur die Maske zu entdecken, hinter der wir selbst stecken, sondern in ihr/ihm ein Bild zu sehen, in dem wir uns nicht erkennen. Oder, wie wir es hier schon praktiziert heben, immer auch andere, Gegen – Stimmen zu Wort kommen zu lassen und sie als mögliche Antworten Hören zu lernen.

Ein solches Prinzip der Responsivität greift über die Verschiedenen Lektüreschritte auf den Anfang dieser Reihe zurück und öffnet die Perspektive zu erneuernder theologischer Denkformen zugleich für ihre praktischen und liturgischen Verbindungen.   

Als Begriff Responsivität findet vielseitig Verwendung. Allgemein beschreibt er die Fähigkeit oder Bereitschaft, mit Antworten zu rechnen und auf sie einzugehen; Im Netz (www.) nennt man das Interaktions- und Kommunikationsversuche, das kann bedeuten, Hierarchien und Ordnungen für nicht festgeschrieben zu halten und beispielsweise als Amtsträger auf die Interessen vermeintlich Untergebener einzugehen, wie im politischen Bereich, oder in pädagogischen Zusammenhängen die Fähigkeiten der Eltern oder Lehrerinnen gegenüber ihnen anvertrauten Kindern, und schließt eine gewisse Feinfühligkeit im Umgang ein; Responsivität kann sich auf verschiedene Personen Systeme, Gruppen und Organisationen beziehen bis hin zur technischen Eigenschaft von Webdesign, sich den Gegebenheiten der benutzten Endgeräte und den Formaten ihrer Bildschirme anzupassen…

In unserem Zusammenhang von Lektüren soll mit Responsivität eine grundsätzliche Bereitschaft gegenüber anderen Dingen, Lebewesen, Materialien und Disziplinen für ihre Ansprechbarkeit in Themenstellungen beschrieben werden. Damit kommen wir abschließend auf die responsive Denkungsart des sogenannten Sonnengesanges zurück, der der Enzyklika „Laudato‘ si“ ihren Namen gab.

Das Neue dieses Gesanges bestand in seinem „persönliche[n] Ton“, der sich in „geschwisterlichem Wechsel durch den Gesang“ zieht: frate sole, sora luna, frate vento, sor aqua, frate focu und schließlich sora nostra und matre terra.[21] Bei Franz von Assisi sind sie allesamt „Kreaturen, Geschöpfe des ‚einen höchsten, allmächtigen, guten Herrn‘“[22]. Als solche sind sie „Brüder und Schwestern des Menschen“[23]. Sie sind persönlich ansprechbar wie die minderen Brüder und Schwestern untereinander, „als freundliche Zuneigung und demütiger Dienst“[24]. Alex Stock bezeichnet dies als einen „sozialisierte[n] Animismus“[25]. Er meint damit „eine elementare Ehrfurcht und Mitempfindung mit den konkreten Dingen“ wie sie Franz von Assisi auszeichnete. Damit habe er „das theologische Verfahren, die Natur symbolisch zu nutzen“ geradewegs umgekehrt. Er habe den Geschöpfen den „christologischen Sinngewinn“, den sie erzeugt hatten, „rückerstattet“ und sie so behandelt, „als wären sie der Leib Christi selbst“.  In dieser soteriologischen Öffnung besteht der theologische Grund von Responsivität. Ihre Exzellenz wird nicht zuletzt darin deutlich, dass schon Bonaventura in seiner „Vita S. Francisci“ sie nicht mehr verstanden hat, wenn er schreibt: „Die Betrachtung des ersten Ursprungs aller Dinge war es, die ihn mit so überfließender Herzlichkeit erfüllte. Daher nannte er auch beliebige Wesen, selbst die geringsten, seine Brüder und Schwestern. Ihn leitete der gemeinsame Ursprung, den sie mit ihm teilten.“[26]

Bei Bonaventura beginnt bereits die „scholastische Rationalisierung der ursprünglichen Naturempfindung“[27] des Franz von Assisi. Was bei ihm noch als Schwester und Bruder angesprochen wurde, wird nun zu „bloßen Namen, zur Nomenklatura der Ursprungsbeziehung, die sie verbindet“[28]. Dann allerdings ist das „konkrete Angesicht, mit dem sich die Dinge den Menschen zuwenden“[29], nicht mehr erforderlich. Die Dinge sind nicht mehr ansprechbar, zu Schweigen von der Erwartung einer Antwort. Sie werden zu Ressourcen oder bestenfalls zu Kulissen abstrahiert.

Wenn aber Franz von Assisi zu Weihnachten im Jahre 1223 ein Krippenspiel mit lebenden Tieren und Menschen im Wald von Greccio aufführte, so tat er dies nicht im Wald, weil der ihm als geeignete Kulisse erschien, sondern weil dies ein Ort vielfältiger Responsivität war.    

P.S.: dying son, dying earth – responsives Gottesverhältnis

Mit Gebeten und Fürbitten wenden sich gläubige Menschen an Gott. Was wäre, wenn sie wirklich Antworten erwarteten? In seinem Buch über die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach geht der Philosoph Hans Blumenberg der Frage nach, ob Gott sich nicht auch verändert. Das ist zugleich die Frage danach, ob ihn seine Taten immer unberührt lassen oder nicht. Unter der Überschrift: „Vatertränen, nur zu denkende“[30] geht Blumenberg unter dem Aspekt eines Vater-Sohn-Konfliktes die Frage nach dem Verhältnis Jesu von Nazareth und Gott mit der Beobachtung an, dass normalerweise ein solcher Konflikt mit dem Tod des Vaters ende, hier aber mit dem Tod des Sohnes. Dessen Schrei Eli, Eli … versteht er so als letzten, „denkbar größte[n] aller Vorwürfe gegen seinen Vater“[31]. Dieser aber nahm das Leiden, Sterben und den Tod seines Sohnes anscheinend „fühllos entgegen[]“[32]. Und Blumenberg spitzt seinen Gedankengang zu: „Es gehört zur Größe und zu Miserabilität der Passion des Jesus von Nazareth, dass sie alle, die sie anhören und die sie nicht gleichgültig lässt, in dieselbe Situation versetzt: ‚Es gibt keine Fragen mehr‘. Darf ein Gott sich nicht quälen mit dem, was er angerichtet hat? Es ist antike Metaphysik zu meinen, dies müsse ganz weit ab von ihm liegen. Auch der Vater – oder darf der gläubige Hörer des Matthäuspassion so nicht denken? –  setzt sich ‚mit Tränen nieder‘, als einer der Fassungslosen, zu denen die Gewalt der Passionsmusik die Gemeinde gemacht hat.“[33] Gott würde mit diesem „ungelösten Rätsel seines eigenen unergründlichen Ratschlusses“ weiterleben müssen oder es eben auch nicht können. Auf die Frage nach dem Tod Gottes zielt hier Hans Blumenberg. Wir halten jedoch vorher an, nämlich bei der mittelalterlichen Bildfindung der Pietà, die den Leichnam Jesus in den Armen seiner Mutter zeigt, und ihrer Fassung von „Bernt Notke auf dem Gnadenstuhl von Heiliggeist in Lübeck“. Sie zeigt „den entseelten Sohnesleib“ in den Armen des Vaters: „Ein nun zum Muttergebaren versöhnter Himmelsvater? Oder ein reuiger Mittäter der Passion?“ Kurz zuvor war Blumenberg der Frage danach nachgegangen, ob Gott vor der Passion Jesu ein anderer war als danach: Vorher der Fremde mit Eli angesprochene, nachher der Vertraute, mit Abba angesprochene, und Jesus „der Lehrer des Vatersagens zu Gott“[34].

Wenn man diesen Gedankengang nun aber auf die Frage überträgt, ob Gott angesichts der „sterbenden Erde unberührt bleibt oder, hoffentlich, eben gerade nicht unberührt bleibt: Wie wäre das theologisch zu denken? : „I have been abandoned by gods and trying to survive within the world of the dying son and the dying earth, and inequality, and still trying to find a meaning…[35]


Referenzen

  • Alex Stock, Poetische Dogmatik, Schöpfungslehre, 1. Himmel und Erde, Paderborn 2010, S. 97f.
  • A.a.O., S. 104.
  • Vgl. a.a.O., S. 103.
  • A.a.O., S. 101.
  • A.a.O., S. 100.
  • A.a.O., S. 101.
  • Ebd.
  • A.a.O., S. 101f.
  • A.a.O., S. 102.
  • A.a.O., S. 105.
  • A.a.O., S. 106
  • Ebd.
  • Ebd.
  • Ebd.
  • A.a.O., S. 108.
  • A.a.O., S. 109.
  • A.a.O., S. 97f.
  • A.a.O., S. 109.
  • A.a.O., S. 98.
  • Edouardo Viveiros de Castro, Kannibalische Metaphysiken. Elemente einer poststrukturalen Anthropologie, Berlin 2019, S. 14.
  • A.a.O., S. 220.
  • Ebd.
  • Ebd.
  • Ebd.
  • Ebd.
  • Bonaventura, Legenda maior S. Francisci 8,6, zitiert nach Alex Stock, a.a.O., S. 224.
  • Alex Stock, a.a.O., S. 224.
  • Ebd.
  • Ebd.
  • Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt/M. 8 2015, S. 249.
  • Ebd.
  • Ebd.
  • A.a.O., S. 250f.
  • A.a.O., S. 8, vgl, 200 u. 210.
  • Nadya Tolokonnikowa in: https://library.hrmtc.com/2025/11/06/slavoj-zizek-visits-riot-studio-to-discuss-faith-ai-christianity-love-and-what-can-save-us (15:05-15:20).