Auf einer elliptischen Bühne sitzt ein Junge. Auf dem Boden der Bühne leuchten Kreise, Ellipsen, Linien. Kosmische Umlaufbahnen, Zeichnungen geometrischer Berechnungen? Zuschauer sitzen in einer Arena um die Bühne herum. Am oberen Rand stehen schwarz gekleidete Sängerinnen und Sänger, die Gewänder rauschend eingezogen waren.
Es kommt eine Frau in Schwarz auf die Bühne (Lydia Koniordou). Ihr Gesicht ist weiß geschminkt. Sie trägt rotes zurückgebundenes Haar. Mit kraftvoll sinnlicher Stimme spricht sie Texte aus der Bibel, den Beginn der Schöpfung1, das Damaskus-Erlebnis des Paulus2, Ausschnitte aus Paulusbriefen3 und aus der Apokalypse4. Sie spricht die alten Texte in griechischer Sprache, zelebriert die Konsonanten und Vokale. Man versteht nur einzelne Worte, ab und zu. Es ist, als ob eine Prophetin spräche, ihre Worte haben magische Kraft, sie beschwören.
Der Junge – ebenfalls schwarz gekleidet, mit rotem Haar, das Gesicht weiß geschminkt – unterbricht sie gelegentlich mit merkwürdigen Geräuschen, eine Art Hundegebell. Die Prophetin geht im elliptischen Rund umher und lässt Offenbarungsworte hören, wie sie bei der Schöpfung der Welt erklungen haben mögen, als sich die Umlaufbahnen eingependelt haben um Gravitationen herum. Creatio und apokalypsis – dasselbe.
Der Junge verharrt an seinem Platz. Trotz der Dunkelheit herrscht eine heitere Atmosphäre nicht zuletzt wegen seiner merkwürdigen Geräusche. Dann erhebt er sich und erzählt ein Rätsel. Nach jeder Zeile unterbricht er mit seinem merkwürdigen, hohen Geräusch, wobei er seine Hände und Arme ruckartig übereinander bewegt:
Ich weiß ein Wort, das hat ein L;
Wer das sieht, der begehrt es schnell.
Wenn aber das L weg und fort ist,
Nichts Besseres im Himmel und auf Erden ist.
Hast Du nun einen weisen Geist,
So sage mir, wie das Wörtlein heißt.
Der Junge amüsiert sich sichtlich über sein Rätsel, das er Zeile für Zeile wie Zaubersprüche darbietet. Als Zuschauer hat man den Eindruck, man schaue der vor Gott spielenden Weisheit (Spr 8) zu, wie sie das Welträtsel als Zauberspruch stellt. Dann läuft der Junge ab. – Ob Gott sich auch amüsiert?
Es erklingt die Motette „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf“ von Johann Sebastian Bach (BWV 226). Als Zuschauer sitzt man mitten drin. Unten kosmische Karten auf dem Bühnenboden. Oben Klang. Alles gerät in Bewegung und findet seine Umlaufbahnen um klangliche Gravitationen…
Der amerikanische Theatermann Robert Wilson hat als offiziellen Beitrag zum Lutherjahr im Berliner Pierre Boulez Saal gemeinsam mit dem Rundfunkchor Berlin einen Abend zu Martin Luther inszeniert. Er hat in seiner geheimnisvollen Art, ebendiesem Lutherjahr einige Dimensionen hinzugefügt, die ihm ansonsten gefehlt haben.
Der Unterschied liegt im L.5
Um das zu erkennen, muss das Rätsel des Jungen gelöst werden. Er wird am Ende des Abends wieder kommen und das gesamte Spiel mit seinem rätselhaften Zauberspruch beschließen und sich zugleich darüber amüsiert haben – zwischendurch war er u.a. als rot gewandeter Vogel mit riesigem Schnabel aus dem Bilderuniversum des Hieronymus Bosch aufgetaucht, gefolgt von einem Teufelskarren, umgeben von anderen Figuren mit Steinen, Flügeln, Stöcken, umklungen von anderen Bachmotetten. Ein Streitgespräch zwischen Luther und Kajetan von dem man nicht viel versteht außer, dass auch die Streitenden sich nicht verstanden haben können. Luther auf dem Totenbett: „Du bist unsers Herrn Gottes Närrchen…“:
Ich weißt ein Wort, das hat ein L;
Wer das sieht, der begehrt es schnell.
Wenn aber das L weg und fort ist,
Nichts Besseres im Himmel und auf Erden ist.
Hast Du nun einen weisen Geist,
So sage mir, wie das Wörtlein heißt.
Der Blick ins Programmheft hilft, das Rätsel zu lösen: dort steht in Klammern vor der Quellenangabe “Aus Luthers Tischreden“: „Gemeint ist ‚Gold‘ – ‚God‘ für ‚Gott‘.“6
Noch ein weiteres Rätsel gibt spätestens der Blick ins Programmheft frei. Als Epilog tritt Luthers Frau auf und spricht folgenden Text7:
Sorrow is my own yard
where the new grass
flames as it has flamed
often before but not
with the cold fire
that closes round me this year.
Thirty five years
I lived with my husband.
The plum tree is white today
with masses of flowers.
Masses of flowers
load the cherry branches
and color some bushes
yellow and some red
but the grief of my heart
is stranger than they
for though they were my joy
formerly, today I notice them
and turn away forgetting.
Today my son told me
that in the meadows,
at the edge of the heavy woods
in the distance, he saw
trees of white flowers.
I feel that I would like
to go there
and fall into those flowers
and sink into the marsh near them.8
Überraschende Worte aus dem Munde von „Herrn Käthe“ wie Luther seine Frau zu nennen pflegte. Noch einmal mehr überrascht dieser berührende Einblick in das verschwiegene Innenleben dieser Frau, wenn man feststellt, dass diese Worte gar nicht ihre Worte sind, sondern die Worte des Amerikanischen Dichters William Carlos Williams. Sie tragen den Titel „The Widow’s Lament in Springtime“.
Fast unmerklich kommt hinzu, dass diese Worte auch nicht von der Darstellerin (Kirsten Burger), also von Luther‘s wife selbst, sondern von einer anderen Schauspielerin – Fiona Shaw – gesprochen, und als playback zugespielt werden. Spätestens jetzt wird deutlich, dass es sich hier nicht nur um Worte eines verschwiegenen Innenlebens einer Frau handelt, sondern, dass hier gezeigt, bzw. diskret hörbar gemacht wird, dass eine Frau zum Schweigen gebracht wurde.
Das zum Schweigen-Bringen von Frauen ist seit der Antike eine „wirkmächtige Kulturtechnik“9. „Von der in eine Kuh verwandelten Io, die nur noch Tiergeräusche machen kann, über die Muse Echo, deren Stimme nie die eigene ist, bis hin zu Penelope, der ihr halbwüchsiger Sohn über den Mund fährt“10, auch Maria Magdalena, Lydia, Junia, und Phoebe wurden derart ihrer Stimme beraubt, dass man von „Jesus und [den] verschwundenen Frauen“11 sprechen muss. Und diese Tradition reißt im späteren Christentum bis heute nicht ab.
Als „akusmatischen Stimme“12 , deren erzeugender Körper unsichtbar oder abwesend, jedenfalls von ihm getrennt bleibt, macht der Theaterregisseur hier eine Stimme zum Medium des Über- bzw. Nachlebens einer Frau, Luthers wife. Die „Körperspur“ einer Stimme wird das trauernde Echo eines abwesenden Körpers, einer abwesenden, zum Schweigen gebrachten Person und somit zu einer Utopie ihrer Auferstehung.
Am Ende des Römerbriefes (16,1), schreibt Paulus von einer Frau mit Namen Phoebe. Er nennt sie – wie sich selbst auch – Diakonin. Sie ist offenbar von Korinth allein nach Rom gereist und hat den Brief des Paulus überbracht, was so viel hieß wie ihn vorgetragen und kommentiert. – Unter den zu Anfang der Inszenierung in griechischer Sprache rezitierten Texten befanden sich auch Ausschnitte aus dem Römerbrief (Röm 11, 33-36; Röm 8, 14-16, 38-39). Sie hatten dieselbe stimmlich-sprachliche Wucht wie die Abschnitte aus der Apokalypse. – Hatte so der Brief des Paulus aus dem Mund der Phoebe geklungen? Wie hatte Phoebe Paulus‘ Worte kommentiert?
Der streitbare Berliner Medientheoretiker Friedrich Kittler vertrat die These, Paulus habe die Auferstehung bei Euripides abgeschrieben13. Man muss dieser These nicht zustimmen, um Einflüssen der griechischen Kultur in den Schriften des Paulus nachforschen zu können. Was, wenn Paulus nicht nur Euripides, sondern auch Sophokles gelesen und von ihm abgeschrieben hätte? Und zwar von seiner Tragödie „Antigone“? Dann ließe sich seine Auseinandersetzung mit dem Gesetz im Römerbrief nicht nur vor jüdischem Horizont lesen, wie es zum Beispiel Jacob Taubes14 vorgetragen hat, sondern auch vor griechischem.
Folgt man nämlich bei der Lektüre der „Antigone“ von Sophokles nicht der weitverbreiteten Vorstellung Hegels, der den tragischen Kern des Stückes „in der dramatischen Kollision von Staatsgesetz und Familienpflicht als zwei gleichermaßen berechtigten sittlichen Zwecken“ sah, und macht „in einem höchst widersprüchlichen dramaturgischen und dialogischen Procedere das Positionen-Haben selbst zum Problem“, dann sieht man in der Tragödie nicht nur Meinungen konfrontiert, „sondern Arten des Meinens“15. Dann geht es nicht „um zwei Auffassungen der Priorität eines Gesetzes über ein anderes, sondern um zwei Auffassungen dessen, was ein Gesetz eigentlich sei“16.
„Das Gesetz als etwas Gegründetes steht gegenüber einem Gesetz als etwas wesentlich Grundlosem, allenfalls erst noch zu Gründendem; Das Gesetz als Gewissheit steht gegenüber einem Gesetz des Ungewissen; Dem Performativ des (Absolut-)Setzens gegenüber steht das Performativ des Fragens, Zweifelns, Begrenzens. Antigones Rede verlangt nicht ein anderes Gesetz, sondern ihrer Form nach verlangt sie nach einer anderen Art von Gesetz, einem ‚Nicht-Gesetz(t)‘ einer Gerechtigkeit außerhalb aller Norm.“17
Was hier für den Begriff des Gesetzes skizziert ist, ließe sich auf weitere Themenfelder wie Familie, Staat, Verwandtschaft, Opfer, Tod u.a. ausweiten18…
Wenn Antigone in unserer Lesart auch eine „akusmatische Stimme“ im literarischen Sinne wäre, so bringt sie doch das Echo eines abwesenden Körpers, einer abwesenden Frau zum Ausdruck. Der „Körperspur“ einer zum Schweigen gebrachten Frau wie Phoebe zum Ausdruck zu verhelfen und damit ihrem „Recht zu erscheinen“19 zu entsprechen, müsste man mit Techniken der Rekonstruktion experimentieren, wie sie auf Theaterbühnen erfunden werden.